Filmpodium-Programmheft Juli-September 2022 // Programme booklet July - September 2022

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1. Juli – 27. September 2022

-ABO SOMMER EN KINO 13 WOCH E 90 FILM 95.–! FÜR CHF

PETER GREENAWAY 50 JAHRE FILMCOOPI SPIKE LEE


Filmpodium-Highlights Juli/August/September WO SIND DIE TRÄUME DER JUGEND GEBLIEBEN?

S. 54

Stummfilm von Yasujiro Ozu, Japan 1932 Live-Begleitung: Richard Octaviano Kogima (Piano) MI, 6. JULI | 18.15 UHR

50 JAHRE FILMCOOPI: ERÖFFNUNGSFEIER

S. 23

mit Vorpremiere Peter von Kant in Anwesenheit von François Ozon FR, 8. JULI | 19.30 UHR: APÉRO, 20.45 UHR: FILMVORFÜHRUNG

LECTURE: NON-NARRATIVE CINEMA?

S. 17

Vortrag mit Filmbeispielen von und mit Peter Greenaway MI, 13. JULI | 20.45 UHR

LECTURE: FILM & LANDSCAPE

S. 17

Vortrag mit Filmbeispielen von und mit Peter Greenaway DO, 14. JULI | 18.15 UHR

A CONVERSATION WITH PETER GREENAWAY

S. 17

moderiert von Michel Bodmer FR, 15. JULI | 18:15 UHR

LECTURE: FILM & MUSIC

S. 17

Vortrag mit Filmbeispielen von und mit Peter Greenaway FR, 15. JULI | 21.00 UHR

SPIKE LEE UND SEINE INTERVENTION IM HOLLYWOOD-GENREKINO S. 46 Vortrag von Elisabeth Bronfen DI, 2. AUGUST | 20.00 UHR

SPIKE LEE – FROM THE ROOTS TO THE HEIRS

S. 46

Podiumsdiskussion mit Elisabeth Bronfen, Greg de Cuir Jr, Stefanie Rusterholz, Marius Kuhn (Gesprächsleitung) MI, 17. AUGUST | 19.00 UHR

WHITE LINES, BLACK MUSIC

S. 47

Spike Lees Musikvideos, präsentiert von Greg de Cuir Jr DO, 18. AUGUST | 18:15 UHR

WHITE LINES, BLACK MUSIC: EXPANDED

S. 50

Musikvideo-Performance von Greg de Cuir Jr in der Filmpodium-Lounge DO, 18. AUGUST | 21.00 UHR

DIE KINOBRANCHE IM UMBRUCH

S. 35

Podiumsdiskussion mit Yves Blösche, Felix Hächler, Frank Braun, Cyril Schäublin und anderen Gästen MI, 24. AUGUST | 19.00 UHR

WHISKY-TASTING MIT J. B. LABAT

S. 33

anschliessend an die Vorstellung von Ken Loachs The Angels’ Share DO, 8. SEPTEMBER | 20.00 UHR

PETER LIECHTI: PERSONAL CINEMA

S. 60

Buchvernissage und Film (Ausflug ins Gebirg, CH 1985) mit David Wegmüller, Hannes Brühwiler und Anke Stelling MI, 14. SEPTEMBER | 19.00 UHR


