Caviola et al., Sprachkompass

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Bristol-Schriftenreihe Band 56

Haupt NATUR

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Herausgeber Ruth und Herbert Uhl-Forschungsstelle fĂźr Natur- und Umweltschutz, Bristol-Stiftung, ZĂźrich www.bristol-stiftung.ch

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Hugo Caviola, Andreas Kläy, Hans Weiss

Sprachkompass Landschaft und Umwelt Wie die Sprache unseren Umgang mit der Natur prägt

Haupt Verlag

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Verantwortlich für die Herausgabe Bristol-Stiftung. Stiftungsrat: Dr. René Schwarzenbach, Herrliberg; Dr. Mario F. Broggi, Triesen; Prof. Dr. Klaus Ewald, Gerzensee; Martin Gehring, Zürich Managing Editor Dr. Manuela Di Giulio, Natur Umwelt Wissen GmbH, Zürich Adresse der Autoren Hugo Caviola, Dr. phil., Interdisziplinäres Zentrum für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt (CDE), Universität Bern, Hallerstr. 10, CH-3012 Bern E-Mail: hugo.caviola@cde.unibe.ch Andreas Kläy, dipl. Ing. ETH, Interdisziplinäres Zentrum für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt (CDE), Universität Bern, Hallerstr. 10, CH-3012 Bern E-Mail: andreas.klaey@cde.unibe.ch Hans Weiss, dipl. Ing. ETH, Gesellschaftsstr. 14a, CH-3012 Bern E-Mail: hweiss@bluewin.ch Layout Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, D-Göttingen nach einem Konzept von Jacqueline Annen, Maschwanden Illustrationen Umschlag: Atelier Silvia Ruppen, Vaduz Kapitel 1–10: Julia Weiss, Bern Zitierung CAVIOLA, H.; K LÄY, A.; WEISS, H., 2018: Sprachkompass Landschaft und Umwelt. Wie die Sprache unseren Umgang mit der Natur prägt. Zürich, Bristol-Stiftung; Bern, Haupt. 180 S. Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliografie verzeichnet. Mehr Informationen dazu finden Sie unter http://dnb.dnb.de Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 – 2020 unterstützt. ISBN 978-3-258-08068-0 Alle Rechte vorbehalten. Copyright©2018 Haupt Bern Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig. Printed in Germany www.haupt.ch

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Klimaneutral

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Abstract A language compass for landscape and environment: how language shapes our interactions with nature Using a linguistic discourse analytical approach, this book examines key German-language terms used to describe landscapes and nature. It reveals how language shapes our perception of landscapes and nature, guiding our thoughts and actions. In times of rapid loss of cultural landscapes and biodiversity, the book is designed as a tool addressing a broad readership from the natural and social sciences, the humanities, and the arts, as well as practitioners in fields such as landscape and urban planning. The focus on language reveals how human interaction with landscape and nature is inescapably embedded in culture – an innovative and insightful approach to environmental and management issues. The linguistic approach focuses largely on metaphor analysis. Following Lakoff’s and Johnson’s theory of conceptual metaphor and recent framing theories, the study examines terms referring to landscape and nature that are widely used in both scientific and popular discourse, usually without noticing what implications the terms have. Among these terms are Fläche (surface area), Raum (space), Netz (network, web), Entwicklung (development), Landschaftsdienstleistung (ecosystem services), and bauliche Verdichtung (densification). By uncovering hidden connotations of these terms the book serves as a tool for reflection and a compass for written and spoken language use for anyone interested in a multifaceted and comprehensive approach to landscape and nature. In its introductory chapters, the book offers insights into the cognitive function of metaphors and provides guidelines for how to make the manipulative power of metaphors transparent. The study also approaches another linguistic phenomenon that is specifically German – so-called be-verbs (e.g. bearbeiten, beweiden, bewässern). The analysis shows that these verbs imply an attitude of dominating nature, even in cases where a perspective of care and gratitude is sought. In its concluding chapter, the study offers insights into the cognitive effects associated with the terms Klimawandel and Klimaerwärmung (climate change and climate warming). By promoting a reflective use of language, the book seeks to inspire mindful and sustainable interaction with landscapes and nature, while also supporting understanding among different actors. It offers experts, decision-makers, and laypeople a tool to critically examine their linguistic resources and means of thinking. Keywords: landscape, landscape planning, linguistic discourse analysis, metaphor, framing.

