Forum Biodiversität Schweiz, Arten vor dem Aus

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Forum Biodiversität Schweiz SCNAT (Hrsg.)

Arten vor dem Aus Zu Besuch bei aussterbenden Tieren und Pflanzen in der Schweiz


Forum Biodiversität Schweiz (Hrsg.) Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT) Laupenstrasse 7 Postfach CH-3001 Bern www.biodiversity.ch biodiversity@scnat.ch Präsident: Prof. Dr. Florian Altermatt

Die Herausgabe dieses Buchs war nur dank der Mithilfe zahlreicher Fachpersonen und der finanziellen Unterstützung durch Stiftungen, Fonds und Institutionen möglich (siehe S. 256). Autoren: Gregor Klaus, Nicolas Gattlen und Daniela Pauli Fotografie: Tomas Wüthrich, Liebistorf Gestaltung: Atlas Studio, Zürich Illustrationen: Corinne Klaus, Rothenfluh BL Lithografie: Marjeta Morinc, Basel Zitiervorschlag Klaus G., Gattlen N. und Pauli D. (2020): Arten vor dem Aus. Zu Besuch bei aussterbenden Tieren und Pflanzen in der Schweiz. Hrsg.: Forum Biodiversität Schweiz, SCNAT. Bern: Haupt, 256 Seiten. 1. Auflage: 2020 Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliografie verzeichnet. Mehr Informationen dazu finden Sie unter http://dnb.dnb.de. ISBN: 978-3-258-08201-1 Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2020 Haupt Bern Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig. Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016– 2020 unterstützt. Printed in the Czech Republic

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Forum Biodiversität Schweiz SCNAT (Hrsg.) Gregor Klaus Nicolas Gattlen Daniela Pauli Arten vor dem Aus Zu Besuch bei aussterbenden Tieren und Pflanzen in der Schweiz


Bildunterschrift


Das leise Sterben Das Knäuel in meinen Händen blinzelt mich unter schweren Lidern hervor an, zutraulich und misstrauisch, empört und ratlos zugleich. Unruhig wechselt es von einem Bein aufs andere. Ich spüre: kräftige Füsse, starke Krallen, sonst nur graue Flauschigkeit. Ich bin hin und weg, möchte den Federball nie mehr loslassen und alles tun, was in meiner Macht steht, um den Knirps zu beschützen. Den jungen Steinkauz hat mir Christian Stange während einer Exkursion von BirdLife Schweiz zum süddeutschen Kaiserstuhl in die Hände gedrückt, nachdem er ihn aus der sicheren Bruthöhle geholt hatte, um ihn zu beringen. Der Fachmann aus Freiburg im Breisgau ist massgeblich mitverantwortlich, dass die Steinkauz-Bestände im Dreiländereck Deutschland–Frankreich–Schweiz wieder zunehmen. Hier hat BirdLife Schweiz 1999 gemeinsam mit den BirdLife-Partnern aus Deutschland und Frankreich ein länderübergreifendes Projekt initiiert. Zum Projektgebiet gehört auch der Kaiserstuhl, ein alter, erloschener Vulkan inmitten der Rheinebene. In der Region setzen sich zahlreiche Partner und Spezialisten wie Christian Stange für den mehrheitlich nachtaktiven Mäusejäger ein. Der Steinkauz war einst im offenen Landwirtschaftsgebiet des Schweizer Mittellands weit verbreitet. Ab den 1950er-Jahren musste er allerdings ein Gebiet nach dem anderen aufgeben. Was der Eulenzwerg zum Leben braucht — Hochstammobstbäume, Hecken, artenreiche Blumenwiesen und Weiden, Mäuerchen, Ast- und Steinhaufen —, ging durch die Intensivierung der Landwirtschaft und die Ausdehnung des Siedlungsgebiets nach und nach verloren. Zudem wurde ihm die überdüngte Vegetationsdecke zu dicht. Denn der Steinkauz ist hin und wieder zu Fuss unterwegs und rennt auf der Jagd nach Mäusen durchs lockere Gras. Auch grosse Insekten findet er kaum noch in den Feldern; ein Grossteil davon fiel Insektiziden und modernen Mäh- und Bearbeitungsmaschinen zum Opfer. Heute kommt die 20 cm kleine Eule in der Schweiz nur noch in der Ajoie, in den Kantonen Genf und Tessin sowie mit einzelnen Individuen im Seeland vor. Die winzigen Schweizer