01 Editorial

Birthdays by Numbers In den Jahrzehnten meiner beruflichen Beschäftigung mit Film habe ich keinen Cineasten so lange und so eng begleitet wie Peter Greenaway. Nicht nur habe ich ihn ab 1987 mehrmals interviewt, ich habe auch diverse Kurzgeschichten, Drehbücher und Texte fürs Theater aus seiner Feder übersetzt und mich mit ihm darüber ausgetauscht. Umso mehr freut es mich, dem grossen Ironiker und Meister des postmodernen Kinos zu seinem 80. Geburtstag und als Auftakt zu meinem letzten Jahr beim Filmpodium eine Retrospektive ausrichten zu können. Greenaway wird auch zu uns kommen, um über seine zentralen künstlerischen Anliegen zu referieren und neues Material zu präsentieren. «Erst» 50 Jahre alt ist die Filmcooperative Zürich, die wie wenige andere Verleihfirmen das Arthouse-Kino der Schweiz geprägt und bereichert hat. Wir feiern die Filmcoopi mit über 30 Perlen aus ihrem Filmschatz. Zum Auftakt und als Vorpremiere präsentiert die Filmcoopi François Ozons Fassbinder-Hommage Peter von Kant – im Beisein dieses französischen Meisterregisseurs, den der Verleih wie viele andere Filmschaffende auch über Jahrzehnte treu begleitet hat. Der dritte Geburtstag unseres Kino-Sommers ist der 75. von Spike Lee, dem wohl wichtigsten Exponenten des amerikanischen Black Cinema. Eine üppige Auswahl seiner Filme wird ergänzt mit Klassikern, die ihn inspiriert haben: Die Bandbreite reicht von Auseinandersetzungen mit Rassismus bis zu poppiger Blaxploitation. Dazu gibt es eine Podiumsdiskussion und einen VJAbend mit Kokurator Greg de Cuir Jr. Kein Wiegenfest, sondern schon eher eine Auferstehung feierte unlängst Kinuyo Tanaka. Lange die berühmteste Schauspielerin des japanischen Kinos, trat sie in den 50er-Jahren hinter die Kamera und drehte sechs wegweisende Filme, die das patriarchalische System ihrer Heimat aus weiblicher Warte ­beleuchteten und hinterfragten. Ihre frisch restaurierten Werke werden begleitet von Schlüsselfilmen, die Tanaka mit Ozu, Mizoguchi und Kinoshita gedreht hat. Unser Sommerprogramm ist dieses Jahr sogar zwei Wochen länger als sonst (was Sie am extradicken Programmheft erkennen sowie an der noch üppiger bestückten Website), da sich das ZFF entschlossen hat, ab diesem Sommer nicht mehr bei uns zu gastieren. Wir bedauern das Ende dieser Kooperation, die uns immer spannende Filme, eine fröhliche Besucher:innenschar und eine Portion Glamour ins Haus gebracht hat. Wir geben uns umso mehr Mühe, mit dem hauseigenen Angebot für Abwechslung, Inspiration und etwas Spektakel zu sorgen – und zwar das ganze Jahr hindurch. Michel Bodmer Titelbild: Drowning by Numbers von Peter Greenaway


02 INHALT

Peter Greenaway

04

50 Jahre Filmcoopi

18

Peter Greenaway (*1942) zählt zu den wichtigsten Wegbereitern des postmodernen Kinos. Als ausgebildeter Maler und ehemaliger Editor entwickelte er schon in seinen frühen Kurzfilmen eine Obsession für Strukturen, Systeme und visuelle Ausdrucksformen, die mit dem konven­ tionellen Erzählkino brachen. Sein Spielfilmerstling The Draughtsman’s Contract sorgte 1982 weltweit für Aufsehen, und seither hat Greenaway nie aufgehört, die grossen Themen Kunst, Sexualität und Tod provozierend in Szene zu setzen. Neben seinen Filmen ist auch The Greenaway Alphabet zu sehen, indem der Cineast von seiner Frau Saskia Boddeke por­ trätiert wird. Greenaway wird das Filmpodium persönlich beehren, Raritäten präsentieren und für sein Werk Rede und Antwort stehen.

Wenige Filmverleihfirmen überdauern fünf Jahrzehnte, und den wenigsten gelingt es, ein so vielfältiges und qualitativ hochstehendes Cineast:innen-­ Portfolio aufzubauen und zu pflegen, wie es die 1972 gegründete Filmcooperative Zürich geschafft hat. Einen Sommer lang lassen wir die bewegte und bewegende Geschichte der Filmcoopi Revue passieren und präsentieren wichtige Stationen und Highlights aus ihrem Verleihprogramm: von politisch engagiertem Schweizer Kino über das internationale Independentkino von Jim Jarmusch und Aki Kaurismäki und Autorenfilmerinnen wie Jane Campion und Sally Potter bis zu Publikumshits wie Amélie – alles in ­allem The Angels’ Share von 50 Jah­ren Verleiharbeit der Filmcoopi. Zum Auftakt zeigt François Ozon seinen neuen Film Peter von Kant.