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Vorwort Mein Leben lang habe ich mich mit Natur und Landschaft beschäftigt. Freude und Begeisterung über Wunder und Schönheit wurden je länger je heftiger getrübt durch brutale Eingriffe, Missbräuche und Störungen, die seit den 1960er Jahren Natur und Landschaft zugefügt wurden. Dass ich die Zerstörungen und Schändungen als zwingenden Tribut von Hochkonjunktur und baulicher Expansion zu schlucken habe, empörten mein Innerstes und führten mich zum Naturschutz. Empfindlichkeit und Empfindsamkeit gegenüber aussermenschlichem Leben und dessen Lebensräumen sowie der Landschaft als meiner Heimat erstreckten sich auch auf Sprache und deren Nuancen. So war ich geradezu perplex, als ich vor Jahren den Ausdruck «Multikomponenten-Deponie» hörte, denn die stinkende und vor sich hin qualmende Abfallhalde (den Begriff Müll kannte man hierzulande noch nicht) war dieselbe wie vorher, als sie «Güselgrube» oder «Schneckenbord» hiess. Gerade jetzt beim Abfassen dieses Vorwortes höre ich vom «Eierskandal» – auch das ein falscher Ausdruck, weil die Eier in Holland durch das Insektizid Fipronil verunreinigt worden sind. Die Legehennen seien bereits zu Tausenden geschlachtet worden – ebenfalls ein falscher Ausdruck – denn man schlachtet Tiere, um sie zu verzehren; diese armen Federviecher wurden wohl lebendigen Leibes geschreddert oder vergast, eventuell «begast», was humaner tönt aber ebenso letal endet. Schon bin ich mitten in der Thematik des vorliegenden Buches. Die Autoren führen den Lesern in sublimer Weise verschiedene Facetten zum Verständnis der Sprache vor Augen. Treffende Beispiele und präzise Beschreibungen verhelfen einem zu Aha-Erlebnissen. Das Sich-Gedanken-Machen über die Sprache und Begriffe ist heilsam für eine exakte Ausdrucksweise und eindeutige Objektivierung. An mancher Stelle wird man hellhörig und realisiert eigene blinde Flecken. Das Inhaltsverzeichnis ist so übersichtlich und durchsichtig, dass ich hier keine weiteren Erläuterungen anbringen möchte. Natur und Landschaft als vormals unerschöpfliches Füllhorn bedurften keiner akribischen naturwissenschaftlichen Analyse und Nomenklatur ihrer Bestandteile. Landschaft galt als harmonisch, friedlich, idyllisch – kurzum ein Gegenstand einer Sonntagsrede. Erst nach der Umkehr der Bedrohlichkeit zur Bedrohtheit schusterte man ein Arsenal von Begriffen um fachlich-sprachlich des Komplexgebildes Natur und Landschaft habhaft zu werden. Doch die Resultate blieben kläglich, weil sich die undisziplinierte Disziplinlosigkeit von Natur und Landschaft diesem Bemühen entzog und entzieht. Schon als junger Geograph konnte ich mich mit den neuen Begriffen «Raum», «Umwelt», «Parzellenschärfe» usw. nicht anfreunden. Die sprachliche Verharmlosung fiel mir schon früh auf. Das «teuflisch-rote» Pulver mit Namen «Schneckentod» wich den himmelblauen «Schneckenkörnern» und «Schneckenlinsen» – tödlich sind sie allemal. Als Gärtner stolpere ich nicht nur über die Schneckenkörner, sondern ich appliziere eine Pflanzenschutz-Emulsion, die aber genau so tödlich wirkt wie das vormalige Insektengift, mit dem ich die Rosen «be-sprayte». Noch drei Proben aus meinem sprachlichen Gruselkabinett: Wolf, Luchs und Bär werden kaum mehr totgeschossen, sondern sie werden reguliert. Oder das Fallwild fällt beileibe nicht tot um, sondern es wird von Autos tot gefahren. Wegen des Lärms von Auto-

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Vorwort

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bahnen im Wohngebiet, werden diese nachträglich eingetunnelt. Der Fachausdruck lautet aber Einhausung – als ob je dort jemand ausser Ratten hausen würde. Die Autoren schreiben: ein bewusster Umgang mit der Sprache ermöglicht den menschlichen Umgang mit Landschaft und Umwelt. Möge dieses Buch dazu verhelfen! Klaus Christoph Ewald Prof. em. Dr. phil. II habil., 3115 Gerzensee Mitglied Stiftungsrat Bristol-Stiftung

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Inhalt Abstract Vorwort Dank

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Einleitung, Grundlagen und Ziele 1.1 «Sprachkompass» als Orientierungshilfe 1.2 Sprachreflexion, Multiperspektivität und Neuperspektivierung

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Ausgangslage: Sprachvertrauen und Sprachzweifel 2.1 Ein Blick in die Geschichte

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Sprache als Erkenntnismittel 3.1 Sprache eröffnet Perspektiven auf die Welt 3.2 Worte sind nur die Spitzen des Eisbergs: Perspektiven aktivieren Frames, drücken Haltungen aus und leiten zu Handlungen an 3.3 Daten und Fakten 3.4 Neue Wörter für neue Gegenstände, neue Sachverhalte durch neue Wörter? 3.5 Sprachvergessenheit und Sprachbewusstsein 3.6 Metaphern 3.7 Wörter, die fehlen 3.8 Satzbau zwischen Denkverfahren und Denkkorsett

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Sprache und Sprachgemeinschaft 4.1 Sprachgemeinschaften 4.2 Sprache als Machtmittel 4.3 Plastikwörter 4.4 Alltags- und Fachbegriffe: Von warmen und kalten Wörtern

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Erwarteter Gewinn der Sprachreflexion

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Theoretische Vertiefungen 6.1 Metaphern erkennen und ihre gedankenleitende Wirkung durchschauen 6.2 Metaphern als Brücken zwischen Alltags- und Fachwissen

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Landschaft im Lichte unterschiedlicher Metaphern 7.1 Landschaft in Entwicklung 7.2 Landschaft im Netz 7.3 Landschaft als Raum 7.4 Landschaft als Fläche 7.5 Landschaftsdienstleistung (Ecosystem Service)

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Sprachkompass Landschaft und Umwelt

Verdichtetes Bauen 8.1 Verdichtung, ein neuer Leitbegriff im Siedlungsbau 8.2 Verdichtung und Innenentwicklung: die gedanken- und handlungsleitende Wirkung der Metaphern 8.3 Herleitung und Begründung 8.4 Ergebnisse

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Landschaft im «Krallengriff» des Akkusativs: mit be-Verben denken und handeln 9.1 Die Landschaft im Krallengriff 9.2 Herleitung und Begründung