Populationen können sich nur dank Schutz- und Fördermassnahmen halten. Dass es bei uns überhaupt noch Steinkäuze gibt, ist dem grossen Engagement von Naturschützerinnen und Ornithologen zu verdanken. Unter der Leitung von BirdLife Schweiz erarbeiteten sie für diese Vogelart einen Aktionsplan, den das Bundesamt für Umwelt (BAFU) 2016 veröffentlicht hat. Das Ziel: Bis 2031 soll es in der Schweiz wieder 300 Steinkauz-Reviere geben. Hierfür verbessern die Verantwortlichen in Zusammenarbeit mit engagierten Landwirten den Lebensraum: Sie schaffen sichere Nistplätze und Sitzwarten für die Jagd und sorgen für ausreichend Nahrung. Weil zu wenig alte Hochstammobstbäume mit Höhlen vorhanden sind, gehören auch mardersichere, künstliche Nisthöhlen zum Mobiliar. Der Steinkauz ist kein Einzelfall. So wie ihm erging es zahlreichen anderen Vogelarten des traditionellen Kulturlands. Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft starben Raub-, Schwarzstirn- und Rotkopfwürger aus; in den letzten Jahrzehnten gingen auch die zuvor häufigen Bodenbrüter wie Feldlerchen und Braunkehlchen dramatisch zurück. Doch die Vögel sind nur die gut sichtbare Spitze des Eisbergs. In der Schweiz sind von den knapp 50’000 bekannten Arten gemäss den bisher erarbeiteten Roten Listen mehr als ein Drittel gefährdet oder vom Aussterben bedroht; 247 gelten bereits als ausgestorben oder verschollen. Besonders schlimm steht es um jene Spezies, die an Wasser oder feuchte Lebensräume gebunden sind. Viele weisen nur noch kleine Restbestände auf und haben hierzulande unter den heutigen Rahmenbedingungen langfristig keine Überlebenschance. Während das Verschwinden der Vögel von vielen Menschen bemerkt und bedauert wird, verläuft das Erlöschen weniger auffälliger Arten weitgehend im Verborgenen. Dass der Laufkäfer Amara concinna, die Ergrünende Lungenflechte (Lobaria virens) und die Eintagsfliege Ephoron virgo in der Schweiz ausgestorben sind, wissen nur wenige Fachleute. Still und leise verabschiedet sich ein Wunderwerk der Natur nach dem anderen. Die in diesem Buch porträtierten elf Arten stehen deshalb stellvertretend für Tausende von Arten. Sie kommen in unterschiedlichsten Lebensräumen vor — vom Grundwasser übers Hochmoor bis zur sonnenexponierten Trockenwiese. Ihr


Niedergang ist eng gekoppelt mit der Zerstörung, Zerschneidung und Beschädigung ihrer Habitate. So verdrängen wir die Weggefährten, die uns Menschen während der vergangenen zwei Millionen Jahre begleitet haben — Lebensformen, die im Universum einzigartig sind. Zwischen der Bedrohung einer Art und ihrem Aussterben steht oft nur der immense Einsatz einzelner Menschen, die ihr Leben dieser einen Art gewidmet haben. Oft schon seit Jahrzehnten halten sie die Entwicklung der Bestände fest und untersuchen, was sie fürs Überleben brauchen. Und sie versuchen unermüdlich, Politikerinnen, Behörden und Landbesitzer sowie -bewirtschafterinnen zu überzeugen, auf seltene Pflanzen und Tiere Rücksicht zu nehmen. Oft gelingt dies, und die Bestände können sich halten oder sogar erholen. In anderen Fällen werden die Anstrengungen wieder zunichte gemacht, weil der Druck auf die Naturvielfalt aus einer neuen Richtung wieder steigt. So wird für zahlreiche Pflanzen- und Insektenarten der flächendeckende, übermässige Eintrag von Stickstoff über die Luft — hauptsächlich aus der Landwirtschaft und teilweise aus dem Verkehr — zunehmend zur Bedrohung. Das Forum Biodiversität Schweiz der Akademie der Naturwissenschaften (www.biodiversity.ch) hat die beiden Journalisten Gregor Klaus und Nicolas Gattlen losgeschickt, um sich zusammen mit Spezialistinnen und Spezialisten auf die Suche nach den letzten Exemplaren von elf Tier-, Pilz- und Pflanzenarten zu machen. Ihre Reportagen zeigen, weshalb diese Arten vor dem Aus stehen und was zu tun wäre, damit es ihnen wieder besser geht. Zugleich geben sie Einblick in das Leben und die Beweggründe jener Menschen, die diese Arten mit Liebe und Sachverstand, Ausdauer und Humor untersuchen und darüber erstaunliche Geschichten erzählen können. Geschichten über wundersame, liebenswerte, nützliche und skurrile Gesellen, mit denen wir unser Land (noch) teilen. Daniela Pauli



Das letzte Feuerwerk

Insubrischer Enzian


Die letzten Rückzugsgebiete des Insubrischen Enzians liegen über der Waldgrenze in den südlichen Kalkalpen des Tessins. Stefan Eggenberg, Direktor des nationalen Daten- und Informationszentrums zur Schweizer Flora, weiss von einer Weide, wo der vom Aussterben bedrohte Enzian mit grosser Wahrscheinlichkeit noch anzutreffen ist.


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Wir kommen nur schleppend voran. Gemäss der Zeitangabe auf dem Wegweiser in Cimadera müssten wir längst auf dem Passo di Pianca Bella sein. Doch Stefan Eggenberg ist Botaniker und begrüsst alle paar Meter eine Pflanze am Wegrand – mit Vor- und Nachnamen. Soeben stellt er mir Luzula nivea vor, zu Deutsch: die Schneeweisse Hainsimse, ein hübsches, grasartiges Binsengewächs. Eggenberg belässt es nicht bei der profanen Etikette; stets weiss er eine unterhaltsame Geschichte zu erzählen. «In den Nordalpen würden wir an diesem Standort Luzula luzuloides finden, die Weissliche Hainsimse. Am Alpenhauptkamm kommt es zu einem spannenden Artenwechsel. Das erinnert mich an meine erste botanische Exkursion ins Tessin, an der ich als junger Student teilgenommen habe. Ich war anfangs so enttäuscht. Es sah stellenweise aus wie bei uns im Norden: Buchen, Sauerklee, Heidelbeere und so weiter. Nur 10 % der Arten, die im Tessin vorkommen, findet man nicht auch auf der Alpennordseite. Wenn ich aber eine neue Region bereise, interessieren mich neue Arten, weniger der Grundstock, der in ganz Europa vorkommt. Oder mich interessieren die unterschiedlichen Verhaltensweisen einer Art. So kommt beispielsweise Rhododendron ferrugineum dort drüben zwischen den Bäumen im Tessin auch im Unterwuchs der Wälder vor, nicht nur über der Waldgrenze. Das ist für die Rostblättrige Alpen rose sehr speziell und hat mit dem feuchten Klima hier im insubrischen Teil der Alpen zu tun.» Eggenbergs Geschichten würden ein ganzes Buch füllen. Und er weiss, wovon er redet: Seit 2011 ist Eggenberg Direktor von Info Flora, dem nationalen Daten- und Informationszentrum zur Schweizer Flora. Eigentlich sind wir heute aufgebrochen, um Gentiana insubrica zu suchen, den Insubrischen Enzian, von Eggenberg salopp «die Insubrica» genannt. Der Name verrät es schon: Das Verbreitungsgebiet dieses Enzians ist geografisch begrenzt. Insubrien ist die Gegend zwischen dem Po und den voralpinen Seen, die in der Antike vom keltischen Stamm der Insubrer bevölkert wurde. Innerhalb dieses Areals besiedelt der Enzian nur eine kleine Fläche im Südtessin und den angrenzenden Gebieten in Italien. Mindestens 60% des Verbreitungsgebietes liegen in der Schweiz. Damit gilt die Art als Teil-Endemit.