Bild: Nightwatching

Bild: The Piano


03

Spike Lee’s Joints

36

Spike Lees «Joints», wie er seine Filme nennt, sind stylish, kraftvoll, politisch engagiert, zornig, voll cooler Musik und entfalten ihre Wirkung im LowBudget-Bereich genauso wie in Grossproduktionen. Entdecken Sie das vielfältige Werk dieses bedeutendsten Vertreters des New Black Cinema und seine Vorbilder. Bild: Do the Right Thing

Kinuyo Tanaka

51

Kinuyo Tanaka (1909–1977) war einer der grössten Stars des japanischen Kinos. Sie drehte mehr als 200 Filme als Schauspielerin, u. a. für Ozu, Mizoguchi und Kinoshita. Als Pionierin in einem Studiosystem, das Frauen vom Regieberuf abschreckte, inszenierte Tanaka sechs bahnbrechende Filme, ein kleines, radikales Œuvre mit progressiven Heldinnen.

Women Make Film: A New Road 58 Movie Through Cinema: Teil 1+2 Mark Cousins’ fünfteilige Einführung ins Handwerk des Kinos, illustriert mit lauter Beispielen aus Filmen von Frauen.

Filmpodium für Kinder: 59 Mirai – Das Mädchen aus der Zukunft Die kleine Mirai zieht die ganze Aufmerksamkeit der Eltern auf sich. Kun, ihr eifersüchtiger grosser Bruder, wird in eine magische Welt katapultiert, in der Vergangenheit und Zukunft zusammenlaufen. Hier lernt er seine Familie, seine Schwester und sich selbst neu kennen. Bild: Mirai

Einzelvorstellung Buchvernissage: Peter Liechti 60



05

Greenaways Gesamtkunstwerke «Ich bin ein wissenschaftlicher Dilettant mit enzyklopädischen Interessen», lässt der britische Filmemacher Peter Greenaway in seinem ­Spielfilm Eisenstein in Guanajuato den russischen Cineasten von sich sagen – und meint damit auch sich selbst. Zu seinem 80. Geburtstag ­widmet das Filmpodium dem einzigartigen und zeitlos faszinierenden postmodernen Gesamtkunstwerker eine Retrospektive. Dass er Künstler werden wollte, stand für Peter Greenaway (*5.4.1942) schon früh fest, und so besuchte er in London die Kunsthochschule. Neben seiner ­Tätigkeit als Maler sammelte er Erfahrungen als Cutter beim Central Office of Information, der offiziellen Kommunikationsstelle der britischen Regierung. Hier drehte und schnitt Greenaway Informations- und PR-Filme und entwickelte dabei eine grosse Skepsis gegenüber filmischem Erzählen: Linearität und Kausalität des herkömmlichen Kinos erschienen ihm altmodisch, weil sie sich am verstaubten Vorbild des viktorianischen Romans anlehnten und die Moderne in der Literatur und der Malerei nicht berücksichtigten, gleichzeitig ermöglichte der Filmschnitt, das gedrehte Rohmaterial nach Belieben umzugestalten, und raubte so dem Drehbuch und der Inszenierung jede Verbindlichkeit. Wegweisende Werke von Alain Resnais, Ingmar Bergman und Federico Fellini allerdings begeisterten Greenaway und regten ihn an, selbst Kino zu machen. Beflügelt wurde er durch die Entdeckung billig gemachter Experimentalfilme in den Archiven des British Film Institute: Man musste nicht enorme Mittel haben, um sich im Medium Film künstlerisch auszudrücken. Für die Dramaturgie seiner Werke erschienen ihm beliebige Systeme und Strukturen ebenso geeignet wie Erzählmuster der Literatur: Zahlen-Countdowns, das Alphabet, Farbspektren, Taxonomien usw. liegen seinen frühen Filmen zugrunde. Allgegenwärtig ist die Zahl 92. Sie steht im Periodensystem für Uran, jenes Element, das für Greenaway wie kein anderes das 20. Jahrhundert geprägt hat. Ein Filmfest der Künste In seinen ersten Kurzfilmen liess sich Greenaway zum einen von seiner Liebe zur südenglischen Landschaft und dem dort allgegenwärtigen, vielgestaltigen Element Wasser beeinflussen, zum andern orientierte er sich an seinen eigenen künstlerischen Arbeiten. In Water Wrackets (1975), einer Parodie auf Doku-