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10 Klimawandel

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11 Literatur

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Anhang

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Portrait der Autoren

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Dank Unser besonderer Dank gilt Prof. Dr. Martin Reisigl, Universitäten Wien und Bern, für seine Beratung in linguistischen und konzeptionellen Fragen über die gesamte Projektzeit. Wertvolle Hinweise zu einzelnen Kapiteln verdanken wir PD Dr. Mario F. Broggi, Bristol-Stiftung, Dr. Matthias Buchecker, WSL Birmensdorf, PD Dr. Matthias Bürgi, WSL Birmensdorf, Prof. em. Dr. Klaus C. Ewald, Bristol-Stiftung, Dr. Roger Keller, Universität Zürich, Prof. Dr. Felix Kienast, WSL Birmensdorf, Pia Kläy, ehem. Bundesamt für Umwelt (BAFU), Prof. Dr. Christoph Küffer, HSR Rapperswil und ETH, Dr. Raimund Rodewald, Stiftung Landschaftsschutz (SL) und Prof. em. Dr. Peter von Matt, Universität Zürich. Wir danken den folgenden Stiftungen für ihre finanzielle Unterstützung: Bristol-Stiftung 3F Organisation Heinrich Welti Stiftung Stiftung Landschaftsschutz (SL) Julia Weiss danken wir für ihre fantasievollen und erhellenden Illustrationen und Urs Balsiger, CDE Universität Bern, für die professionelle Handhabung unserer finanziellen Belange. Ein grosser Dank gebührt Dr. Manuela Di Giulio für ihre sorgfältige Durchsicht des Manuskripts. Hugo Caviola, Andreas Kläy, Hans Weiss

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Einleitung, Grundlagen und Ziele

1.1

«Sprachkompass» als Orientierungshilfe

Hand aufs Herz: Beissen Sie lieber in einen Apfel oder in ein Agrarprodukt? Ruhen Sie sich lieber auf einer Wiese aus oder auf einer Erholungsfläche? Geniessen Sie lieber eine Aussicht oder eine Landschaftsdienstleistung? Führen Sie lieber ein Stück Entrecôte zum Mund oder das Leichenteil eines Tiers? Die Beispiele zeigen, dass es durchaus darauf ankommt, welche Wörter wir wählen, wenn wir uns über Dinge verständigen. Alle hier paarweise verglichenen Ausdrücke sind in gewisser Weise richtig, sie beleuchten dieselbe Faktenlage, allerdings auf unterschiedliche Weise. Auffällig ist, dass uns diese perspektivische Ausrichtung der Wörter gewöhnlich nicht auffällt, weil wir ihnen in getrennten Zusammenhängen, etwa in einem Alltagsgespräch oder einem Fachtext, begegnen. Deshalb sind wir uns meist nicht bewusst, dass wir mit dem Entrecôte zugleich auch ein Leichenteil essen, und dass eine schöne Aussicht auch eine Landschaftsdienstleistung sein kann. Wir sind meist blind dafür, dass Wörter die Dinge nicht umfassend, sondern in gewisser Weise, im Licht einer bestimmten Haltung und bestimmter Interessen darstellen. Fehlt der Vergleich, glauben wir uns mit den Wörtern meist gleich bei den Dingen. Wir sind in Benennungsroutinen befangen, die uns glauben machen, dass die Dinge so sind, wie man sie situationsgemäss benennt. Kurz: Wir schenken den Wörtern Vertrauen und akzeptieren sie, ohne darüber nachzudenken, was sie beleuchten und was sie gleichzeitig ausblenden. Dass Sprache unser Verständnis von Wirklichkeit mitprägt, wird uns dabei nur selten bewusst. In diesem Buch geht es um die Frage, was ein bewusster Umgang mit der Sprache für den menschlichen Umgang mit Landschaft und Umwelt leisten kann. Bis heute gelten in der Wissenschaft die Natur- und Gesellschaftswissenschaften als für die Landschaft zuständig. Sie haben aus ihren fachlichen Sichtweisen entscheidende Beiträge zum Verständnis von Landschaft geleistet.1 Eine systematische Auseinandersetzung mit der Sprache findet im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Umgang mit Landschaft und Umwelt jedoch bis heute kaum statt. Damit bleibt ein zentrales Medium, mit dem wir Landschaft gedanklich erfassen, sie erforschen und über ihre politische Bedeutung streiten, unberücksichtigt. Sollte uns dieser Umstand nicht alarmieren? Unsere Lage gleicht der von Gärtnerinnen und Gärtnern, die über ihre Arbeitsgeräte nicht nachdenken, weil sie ihnen vertraut erscheinen und wie selbstverständlich zur Verfügung stehen. Vereinzelte diskursanalytische Studien haben sich in den letzten Jahren mit Landschaftsbegriffen in unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen auseinandergesetzt (z. B. GAILING und LEIBENATH 2012; HOKEMA 2013; MIEG und OEVERMANN 2015). Die neue Kulturgeographie betrachtet Landschaft nicht mehr als per se vorhanden, sondern als eine Fol-

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Während die Naturwissenschaften Landschaft als von der menschlichen Beobachtung unabhängig, substanziell Gegebenes auffassen, begreifen sie die Gesellschaftswissenschaften (Soziologie, Ökonomie) als sozialen Raum und Gegenstand der Wertschöpfung. Psychologische Ansätze beleuchten Landschaft in Bezug auf menschliches Wohlbefinden und Gesundheit (BAUER und M ARTENS 2010).

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Sprachkompass Landschaft und Umwelt

