LanaLive-Report 2019

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Roundabout

LanaLive REPORT 2019




ROUNDABOUT Vom 23. Mai bis 02. Juni 2019 drehte sich bei LanaLive, unter dem Titel „Roundabout“ alles um die Mobilität. Lana ist ein Verkehrsknotenpunkt, gelegen am historisch wichtigen Übergang der Falschauer, beim Zugang zum Ultental und zum Nonsberg. Verkehrstechnisch innovativ zeigte sich Lana in den 1910er Jahren: Die erste Trambahn Südtirols verband bereits 1906 Lana mit Meran und 1912 führte die als Pionierarbeit geltende Seilbahn von Lana aufs Vigiljoch. Vor allem in der Nachkriegszeit veränderte sich das Dorfbild: Die ursprünglichen, dem Berghang entlang liegenden Dorfteile Nieder-, Mitter-, Oberlana und Vill, wurden baulich zusehends zusammengeführt, außerdem erfuhr das Dorf eine – vorher kaum gekannte – West-, Ostausdehnung, da entlang der Hauptverkehrsachse Bozner- und Meranerstraße gebaut wurde. LanaLive machte sich auf den Weg sich kulturell mit dem Phänomen der „Mobilität“ auseinander zu setzten, zeigte Entwicklungen und Tendenzen auf, blickte in die Vergangenheit und in die Zukunft. Das Festival vollzog sich wie ein Roadmovie den Hauptverkehrsachsen der Marktgemeinde entlang und bespielte mit thematisch abgestimmten Konzerten, performativen Interventionen, Ausstellungen, Filmvorführungen, Vorträgen und Erkundungstouren, vom Verkehr geprägte Orte. Der Autor Marcel Zischg war als Zeuge bei allen Veranstaltungen des Festivals dabei. Seine Berichten und die Fotos von Flyle bilden die Grundlage dieser, das Festival zusammenfassenden, Publikation. Hannes Egger


ROUNDABOUT Dal 23 maggio al 2 giugno 2019 si è tenuta l’ottava edizione di LanaLive, festival culturale transdisciplinare e tematico, quest’anno dedicato al tema della mobilità e intitolato “Roundabout”. Lana è infatti un importante e storico crocevia, porta di accesso per la Val d’Ultimo e la Val di Non, che sorge dove il Rio Valsura incontra l’Adige. Il legame tra questa cittadina e il mondo del trasporto ha una storia importante, tanto che, nel primo decennio del Novecento, essa già vantava importanti e avanguardistici impianti di trasporto: è del 1906 il primo tram dell’Alto Adige, che collegava Lana a Merano; mentre risale al 1912 la funivia Lana-Monte San Vigilio, considerata un progetto pionieristico. Nel dopoguerra la fisionomia del paese subì importanti cambiamenti: le originarie frazioni di Lana di Sotto, di Mezzo, di Sopra e Villa – sorte alle pendici del Monte San Vigilio – si espansero fino ad unirsi; allo stesso modo, con la costruzione delle importanti via Bolzano e via Merano, il paese ampliò i suoi confini verso est e ovest. Nel 2019, LanaLive si è proposta di studiare il fenomeno della mobilità secondo un approccio culturale, mostrando sviluppi e tendenze, guardando al passato e al futuro. Il festival si è svolto come una sorta di road movie lungo i principali assi stradali del comune, proponendo concerti, interventi performativi, mostre, proiezioni di film, conferenze ed escursioni dedicate al tema del trafffico. L‘autore Marcel Zischg, che è stato presente a tutti gli appuntamenti del festival, ha svolto in questa edizione il ruolo di testimone. Le sue relazioni e le fotografie di Flyle costituiscono la base di questa pubblicazione. Hannes Egger


Zeuge Marcel Zischg Fotos Flyle



Erkundung wohliger Klänge oder Das Euphonium Preview: Bürgerkapelle Lana, Steven Mead: MEETING MEAD 18.05.2019, Mittelschule Lana Aufgeregt betrete ich die Turnhalle der Mittelschule Lana. Zwischen Turnleitern, Kletterstangen, einem Fußballtor und zwei Basketballkörben wartet das Publikum der Preview-Veranstaltung von LanaLive auf einen der weltweit besten Euphoniumspieler, wie er unter Fachleuten genannt wird: den britischen Musiker Steven Mead (57). Sehr viel Publikum hat sich eingefunden. Während das Blasorchester Platz nimmt, sehe ich auf einem Podest erhöht eine wunderschöne große Harfe stehen, die mich sofort verzaubert und ruhiger stimmt. Der Obmann der Bürgerkapelle, Christian Schwarz, eröffnet die Veranstaltung mit einer Grußrede, und dann führt der Sprecher Rudi Gamper mit Einführungen zu jedem Musikstück durch den Abend. Zum Einstieg spielt das Blasorchester die Symphonic Overture des US-amerikanischen Blasmusikkomponisten James Barnes, als Dirigent fungiert Kapellmeister Martin Knoll. Mich berühren die sanften, langsamen Klänge der Klarinetten, das liebliche Spiel der Querflöten, die zarten Töne der Harfe und auch die pompösere Blasmusik in diesem Stück. Ich vergesse sofort, dass ich mich in einer Turnhalle befinde – im Handumdrehen hat das Orchester die sportliche Umgebung wegmusiziert. Rudi Gamper führt nun in das Stück Vintage des US-amerikanischen Komponisten David R. Gillingham ein – und dann tritt endlich Steven Mead in die Halle. Freundlich lächelnd und schwarz gekleidet nähert er sich mit seinem Euphonium dem Orchester. Ich bin nun sehr gespannt, denn mir ist das Instrument bislang gänzlich unbekannt. Das Euphonium, das 1843 erfunden wurde, ist ein Blechblasinstrument, und seine Klänge werden mich ein wenig an die einer Tuba erinnern. Endlich! Steven Mead steht mit seinem Instrument auf dem Podest – die Harfe ist verschwunden, bemerke ich erst jetzt. Vintage ist ein Stück mit feingleitenden Melodien, die sich mit schnellen, bedrohlich anmutenden Passagen abwechseln. Steven Mead spielt mitunter alleine, macht dabei Pausen, genießt aber auch die Begleitung des Orchesters. Mich berühren vor allem die andächtigen tieferen Tonlagen des Euphoniums, die er mit viel Einsatz zum Klingen bringt. Hingerissen bin ich auch von der feinsinnig gespielten Ouvertüre zur Operette Die schöne Galathée von Franz von Suppé, die auf der mytho-