Ihr nächster Verwandter ist der Deutsche Enzian, Gentiana germanica. Die Gletscher der Eiszeiten haben diese einst weitverbreitete Art in mehrere kleine Populationen gespalten, die zwischen den Eismassen der Gletscher überlebten. Einzelne isolierte Bestände haben sich in den Zwischeneiszeiten nur langsam ausgebreitet, an die jeweiligen regionalen Umweltbedingungen angepasst und letztlich zu eigenen Arten entwickelt. «Ich staune immer wieder darüber, wie gut man die Muster der Eiszeiten selbst nach 10’000 Jahren in der Vegetation erkennt», sagt Eggenberg. «Viele Arten sind offenbar stark eingeschränkt in ihren Ausbreitungs- und Wandermöglichkeiten.» So auch die Insubrica, über deren genaues Vorkommen in ihrem Verbreitungsareal wenig bekannt ist. Das will Eggenberg ändern. Seine heutige Pirsch führt uns vom kleinen Ort Cimadera, 40 Fahrminuten von Lugano entfernt, durch dichte Wälder bis an die alpine Zone. Was man weiss: Sämtliche Vorkommen unter der Waldgrenze sind heute erloschen. Diese Flächen sind entweder überbaut, verwaldet oder zu Fettwiesen umgewandelt worden. Die letzten Rückzugsgebiete im eh schon kleinen Verbreitungsareal liegen über der Waldgrenze in den südlichen Kalkalpen des Tessins. Doch auch dort ist die Insubrica nicht sicher. Am Monte San Giorgio konnte die Art in den letzten Jahren nicht wiedergefunden werden. Genau dort hat der Schweizer Philosoph, Psychologe und «Hobbybotaniker» Hans Kunz den speziellen Enzian zum ersten Mal wissenschaftlich beschrieben, Belege gepresst, getrocknet und in Museen hinterlegt. Potenzielle Schweizer Vorkommen gibt es nur noch am Monte Generoso und in dem Gebiet, wo wir uns gerade aufhalten. Eggenberg weiss von einer Weide, wo der Enzian mit grosser Wahrscheinlichkeit anzutreffen ist. Er möchte aber den Ausflug nutzen, um auch noch angrenzende Flächen zu inspizieren, auf denen sich der Enzian theoretisch auffinden lässt. 700 Höhenmeter trennen uns davon! «Im Tessin ist das von der Distanz her nicht so weit», beruhigt mich der Botaniker. «Es geht immer steil bergauf.» Eggenberg ist mit seinen fast zwei Metern viel grösser als ich, und wenn er einen Schritt macht, muss ich zwei machen. Zum Glück ist das Tempo moderat. Eggenberg kennt die meisten der rund 3000 Pflanzenarten

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der Schweiz. Aus dem Vorkommen von Arten kann er auf die Geologie im Untergrund und die Nutzungsgeschichte schliessen. Er liest in der Vegetation wie in einem Buch. In einem Birkenwäldchen findet er die Blätter einer Feuerlilie und weiss sofort: Hier war früher Grasland; die Feuerlilie wird bald verschwinden, weil sie viel Licht braucht. Überhaupt ist die Verwaldung überall anzutreffen im Tessin und ein grosses ökologisches Problem, weil die vorrückenden Bäume Blumenwiesen überwuchern und Monokulturen bilden. Eine spezielle Geschichte erzählt uns auch der dunkle Buchenwald mit nacktem Boden, durch den wir zügig hindurchlaufen. Darin stehen keine grossen, einstämmigen Bäume, sondern eng beieinander viele niedrige Gehölze. Aus jeder Basis ragen mehrere 10 bis 20 m hohe Triebe, ein Niederwald, der erst in jüngerer Zeit aufgegeben wurde. In diesem menschengemachten Waldtyp wurden die Buchen alle 10 Jahre zur Gewinnung von Brennholz fast bodeneben abgeschlagen. Das viele Licht, das auf den Boden fiel, hatte dazu geführt, dass sich eine artenreiche Flora und Fauna entwickeln konnte. Wird die Bewirtschaftung aufgegeben, entwickelt sich eine artenarme Monokultur. «Das ist trostlos», findet Eggenberg und beschleunigt seine Schritte. «Das ist kein Wald, der mir gefällt.» Dafür freut sich Eggenberg über einen Kastanienbaum ein paar Hundert Meter weiter – auch wenn es keine einheimische Art ist. Sie stammt vermutlich aus Kleinasien und wurde von den Menschen schon vor mehr als 2000 Jahren im Tessin eingeführt. In den Talgebieten ersetzte die Art nach und nach fast alle einheimischen Waldbäume. «Hier ist wenig natürlich», sagt Eggenberg. Während Jahrhunderten war die Kastanie im Tessin ein Grundnahrungsmittel. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts kam die Baumfrucht vielerorts sowohl mittags als auch abends auf den Teller. Für die Wintermonate wurde sie getrocknet und zu Mehl verarbeitet. Heute hat die Kastanie ihre Rolle als «Brotbaum der Armen» längst verloren. Der wirtschaftliche Aufschwung, die Abwanderung aus den Tälern und veränderte Essgewohnheiten machten die Kastanie beinahe wertlos. Weil sie aber 2000 Jahre Zeit hatte, sich ins Ökosystem einzufügen, pflanzt sie sich selbstständig in den Tessiner Wäldern fort und wird von Botanikern als einheimische Pflanze anerkannt.


