Materialien evolutengpassmodell

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K.G: Textauszüge zum Vorschlag für ein Forschungsprojekt über Individualität als evolutionärem Engpass (29.8.05) den Gott vor seiner Menschwerdung in der ganzen Welt verbreitet habe. Es war dieser präexistente "logos spermatikos", der jene Wahrheiten in der heidnischen Philosophie erklärte, die mit der christlichen Lehre übereinstimmten, und Sokrates, Platon und andere nichtchristliche Denker jene Wahrheiten hatte andeuten lassen, die Christus in seiner und durch seine Person vollständig offenbart habe. So reklamierte Justinus für das Christentum das große Alter der beiden Traditionen Judaismus und heidnische Weisheit, von denen sich die Kirche zugleich absetzte. Um Kind zu bleiben, mußte das Christentum ein alter Mann werden, freilich von ganz anderer Art. Ein drittes Beispiel: die Gründung der amerikanischen Republik, eine der gewaltigsten neotenischen Revolutionen in der politischen Geschichte. Amerika ist als "Kind der Aufklärung" bezeichnet worden - insofern es den Vernunftgedanken der Aufklärung übernahm. Dieses Bekenntnis zur Vernunft ist in der Unabhängigkeitserklärung festgeschrieben, und zwar mit gutem Grund. Eine Forderung nach Unabhängigkeit kann man nicht auf Glauben gründen, auf Vernunft aber ganz gewiß. Daraus ergibt sich, wie wichtig das Wort "selfevident" ist, das in der Einleitung der Erklärung verwendet wird: "Folgende Wahrheiten halten wir für offensichtlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind, daß sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, zu denen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören, daß zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt sind, die ihre rechtmäßige Macht von der Zustimmung der Regierten herleiten." Das Offensichtliche ist an sich und für jedermann wahr. Es beweist seine Wahrheit aus sich selbst heraus, bedarf keiner weiteren Begründungen. Der Begriff des "Offensichtlichen" enthält den Begriff der Unabhängigkeit in sich. Was aber könnte im achtzehnten Jahrhundert weniger selbstverständlich sein als die Gleichheit der Menschen oder Regierungen, die ihre Macht vom Einverständnis der Regierten herleiten. Wohin man auch sah, überall Ungleichheit und Unterdrückung, nirgends unveräußerliche Rechte oder vom Volk gewählte Regierungen. Dieses "Folgende Wahrheiten halten wir für offensichtlich" ist im Grunde ein Glaubensbekenntnis, sozusagen ein Bekenntnis zur Vernunft. Dieses Offensichtliche erinnert auch an die berühmte Glaubensdefinition im Hebräerbrief: "Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht des, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht." Die Gleichheit der Menschen, unveräußerliche Rechte und andere Wahrheiten, die sich aus den "Gesetzen der Natur und den Gesetzen Gottes" ableiteten, waren zu jener Zeit zweifellos noch erhofft. Während die Vernunft also ihre Unabhängigkeit vom Glauben erklärt, bleibt sie ihm doch freundschaftlich verbunden, so, wie Amerika nach der politischen Loslösung England auch weiterhin verbunden blieb. Diese Kontinuität im Bruch prägt das Grundgesetz der amerikanischen Republik - nämlich die Trennung von Staat und Kirche. Die Trennung von Staat und Kirche ist nicht bloß einer von vielen Verfassungsartikeln, es ist das Gesetz, das die Autorität der Verfassung letztlich begründet. Doch auch hier gibt es ein Fortleben des Glaubens: denn die Trennung von Staat und Kirche ist in Amerika zwar Gesetz, aber es hat einen deutlich christlichen Ursprung ("Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und gebt Gott, was Gottes ist"). Als Lincoln in seiner "Gettysburg Address" von der "neuen Nation" sprach, die die Gründungsväter auf dem amerikanischen Kontinent errichtet hätten, verstand er das Wort "neu"