Vermeer und Verwesung: A Zed and Two Noughts Toxischer Thatcherismus: The Cook, the Thief, His Wife and Her Lover Körper als Kunstwerke: The Pillow Book


06 mentarfilme, spekuliert er über einen seltsamen Volksstamm, der wasser­ reiche Gegenden Englands bewohnte – oder bewohnen wird. A Walk Through H (1978) schildert eine Reise durch ein Jenseits, das allein mit Landkartenähnlichen Gemälden des Regisseurs dargestellt wird. Die dreistündige PseudoEnzyklopädie The Falls (1980) erzählt die Geschichten von 92 Personen, ­deren Nachname mit «Fall» beginnt und deren Leben von einem «Violent Unknown Event» verändert wurde. Schon in diesen Frühwerken zeigen sich Greenaways phänomenale Fabulierlust und sein unendlicher Spass an sprachlichen Erfindungen und Wortspielen. In seinem ersten Kinofilm The Draughtsman’s Contract (1982) lässt Greenaway den ehrgeizigen Zeichner Neville, der für eine wohlhabende Familie Ansichten ihres ländlichen Anwesens anfertigen soll, seine Werke nichtsahnend mit Hinweisen auf ein mögliches Verbrechen trüffeln. Die Zeichnungen, von Greenaway selbst angefertigt, gliedern die Geschichte. Nicht nur linear und zeitlich ist dieser Film präzise vermessen; der Zeichner blickt bei der Arbeit durch einen Rahmen, der sein – und unser – Gesichtsfeld aufteilt. «Framing» ist denn auch ein mehrdeutiges, wiederkehrendes Motiv, das nicht nur die künstlerische Wahl des Ausschnitts einer Realität bezeichnet, sondern auch bedeutet, jemandem etwas anzuhängen: Verschwörungen und Intrigen tauchen bei Greenaway häufig auf. Die Bildgestaltung in seinen Filmen ist stets durchkomponiert, oft aufgrund ebenso bewusst gestalteter klassischer Gemälde und Skulpturen. Rhythmisiert werden seine audiovisuellen Kabinettstücke zudem durch die Musik, bis 1989 durch die barock unterfütterte Minimal Music des kongenialen Komponisten Michael Nyman. Nimmt man alles zusammen, wird klar, dass Greenaway den Film nicht als Unterhaltung oder Erzählmedium, sondern im eigentlichen Sinne als (post) strukturalistisches Gesamtkunstwerk begreift, das unter Einbezug aller Kunstformen (neben Literatur, bildender Kunst und Musik auch Tanz, Kalligrafie oder Architektur) das Publikum ebenso bereichert wie fordert. Seine skurrilen, witzigen und eigenwilligen Filme drehen sich stets um die grossen Themen Leben und Tod, Kunst und Sex. Nicht das Was des Plots zählt, sondern das Wie der Inszenierung, und dieses ist in aller Regel so komplex, dass es erst bei wiederholter Betrachtung interne und externe Bezüge offenbart. Green­aways Kino ist intellektuell, aber nicht spröde, denn es bietet dem Publikum schwarzhumorige, sinnliche Spektakel, deren üppige und provokative Darstellungen von Nacktheit, Sex und Gewalt oft heftige Emotionen auslösen. Film als Malerei Seine Hauptfiguren sind meist Männer – Künstler, Wissenschaftler, Exzentriker, Emporkömmlinge –, die in ihren Obsessionen gefangen sind. Die Frauen beweisen mehr Sinn für Realität und überleben die Männer – sofern sie diese