logischen Geschichte des Künstlers Pygmalion beruht, welcher sich in die von ihm selbst erschaffene wunderschöne Statue der Nymphe Galathée verliebt. Es folgt das Stück Two-part Invention von Philip Sparke, einem britischen Komponisten. Hierbei tritt zu meiner großen Überraschung ein zweites Euphonium an der Seite von Steven Mead auf, welches von der jungen Kathrin Egger gespielt wird. Kathrin Egger wurde 1994 in Bozen geboren und studierte am Leopold-Mozart-Zentrum in Augsburg bei Markus Mikusch und Steven Mead. Egger und Mead stehen nun nebeneinander auf dem Podest vor dem Blasorchester und beginnen ihre Darbietung. In Two-part Invention berühren mich besonders stark die Wechsel zwischen den beiden Euphonium-Solisten: Mal spielt das eine, mal das andere Instrument, und beide erzeugen auf ihre ganz eigene Weise sehr gefühlsbetonte Melodien – wohlig warme Klänge, die vom Orchester gekonnt begleitet werden. Erst bei dieser Darbietung wird mir der wohlige Klang dieses Instruments vollkommen bewusst: Er erscheint mir tief, voll und weich. Auch das übrige Publikum ist von diesem Stück und den beiden Euphonium-Spielern begeistert – es folgt ein tosender Applaus. Nach Alfred Reeds berührendem Stück Third Suite for Band (Scenes de Ballet) folgt zum Abschluss Philip Sparkes Blue Heart, welches mich mit seinem fulminanten Tempo begeistert. Rudi Gamper beschreibt zum Schluss, dass Steven Mead alle Facetten des Euphoniums zum Leuchten bringe, und dies ist auch für mich spürbar, obwohl ich kein Musiker bin. Für mich wird dieses Konzert zu einem glanzvollen und rundum gelungenen Abend, obwohl ich zuvor – noch unsicher, ob ich meiner dokumentarischen Aufgabe gewachsen sein werde – die Turnhalle in großer Aufregung betreten hatte. Zum Abschluss des Konzerts legt Steven Mead noch eine augenzwinkernde Zugabe drauf: Er spielt ganz alleine auf seinem Euphonium, erkundet die gesamte Tonpalette und lässt uns damit noch einmal an den wundervollen Klängen dieses Instruments teilhaben. Nun scheint mir das Euphonium beinahe lebendig – und dabei sehr eigenwillig – zu sein, und ich denke nochmals an die Geschichte des Künstlers Pygmalion zurück, dessen Statue Galathée zum Leben erweckt wurde.


Der Verkehrstanz über die Erde Elisabeth Ramoser: 360° STARTING FROM MYSELF 23.05.2019, Festplatz in der Gaulschlucht Als ich am Festplatz in der Gaulschlucht ankomme, spüre ich die angenehm kühle Frische der Umgebung und höre das Rauschen der Falschauer. Es ist ein sonniger Tag gewesen, und inzwischen ist es Abend. Steile Felsen umgeben die Schlucht, auf dem Festplatz sind Zelte und Tische aufgestellt sowie eine Bühne. Ich erfahre, dass auf dem Festplatz auch das Open Air Gaul vorbereitet wird, welches an diesem Wochenende stattfinden soll. Das Publikum versammelt sich bald stehend um eine junge Tänzerin namens Elisabeth Ramoser, die an der Kunstakademie in Perugia, bei DANCEWORKS in Berlin und am SEAD in Salzburg studierte und Teil des Young Batsheva Ensembles war. Die Tänzerin bewegt sich auf allen vieren rückwärts auf einen weißen Kreis zu. Dieser Kreis ist dreigeteilt durch ein Y. Später erklärt Hannes Egger, dass auch der Griesplatz in Lana sich durch eine Y-Form auszeichnet: Eine Abzweigung führt in Richtung Bozen, die zweite in Richtung Val di Non und die letzte zur Teiss-Brücke und damit in Richtung Ultental. Elisabeth Ramoser beginnt, in dem weißen Kreis zu tanzen. Sie vollführt die eindrucksvollsten Tanzfiguren zumeist liegend, streckt und dehnt ihren Körper, lässt dabei aber jede Bewegung erstaunlich leicht aussehen. Bald fliegt ein Modellflugzeug auf sie zu, das mitunter den Rhythmus ihres Tanzes bestimmt. Auch das Modellflugzeug tanzt durch die Lüfte, dreht sich oftmals um sich selbst. Ich habe den Eindruck, dass Mensch und Maschine hier ein Verhältnis eingehen: Vielleicht stellt der Tanz von Elisabeth das ununterbrochene Bemühen des Menschen dar, mit der Technik Schritt zu halten. Manchmal aber bewegt sich die Tänzerin in einem von dem schnell kreisenden Flugzeug ganz unabhängigen Rhythmus und legt auch eigenwillig Pausen ein. Als ich einmal bewusst ins Publikum schaue, bemerke ich, dass die Blicke der meisten Zuschauer tatsächlich eher auf die Tänzerin gerichtet sind als auf die kleine Flugmaschine, und das beruhigt mich. Nach dem Tanz erfahre ich, dass Elisabeth Ramoser von ihrem Cousin Klaus Ramoser begleitet wurde, der das Modellflugzeug aus Depronso wunderbar steuerte. Immer mehr drängt sich mir der Gedanke auf, dass Elisabeths Tanz darstellte, wie der Mensch in seinem Lebenstanz immer auch mit der Maschine verbunden ist, dass er sich mit Hilfe der Maschine über die Erdkugel bewegt. Vielleicht ist Elisabeth heute


sogar symbolisch über diese ganze Welt getanzt mit dem Flugzeug, mit der Maschine – und doch schien ihr Tanz ab und zu auch etwas ganz Unabhängiges freizusetzen. Leise ging dieser Tanz schließlich zu Ende, und neben der Tänzerin landete dann endlich auch das Flugzeug.