In sogenannten Niederwäldern wurden die Buchen alle zehn Jahre zur Gewinnung von Brennholz fast bodeneben abgeschlagen. Es entstanden spezielle Waldlebensräume, die licht- und artenreich waren. Diese Bewirtschaftung wurde nach und nach aufgegeben, so auch in diesem ehemaligen Niederwald, der dunkel und artenarm ist.


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Gar keine Freude hat Eggenberg dagegen an den vielen exotischen Gartenpflanzen, die sich seit Jahrzehnten reihenweise aus den Tessiner Vorgärten im Umland verbreiten und die Flora verändern. Bereits am Morgen, kurz nachdem wir den Bahnhof Bellinzona passiert hatten, hat mich Eggenberg auf das Ausmass dieser Invasion aufmerksam gemacht. «Schau, die Pflanze dort drüben am Bahnbord. Das ist Ailanthus altissima, der Götterbaum, der aus China und Nordvietnam stammt. Das wird ein riesiges Problem für die Tessiner Flora. Er bildet Monokulturen und überwuchert alles.» Botanisieren aus dem Zugfenster war eine neue Erfahrung für mich. Für Eggenberg ist klar: Diese Art muss bekämpft werden. Nicht für ewig, denn der Kampf gegen die Neuankömmlinge gleicht dem Kampf gegen Windmühlen. Aber man müsse der Natur Zeit geben, die Neuankömmlinge zu integrieren. Die Arten sind nun mal in den Gärten, und das insubrische Klima bekommt ihnen prächtig. Dieses ist warm-gemässigt mit einem Hang zum feucht-subtropischen und ähnelt damit jenem in Ostasien, auf den Kanarischen Inseln oder am Schwarzen Meer, von wo viele unserer Gartenpflanzen stammen. Weil gleichzeitig die Eiszeit vor Tausenden von Jahren die immergrünen Wälder im Tessin ausradiert und der Mensch eine enorme Dynamik in die Landschaft gebracht hat, gibt es reichlich Lücken im Ökosystem, die nun von Gartenpflanzen besetzt werden. Viele dieser Arten sind invasiv und machen sich im Unterholz tiefer Lagen breit. Kampferbäume und Tessinpalme machen zwar den Wald wieder immergrün, verdrängen aber auch einheimische Gewächse oder machen wie im Fall von Ambrosia artemisiifolia, kurz Ambrosia genannt, mit ihrer Pollenfracht Asthmatikern das Leben schwer. Andere machen mit ihren Wurzeln Dämme instabil. «Ich verstehe die Leute nicht, die sagen, dass diese Arten eine Bereicherung seien. Das ist es global gesehen nicht, weil die Vegetation vereinheitlicht wird. Diese flächendeckende Banalisierung beeinträchtigt die biologische Vielfalt. Die Vorstellung, dass irgendwann überall die gleichen Arten vorkommen, finde ich furchtbar. Man kann von Bern mit dem Zug in den Balkan fahren und sieht inzwischen immer die gleichen 2 bis 3 Pflanzenarten entlang des Bahndamms. Das stimmt mich traurig. Wenn mir jemand sagt, dass Impatiens glandulifera, das


Drüsige Springkraut, Farbtupfer in die Auenwälder bringt, sage ich: Jetzt hab ich sie langsam gesehen, die immer gleichen Farbtupfer.» Eggenberg ist dafür, gebietsfremde Arten, die ökologische, gesundheitliche oder ökonomische Schäden verursachen, zu bekämpfen. Es geht darum, den einheimischen Arten eine Ruhepause zu verschaffen, bis sich ein Gleichgewicht eingestellt hat. Ständig kommen neue Arten. Am Lago Maggiore spielen sich Szenen ab wie in einem Science-Fiction-Film. Die Lianenart Kudzu, wissenschaftlich Pueraria lobata genannt, überwuchert sogar Masten, Strassenlampen und Stromleitungen. Die Art stammt aus dem subtropischen Asien und gehört zu den 100 aggressivsten invasiven Arten weltweit. Im Tessin, wo sie an 30 Standorten gefunden wurde, konnte bei Trieben ein Zuwachs von bis zu 26 cm pro Tag gemessen werden. Damit kann Kudzu den Boden mit mehreren Pflanzenschichten überdecken und verdrängt so einheimische Pflanzen- und Insektenarten. Der Bund hat auf die Probleme reagiert und besonders invasive Arten auf eine Verbotsliste gesetzt. Die Arten auf der Liste dürfen von Gartenbaubetrieben nicht mehr verkauft werden. Das ist schwieriger als gedacht. «Die Goldrute aus dem Verkauf zu bringen war ein riesiger Aufwand», erinnert sich Eggenberg. Das attraktive Gewächs ist ein grosses Problem in Naturschutzgebieten, den Kronjuwelen des Schweizer Naturkapitals. Ganz anders sieht er die natürliche Einwanderung von Arten aus dem Mittelmeerraum: «Letztendlich sind alle Arten im benachbarten Italien auch hier potenziell einheimisch. Mit dem Klimawandel ist alles in Bewegung geraten.» Botaniker führen daher die Liste der einheimischen Flora immer wieder nach. In einem Tobel entdeckt Eggenberg Pritzelago alpina, die Gämskresse, die an diesem Standort eigentlich nichts verloren hat. Im Gegensatz zum Götterbaum ist sie einheimisch, ihr Lebensraum liegt aber weiter oben, weit über der Waldgrenze. Das Individuum wird in der Botanik als «Alpenschwemmling» bezeichnet, weil es von oberen Vegetationsstufen mit Bächen und Flüssen in tiefere Lagen mitgerissen wurde und dort auf Schutt und Kiesinseln munter weiterwächst. Eggenberg zückt einmal mehr sein Handy, öffnet FlorApp, fotografiert das Pflänzchen und gibt verschiedene Daten ein: Artname, Koordinaten des Standorts, Funddatum. Die von