ge sprachlicher Bedeutungszuschreibungen (WINTZER und WASTL-WALTER 2016). Im Ganzen sind Studien zur sprachlichen Erfassung von Landschaft aber bisher dünn gesät (HARD 1970; FILL 1993, 1996; VON DETTEN 2001; MARK et al. 2011; WOJTKIEWICZ und HEILAND 2012; HABSCHEID und REUTER 2013). Die vorliegende Studie «Sprachkompass Landschaft und Umwelt» begegnet dieser Situation mit exemplarischen Untersuchungen zu zentralen Begriffen, die heute im Gebrauch sind. Sie stützt sich dabei auf Verfahren, welche die Diskurslinguistik im vergangenen Jahrzehnt entwickelt hat (SPITZMÜLLER und WARNKE 2011; WARNKE 2013; BENDEL L AR CHER 2015). Die Diskurslinguistik erforscht, wie Sprache Sachverhalte formt, diese unserem Denken zugänglich macht und so auch gesellschaftliches Handeln anleitet. Sie versteht Sprache somit als Denk- und Handlungsmittel. Leider bleibt linguistisches Wissen dieser Art bisher meist auf germanistische Fachpublikationen beschränkt. Eine Vermittlung an die Akteurinnen und Akteure der natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Fachgebiete ebenso wie an Laien fehlt weitgehend (BENDEL L ARCHER 2015: 40). Der «Sprachkompass Landschaft und Umwelt» will eine Brücke zwischen Linguistik und gesellschaftlicher Praxis schlagen. Mit unserer Publikation wollen wir Landschaftsakteure, d. h. Forschende und Lehrende, Personen aus Planung, Politik und Verwaltung, Landschaftsschützerinnen und Landwirte, insbesondere aber auch Bürgerinnen und Bürger darin unterstützen, sich der sprachlichen Mittel kritisch zu vergewissern, deren sie sich in ihrem Umgang mit Landschaft bedienen. Die Ergebnisse unserer Untersuchungen können so zu einer sprachlichen Orientierungshilfe, zu einem Sprachkompass, werden. Damit uns die Vermittlung von Fachwissen gelingt, bedienen wir uns in diesem Buch einer allgemein verständlichen Sprache. Wir führen zentrale linguistische Fachbegriffe ein und streben nach anschaulicher Darstellung. Wir verweisen aber auch auf wissenschaftliche Arbeiten und sind um fachliche Verlässlichkeit bedacht. Das Bestreben um fächerübergreifende Vermittlung widerspiegelt sich auch in der Autorenschaft, die hinter diesem Buch steht. Hugo Caviola brachte die linguistische Kompetenz ein, Hans Weiss und Andreas Kläy trugen ihren Erfahrungsschatz aus dem Landschaftsschutz und der Nachhaltigkeitsforschung in das Werk. Eine erste Fassung der hier vorgestellten Forschungsergebnisse liegt auf der Website www.sprachkompass.ch vor. Wie ist das Buch aufgebaut? Die Kapitel 1 bis 5 formulieren die diskurslinguistischen Fragestellungen und stellen die Methoden und Ziele unseres Vorhabens vor. Kapitel 6 bietet eine theoretische Vertiefung zum Thema Metapher, das uns durchs ganze Buch begleiten wird. Kapitel 7 behandelt jene Begriffe, die im wissenschaftlichen, planerischen und politischen Umgang mit Landschaft heute am gängigsten sind. Dazu gehören der Raum, die Fläche, das Netz, die Entwicklung und die Dienstleistung. Die Kapitel 8 bis 10 beleuchten Begriffe, welche heute rege politische Debatten befeuern, die bauliche Verdichtung und der Klimawandel. Mit der Landschaft im «Krallengriff» des Akkusativs (Kapitel 9) und den Ausdrücken Klimawandel und Klimaerwärmung (Kap.10) wenden wir uns sprachlichen Erscheinungen zu, deren Bedeutungsgehalt nicht in Metaphern, sondern im Wortbau und der Grammatik begründet liegt. Die Kapitel 7 bis 9 behandeln Begriffe ausführlich; sie folgen daher einer Zweiteilung: Sie stellen die Ergebnisse auf den ersten Seiten in verkürzter Form dar; unter dem Titel «Herleitung und Begründung» leiten sie die vorangestellten Ergebnisse in vertiefender

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Einleitung, Grundlagen und Ziele

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Form her. Wer sich also einen kurzen Überblick schaffen will, kann sich beim Lesen dieser Kapitel auf die summarischen ersten Seiten beschränken. Das Wort Landschaft selbst nehmen wir von einer genaueren Untersuchung aus. Wie angedeutet, liegen schon einige, auch jüngere Studien zu diesem Schlüsselbegriff vor (HARD 1970; GAILING und LEIBENATH 2012; KÜHNE 2013; HOKEMA 2015). Landschaft bildet den umfassenden Hintergrund, auf den sich die von uns untersuchten Begriffe beziehen. Der Landschaftsbegriff eignet sich aus verschiedenen Gründen als Bezugsgrösse. Landschaft ist ein Begriff, der weder eindeutig der Wissenschaft noch der Alltagsprache angehört. Er ist, wie der Geograf Olaf Kühne feststellt, «relativ bedeutungsoffen», er wird allgemein mit positiven Werten verbunden und bietet daher «vielfältige Identifikationsmöglichkeiten» (KÜHNE 2013: 12) an. Der Begriff Landschaft wird meist auf eine Gesamtheit räumlicher Erscheinungen bezogen: Eine Landschaft liegt typischerweise ausserhalb der Stadt und ist mit Versatzstücken wie Bäumen, Hügeln, Bergen, Felsen, Tälern, Wäldern, Seen und Bächen ausgestattet. Auch Dörfer, Siedlungen und Verkehrswege kommen in diesem Ensemble vor, liegen aber eher am Rand des Bildes. Landschaft ist weiter mit Natur, Grünem, Belebtem verbunden und wird gewöhnlich mit Harmonie, Friede und Idylle assoziiert (HARD 1970; HOKEMA 2015: 349). In diesem vagen Verständnis bietet sich der Landschaftsbegriff als Klammer an, die unterschiedliche Forschungsansätze aufnimmt und «zum Nachdenken und Streiten (….) über verschiedene Landschaftsbegriffe» einlädt (GAILING und LEIBENATH 2012: 96).2 Auch Umwelt, der zweite Begriff aus dem Buchtitel, fungiert als allgemeine Bezugsgrösse für unsere Untersuchungen. Anders als etwa Umgebung, Ökosystem oder Natur bezeichnet Umwelt eine Relation zu einem Individuum bzw. zu einem Organismus und verweist auf dessen Lebensbedingungen (VON UEXKÜLL und K IRSZAT 1938). Dieser Bedeutungsgehalt des Wortes Umwelt ist in eine Vielzahl von Wortbildungen eingegangen, welche den gesellschaftlichen Rang des Wortes anschaulich dokumentieren: Umweltbedingungen, Umweltbelastung, Umweltbewusstsein, Umweltbezug, Umweltgesetzgebung, Umweltkatastrophe, UmweltministerIn, Umweltpolitik, Umweltrecht, Umweltschädigung, Umweltschutz, UmweltsünderIn, Umweltverband, Umweltverschmutzung, Umweltverträglichkeit (CANCIK 2007). Jeder dieser Ausdrücke eröffnet eine eigene sprachliche Perspektive auf die Umwelt.