Ein Baumstamm ist Hauptdarsteller im Film Simon Perathoner: ULTEN – TRIFT – LANA 23.05.2019, Teissbrücke Lana Die Teissbrücke in Lana ist klarerweise ein Zentrum der Mobilität, aber nun bin ich zuerst einmal angetan von der Idee, die Unterseite der Brücke als Filmleinwand zu verwenden. Kino stelle ich mir eigentlich gemütlicher vor, denke ich, mit einer riesigen Filmleinwand, weichen Polsterstühlen usw., aber vielleicht bietet die Falschauer ja eine gute akustische Untermalung und wir halten es eine Weile unter der Brücke im Stehen aus. Ich erfahre auch, dass der Künstler Simon Perathoner, der 1984 in Brixen geboren wurde und an der Universität für angewandte Kunst in Wien studierte, während der Veranstaltung unter der Teissbrücke selbst gar nicht anwesend sein soll. Nach den Eröffnungsreden des Lananer Bürgermeisters Harald Stauder und des künstlerischen Leiters Hannes Egger wird eine Live-Aufnahme eingeblendet. Sie zeigt Simon Perathoner im Ultental am Ufer der Falschauer. Der Künstler trägt Stiefel und ist mit einem Baumstamm beschäftigt: Er legt einen GPS-Chip in den Stamm des Baumes und schraubt den kleinen Hohlraum dann wieder zu. Das Publikum unter der Teissbrücke beobachtet ihn gespannt. Im Baumstamm ist eine Inschrift eingeritzt: ULTEN – TRIFT – LANA. Simon Perathoner wirft den Baumstamm in die Falschauer. Er nimmt einen langen, dünnen Ast und folgt dem Baumstamm, der vom Fluss weitergetrieben wird. Wird das Weiterkommen des Baumstamms im Fluss behindert, beispielsweise durch einen großen Stein, dann versucht Simon, mit seinem langen Ast den Stamm wieder freizusetzen, sodass er vom Wasser weiterbefördert wird. Ich erkenne nun den Zweck seiner interessanten Performance: Simon führt dem Publikum die einstige Arbeit der Ultner Trifter vor Augen. Eine Zuschauerin fragt sich laut, ob wir jetzt so lange unter der Teissbrücke warten müssen, bis Simon mit dem Baumstamm hier ankommt. Ich beginne zu schmunzeln und denke: Hoffentlich ist das tatsächlich nur ein Scherz! Bald jedoch werden Simon und der Baumstamm ausgeblendet und jeder im Publikum erhält einen Chip, mit dessen Hilfe wir herausfinden können, wo sich der Baumstamm gerade befindet. Vielleicht interessiert sich tatsächlich jemand für seinen weiteren Weg. Die Veranstaltung schließt mit einem kurzen Film über die Trift, der zeigt, wie hart die Arbeit der Ultner Bauern als Trifter war: Um das


Holz nach Lana zu transportieren, mussten die Trifter selbst dem schwierigen Flussverlauf folgen, oft mit Hilfe von Seilen. Und in Lana kam dann der härteste Teil der Arbeit, nämlich bei der „Holzlend“: Hier musste das Holz aus dem Fluss geholt und aufgeschichtet werden. Einige ältere Menschen, frühere Trifter aus den 1940er und 1950er Jahren, melden sich im Film zu Wort und sprechen über ihre Erfahrungen. Ergriffen bin ich von den Gedenktafeln, die an tödliche Unfälle von Menschen bei der Trift gemahnen. Viele Bauern sahen es deshalb nicht gerne, wenn ihre Söhne an der Trift teilnahmen. Heute aber wäre die Holztrift auf diese Weise aufgrund der Stauseen gar nicht mehr möglich. Deshalb wird Simon Perathoner mit seinem Baumstamm wohl auch nicht in Lana ankommen. Als ich die Veranstaltung verlasse, ist es schon fast dunkel geworden. Ich überquere die Teissbrücke, blicke dabei noch einmal auf den Fluss hinab und denke: Was, wenn ich hier jetzt tatsächlich auf den Baumstamm und auf Simon Perathoner warte? Aber gerade dies macht ja auch den Reiz aus, glaube ich – eigentlich des ganzen Lebens, das uns auch oft an unerwartete Orte trägt. Irgendwann werde ich wohl doch nachschauen, wohin es den Baumstamm verschlagen hat.




Musik aus dem Moment mit lässigen Eseln und chronischen Staus Erika Inger, Herbert Golser, Dietrich Oberdörfer, Wolfgang Wohlfahrt: ESELS-RHYTHMUS-KLANG-TOURNEE 24.–25.05.2019, Lana Nach einer langen Schlechtwetter-Periode ist es erstaunlich warm, als ich an diesem fast wolkenlosen Nachmittag im Industriegebiet Lana eintreffe. Auf dem von Gras und Sträuchern überwachsenen Hügel oberhalb des Würstelstands 2000, der Müllhalde, beginnt die Esels-Rhythmus-Klang-Tournee. Die vier Künstler Erika Inger, Herbert Golser, Dietrich Oberdörfer und Wolfgang Wohlfahrt bilden ein musikalisches Quartett. Sie sitzen auf blaugefärbten Stühlen; Erika Inger sitzt erhöht, denn ihr Stuhl steht wiederum auf einem blauen Tisch – und darüber spannt sich der blaue Himmel. Vielleicht sind dies Zaubermöbel, kommt es mir in den Sinn, die sogar das Wetter zum Besseren beeinflussen können. Auch vier Esel stehen bereit und auf dem Hügel haben sich ein paar Zuhörer eingefunden. Das Anfangskonzert wird mit Bassflöte, Synthesizer, Cello und Kalimba gespielt. Ich muss zuerst einmal gedanklich ankommen, deshalb wirkt dieses Konzert noch nicht so stark auf mich. Nach dem Konzert auf dem Hügel laden die Eselsführer die blauen Möbel auf die Esel, die Instrumente landen auf einem Wagen, der von Pedro, einem der Esel, gezogen wird. Pedro ist fünf oder sechs Jahre alt, erfahre ich, und das ist für einen Esel noch jung, denn diese können bis zu dreißig Jahre alt werden. Als er den Wagen ziehen muss, macht Pedro nur wenige Schritte und bleibt dann unvermittelt stehen. Sein Führer muss ihn regelrecht dazu überreden, weiterzugehen. Etwas beschwerlich steigt die Gruppe mit den Eseln schließlich den Hügel hinab. Von der Industriezone aus geht es nun die Straße entlang in Richtung Oberlana. Bald jedoch wird der Gehsteig, auf dem wir bislang mit den Eseln wanderten, zu schmal. Die Eselsführer wechseln mit den Tieren auf die dicht befahrene Straße, was von der Ortspolizei überwacht wird. Dies verursacht natürlich einen Stau in Richtung Lana. Als einer der Esel plötzlich stehen bleibt, schwenkt man eine Karotte vor ihm, um ihn dazu zu bringen, weiterzugehen. Der Stau hinter dem Esel wird jetzt gewiss immer länger, schwant mir. Und im Radio könnte ein Sprecher nun folgende Durchsage melden: „Stau in Richtung Oberlana. Grund ist eine Gruppe mit Eseln, die auf der Straße verkehrt. Einer der störrischen Esel bewegt sich keinen Millimeter weiter, aber die