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Info Flora entwickelte Software für Handys ermöglicht es seit Juli 2016 jedem Hobbybotaniker, Fundmeldungen von Gefässpflanzen, Moosen, Flechten und Pilzen zu erfassen; die Fundmeldungen werden direkt an die für diese Organismen zuständigen Schweizer Datenzentren weitergeleitet, entweder via WLAN von zu Hause aus oder gleich aus dem Feld. Bereits mehr als 1000 Personen in der Schweiz melden regelmässig Pflanzenfunde. Dadurch wird das Bild der Schweizer Flora immer schärfer. «Enzian!», ruft Eggenberg und der Fotograf zückt seine Kamera. «Den suchen wir, oder?», «Nein, das ist Gentiana asclepiadea, der Schwalbenwurz-Enzian, der weitverbreitet ist.» Die Pflanze ist mit ihren 80 cm Höhe und den vielen grossen blauen Blüten besonders attraktiv. Allein in der Schweiz können 30 Enzianarten angetroffen werden, eine schöner als die andere. Nicht umsonst ist im Logo von Info Flora ein Vertreter dieser Artengruppe zu sehen. Selbstverständlich wird auch dieses Individuum sofort von Eggenberg inventarisiert und digital hochgeladen. Und dann erreichen wir sie doch noch, die Waldgrenze. Die imposanten Denti della Vecchia mit ihren markanten Felsnadeln erheben sich südwestlich von uns. Je höher wir kommen, desto häufiger wechselt der geologische Untergrund von Silikat auf Kalk und wieder zurück. Die Veränderung ist nicht zu überhören. «Jetzt geht’s los!», ruft Eggenberg, als das Gestein von Schieferschwarz auf Kalkweiss wechselt. Und schon zählt er im Sekundentakt die vielen neuen Pflanzenarten auf. Auf Silikat wird Eggenberg wieder deutlich ruhiger. Später erklärt er: «Kalziumionen sind ein Problem für Pflanzen. Es ist daher einfacher für kalktolerante Pflanzen, auf Silikat zu wachsen als umgekehrt. Dennoch hat es pro Flächeneinheit viel mehr Arten auf kalkigem Boden. Das ist ein Widerspruch, ich weiss, und die Ursache ist auch noch nicht ganz geklärt. Es wird vermutet, dass Kalkböden sehr vielfältig sind: Hier gibt es auf kleinem Raum trockene und feuchte Stellen, basische und saure Bereiche, nährstoffarme und nährstoffreiche Flächen. Diese Vielzahl an Nischen führt dazu, dass konkurrenzstarke Arten den Pflanzenbestand nicht dominieren können und Platz für eine hohe Artenvielfalt vorhanden ist.» Eggenberg bezeichnet das als «wahrscheinliche Erklärung».


Kurz darauf entdeckt er Arabis alpina. «Das muss ich gleich einem Kollegen schicken. Der arbeitet an dieser spannenden und sehr konkurrenzstarken Art.» Eggenbergs Kollege ist Botanikprofessor und sammelt alle verfügbaren Informationen und Vorkommen zu dieser Pflanzenart. «Man vermutet, dass die einzelnen Pflanzen einer Population sich gegenseitig helfen und noch dazu von Bodenpilzen unterstützt werden. Man weiss viel zu wenig darüber, was im Boden passiert». Eine Herde freundlicher Schottischer Hochlandrinder begrüsst uns auf einer Weide. «Lass uns die Insubrica finden», sagt der Botaniker und springt hangaufwärts. Wonach suchen wir eigentlich genau? «Der Enzian blüht violett-blau, ist 10 bis 25 cm gross und besteht fast nur aus Blüten. Er sollte nicht zu übersehen sein.» Wir stossen auf wirre Grasflächen. Die Blätter bilden regelrechte Dauerwellen am Boden. «Wir nennen das Seegras», sagt Eggenberg beiläufig. «Die Tiere fressen das nicht gerne. Hier müssen wir nicht suchen. Die Vegetation ist viel zu dicht und zu hoch». Und dann wird er immer stiller. Das erste und einzige Mal an diesem Tag. Wir laufen über bodeneben abgegraste Ziegenweiden. Optimal eigentlich, denn die Insubrica mag es hell und verträgt keine Konkurrenz. Vom Vieh wird sie gemieden, weil die ganze Pflanze wie alle Enziane extrem bitter schmeckt. Dennoch, vom Enzian weit und breit keine Spur. Unsere Magen knurren und wir beschliessen, auf einer Bank zu essen. «Mit vollem Bauch sucht es sich besser», meint Eggenberg. Mir schwirrt der Kopf vor lauter Botanik. Ich lasse den Blick über die Landschaft schweifen. Es ist Mitte September, die Fernsicht ist gut. Auch Eggenberg blickt in die Runde. Arten lassen sich auf die Distanz nicht bestimmen, dafür hat er jetzt ganze Lebensgemeinschaften im Fokus. Sein Blick verfinstert sich. «Schau, dort drüben auf der anderen Talseite. Die dunkelgrüne Fläche zwischen und über den Waldgebieten besteht nur aus Adlerfarn. Das waren vor wenigen Jahren noch Weiden, die aufgegeben wurden. Danach löst eine Monokultur die andere ab. In ein paar Jahren wird der Besenginster die Flächen erobern, dann kommen Birken, Weiden und dann die Buche. Bis sich diese Wälder aber in artenreiche Urwälder verwandeln, wird es noch Jahrhunderte dauern.»