07 nicht gleich eigenhändig umbringen. Das hat Greenaway von feministischer Seite sowohl Beifall als auch Kritik eingebracht, denn seine weiblichen Figuren sind zwar meist stärker als die männlichen, aber nicht unbedingt vorbildlich und tugendhaft. Greenaways Weigerung, Identifikation und Mitgefühl mit seinen Protagonist:innen zu wecken, hat ihm den Vorwurf der Gefühlskälte eingetragen. Tatsächlich ist seine künstlerische Grundhaltung die (typisch britische) Ironie, gepaart mit der Akzeptanz, dass wir im gottlosen Universum Darwins evolutionären Prozessen ausgesetzt sind, die dem Einzelschicksal jegliche Tragweite absprechen. Jeder Versuch, dem Weltgeschehen Sinn zu verleihen, ist daher menschlich, zutiefst subjektiv und weitgehend irrelevant. Bei aller visuellen Theatralik und seinen Bezügen auf die Kunstgeschichte ist Greenaway doch ein Erneuerer des Kinos. Er stürzte sich schon früh auf die Möglichkeiten, die Video und Digitalisierung eröffneten. «Ich habe mich oft gefragt, ob es möglich wäre, mit derselben Sprache über Malerei und Kino zu sprechen, so als wäre das Kino eine Erweiterung der Anliegen der Malerei. Das heisst in der Lage zu sein, ohne Mühe eine vergleichbare und sinnvolle Beurteilung, sagen wir von Rembrandts ‹Nachtwache› und Welles’ Citizen Kane zu machen», sagte Greenaway einst in einem Vortrag. Blosse nachahmende Anspielungen auf die Malerei im Kino reichten ihm nicht; er wollte das Filmmaterial ähnlich formen können wie die Farbe auf der Leinwand. In der Shakespeare-Adaption Prospero’s Books (1991) und in The Pillow Book (1996) wurden die Filmbilder zu vielschichtigen Palimpsesten aus Fotografie, Malerei und Kalligrafie, was das ohnehin dichte Gewebe von Referenzen noch potenzierte. Cinema Is Dead, Long Live the Screen hat Greenaway einen Dokumentarfilm von 2008 genannt. In den letzten Jahren hat er denn auch seltener fürs Kino gedreht und sich mehr mit Kunstprojekten und Operninszenierungen befasst, die er teilweise gemeinsam mit seiner zweiten Frau, der niederländischen Künstlerin und Theaterregisseurin Saskia Boddeke, realisiert. Und doch ist sein Drang, (auch) Geschichten zu erzählen, stark geblieben. Aus seiner szenografischen Beschäftigung mit Rembrandts «Nachtwache», die er 2006 im Rijksmuseum Amsterdam mit Licht und Ton zum Leben erweckte, erwuchsen sein biografischer Spielfilm Nightwatching (2007) und sein Essayfilm Rembrandt’s J’Accuse (2008), in dem er aus dem Gemälde ein Mordkomplott herausliest. Seine Beschäftigung mit der Kunst des Barocks schlug sich auch in Goltzius and the Pelican Company (2012) nieder. Greenaway hat wiederholt gesagt, nach 80 habe ein Künstler nichts Wertvolles mehr zu bieten. Heute ist er – mit zahlreichen Roman-, Film- und Kunstprojekten in Arbeit – selbst emsig dabei, den Gegenbeweis zu erbringen. Michel Bodmer


> The Belly of an Architect.

> The Falls.

> The Draughtsman’s Contract.

> Prospero’s Books.


09

Peter Greenaway Janet Suzman (Mrs. Herbert), Anne-Louise Lambert (Mrs.

THE FALLS

Talmann), Hugh Fraser (Mr. Talmann), Neil Cunningham

GB 1980

(Mr. Noyes), Dave Hill (Mr. Herbert), David Gant (Mr. Seymour),

Greenaways enzyklopädischer Geist schlägt sich in seinem ersten Langfilm besonders konsequent nieder. Es gibt keine übergreifende Handlung; der Film besteht aus einer Kompilation von 92 Biografien fiktiver Personen, deren Nachname mit «Fall-» beginnt und die ein «Violent Unknown Event» erlebt haben, ein «heftiges unbekanntes Ereignis», das irgendwie mit Vögeln zu tun hatte. Mit den Techniken des Dokumentarfilms, die er beim British Film Institute und dem Central Office of Information erlernte, persifliert Greenaway das Denken in Ordnungssystemen und lässt sowohl seiner makabren Fantasie als auch seiner sprachlichen Kreativität freien Lauf. Bei über drei Stunden Laufzeit eine Zumutung, aber eine sehr kurzweilige.

Amer (Mr. Parkes), Suzanne Crowley (Mrs. Pierpont), Alastair

195 Min / Farbe + sw / 16 mm / E // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT Peter Greenaway // KAMERA Mike Coles, John ­Rosenberg // MUSIK Michael Nyman, Brian Eno // MIT Colin Cantlie (Erzähler), Hilarie Thompson (Erzählerin), Sheila Canfield (Erzählerin), Adam Leys (Erzähler), Serena Macbeth (Erzählerin), Martin Burrows (Erzähler).

THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT GB 1982

David Meyer (Poulenc I), Tony Meyer (Poulenc II), Nicholas Cumming (Philip).

A ZED AND TWO NOUGHTS GB 1985 Die Zwillinge Oliver und Oswald, deren Ehefrauen bei einem Autounfall mit einem Schwan getötet werden, entwickeln eine Obsession mit der Befreiung von Zootieren, Tod und Verwesung und beginnen eine bizarre Dreiecksbeziehung mit der Frau, die den Unfall verursacht hat. Symmetrische Bildkompositionen, die das Zwillingsmotiv spiegeln; eine Lichtführung, die von Vermeer inspiriert ist; Querbezüge zwischen Darwins Evolutionstheorie, biblischer Schöpfungsgeschichte und klassischer Mythologie – Greenaways zweiter Spielfilm ist ein komplexes Vexierbild, das seinen ganzen begrifflichen Kosmos aufreisst und skurrile Fragen aufwirft: Ist ein Zebra ein schwarzes Tier mit weissen Streifen oder ein weisses Tier mit schwarzen? 115 Min / Farbe / 35 mm / E/e // DREHBUCH UND REGIE ­Peter Greenaway // KAMERA Sacha Vierny // MUSIK Michael Nyman // SCHNITT John Wilson // MIT Andréa Ferréol (Alba Bewick), Brian Deacon (Oswald Deuce), Eric Deacon (Oliver Deuce),

Ein Zeichner des ausgehenden 17. Jahrhunderts soll zwölf Ansichten von einem englischen Landsitz und dessen Parkanlage anfertigen, als Geschenk für den abwesenden Hausherrn. In seinen Bildern finden sich Hinweise auf ein Verbrechen, das möglicherweise auf dem Anwesen stattgefunden hat. Der Zeichner verstrickt sich in ein erotisches Intrigenspiel mit der Dame und der Tochter des Hauses, das ihm schlecht bekommt. Greenaways Durchbruchfilm ist eine intelligente Reflexion über die Ausdrucksmöglichkeiten der Malerei und des Kinos. «Was wir hier haben, ist ein reizvolles Rätsel, verpackt in Erotik und präsentiert mit äusserster Eleganz. Nie habe ich einen vergleichbaren Film gesehen. The Draughtsman’s Contract erzählt uns eine scheinbar ganz einfache Geschichte auf ganz gradlinige Weise, doch kaum ist der Film vorbei, muss man womöglich stundenlang mit Freunden diskutieren, ehe man sich (falls überhaupt) klar darüber wird, was da genau geschehen ist.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 29.9.1983) 108 Min / Farbe / 35 mm / E/d // DREHBUCH UND REGIE P ­ eter Greenaway // KAMERA Curtis Clark // MUSIK Michael Nyman // SCHNITT John Wilson // MIT Anthony Higgins (Mr. Neville),

Frances Barber (Venus De Milo), Joss Ackland (Van Hoyten).

THE BELLY OF AN ARCHITECT GB 1987 Der beleibte amerikanische Architekt Kracklite konzipiert in Rom eine Ausstellung über einen weitgehend vergessenen Berufskollegen des 18. Jahrhunderts und wird dabei von Krankheit, den Intrigen eines geschmeidigen jungen Konkurrenten und Misstrauen gegenüber seiner schwangeren, mutmasslich untreuen jungen Frau heimgesucht. «Diese Geschichte kommt zunächst im üblichen Greenaway-Stil daher: Visuelle und symbolische Anspielungen in Hülle und Fülle vereinen sich zu einer unverwechselbar schrulligen Meditation über eine Vielzahl von Themen. Doch was der Film anderen Werken Greenaways vielleicht voraus hat, ist seine Durchlässigkeit für Gefühle. Die auserlesenen Tableaus, das anspielungs­ reiche Drehbuch und die akut geistreiche Art finden in diesem Fall nämlich ein Gegengewicht in Brian Dennehys buchstäblich enormer Präsenz,