Ortspolizei ist vor Ort und versucht, das Tier mit einer Karotte zum Weiterziehen zu bewegen. Rechnen Sie mit etwas Wartezeit. Und nun zum Wetter, das uns heute sehr sonnig gesonnen scheint …“ Ich frage mich, ob den noch immer stehenden Eseln der Stau nicht allmählich beunruhigend erscheint – da endlich schafft man es doch, weiterzuziehen! Die Esel setzen sich alle wieder in Bewegung, und einige Autofahrer, die in Richtung MeBo unterwegs sind, fangen die Esel im Vorbeifahren mit ihren Handys ein – vielleicht für ein gelungenes Urlaubsfoto aus Südtirol. Um 17 Uhr beginnt das zweite Konzert auf dem Parkplatz Max-ValierStraße, den wir nun endlich erreichen. Wieder setzen sich die vier Musikanten auf die blauen Stühle und spielen auf ihren Instrumenten – auf anderen als zuvor beim ersten Konzert. Fast pausenlos rauschen Autos in Richtung Dorf, andere wieder hinaus. Die eindringlichen tiefen Melodien der Blechblasinstrumente stehen für mich im Widerspruch zu dem laut vorbeiziehenden Verkehr, denn sie vermitteln Gefühle von innerer Einkehr und Ruhe. Auf mich wirkt die Musik naturbezogen, ursprünglich und vielleicht auch etwas mystisch. Man hält inne und wird aus dem schnelllebigen Alltag entführt, als laufe diese feine musikalische Welt zwar neben der realen des Verkehrs einher, aber man ist doch viel stärker in dieser und kann so von der realen nun Abstand gewinnen und sie lächelnd beobachten. Ein leises Zeichen für diese alltagsferne Welt scheint es mir auch, als ein kleiner Käfer nun über die Seite meines Heftes wandert, auf der ich diesen Bericht schreibe. Ich halte mit dem Schreiben inne, halte das Heft nur noch fest und höre weiter der Musik zu. Ich sehe mich außerstande, den Käfer mit der Hand einfach fortzuwischen, aber irgendwann fliegt er schließlich alleine davon, und ich atme erleichtert auf. Manches Mal korrespondieren laute und durchdringende Melodien mit dem unruhigen und rauschenden Rhythmus des Verkehrs, und man wird selbst nervös, weil es nun auf einmal zwei laute Welten sind, in denen man sich befindet. Einige Zuhörer haben sich zu diesem Konzert eingefunden und eine freundliche Dame erzählt, sie sei eigens für das Konzert auf ihrem Fahrrad vorbeigekommen. Die Esel rasten während der Darbietung im Schatten. Nach dem Konzert wird das Equipment der Musiker wieder auf die Esel gepackt und wir ziehen weiter zum Abendkonzert an der Teissbrücke. Auch hier finden sich wieder zahlreiche interessierte Zuhörer ein und einige blicken aus den Fenstern ihrer Häuser. In Gesellschaft der Esel und der Musiker genießen wir noch etwas den lauen Frühsommerabend.


Am nächsten Tag findet der zweite Teil der Esels-Rhythmus-KlangTournee statt. Nach dem gelungenen Zwischenkonzert auf dem Tribusplatz in Lana unterhalte ich mich mit dem Musiker und Organisten Dietrich Oberdörfer, der mir Interessantes über die Musik erzählt, die während der Tournee gespielt wird: Alles in den Konzerten sei reine Improvisation, jeder Musiker füge sich in die klanglichen Elemente der Gruppe ein und so entstehe die Musik direkt im Moment. Die Musik sei deshalb auch eine besondere Herausforderung, denn anders als bei einzelnen Songs mit Pausen dazwischen verschmelze hier alles zu einem Ganzen und gehe nahtlos ineinander über. Auch die Länge der Konzerte sei daher nicht kalkulierbar und man könne immer wieder gespannt darauf sein, wie sich das Stück anhand der klanglichen Improvisationselemente entwickle. Ein abschließendes Erlebnis, von dem ich hier noch erzählen möchte, ist das Konzert an der Tankstelle Lorenzetti: Die Musiker haben ihre Tische, Stühle und Instrumente aufgestellt, im Hintergrund thronen die Zapfsäulen der Tankstelle. Der Himmel ist heute bewölkt, aber noch kein Regen zieht auf. Die Blechblasinstrumente fangen an zu spielen und wenn ich auf den vorbeiziehenden Verkehr blicke, wird mir bewusst, dass dieser in geordneten Bahnen verlaufen muss, um zu funktionieren, während diese Musik sich im Kontrast dazu im Ordnungslosen bewegt und sich keiner klanglichen Ordnung unterwirft. Einige Autos versuchen, in die Tankstelle einzubiegen, um zu tanken, aber die Musik verhindert ihren Plan und so erlöschen die Blinker der Autos. Sie müssen sich heute eine andere Tankstelle suchen. Vorübergehende Passanten werfen neugierige Blicke auf die Musiker an der Tankstelle und ein Auto mit einem älteren Paar biegt ein. Das Auto hält und die beiden älteren Herrschaften steigen aus, um der Musik zu lauschen. Mir wird in diesem Moment deutlich bewusst, dass sich ja auch das Publikum ganz spontan zusammenfindet. Zum Abschluss geht es mit den Eseln und den Musikern weiter zum Bahnhof Lana-Burgstall, wo das Endkonzert stattfindet. Munter ziehen die Esel in Richtung MeBo.