1.2

Sprachreflexion, Multiperspektivität und Neuperspektivierung

Ob wir Landschaft als Raum, Fläche, Ressource oder Landschaftsbild bezeichnen, ist entscheidend für die Art und Weise, wie wir Landschaft wahrnehmen und wie wir mit ihr umgehen. Nach dem diskurslinguistischen Sprachverständnis können wir uns einer objektiven Sichtweise auf die Landschaft einzig annähern, wenn wir uns von solchen Einzelperspektiven lösen. Aus einer beweglichen Aussensicht kann es uns gelingen, die Einzelperspektiven als gewählte Sichtweisen in ihrer spezifischen Eigenart zu erkennen. Die durch

2 Im sog. erweiterten Landschaftsverständnis wird auch die Stadt zur Landschaft gezählt (KÜHNE 2013: 14).

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Reflexion gewonnene Aussensicht macht den Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen der Einzelperspektiven frei und ermöglicht einen mehrperspektivischen Blick auf die Landschaft. Sprachreflexion kann uns so die vermittelten, aber auch die ausgeblendeten Bedeutungen einzelner Sichtweisen aufzeigen (WARNKE 2013: 79). In Anlehnung an unser Kreismodell – das in Kapitel 3.1 genauer vorgestellt wird – nennen wir diese bewegliche Aussensicht aus der Metaposition eine Position der Umsicht. Sie erlaubt uns eine einkreisende Annäherung an das Phänomen Landschaft (Abb. 1). Eine innerstädtische Brache ist für Bauvorstände und Architekten ein Verdichtungsraum, für Ökologinnen ein Lebensraum und für Stadtplanerinnen und -planer beispielsweise eine Erholungsfläche. Nicht selten sind an sprachliche Perspektiven auch Ansprüche gesellschaftlicher Gruppen oder bestimmter Fachrichtungen gebunden. Wie kaum je zuvor treffen heute im begrenzten Raum der Schweiz zahlreiche gesellschaftliche Ansprüche aufeinander. Wo sich Sichtweisen derart unterscheiden, bietet Sprachreflexion eine Aussenposition an, die einen Vermittlungsstandpunkt schafft. Nicht selten zeigt sich auch, dass Akteure, die den Handlungsinteressen unterschiedlicher Perspektiven folgen, sich untereinander entweder nicht verstehen – aneinander vorbeireden – oder sich für einander nicht interessieren (BACKHAUS et al. 2007: 109). Offen-

Abb. 1. Die bewegliche Aussensicht auf sprachliche Perspektivierungen schafft einen Zugang zur Landschaft «mit Umsicht».

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Einleitung, Grundlagen und Ziele

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kundig ist ferner, dass sich in der gesellschaftlichen Praxis einzelne sprachliche Perspektiven durchsetzen, während andere verdrängt oder in dominante Sichtweisen umgemünzt werden. Sprachreflexion kann und soll auch Formen sprachlicher Dominanz und Macht offenlegen. Die Chancen der Sprachreflexion sind damit umrissen: Sie kann unterschiedliche Akteure darin unterstützen, sich aus den Einschränkungen und Denkzwängen einzelner Zugänge zu lösen und Wege zu einer multiperspektivischen Wahrnehmung der Landschaft aufzeigen.

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Ausgangslage: Sprachvertrauen und Sprachzweifel