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Vor 100 Jahren war hier alles Wiese, Weide oder Acker. Wald hatte es nur in den steilen Tobeln. Jeder Quadratmeter wurde genutzt, vor allem im 19. Jahrhundert, als die Bevölkerung im Tessin dramatisch wuchs. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts setzte die Landflucht ein. Es lockten gute Arbeitsplätze gleich im Tal unten als attraktive Alternative zur mühsamen Bewirtschaftung der steilen Hänge, die sich trotz hoher staatlicher Direktzahlungen nicht lohnte. In der über dem Adlerfarn bzw. der Baumgrenze liegenden alpinen Zone ist die ökologische Situation nicht besser: Durch die Übernutzung der Flächen in den letzten Jahrhunderten und den Stickstoffeintrag über die Luft aus der dicht besiedelten Poebene sind die eh schon sauren Silikatböden derart stark versauert, dass Aluminium aus den Mineralien mobilisiert wird. Und dieses ist für die meisten Pflanzen toxisch. Nur Nardus, das Borstgras, kommt mit diesen Bedingungen sehr gut zurecht und hat sich auf den Matten breitgemacht. «Auf der gegenüberliegenden Seite würde ich nie und nimmer eine botanische Exkursion unternehmen, es sei denn, es interessiert sich jemand für Nardus in all seinen Formen und Farben», erklärt Eggenberg. «Im Moment ist ein Grossteil der Landschaft im Tessin im vermutlich eintönigsten Zustand seit dem Ende der letzten Eiszeit. Es gibt keine Flecken mehr, die wirklich natürlich sind, nicht mal auf den Bergspitzen. Viele Lebensräume sind artenarm und instabil.» Mit vollem Magen wuchten wir uns schliesslich hoch und machen uns auf die Suche nach unserem Zielobjekt, das irgendwo zwischen uns und dem steilen Grat wächst, der sich vor uns erhebt. «Hier ist alles Kalk, da hat die Insubrica eher eine Chance», sagt Eggenberg hoffnungsvoll. «Sie braucht Weiden und Offenland.» Die erste Weide ist leer. «Im schlimmsten Fall finden wir sie nicht. Sie ist ja auch in ihrem begrenzten Verbreitungsgebiet sehr selten. Lasst uns auf der Weide nach dem Tobel weitersuchen. Dort stechen wir den Hang hoch. Die seltenen Arten sind meist nicht direkt am Weg.» Seine Prophezeiung soll sich bewahrheiten: Nach 40 m lässt sich Eggenberg auf die Knie fallen. «Hey, komm rüber», und man hört es seiner Stimme an: Er hat das Zielobjekt entdeckt. «Schau hier! Megaschön.» Er zeigt auf ein kleines Blumenbouquet, das nur wenige Zentimeter über den Rasen schaut. Die


Insubrica besteht aus einem Büschel Blüten oder ist, wie Eggenberg sagt, «ein explodierendes Feuerwerk!». Für Eggenberg ist Weihnachten und Ostern zugleich. Er hebt die Hand für ein «High Five» und wir klatschen unsere erhobenen Hände gegeneinander. Im nächsten Moment hat er eine Blüte zwischen den Fingern – zu wissenschaftlichen Zwecken natürlich. «Fünf», sagt Eggenberg stolz und reicht mir den Schatz. «Zähl die Kronzipfel. Es sind fünf. Also kann es nicht ein FeldEnzian sein, der vier Zipfel hat, in der Schweiz weitverbreitet ist und hier potenziell auch vorkommt. An diesem Ort wurde noch nie eine Insubrica gefunden», erklärt Eggenberg, zückt das Handy, macht ein Porträt von der Pflanze und tippt die benötigten Daten ein. «Wie gross ist die Population? Kannst du mal schauen?» Ich finde im Umkreis rund 20 weitere Pflänzchen im Gras. Mich verwirrt das völlige Fehlen grüner Blätter. «Der Enzian besteht im ersten Lebensjahr nur aus einer unauffälligen Blattrosette», erklärt der Botaniker. «Im zweiten Jahr investiert er dann die gesamte Energie, die in den Wurzeln gespeichert ist, in die Blüte und stirbt dann ab.» Geblüht wird bei den meisten Enzianen im Herbst, wenn die Tiere alles schon bodeneben abgeweidet haben und sie in konkurrenzloser Pracht die bestäubenden Insekten ganz für sich haben. Für Eggenberg ist heute Premiere: Die Insubrica hat er zuvor noch nie zu Gesicht bekommen, und das will was heissen für jemanden, der jeden Monat mehrere Exkursionen für Studenten leitet. Wie oft kommt es noch vor, dass er eine neue Art antrifft? «Immer seltener», lacht Eggenberg. Im Jahr noch ein- bis dreimal. Oft handelt es sich um Endemiten, Arten also, die ein stark begrenztes Verbreitungsgebiet haben. In der Schweiz gibt es 6 endemische und 65 teilendemische Pflanzenarten. Bei Letzteren, zu denen auch die Insubrica gehört, liegt ein Teil des Verbreitungsgebietes in einem oder mehreren benachbarten Ländern. Endemiten sind spannende Arten, auch für die Forschung. Es stellt sich bei jeder Art die Frage, wieso sie es nicht geschafft haben, sich auszubreiten. In den Fokus gerückt sind die Schweizer Endemiten 2011 mit der Bestimmung von «national prioritären Arten» durch den Bund. Ziel war es, jene Arten zu ermitteln, die hierzulande bedroht sind, und für deren Überleben die Schweiz eine

