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Gedächtnis und Lernen verstehen

Ein Einblick in die Funktion des Gehirns

Wir Menschen lernen immer, und das zumeist unbewusst. Nicht alles Gelernte soll aber dauerhaft gespeichert werden. Sinneseindrücke, die man von außen wahrnimmt, durchlaufen je nach Relevanz verschiedene Stufen des Gedächtnisses. Informationen, die oft kaum Beachtung finden, werden im Ultrakurzzeitgedächtnis bereits in weniger als einer Sekunde aussortiert. Dieser Speicherplatz wird somit frei für neue sogenannte Chunks, also Informationsbrocken. Wichtige Inhalte hingegen wandern weiter in das Arbeitsgedächtnis. Hier können in einem Zeitraum von einigen Sekunden bis Minuten fünf bis neun Chunks verarbeitet werden. Was hier die Relevanzprüfung besteht, landet schließlich im Langzeitgedächtnis, aus dem die Inhalte auch nach Jahrzehnten noch abgerufen werden können. „Das Gedächtnis gibt es eigentlich gar nicht. Es gibt verschiedene Arten von Gedächtnis“, erklärt der Leiter der Klinischen Abteilung für Neurogeriatrie der Med Uni Graz, Univ.-Prof. Dr. Reinhold Schmidt. Das Langzeitgedächtnis lässt sich unterteilen in ein deklaratives (explizites) und ein nichtdeklaratives (implizites) System. Ersteres betrifft episodische und persönliche Erinnerungen sowie semantisches, bewusst angeeignetes Wissen. Fertigkeiten und Fähigkeiten bezeichnet man als prozedurales oder Verhaltensgedächtnis. Dieses beinhaltet implizites Wissen aus dem Bereich der automatisierten Handlungsabläufe – z. B. Radfahren – und fällt in den Bereich des nichtdeklarativen Systems. Ebenso gehören das sogenannte Priming sowie perzeptuelles Lernen dazu. Letztere haben unter anderem mit Assoziationen zu tun. Beispielsweise wird man einen Apfel als solchen erkennen, selbst wenn man nur eine Schwarz-WeißFotografie davon sieht. Das Bild sieht anders aus als das Original, dennoch kann unser Gehirn es zuordnen. Im Falle einer Alzheimer-Erkrankung verliert der Betroffene die Fähigkeit, persönliche Erlebnisse zu verarbeiten und im Langzeitgedächtnis abzuspeichern. Der Patient lebt im Jetzt und in der Vergangenheit, in der die Gedächtnisfunktion noch richtig funktioniert hat. Ereignisse, die nur kurz zurückliegen, gehen verloren.

MEINMED-VORTRAG

Im Rahmen von MeinMed hielt Univ.-Prof. Dr. Reinhold Schmidt einen Vortrag zum Thema „Demenz: Gedächtnis und Lernen verstehen“. Das gesamte Video dazu finden Sie auf meinmed.at/videothek

Selber tun ist besser als lesen

Um Dinge zu erlernen, gibt es verschiedene Strategien, die mehr oder weniger erfolgreich sind. Allein durch Lesen schaffen es nur zehn Prozent der Informationen in das Langzeitgedächtnis. Bei Gehörtem sind es immerhin 20 Prozent. Informationen, die man sowohl durch Hören als auch durch Sehen aufnimmt, bleiben schon zu 50 Prozent hängen. Für das Lernen empfiehlt sich also eine Mischstrategie. Am besten funktioniert allerdings, Dinge selbst zu tun. Davon merkt sich der Mensch 90 Prozent des Lernstoffes. Einen wichtigen Einfluss auf das Lernen haben auch die Spiegelneuronen, die uns lehren, Mimik oder Gestik zu deuten und nachzuahmen. „Sehr vieles von dem, was wir lernen bzw. unbewusst mitnehmen, lernen wir einfach dadurch, dass wir den anderen sehen“, so der Neurologe. Das beginnt schon bei Babys. Wenn die Mutter ihr Kind EXPERTE: anlächelt, wird dieses höchstUniv.-Prof. Dr. Reinhold Schmidt wahrscheinlich dieses VerLeitung der Klinischen halten imitieren und zurückAbteilung für Neurogeriatrie, Med Uni Graz lächeln – so es nicht gerade Bauchweh hat oder zahnt. Beim Lernen geht es also nicht nur um Pädagogik und Didaktik, sondern zu einem wesentlichen Teil auch um die Person, die Wissen vermittelt. „Kinder erlernen von ihren Eltern vieles nicht dadurch, was sie sagen, sondern was sie tun“, so Prof. Schmidt weiter. Empathie spielt beim Lernen ebenfalls eine Rolle. Wenn