Sprachvertrauen ist die Voraussetzung jeder funktionierenden Kommunikation. Lesen wir die Zeitung, eine Gebrauchsanweisung, einen Reiseführer oder eine wissenschaftliche Abhandlung, so vertrauen wir darauf, dass uns die Sprache zu den beschriebenen Gegenständen führt. Unser Vertrauen bestätigt sich, wenn wir das in der Gebrauchsanweisung beschriebene Gerät anschliessend bedienen können und die im Reiseführer genannte Kirche am entsprechenden Ort finden. Sprachvertrauen bestimmt den Normalfall menschlicher Zusammenarbeit und Kommunikation. Wir könnten unseren Alltag nicht bewältigen, würden die Wörter nicht eine direkte Brücke zwischen sprachlichen Äusserungen und der Wirklichkeit schlagen. Wir müssen darauf vertrauen können, dass die Sprache mit ihren Wörtern und Sätzen ein verlässliches Bild der Wirklichkeit wiedergibt (GARDT 2013: 35-36). Die eingangs genannten Beispiele nähren allerdings Zweifel, ob dieses Sprachvertrauen immer berechtigt ist. Die Gegenüberstellungen von Entrecôte und Leichenteil, von Apfel und Agrarprodukt zeigen, dass die Sprache eine eigentümliche Brechung unserer Wahrnehmung bewirkt. Im Wechsel vom einen zum anderen Ausdruck wird deutlich, dass sich Wörter wie filternde Brillen zwischen uns und die Wirklichkeit schieben und die benannten Gegenstände in ein bestimmtes Licht tauchen, ja sie in gewisser Weise erzeugen. Diese «Sprachbrillen« prägen die aussersprachliche Wirklichkeit, führen Gliederung und Bewertung in das Wahrgenommene ein. Ein Entrecôte erscheint den Fleischesserinnen und -essern als ein schmackhaftes Stück Fleisch, das den Appetit anregt. Dem deutschsprachigen Ohr verbirgt es elegant seine Herkunft vom Tier («Zwischenrippenstück«). Es verleiht unserem Umgang mit ihm eine Aura von französischem savoir vivre. Ganz anders das tierische Leichenteil. Das Wort schlägt uns die Herkunft des Entrecôtes schonungslos um die Ohren. Das Fleisch auf unserem Teller verwandelt sich in ein ekelerregendes Objekt, das getötete Tier wird uns vor Augen geführt. Das Nebeneinander der beiden Ausdrücke macht deutlich, dass Sprache nicht nur die Bahnen auslegt, in denen wir über einen Gegenstand denken und fühlen, sondern auch einen wichtigen Anteil daran hat, wie wir handeln. Im einen Fall geniessen wir (zumindest die Fleischesserinnen und -esser unter uns) das Fleisch, im anderen schrecken wir angewidert davor zurück. Das Ineinanderblenden der beiden Wörter ist deshalb erhellend, weil sich zwei Wissensbereiche verschränken, die wir gewöhnlich getrennt voneinander wahrnehmen: Speisesaal und Schlachthof. Im Vergleich zwischen dem appetitlichen Entrecôte und dem ekelerregenden Leichenteil wird uns bewusst, wie beschränkt die Sichtweisen sind, die die einzelnen Ausdrücke erzeugen und umgekehrt, welche Merkmale des benannten Gegenstandes sie verdecken. Im Vergleich werden uns die blinden Flecken der beiden Ausdrücke bewusst. Wir erkennen die «gegenstandsverändernde Wirkung der Sprache» (PÖRKSEN 1994: 137). Der Vergleich der beiden Ausdrücke macht uns schlauer, wir erlangen ein breiteres, facettenreicheres Wissen über den fraglichen Gegenstand und erreichen so – wiederum situationsbezogen – ein ausgewogeneres Urteil über ihn. Ausgestattet mit solchem Sprachwissen können wir auch mit mehr Umsicht handeln. Die gedankliche Erweiterung durch Sprachreflexion hat hintergründig einen zweiten Effekt: Sie untergräbt unser blindes Vertrauen in die Sprache. Die Erweiterung lehrt uns, dass uns Wörter nicht selbstverständlich zu den Dingen führen und wir deshalb gut be-

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raten sind, ihnen mit Vorsicht zu begegnen. Diese Vorsicht bedeutet zu fragen, welche Aspekte der Welt Wörter sichtbar machen und welche sie verdecken. Und weiter bedeutet sie, nach den Gründen zu fragen, warum wir in bestimmten Zusammenhängen gerade diese Wörter und nicht andere wählen. Warum ist solch kritisches Sprachbewusstsein in Bezug auf Landschaft und Natur heute wichtig? Die Frage nach einem umsichtigen und damit sachgerechten Umgang mit der Landschaft drängt sich heute mit besonderer Dringlichkeit auf. Der rasante Landschaftsverbrauch durch Zersiedelung (SCHWICK et al. 2010) und der Verlust an Lebensräumen für Tiere und Pflanzen sind heute breit dokumentiert (EWALD und K LAUS 2009; FISCHER et al. 2015). Wir sind darauf angewiesen, dass wir bei unseren sprachlichen Annäherungen an die Natur möglichst hellhörig verfahren und dabei so weit als möglich auch die blinden Flecken unserer Begriffe bedenken. Dies gilt nicht nur für das Entrecôte, sondern auch für die Wiese, die Erholungsfläche, die Aussicht und die Landschaftsdienstleistung, Ausdrücke, die in ihrem jeweiligen Gebrauchszusammenhang meist unproblematisch und unschuldig scheinen.

2.1

Ein Blick in die Geschichte

Ein Blick in die Geschichte kann den Zusammenhang zwischen Sprache, Denken, Wissen und Handeln verdeutlichen. Unter Kulturlandschaft verstehen wir heute das Ineinanderwirken natürlicher und menschlicher Kräfte, wie wir ihm etwa in terrassierten Äckern, Gebirgsstrassen oder in Flussschlingen angelegten Städten begegnen. Das Wort Kultur geht auf das lateinische colere = pflegen, verehren, Acker bestellen zurück. Der römische agricola (der Bauer) war demnach ein Acker-Pfleger/Verehrer, ein Begriff, der eine Haltung von Nutzorientierung und gleichzeitiger Wertschätzung gegenüber der Natur ausdrückt. Über die Jahrhunderte hat sich die menschliche Haltung gegenüber Natur und Landwirtschaft weit vom lat. Wortsinn von colere entfernt. Bis heute aber lässt sich Kulturlandschaft verstehen als ein Ineinander von natürlicher Eigendynamik (Evolution, Wachstum, Klima, jahreszeitlichem Wandel etc.) und menschlichem Einwirken auf die Natur. Wir versetzen uns zurück in die Zeit des 18. und 19. Jahrhunderts, in die Zeit der Industrialisierung. Damals litten weite Teile der Schweiz unter Armut und die Menschen in den Flussebenen etwa des Berner Seelandes, der Linth- und der Rhone-Ebene kämpften mit wiederkehrenden Hochwassern und sich in Sümpfen vermehrenden Krankheitserregern. Überblicken wir die Ideen, von denen sich unsere Vorfahren in ihrem planerischen Umgang mit der Landschaft leiten liessen, so erkennen wir, dass dieser Umgang – vereinfacht – von Schlüsselwörtern wie Sanierung, Korrektion, Melioration, Bereinigung und Begradigung beflügelt war. Die Verbindung dieser Leitbegriffe schuf eine Rezeptur, die unsere Vorfahren dazu anleitete, Wildnis und die bestehenden Kulturlandschaften in der Schweiz grundlegend umzubauen: Flüsse wurden begradigt, Sümpfe trockengelegt, Mulden aufgeschüttet, als Hindernis erscheinende Hügel, Trockenmauern und Hecken beseitigt und eingeebnet. Die Folge war – stark verkürzt – eine «ausgewechselte Landschaft» (EWALD und K LAUS 2009). Aus einem Land, in dem um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch Armut geherrscht hatte, war hundert Jahre später ein prosperierendes Gemeinwesen geworden – in einem neuen Landschaftsgewand.