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Der Insubrische Enzian im Fokus von Stefan Eggenberg: «Hier auf dieser Fläche mag der Enzian häufig sein. Aber Hunderte an einem Ort sind nicht so viel, wenn eine Art weltweit nur noch mit wenigen Populationen in einem kleinen Areal vorkommt.»



Ihr Schicksal liegt in unserer Hand Für dieses Buch haben sich die beiden Journalisten Gregor Klaus und Nicolas Gattlen mit ausgewiesenen Kennerinnen und Kennern auf die Suche nach elf Arten gemacht, die in der Schweiz nur noch sehr lokal vorkommen oder fast ausgestorben sind. Nicht alle gesuchten Pflanzen und Tiere konnten ausfindig gemacht werden. Die Bestände dieser Arten sind durchwegs winzig, und ob man eines der wenigen verbliebenen Individuen antrifft, hängt auch von den Witterungsbedingungen ab. So fliegt etwa das Sumpfhornklee-Widderchen, ein kleiner rotschwarzer Schmetterling, nur bei schönem Wetter, und es ist selbst dann noch ein Glücksfall, eines zu sehen, wenn man ganz genau weiss, wo es eigentlich vorkommen müsste. Doch was würde es bedeuten, wenn das Sumpfhornklee-Widderchen inzwischen ausgestorben wäre? Muss es uns kümmern, wenn der kleine Ruderfusskrebs Gelyella, die Bachmuschel oder eine unscheinbare Flechte aus der Schweiz verschwinden? Die Antwort ist: Ja! Eine Art, die verschwindet, zeigt uns, dass für sie kein geeigneter Lebensraum mehr da ist. Und damit auch kein solcher für unzählige andere Arten, mit denen sie in Beziehung stand. Mit jeder Art verschwindet ein Knoten aus dem Lebensnetz; das Netz wird immer löchriger. Von den rund acht Millionen Arten, die auf der Erde leben, sind gemäss dem soeben erschienenen globalen Bericht des Weltbiodiversitätsrats (IPBES) eine halbe bis eine ganze Million Arten vom Aussterben bedroht. Nun könnte man denken, dass im Laufe der Evolution ständig Arten ausgestorben und neue entstanden sind. Doch die aktuelle Aussterberate ist 10- bis 100-mal so hoch, wie sie natürlicherweise wäre, und sie steigt exponentiell an. Als ob die vollständige Tilgung einer Art nicht schon genug wäre, verfügen unzählige weitere Arten nur noch über einen Bruchteil ihres ursprünglichen Verbreitungsgebietes. Es ist damit nur eine Frage der Zeit, bis auch sie endgültig verschwinden.


Schuld an diesem Massenaussterben ist der Mensch. Er macht den meisten anderen Arten den Platz streitig und beutet die natürlichen Ressourcen übermässig aus. Das bleibt nicht ohne Konsequenzen für uns selber, denn wir profitieren enorm von den Leistungen der Natur. Zu diesen Leistungen gehören handfeste Güter wie Nahrungs- und Futtermittel, Brennstoffe und Wirkstoffe für Medikamente. Aber auch Erholung, Naturerlebnisse, sauberes Wasser, fruchtbare Böden, Schutz vor Hangrutschen und Murgängen, die Bekämpfung von Schädlingen und die Bestäubung von Kultur- und Wildpflanzen gehören dazu. Jede Pflanze, jeder Schmetterling, jeder Pilz, ja jeder unscheinbare Fadenwurm nimmt eine bestimmte Rolle in seinem Ökosystem ein. Welche Art welche Funktion inne hat und wie sich diese Rolle unter veränderten Umweltbedingungen wandelt, ist nicht in jedem Fall abschliessend erforscht. Was aber generell gilt: Je höher die Biodiversität ist, desto grösser sind die Selbstheilungskräfte der Ökosysteme und desto grösser und konstanter ist der Beitrag der Natur zum Wohlergehen der Menschen. Mit dem Rückgang der Biodiversität sind in den letzten Jahrzehnten weltweit fast sämtliche Leistungen der Natur zurückgegangen. Um den Negativtrend aufzuhalten, sind alle gefordert: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, auch jede und jeder Einzelne von uns. Der Bundesrat hat die Dringlichkeit des Problems erkannt und 2012 die Strategie Biodiversität Schweiz verabschiedet, die alle Politikbereiche in die Verantwortung nimmt. 2017 beschloss er den zugehörigen Aktionsplan. Als zentrales Element enthält der Plan den Ausbau der Schutzgebiete der Schweiz zu einer ökologischen Infrastruktur, welche wichtige Flächen für die Erhaltung der Biodiversität langfristig sichern soll, sowie die gezielte Förderung von national prioritären Arten. Auch wenn dieser Plan noch längst nicht umgesetzt ist und auch nicht alle Probleme löst — es ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Für eine Trendumkehr braucht es gemäss IPBES aber weit mehr: einen