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Peter Greenaway welche die formalen Symmetrien des Films in – äusserst einprägsame – Stücke reisst.» (Geoff Andrew, Time Out Film Guide) Hauptdarsteller Dennehy sagte später, er habe viele «movies» gedreht, aber nur einen «film»; Greenaway wiederum tat sich anfänglich schwer damit, dass Dennehy als Hollywoodschauspieler nicht über die gewünschte Ironie im Spiel verfügte, gab dann aber zu, dass die Emotionalität des Stars dem Film auch eine ungeahnte Tiefe verlieh.

feinsinnigen Bibliothekar, was diesen das Leben kostet. Doch sein Tod wird furchtbar gerächt. Jedes Dekor ist in einer anderen Grundfarbe gestaltet, die eine eigene Stimmung erzeugt, vom Schlundrot des Speisesaals über das gemütliche Braun der Bibliothekarswohnung bis zum sterilen Weiss der Toilette. Als Vorbilder der Handlung dienten britische Rachedramen aus der Zeit Jakobs I., die für ihre Gewalt- und Perversions­ exzesse bekannt sind. Helen Mirren brilliert als Opfer toxischer Männlichkeit, das erbarmungslos zurückschlägt.

108 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE ­Peter Greenaway // KAMERA Sacha Vierny // MUSIK Wim

124 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE

Mertens // SCHNITT John Wilson // MIT Brian Dennehy

­Peter Greenaway // KAMERA Sacha Vierny // MUSIK Michael

(Stourley Kracklite), Lambert Wilson (Caspasian Speckler),

Nyman // SCHNITT John Wilson // MIT Helen Mirren (Geor-

Chloe Webb (Louisa Kracklite), Sergio Fantoni (Io Speckler),

gina Spica), Michael Gambon (Albert Spica, der Gangster-

Stefania Casini (Flavia Speckler), Vanni Corbellini (Frederico),

boss), Richard Bohringer (Richard Borst, der Koch), Alan

Alfredo Varelli (Julio).

Howard (Michael, der Liebhaber), Tim Roth (Mitchel), Ciarán Hinds (Cory), Gary Olsen (Spangler), Ewan Stewart (Harris),

DROWNING BY NUMBERS

Roger Ashton-Griffiths (Turpin), Alex Kingston (Adele), Ian Dury (Terry Fitch), Roger Lloyd-Pack (Geoff).

GB 1988 Drei Frauen, Grossmutter, Mutter und Tochter, alle namens Cissie Colpitts (ein Name, der Greenaways privater Mythologie entstammt), sind von ihren Männern enttäuscht und beschliessen diese zu ertränken. Um ihre Verbrechen zu verschleiern, verbünden sie sich mit dem Leichen­ beschauer. Misogynes Machwerk oder feministische Fabel? Urteilen Sie selbst. Der schwarzhumorige Plot gemahnt an klassische Ealing Comedies, doch der Film wird strukturiert mit einem Countdown der Zahlen von 1 bis 100 – und einer Reihe von skurrilen Kinderspielen, die Greenaway sich allesamt ausgedacht hat. Neben den hervorragenden Schauspielerinnen und Schauspielern verkörpert auch die idyllische englische Landschaft einmal mehr eine zentrale Rolle. 118 Min / Farbe / 35 mm / E/d // DREHBUCH UND REGIE P ­ eter Greenaway // KAMERA Sacha Vierny // MUSIK Michael ­Nyman // SCHNITT John Wilson // MIT Joan Plowright (Cissie Colpitts 1), Juliet Stevenson (Cissie Colpitts 2), Joely Richardson (Cissie Colpitts 3), Bernard Hill (Henry Madgett), Trevor Cooper (Hardy).