6.


Das Hörspiel auf einem „Schiff“ Wolfgang Nöckler: RHETORIK ODER FISCHE SIND SCHLECHTE BIOGRAPHEN 26.05.2019, Raiffeisenhaus Lana

Der Festsaal des Raiffeisenhauses in Lana ist in Finsternis gehüllt, nur ein einzelner Scheinwerfer beleuchtet die Szenerie. Die Zuhörenden haben sich zum Hörspiel von Wolfgang Nöckler eingefunden. Sie werden dazu aufgefordert, die Schuhe auszuziehen und sich dann in die Mitte des Saales zu setzen – auf mehrere Kartons, die die Form eines Schiffes bilden, wie mir erst später bewusst wird. Als das Hörspiel beginnt, erlischt der Scheinwerfer fast ganz und ich sehe nur noch die dunklen Silhouetten der Zuhörenden vor mir. Ich selbst sitze ganz hinten im „Schiff“ und damit am Rande. Während ich dem Hörspiel folge, stelle ich mir vor, in einem wirklichen Schiff zu sitzen – um mich herum befindet sich symbolisch das Wasser, in Wirklichkeit natürlich der dunkle Boden des Saals. Das Hörspiel beleuchtet ein Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven: Da ist der Beamte, der Asyl gewähren kann und die dienstlichen Richtlinien nicht mit seinem Gewissen zu vereinbaren imstande ist. Da ist der Minister auf verzweifelter Suche nach Antworten im Gespräch mit einer aufgebrachten Reporterin. Da sind die Schlepper, die zunächst offenbar als die skrupellosen Profiteure hingestellt werden


– dann aber wiederum scheinen es die Ankommenden zu sein, die den Einheimischen ihr Hab und Gut rauben. Die Politiker, v.a. in der Figur des Ministers verkörpert, bemühen sich im Hörspiel immer wieder darum, eine Erklärung zu jeder Frage zu finden – aber sind sie auch wirklich aufrichtig daran interessiert, etwas gegen die Missstände zu unternehmen? Wolfgang Nöckler stellt auch sie nicht an den Pranger, sondern macht offenkundig, dass Politiker oftmals ebenso ohnmächtig sind wie die anderen Akteure, dass sie überfordert sind von den vielen Fragen und Erwartungen der Flüchtlinge und der Einheimischen. Längst stehen Statistiken im Vordergrund, die den Blick auf Einzelschicksale erschweren. Dann aber sprengt das Hörspiel in seiner Mitte den Rahmen, indem eine junge Frau namens Favour Aikorogie, die plötzlich vom Scheinwerferlicht beleuchtet wird, in einer fremden Sprache zu erzählen beginnt – sie sitzt mit uns im „Schiff“. Favour stammt aus Nigeria, aus dem Bundesstaat Edo und spricht Edo. Ich verstehe ihre Sprache nicht, wohl aber die Botschaft ihres Auftritts: Sie berichtet wohl von Wünschen, Vorstellungen und Hoffnungen der einzelnen Flüchtlinge – abseits der Statistiken. Literarisch interessant sind für mich einige Tautologien und rhetorische Floskeln im Hörspiel, wie etwa „Keine Lösung ist auch keine Lösung.“ Besonders eindrucksvoll ist für mich, abseits des Inhalts, auch die Sprecherqualität jeder einzelnen Figur im Hörspiel. Nach dem Hörspiel ist die Stimmung im Saal ruhig, aber keineswegs angespannt. Wir verlassen das „Schiff“ etwas zögerlich. Schon während der Darbietung hatte ich keinerlei Anspannung wahrgenommen, auch nicht wirklich Bedrückung, was ich als ein positives Zeichen betrachte. Es ist, wie mir scheint, ein Nachsinnen entstanden, welches noch über unseren Köpfen schwebt. Und ich nehme dieses Reflektieren gerne mit, denn es ist immer gut, Themen und Gedanken zu bewegen. Am Ende habe ich sogar die Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch mit dem Autor. Dabei schenkt er mir ein kleines Täfelchen aus Holz: Vorne steht der Titel des Hörspiels drauf, darunter ist ein Fisch abgebildet.




Übergang Ich sehe den Menschen auf mich zukommen. Sehe, wie er aussieht und gekleidet ist. Sehe sein freundliches Lächeln. Blicke auf den sonnenbeschienenen Berg hinter ihm. In der Dämmerung denke ich an den Menschen, dem ich am Tag begegnet bin. Als meine Augen zufallen, da wird er zu einem Schatten. Ich sehe seinen Schatten auf mich zukommen. Nun sehe ich nicht mehr, wie er gekleidet ist – vielleicht ist er nackt. Ich vergesse, wer er gewesen ist. Sicher war er jemand, dem zu begegnen ich mir schon lange wünsche. Ich blicke auf den Berg hinter ihm – ein riesiger schwarzer Schatten. Der Schattenberg setzt sich in Bewegung und lächelt. Ich grüße den Berg und strecke meine Hand aus. Er streckt seine riesengroße schwarze Hand aus. Wir berühren einander – warm und wohlig. Er führt mich an der Hand hinfort. Als er mich loslässt, verschwinden die schwarzen Schatten vor dem dunkelblauen Himmel. Ich begegne dem Menschen, dem zu begegnen mir schon lange wünsche. Er ist tatsächlich nackt. Und er ist kein Schatten mehr.