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Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts bahnte sich ein Umbruch an. Die Fortsetzung der Sanierungs-, Korrektions-, Bereinigungs- und Meliorationsmassnahmen zog Nebenfolgen nach sich, die man bisher übersehen hatte: Die industrialisierte Landwirtschaft hatte nicht nur grössere Erträge erbracht, sie hatte auch weite, homogene Nutz- und Agrarflächen geschaffen, die die Landschaft ihres ortstypischen Charakters beraubten. Lokale Lebensräume von Tieren und Pflanzen gerieten unter Druck und wurden im dichter werdenden Netz von Verkehrswegen sukzessiv auf isolierte Restflächen reduziert. Die Folge war ein dramatischer Rückgang der natürlichen Vielfalt, auch von Arten, die für den Bestand einer intakten Umwelt und für die Menschen unentbehrlich sind (z. B. der Bienen). Viele früher verbreitete Arten sind ganz verschwunden oder vom Aussterben bedroht. Wiederholt wurden meliorierte Landschaften von Hochwassern heimgesucht (z. B. 1976, 1987, 2005), in den Tälern richteten Erdrutsche Schäden an Verkehrswegen und Siedlungen an, deren Kosten allein 2005 die 100-Millionengrenze überstiegen (UVEK 2008). Damit waren blinde Flecken des vorgängigen Denkens und Handelns augenfällig geworden. Schrittweise und nicht ohne Widerstand kam in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ökologische Korrekturbewegung in Gang, die bis heute andauert. Wörter wie Renaturierung und Wiederbelebung (Revitalisierung) von Flussläufen, die Regeneration von Auen verraten in ihren Vorsilben re-, dass es um ein teilweises Wiederherstellen von Lebensräumen geht. Zuvor begradigte Flussläufe erfahren eine Gerinneaufweitung, um der fortschreitenden Sohlenvertiefung Einhalt zu gebieten. Wo Flüsse in das Korsett enger Kanäle gezwängt und damit Auenwälder vom fliessenden Wasser abgeschnitten waren, werden heute vermehrt Überflutungsflächen geschaffen. Zuvor scharf voneinander getrennte Anbau- und Waldflächen werden da und dort in dynamische Waldränder zurückmodelliert, ökologische Ausgleichs- und Biodiversitätsförderflächen angelegt. Auffällig an dem beschriebenen Prozess ist seine Diskontinuität, die Abfolge einer Vorwärts- und Rückwärtsbewegung, die man auch als Vorwärtsbewegung in einem veränderten Kontext sehen kann. Die Beobachtung wirft die Frage auf, warum die Betreiber der ersten Korrektion derart blind gegenüber den Nebenfolgen ihrer Handlungen sein konnten, dass die nächsten Generationen die Fortschritte von damals nun teilweise – und mit erheblichem finanziellem Aufwand – rückgängig machen müssen. Ein Blick auf die Sprache kann Hinweise zu einer Antwort liefern. Er führt uns zurück zur Beobachtung, dass die Wahl von Wörtern auch Haltungen zum Ausdruck bringt. Solche Haltungen werden erkennbar, wenn man Wörter als Wahl kenntlich macht und sich fragt, welches Bild sie von ihrem Gegenüber, hier der Natur, entwerfen. Das Bild gewinnt Umrisse, wenn wir die einzelnen Ausdrücke in ihrem Miteinander und ihrer Metaphorik betrachten. So erkennen wir hinter den Wörtern Sanierung (von lat. sanare = heilen) und Melioration (lat. melior = besser) ein Naturbild, das die Natur als etwas Krankes (als Patientin) und Verbesserungsbedürftiges (Mangelhaftes) bestimmt. Bereinigung mit ihrem Ziel der sauberen Lösung verrät ein hygienisches Ideal, das angesichts krank machender (aber nicht kranker!) Sümpfe durchaus berechtigt war. Hinter dem Ausdruck Korrektion verbirgt sich die Vorstellung, die Natur sei mit Fehlern behaftet, die man korrigieren müsse. Das Ideal demgegenüber war eine geometrisch gestaltete Landschaft, in der mäandernde Flüsse und ausufernde Flussauen als mangelhaft erscheinen mussten. Neben der Einsicht in die Nöte der damaligen Zeit (Armut, Bevölkerungswachstum, knappes Ackerland, wiederkehrende Überflutungen, Malariagefahr) springt aus heutiger Sicht die dama-