© Med Uni Graz

Dieser Beitrag wurde im Fortbildungs-Fragebogen auf S. 19 berücksichtigt.

sich jemand in den Finger schneidet und blutet, kann man selbst den Schmerz nachempfinden, obwohl man sich selbst gar nicht verletzt hat. Beim Betrachter werden im Gehirn ähnliche Bereiche aktiviert wie bei der Person, die sich geschnitten hat. Einen wesentlichen Einfluss hat die Lernatmosphäre, die dazu beitragen kann, sich größere Teile der konsumierten Informationen zu merken. Dazu zählen Aufmerksamkeit, soziale Anerkennung und persönliche Wertschätzung, gute Vorbilder, die Chance auf Erfolg sowie Fairness. Dies sind Faktoren, die dazu beitragen, dass der Körper verschiedene Botenstoffe ausschüttet (beispielsweise Dopamin, Opioide oder Oxytocin), die zusammen einen „Belohnungscocktail“ bilden und dabei helfen, gut lernen zu können. Zu 100 Prozent kann man seinem Langzeitgedächtnis leider nicht trauen. Teile der ursprünglichen Information gehen verloren, bis sie im Speicher landen. Ruft man sich diese Inhalte wieder in Erinnerung, gelangen sie erneut in das Arbeitsgedächtnis. Hier kommt es zu Vermischungen mit kürzlich Erlebtem und neuen Eindrücken. Deshalb decken sich Erinnerungen – wie wir alle wissen – nicht immer vollständig mit den tatsächlichen Geschehnissen.

Internet und das Gehirn

Interessant ist auch zu beobachten, wie sich das Gehirn durch den Gebrauch des Internets verändert. Tatsächlich zeigen sich deutliche Unterschiede in Bezug auf die Synapsenverbindungen bei Menschen, die mit dem Internet aufgewachsen sind, im Vergleich zu Personen, die erst im späteren Leben erstmals in das weltweite Netz eingetreten sind. Im Alter von zwei Jahren haben Menschen das dichteste Netzwerk von Nervenverbindungen. Im weiteren Leben lichtet sich dieses Geflecht. Fachleute sprechen vom Ausjäten der Synapsenverbindungen: Erhalten bleiben nur jene, die tatsächlich benötigt werden. Im Falle der Internet-Generation bedeutet dies, dass sich beispielsweise die Regelkreise für zwischenmenschliche Kontakte, körpersprachliche Signale oder die Aufmerksamkeitsspanne verringern. Dafür verfügen sie über eine bessere Reaktion auf visuelle Stimuli, können größere Informationsmengen verarbeiten oder schneller Entscheidungen treffen.

Tanzen hält auch das Gehirn fit

Verschiedene Faktoren können die Leistungsfähigkeit des Gehirns unterstützen. Menschen, die ein Musikinstrument spielen, entwickeln beispielsweise wesentlich seltener Demenz-Erkrankungen als Nichtmusiker. Tanzen oder regelmäßiges Kreuzworträtsellösen (siehe Seite 18) sind ebenfalls gute Stimuli für das Gehirn. Eine ganz wichtige Rolle spielen auch soziale Kontakte. „Oftmals sieht man das bei Ehepaaren. Wenn der Partner verstirbt, geht es mit dem anderen plötzlich geistig bergab“, berichtet Prof. Schmidt. Viel unter Leute zu gehen und zu reden, ist also ein wesentlicher Beitrag, um die kognitiven Fähigkeiten zu unterstützen.

Margit Koudelka

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