WALBAOUT #03 – PASSO MOBILE 24.05.2019 – 02.06.2019, Kunsthalle West, Lana Künstler*innen: Antonio Catelani, Umberto Cavenago, Ermanno Cristini, Gianluca Codeghini, Pierluigi Fresia, Giancarlo Norese, Luca Scarabelli, Roberta Segata, Marcel Zischg Nach einer Idee von: Ermanno Cristini und Luca Scarabelli


Transizione Io guardo l’uomo che a me s’avvicina. Guardo il suo aspetto e i suoi abiti. Guardo il suo sorriso amichevole. Scorgo la montagna illuminata dal sole stagliarsi alle sue spalle. Al tramonto, penso all’uomo che ho incontrato durante il giorno. Al chiudersi dei miei occhi, egli diventa un‘ombra. Ed io guardo la sua ombra farmisi incontro. Non riesco più a vedere come è vestito, forse è nudo. Ho dimenticato chi fosse. Sicuramente era qualcuno che desideravo incontrare da lungo tempo. Scorgo la montagna dietro di lui: un‘enorme ombra nera. La montagna d‘ombra inizia a muoversi e sorride. Saluto la montagna e allungo la mano. Lei allunga la sua enorme mano nera verso di me. Il nostro sfiorarci è caldo e piacevole. Per mano, lei mi conduce con sé. Nel momento in cui mi lascia, le ombre nere scompaiono nello scuro blu del cielo. Incontro l’uomo che desideravo incontrare. È davvero nudo e non è più un‘ombra.

WALBAOUT #03 – PASSO MOBILE 24.05.2019 – 02.06.2019, Kunsthalle West, Lana Artisti: Antonio Catelani, Umberto Cavenago, Ermanno Cristini, Gianluca Codeghini, Pierluigi Fresia, Giancarlo Norese, Luca Scarabelli, Roberta Segata, Marcel Zischg Da un’idea di Ermanno Cristini e Luca Scarabelli






Straßen der Wahrnehmung OHT: LITTLE FUN PALACE: Anne Palopoli, Frida Carazzato, Salvatore Peluso / Night on Earth 31.05.2019, Kunsthalle West Lana / Teissbrücke Lana Am Freitagabend komme ich in der Kunsthalle West in Lana an. Im Eingangsbereich steht ein Wohnwagen, um den herum eine Lichterkette mit grün und blau leuchtenden Glühbirnen angebracht ist – das ist der Little Fun Palace. Einige gespannte Zuhörer haben sich vor dem Wohnwagen versammelt. Frida Carazzato vom Museion in Bozen spricht mit Anne Palopoli, der Kuratorin für Performance am MAXXI in Rom, über die dortige Ausstellung „The Street“. Der Künstler Salvatore Peluso eröffnet das Gespräch. Er spricht über das Thema Wald und sagt, der Wald sei, abseits des Urbanen, ein „campo di battaglia“ (ein Schlachtfeld – z.B. der Tiere untereinander) und ein Ort, an dem sich unerwartete Dinge zutragen und der ständigen Veränderungen unterworfen ist. Auch der Wohnwagen Little Fun Palace ist an einem steten Wandel orientiert: Er verändert sich je nach dem Ort, an dem er sich befindet, und dem Einsatzzweck, zu dem er dient. Das Kunstprojekt war Teil der Ausstellung „La Strada“ im MAXXI in Rom. Auf der Straße herrscht Aktivität und sie hat vielerlei Funktionen: Sie schafft Verbindungen und sie ermöglicht den Handel und die persönliche Suche nach Glück. Auch politische Motive spielen hier keine unwesentliche Rolle. Wenn die Menschen ihren privaten Ort, ihr Zuhause, verlassen und die Straße betreten, dann begeben sie sich damit in einen öffentlichen Raum. Heute werden viele Straßen privatisiert – so verlieren sie ihre Funktion als öffentliche Orte der Begegnung und büßen damit auch einen Teil ihrer sozialen Bedeutung ein. Und zusätzlich zu den Straßen vernetzt heute die Digitalisierung die Welt immer stärker. In der Ausstellung „The Street“ wird die Aufmerksamkeit der Betrachter wieder verstärkt auf den realen Ort der Straße gelenkt, wo es um Mobilität und Verbindung geht. Einfache Ausstellungsobjekte rücken dabei in den Fokus – wie eben der Wohnwagen Little Fun Palace. Die Erwartungen und Vorstellungen des Rezipienten, die mit einem Wohnwagen verbunden sind, werden im Projekt „Little Fun Palace“ gebrochen, wofür allein schon der Name steht: Ein kleiner Spaßpalast ist das, kein gewöhnlicher Wohnwagen. Es geht darum, im Rezipienten neue Vorstellungen und Assoziationen zu wecken. So kann der Wohnwagen Little Fun Palace zu einer kleinen Bar werden oder zu einem


Kino, einer DJ-Tribüne – und genau dies ist es, was ich heute und morgen noch erfahren werde. Die Vorstellungen des Rezipienten sollen aber auch außerhalb des Museums zum Tragen kommen, an urbanen oder gar alltäglichen Orten. Deshalb fungieren beispielsweise der Wald oder auch der Wohnwagen Little Fun Palace als Antagonisten zum urbanen Raum – sie sind keinen institutionellen Regeln oder Vorschriften unterworfen. Und auch der Ort, an dem Little Fun Palace steht, wirkt sich auf die Assoziationen des Betrachters aus, denn jeder Ort weist andere Charakteristika auf. Die Frage ist, welchen Typ der Narration man der jeweiligen Realität zugestehen will: Momentan steht der Little Fun Palace zwar in einer Garage, im Inneren aber gleicht er einer Bar – eine Discokugel dreht sich im Kreis und Lichter, die ihre Farben wandeln, sich verändern, tanzen sanft über die Decke des Wagens. Nach diesem interessanten Gespräch über das Kunstobjekt „Little Fun Palace“ begeben wir uns zum Abendessen in die Kunsthalle, wo man sich noch gemütlich austauschen kann. Im Anschluss fährt der Little Fun Palace weiter zur Teissbrücke – dort fungiert das Kunstobjekt nun als Kino-Installation. Auf seinem Dach ist nun ein Bildschirm angebracht, wir bekommen Kopfhörer in die Hand gedrückt und setzen uns auf die Plastikstühle vor dem Little Fun Palace. Der Film „Night on Earth“ von Jim Jarmusch wird gespielt, ein Episodenfilm. Jede Episode spielt dabei in einer anderen Metropole – Los Angeles, New York, Paris, Rom und Helsinki – und in jeder Episode geht es um die nächtlichen Erlebnisse von Taxifahrern. Während des Films erstaunt mich vor allem das ungewöhnliche Ambiente hier vor Ort: Im Hintergrund kann ich – trotz der Kopfhörer, die ich etwas leiser eingestellt habe – das gemächliche Rauschen der Falschauer hören, das auf mich eine sehr beruhigende Wirkung hat. Und wenn man vom Bildschirm zur Brücke hochblickt, erkennt man in der einsetzenden Dunkelheit die Silhouetten vorüberspazierender Passanten, die die Brücke überqueren und ab und zu flüchtige Blicke zu uns hinabwerfen. Es ist durchaus ungewöhnlich, dass ein einfacher Wohnwagen zum Kunstobjekt wird, das der Betrachter an einem einzigen Tag auf verschiedenen Straßen der Wahrnehmung „erfahren“ kann – heute zum Beispiel als Ausstellungsobjekt, als kleine Bar und als Kino-Installation.