transformativen Wandel hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft mit einem deutlich geringeren Ressourcenverbrauch und einem schonenden Umgang mit Natur und Umwelt. Die Evolution hat in den Jahrmillionen Erdgeschichte eine unglaubliche Vielfalt von Organismen hervorgebracht und dafür gesorgt, dass wir die Erde mit anderen Lebewesen teilen, die verblüffende Verhaltensweisen, Formen und Farben sowie eine faszinierende Ökologie aufweisen. Unser eigenes Überleben hängt weitgehend von ihrem Fortbestand ab. Doch anstatt dieser biologischen Vielfalt Sorge zu tragen, haben wir es innert weniger Jahrzehnte geschafft, unzählige Arten an den Rand des Aussterbens zu bringen oder sie sogar ganz auszurotten. Nebst dem gut dokumentierten Nutzen der Artenvielfalt für uns Menschen gibt es auch noch einen weiteren Grund, die Artenvielfalt zu bewahren, nämlich schlicht deren Schönheit. Als Biologe und Wissenschaftler kann ich nur unterschreiben, was Douglas Adams und Mark Carwardine in ihrem 1990 erschienenen Bestseller «Die letzten ihrer Art» geschrieben haben: Unsere Welt wäre eine ärmere, dunklere und einsamere ohne die vielen erstaunlichen und einzigartigen Mitbewohner — und eine langweiligere dazu, möchte ich hinzufügen. Ob wir auch in 50 Jahren den Kiesbankgrashüpfer, den Insubrischen Enzian, den Juchtenkäfer oder die Grosse Hufeisennase noch in der Schweiz antreffen können, hängt nicht nur von den Wissenschaftlerinnen und Naturschützern ab, die ihr Leben in den Dienst dieser Arten gestellt haben. Letztendlich sind es unsere Ansprüche, Lebens- und Verhaltensweisen, die darüber entscheiden, ob eine Art überlebt oder nicht. Die ganze Gesellschaft ist gefordert, so zu handeln, dass alle der rund 50’000 in der Schweiz vorkommenden Arten auch in Zukunft ausreichend Platz zum Leben haben. Florian Altermatt Präsident des Forums Biodiversität Schweiz der Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT)


Die Herausgeberin bedankt sich ganz herzlich für die finanzielle Unterstützung durch folgende Stiftungen, Fonds und Institutionen: Bristol-Stiftung, Zigerli-Hegi-Stiftung, SwisslosFonds des Kantons Aargau, Lotteriefonds Kanton Bern, Sophie und Karl Binding Stiftung, Claire Sturzenegger-Jeanfavre Stiftung, Info Fauna, Info Flora, Schweizerische Vogelwarte Sempach, SwissFungi, SwissLichens, Swissbryophytes, Stiftung Fledermausschutz, InfoSpecies.

Ein ganz herzlicher Dank geht an die vielen Fachpersonen, die uns mit grossem Engagement und Wissen bei der Suche nach den aussterbenden Arten geholfen haben und den Reportagen die Essenz eingehaucht haben: Anna Carlevaro (Büro für Gewässerökologie), Stefan Eggenberg (Info Flora), Mike Hermann (Büro für angewandte Tierökologie & Botanik), Petra Horch (Schweizerische Vogelwarte Sempach), Lea Kamber (Käferspezialistin), Bärbel Koch (freischaffende Biologin), Hubert Krättli (Stiftung Fledermausschutz), Meinrad Küchler (Eidg. Forschungsanstalt WSL), Thibault Lachat (Berner Fachhochschule), Pascal Moeschler (Muséum d‘histoire naturelle de Genève), Miriam Lutz Mühlethaler und Erich Mühlethaler (Fledermaus spezialisten), Andreas Müller (Natur Umwelt Wissen GmbH), Klaus Robin (Robin Habitat AG), Christian Roesti (Orthoptera.ch GmbH), Jörg Rüetschi (Schneckenspezialist), Corina Schiess (Schmetterlingsexpertin), Beatrice Senn (Eidg. Forschungsanstalt WSL), Heinrich Vicentini (Gewässerökologe) Ein grosses Dankeschön geht auch an Jodok Guntern vom Forum Biodiversität Schweiz für wertvolle inhaltliche Inputs in der Konzeptphase und für die administrative Hilfe sowie an Martin Andereggen, Claudio Gasser und Jonas Wandeler vom Atlas Studio in Zürich für die wunderbare Gestaltung und die angenehme Zusammenarbeit.



Gross war das Entsetzen, als 2019 die letzte weibliche Jangtse-Riesenweichschildkröte in China und das letzte männliche Sumatra-Nashorn in Malaysia starben. Still und leise verschwinden aber auch in der Schweiz unzählige faszinierende Tier- und Pflanzenarten. Die beiden Journalisten Gregor Klaus und Nicolas Gattlen haben sich auf die Suche nach den letzten Überlebenden von elf dieser Arten gemacht, in Begleitung von Expertinnen und Experten, die die Arten erforschen und sich für deren Rettung einsetzen. Sie lauschten am Ufer der Rhone dem Gesang eines unscheinbaren Grashüpfers, fahndeten im Neuenburger Karst nach urzeitlichen Krebstierchen, suchten in Bächen nach Muscheln und durchkämmten Tessiner Alpweiden, um die Blüten eines speziellen Enzians zu bestaunen. Die Reportagen decken das Ausmass des vom Menschen verursachten Massensterbens auf — sie zeigen aber auch, wie sich dieser Trend umkehren lässt.


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