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in dem Sinne, wie die Puritaner es verwendet hatten, wenn sie von einem "neuen England" sprachen, oder wie die christliche Theologie, wenn sie von dem "neuen Adam" spricht nämlich als etwas Verwandeltes, das einer anderen Ordnung entstammt als das alte. Die Väter schufen eine neue Nation nicht nur, indem sie ihre Institutionen auf die Forderungen der Vernunft gründeten und damit den Weg für eine säkulare, moderne Republik bereiteten, sondern indem sie das ramponierte Erbe des Glaubens dem Naturgesetz unterstellten, mit dem sie ihre Forderung nach Unabhängigkeit, Eigenständigkeit und Demokratie begründeten. Sie trennten also Vernunft von Glauben, indem sie sich auf die Vorgeschichte des Glaubens beriefen, sie transformierten und schöpferisch erneuerten. Diese drei Beispiele aus der Geschichte von Philosophie, Religion und Politik zeigen, wie Weisheit und Intelligenz bisweilen zusammenwirken, um eine kulturelle Verjüngung herbeizuführen. Neotenische Revolutionen schaffen das Alte nicht einfach ab, sie verjüngen es, damit es in neuerer, jüngerer Form fortleben kann. Die Frage, die sich heute stellt, ist die, ob die Verjüngung unserer Gesellschaften eine genuine Verjüngung ist oder nur eine massenhafte Verjugendlichung. Diese Unterscheidung ist wichtig: Wird unsere Gesellschaft zunehmend infantilisiert, oder findet sie zu jüngeren Formen kultureller Reife? Wir leben in einer Epoche explosiver Intelligenz. Noch bis vor relativ kurzer Zeit war die Geschichte der Intelligenz durch periodische "Mononeismen" charakterisiert, einzelne folgenschwere Veränderungen, die sich nur allmählich auf unsere Lebensformen auswirkten. Jahrtausende liegen zwischen der Entdeckung des Feuers und der Entdeckung des Ackerbaus. Zwischen der Erfindung des Schreibens und der des Buchdrucks entstanden und vergingen ganze Weltreiche. Doch in den letzten Jahrzehnten sind die mononeistischen Muster der Kulturgeschichte einer aberwitzigen Abfolge und Verbreitung revolutionärer Neuerungen gewichen, von der Elektronik über den Flugverkehr, das Fernsehen bis hin zur Atombombe, der Pille und zum Computer - um nur einige wenige der "Polyneismen" zu nennen, die das Leben nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegend verändert haben. Häufigkeit und Ausmaß dieser Veränderungen sind beispiellos in der Evolutionsgeschichte. Darin liegt eine Bedrohung für die Menschheit, wenn nicht sogar für ihr Überleben, wie Hannah Arendt in "Menschen in finsteren Zeiten" schrieb: "Die Welt wird unmenschlich, ungeeignet für menschliche Bedürfnisse, welche die Bedürfnisse von Sterblichen sind, wenn sie in eine Bewegung gerissen wird, in der es keinerlei Bestand mehr gibt." Die machtvolle Entfesselung der Intelligenz in der Nachkriegszeit hat dazu geführt, daß die Weisheit kaum noch imstande ist, das Erbe der Vergangenheit zu erneuern und der Geschichte eine gewisse Kontinuität zu verleihen - denn angesichts der fortwährenden Umwälzungen in unserer Gesellschaft kommt die Weisheit nicht mehr nach, Neues und Altes miteinander zu verschmelzen (letzten Endes ist Weisheit ja nichts anderes als eine solche Synthese). Sie ist erschöpft, fast gelähmt. Selbst die abendländische Weisheit, die im Laufe der Jahrhunderte besonders erfinderisch wurde, kennt kein wirksames Mittel, den Verlust an Geschichtsbewußtsein zu verhindern. Wir stehen vor einer beunruhigenden Frage: Kann die Menschheit auf Weisheit verzichten und ihr Schicksal allein der Intelligenz überlassen, ohne sich dabei selbst zu zerstören?


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