DJ Veloziped OHT: LITTLE FUN PALACE: DJ Veloziped 01.06.2019, Gasthaus Reichhalter 1477, Lana Am Samstagabend komme ich auf dem Griesplatz in Lana an und begegne wiederum dem Wohnwagen Little Fun Palace. Diesmal allerdings wird auf seinem Dach ein junger Mann für musikalische Unterhaltung sorgen, nämlich DJ Veloziped. Als ich ankomme, tanzen jedoch noch einige junge Frauen Zumba vor dem Little Fun Palace, und ein kleiner Junge tanzt mit ihnen. DJ Veloziped scheint ein recht lockerer Typ zu sein, zu seinem gelben Hemd trägt er eine weiße Schirmmütze. Bald begibt er sich auf das Dach des Little Fun Palace, wo seine Musikinstallation aufgebaut ist. Ich sitze in Gesellschaft an einem einfachen Holztisch vor dem Gasthaus Reichhalter und lausche der Musik. Dabei stelle ich fest, dass ich solche Art von Musik gar nicht gewohnt bin. Ab und zu scheint es mir, als höre ich Jazzklänge heraus, die Musik ist gesanglos und die einzelnen Passagen gehen nahtlos ineinander über. Ich unterhalte mich ein wenig, Passanten spazieren durch die Metzgergasse – mit der Zeit sitzen immer mehr Menschen an diesem warmen Frühsommerabend hier in der Gasse an den Tischen im Freien. Der Little Fun Palace ist heute zur Konzertanlage geworden, noch gestern fungierte der Wohnwagen als Kinoinstallation, zuvor als Ausstellungsobjekt in der Kunsthalle West. Mir fällt auf, dass die Tür des Wohnwagens heute geschlossen ist, nachdem man gestern noch ins Innere blicken und beispielsweise eine Discokugel sehen konnte. Salvatore Peluso, der neben mir sitzt, erzählt mir, dass der Wohnwagen bei der Ausstellung im MAXXI keine große Kuriosität darstellte, die Menschen im Museum hätten sich nämlich längst an kuriose Ausstellungsstücke gewöhnt. Aber hier im Dorf sei das etwas anderes. Auch mir erscheint der Little Fun Palace vor dem dörflichen Hintergrund als eine besondere Kuriosität. Je dunkler es wird, desto mehr Menschen kommen an diesem Abend in die Metzgergasse. Bald schalten sich die modernen Straßenlaternen ein – auch der DJ auf dem Little Fun Palace befindet sich unter einer von ihnen und die Feiernden sind noch in bester Stimmung. Dieser Party-Abend ist gewiss lässiger angelegt als die bisherigen Veranstaltungen. Die Musik lädt ein, aber sie verpflichtet zu nichts: Man kann tanzen, aber auch nur zuhören; mit anderen Menschen sprechen oder einfach nur gemütlich essen und sich umschauen.


Gegen 22:15 Uhr verlasse ich das Konzert und radle durch Lana zum Bahnhof Lana-Burgstall. Dies ist mein Abschied vom Little Fun Palace, einem sehr anregenden Wohnmobil.




Die Busfahrt mit dem Hörstück Martin Hanni: IN FONDO 02.06.2019, Busfart von Lana nach Fondo Um halb sechs Uhr abends steigen wir, eine kleine Gruppe kunstinteressierter Menschen, in den Linienbus 246 von Lana nach Fondo. Hannes Egger verteilt Kopfhörer an die Teilnehmer, und die Busfahrt geht los. Während der Fahrt lauschen wir dem Hörstück IN FONDO des Journalisten Martin Hanni – ein Beitrag für LanaLive aus dem Jahr 2017. Dabei passieren wir mit dem Bus die Stationen, über die in dem Hörstück gesprochen wird, d.h., das Stück bereichert die Busfahrt, weil es auf die Strecke abgestimmt ist. Haltestellendurchsagen, auch von kleinen Orten, werden über die Kopfhörer gemacht. Collagenartig reihen sich historische Informationen, Musik und Poesie aneinander. Die Musik stammt von der Gruppe Drahthaus. Die erste Haltestelle ist der Gampenparkplatz – allerdings sagt der Sprecher durch: „Bitte nicht aussteigen!“ Und seine Aussagen werden auch stets ins Italienische übersetzt. Wir folgen der kurvenreichen Straße und der Sprecher berichtet über einen Dichter, der sein Lyrikheft im Bus liegen gelassen hat – eine fiktive Vorstellung. Irgendwann, so meint er, werde der Dichter in diesen Bus nach Fondo zurückkehren, um das Heft wiederzufinden. Gespannt bin ich, als darüber berichtet wird, wie Grundbesitzer für den Bau der Straße, auf der wir fahren, enteignet wurden – die Nachnamen der enteigneten Besitzer werden sogar allesamt aufgezählt. 1935 wurde diese Verbindung zwischen Lana und dem Gampenpass nach einem Auftrag Mussolinis geschaffen. Bald schon befinden wir uns weit über Lana und genießen an diesem sonnigen Frühsommerabend einen herrlichen Blick übers Dorf und auf das Etschtal. Der Zufall führt uns wieder zur Poesie, so der Sprecher: 1979, so werden wir informiert, wurde hier in der Gegend bei einem Gasthaus der italienische TV-Spielfilm La promessa gedreht, der auf Friedrich Dürrenmatts Roman Das Versprechen beruht. Regisseur war Alberto Negrin. Der Sprecher meint, er fahre oft mit dem Bus nach Fondo und lese einigen Leuten im Bus seine gefundenen Gedichte vor. Das sei spannend und habe ebenfalls viel mit Zufall zu tun. Im Folgenden werden viele Haltestellen und kleinere Orte durchgesagt, die ich nicht kenne.