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lige Blindheit gegenüber komplexen Naturzusammenhängen ins Auge. Wir erkennen, dass unsere Vorfahren, geleitet durch ein spezifisches sprachliches Bildfeld (Verbesserung, Reinheit, Heilung), sich dazu (ver)führen liessen, ihren Handlungen eine ganz bestimmte Richtung zu geben. Dies mit den genannten Folgen, die nun die folgenden Generationen dazu veranlassen, die Korrektion zu korrigieren und den Schaden wieder gutzumachen (Abb. 2). Wir wollen mit dieser Beobachtung nicht behaupten, dass zwischen Denken, Sprache, Wissen und Handeln ein zwingender Zusammenhang, ja eine direkte Kausalbeziehung bestehe. Sie macht aber deutlich, dass Wörter Denkbahnen auslegen, die bestimmte Handlungen – und Unterlassungen – nahelegen und plausibel machen. Solche Denkbahnen werden zumindest in Umrissen erkennbar, wenn wir die Sprache genau befragen. So hätten sich die Akteure von damals fragen können, ob Bereinigung die richtige Therapieform für die «Patientin» Landschaft sei. Und weiter, ob die Natur als Ganze überhaupt als «Patientin» in Frage kommt. Das Beispiel macht deutlich, dass ein gutes Mass an Sprachbewusstsein den Handelnden hätte zeigen können, welche Folgen ihr Tun haben kann. Deutlich wird aus diesen Beobachtungen auch, dass der gesellschaftliche Umgang mit der Natur an ein historisches Naturverständnis gebunden bleibt, das unvermeidlich blinde Flecken mit sich führt. Der historische Kontext hat sich seit der Mitte des 20. Jahrhundert grundlegend verändert. Natur ist heute nicht mehr ein unerschöpfliches und bedrohliches Gegenüber des Menschen. Natur wird heute wahrgenommen als ein seinerseits bedrohter und begrenzter Teil unserer Welt, als eine verletzliche Grundlage für das heutige und das zukünftige Leben der Menschheit. Hat man der Wildnis zuvor gepflegte Gärten und Parks gegenübergestellt, so werden Reste der Wildnis heute in Parks streng beschützt, denaturierte Naturteile technisch renaturiert. Beide Haltungen gegenüber der Natur waren bzw. sind stark gefühlsbesetzt und aus dem jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontext heraus schwer durchschaubar. Doch Gefühle und Werthaltungen drücken sich unvermeidlich in der Sprache aus. Mit dem Blick auf die Sprache kann es deshalb gelingen, die Voreingenommenheiten und blinden Flecken, die die Wörter begleiten, zumindest teilweise auszuleuchten.

Abb. 2. Die Thur renaturiert: Korrektion der Korrektion. Die begradigte Thur wurde in eine naturnahe, gewundene Form zurückgeführt (Situation im Jahr 2014). Reproduziert mit Bewilligung der Baudirektion des Kantons Zürich.

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Ausgangslage: Sprachvertrauen und Sprachzweifel

Sprache, gesellschaftliches Handeln und Institutionen, Denken, Wissen und Haltungen stehen in einem dialektischen Zusammenhang. Dies bedeutet, dass sich Sprache, Denken und Handeln in ihren Wechselwirkungen gegenseitig stabilisieren und legitimieren (Abb. 3). In ihrem Zusammenwirken erzeugen sie einen gesellschaftlichen common sense, der historisch Gegebenes und epochentypische Einstellungen als «natürlich» und damit selbstverständlich erscheinen lassen (FAIRCLOUGH 2015: 7f). Ihr selbstverständlicher Gebrauch prägt Überzeugungen und Weltsichten, die, wenn sie unreflektiert bleiben, für eine Gesellschaft ideologischen oder gar mythenähnlichen Charakter annehmen können. Grundhaltungen gegenüber der Natur wie Naturbeherrschung oder Naturschutz bringen – wie vorhergehend dargestellt – solche epochentypischen Weltsichten zum Ausdruck. 3

Denken, Wissen, z. B. um Wirkungen von Überschwemmungen

Haltungen, Werte, Wünsche, z. B. Gesundheit, Wohlstand, Wildnis bekämpfen, Sicherheit

Sprache, z. B. Metaphern wie «Sanierung»,«Melioration»

Institutionen, z. B. Staat, Eisenbahnen, Kraftwerke etc.

Handlungen, soziale Praxis, z. B. Kanäle bauen

Abb. 3. Sprache, Denken und gesellschaftliches Handeln im Zusammenhang.

3 Theoretische Vertiefungen können in folgende Richtungen weisen: Der Soziologe Pierre Bourdieu spricht von einem soziotechnischen Habitus, in dem sich Denk-, Ausdrucksweisen und Taten verbinden (BOURDIEU 1997). Der Mediziner und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck spricht von epochentypischen Denkstilen, die sich in einem Denkkollektiv ausdrücken (FLECK 1980). Der Philosoph Hans Blumenberg kommt zu Ergebnis, dass der implizite Gebrauch von Metaphern eine Hintergrundmetaphorik erzeuge, die in einer Gesellschaft eine mythenähnliche Funktion einnehmen kann (BLUMENBERG 1960). Nach Michel Foucault verbinden sich sprachliche Diskurse, gesellschaftliche Einrichtungen und Gesetze zu sog. Dispositiven, die in ihrem Miteinander Machtwirkungen erzeugen (FOUCAULT 1978: 120).

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Portrait der Autoren Dr. Hugo Caviola Geboren 1955 in Zürich. Studium der Germanistik und Anglistik in Basel und den USA. Dissertation zur Raumwahrnehmung. Tätigkeit als Gymnasiallehrer. Leitung von Forschungsvorhaben zur Metaphorik in der Wissenschaft und zur schulischen Interdisziplinarität. Von 2014–2016 Leiter des Forschungsprojekts Sprachkompass Landschaft und Umwelt am Zentrum für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt (CDE) der Universität Bern als Associated Senior Research Scientist.

Andreas Kläy Geboren 1952 in Bern. Lehre zum Chemielaboranten im Gewässerschutz, Studium der Forstwissenschaften an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Tätigkeit in der internationalen Zusammenarbeit in Mosambik und anderen Ländern Afrikas und Asiens. Seit 1990 am Zentrum für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt (CDE) der Universität Bern, zeitweise als Ko-Direktor, heute als Associated Senior Research Scientist.

Hans Weiss Geboren 1940 in Küsnacht bei Zürich. Studium der Geologie an der Universität Zürich. Promotion an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ) als diplomierter Kulturund Vermessungsingenieur. 1968 bis 1972 Leiter der amtlichen Stelle für Natur- und Landschaftsschutz des Kantons Graubünden, 1970 bis 1992 Geschäftsleiter der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz SL und Dozent für Landschaftsschutz und Raumplanung an der ETHZ. 1992 bis 2000 Geschäftsleiter des Fonds Landschaft Schweiz FLS. Seit 2001 freiberuflich publizistisch tätig.

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