Ich bin bisher auch nicht oft auf den Gampenpass gefahren. In den 1930er Jahren soll es hier, wie ich als Nächstes erfahre, eines der größten Bunkersysteme des Landes gegeben haben. Die Straße führt immer weiter aufwärts und verläuft in Kurven den Berg hinauf. Wir erreichen schließlich Gfrill, die Gegend hier ist natürlich auch eine Sprachgrenze. „Den Pass erreichen wir bald. Wie finden Sie die Gegend hier?“, ertönt es vom Sprecher. Schließlich kommen wir in der Ortschaft Unsere Liebe Frau im Walde an. Hier in der Nähe hat man in den 1990er Jahren Fossilienfunde gemacht, die noch aus der Zeit vor den Dinosauriern stammen sollen – von echsenähnlichen Tieren, die scheinbar siebzig bis achtzig Zentimeter groß gewesen sind. So erzählt es ein Geologe. Es sind jetzt noch elf Kilometer bis Fondo, steht auf einem Hinweisschild. Der Blick auf Lana und das Etschtal liegt nun hinter uns, ich blicke auf das Dorf Unsere Liebe Frau im Walde und auf weite grüne Felder und Wälder. In dieser Gegend gibt es aber auch viele Schluchten. Das Dorf Unsere Liebe Frau im Walde ist ein Wallfahrtsort; hier findet man viele Kirchen und in dieser Gegend finden auch Berg und Tal auf eine besonders eindrucksvolle Weise zusammen. Wir befinden uns bereits im oberen Nonstal – die Bezeichnung ist lediglich eine wörtliche Übertragung der italienischen Bezeichnung Val di Non. Die deutsche Bevölkerung nennt die Gegend Nonsberg, erklärt ein Einheimischer.


Bald verlassen wir Südtirol. In der Ferne erkenne ich sowohl bewaldete Berge als auch schneebedeckte Gipfel. Jetzt erreichen wir St. Felix, den letzten Ort, der hier oben noch zu Südtirol gehört. Im Folgenden geht es im Hörstück um politische Verwaltungsaufgaben und darum, wie diese von Italienern und Deutschen in ihrem jeweiligen Gebiet ganz anders betrachtet und angegangen werden. Auch Unterschiede in der Mentalität werden im Stück nun angesprochen: Nach der deutschen Mentalität seien beispielsweise der Bauer und der Hof wichtig, nach der italienischen eher das Städtische. Der erste Ort, der im Trentino liegt, heißt Tret, und gleich hier in der Nähe befindet sich auch der „Lago di Tret“. Seit einiger Zeit verläuft die Straße fast nur noch eben. Ich frage mich, wo hier Sprachgrenzen verlaufen und bekomme einige Informationen über das Nonsbergerische, eine Minderheitensprache, die dem Ladinischen ähnlich ist und in dieser Gegend von einigen Vorfahren gesprochen wurde. Als wir in Fondo aus dem Bus steigen, sind wir uns darüber einig, dass die Fahrt etwas zu schnell verlief und die vielfältigen Informationen des Hörstücks mit der Geschwindigkeit nicht wirklich gut mithalten konnten. Ich erfahre, dass wir wohl vierzig Minuten unterwegs waren vom Busbahnhof Lana bis nach Fondo und stelle zu meiner Verwunderung fest, dass es mir kaum länger als eine halbe Stunde vorkam – das Hörstück hatte mich in seinen Bann gezogen. Wir unterhalten uns noch ein wenig, dann kommt auch schon wieder ein Bus, der uns zurück nach Lana bringt. Es fehlen noch einige Minuten des Hörstücks, die wir nun zu Beginn der Rückfahrt genießen können. Ich erfahre noch etwas über das Nonsbergerische, das nur zu Hause gesprochen wurde, während man in der Schule Italienisch sprach. Der Sprecher beendet seinen Vortrag, indem er die Frage stellt, ob der Zuhörer nicht vielleicht doch die Person kenne, die die im Bus zurückgelassenen Gedichte geschrieben habe – es kommt natürlich keine Antwort. Der Sprecher meint, er suche weiter nach der Person, wie der Kommissar in La promessa. „Es war angenehm, neben Ihnen zu sitzen“, schließt das Hörstück. Und ich selbst genieße noch den Ausblick, den wir nun wieder auf das Etschtal und auf Lana haben.


24.05.–02.06.2019 Halltestellen / Fermate dei mezzi pubblici LISTEN UNTIL Mauro Sperandio hat ein Musikarchiv geschaffen, welches nicht flüssig läuft. Beim Warten an allen öffentlichen Verkehrshaltestellen in Lana konnte das Musikarchiv angehört werden, indem ein QR-Code mit dem Smartphone gescannt wurde.

Mauro Sperandio ha creato un flusso musicale non privo di interruzioni. Durante l’attesa presso tutte le fermate dei mezzi pubblici di Lana, questo archivio musicale poteva essere ascoltato con gli smartphone tramite la scansione di un QR-Code.


THE BOX Bei allen Veranstaltungen von LanaLive wurde THE BOX mitgeführt. Es handelte sich um eine Holzkiste, in welcher Ideen zur Verbesserung der Verkehrssituation in Lana und Umgebung gesammelt wurden. THE BOX fand in Kooperation mit dem Bildungsausschuss Lana statt.

Durante tutti gli eventi di LanaLive è stata presente The Box, una scatola di legno in cui sono state raccolte idee e suggerimenti per migliorare la situazione del traffico a Lana e dintorni. The Box si è tenuta in collaborazione con il Bildungsausschuss Lana.



KĂźnstlerische Leitung / Direzione artistica: Hannes Egger Texte / Testi: Marcel Zischg Fotos / Foto: Flyle Gestaltung / Layout: Hannes Egger Lektorat / Redazione: Katrin Klotz Druck / Stampa: Gruber Druck, Lana Organisation / Organizzazione: Paul Seelaus Auflage / Tiratura: 500 2019


WIR DANKEN / RINGRAZIAMO


LanaLive REPORT 2019

ST E FE

www.lanalive.it

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