THE COOK, THE THIEF, HIS WIFE AND HER LOVER GB/Frankreich 1989 Diese Parabel über Thatchers Grossbritannien dreht sich um einen machthungrigen und gierigen Ganoven, der sich in einem Gourmetrestaurant verwöhnen lässt, obwohl er keinen Sinn für Delikatesse hat. Seine Frau betrügt ihn mit einem

PROSPERO’S BOOKS GB/Frankreich/Niederlande /Italien 1991 Der Zauberer Prospero, einst Doge von Venedig, ist auf eine Insel verbannt worden und bringt seine Feinde mittels eines heraufbeschworenen Sturms in seine Gewalt. Mithilfe dienstbarer Geister und allerlei Gaukelwerk macht der ­ seinen Widersachern die Verwerflichkeit ihres Tuns bewusst. «My library was dukedom large enough», spricht Shakespeares Prospero, und die Bibliothek ist denn auch in Greenaways Verfilmung von «The Tempest» die Insel auf der Insel des Exils. Der Cineast lässt den gesamten Stoff der Fantasie des rachsüchtigen Magiers entspringen und den grossen John Gielgud alle Rollen sprechen. Der Schauspieler wird zum Dichter, der Zauberer zum Filmemacher – und umgekehrt. Prospero’s Books ist ein wahrer Bildrausch mit allen möglichen Kombinationen von digitalen Tricks und handgefertigter Kalligrafie. «Die meisten Kritiken dieses Films liegen falsch; das ist keine Erzählung, es muss keinen Sinn ergeben, und der Film ist auch nicht ‹zu schwierig›, weil er nicht weniger schwierig hätte sein können. Er ist schlicht ein originäres Kunstwerk, das Greenaway uns bittet, zu seinen Bedingungen anzunehmen oder abzulehnen.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 27.11.1991) 124 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Peter Greenaway // DREHBUCH Peter Greenaway, nach dem Bühnenstück «The Tempest» von William Shakespeare // KAMERA Sacha Vierny


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Peter Greenaway // MUSIK Michael Nyman // SCHNITT Marina Bodbijl // MIT John Gielgud (Prospero), Michael Clark (Caliban), Michel Blanc (Alonso), Erland Josephson (Gonzalo), Isabelle Pasco (Miranda), Tom Bell (Antonio), Kenneth Cranham (Sebastian), Mark Rylance (Ferdinand), Gérard Thoolen (Adrian), Pierre Bokma (Francisco), Jim Van Der Woude (Trinculo), Michiel

und Text, die sein Filmschaffen im Grossen anstrebt. «Mein erster Film mit einem Happy ­ End», sagt Greenaway, der mit seiner Heldin ­Nagiko – die als Künstlerin, Frau und Mutter reüssiert – auch die feministische Kritik zufriedenzustellen hoffte.

Romeyn (Stephano). 126 Min / Farbe / 35 mm / E+Jap+Kant+Chin+F+I/d // REGIE

THE BABY OF MÂCON Niederlande/Frankreich/ GB/Deutschland 1993 Vor einem Publikum des 17. Jahrhunderts wird ein Stück aufgeführt über ein unschuldiges, mutmasslich heiliges Kind, das von seiner ehrgei­ zigen Schwester sowie von der Kirche ausgebeutet wird. Das Publikum greift in den Verlauf des Stücks ein, und es kommt zu unerklärlichen Wundern und Todesfällen und einer bestialischen Form von Bestrafung der jungfräulichen Protagonistin durch das kirchlich-patriarchalische Establishment. Für den Atheisten Greenaway verlangen Religion und Kino von ihrem Publikum gleichermas­ sen das Aussetzen des Unglaubens, und er geht hier diesem Phänomen auf den Grund. Trotz der offensichtlichen Theatralik der Inszenierung und diverser Verfremdungseffekte fiel das Kinopublikum auf Greenaways effektvolles Spiel mit Identifikation und Wirklichkeitsebenen herein und machte ihm die dargestellte – und denunzierte – männliche Gewalt an einer Frau zum Vorwurf. 122 Min / Farbe / DCP / E/d // DREHBUCH UND REGIE Peter Greenaway // KAMERA Sacha Vierny // SCHNITT Chris Wyatt // MIT Julia Ormond (die Tochter), Ralph Fiennes (der Sohn des Bischofs), Philip Stone (der Bischof), Jonathan Lacey

Peter Greenaway // DREHBUCH Peter Greenaway, nach dem «Kopfkissenbuch» von Sei Shonagon // KAMERA Sacha Vierny // MUSIK Brian Eno // SCHNITT Peter Greenaway, Chris Wyatt // MIT Vivian Wu (Nagiko), Yoshi Oida (der Verleger), Ken Ogata (der Vater), Hideko Yoshida (die Tante/ die Magd), Ewan McGregor (Jerome), Judy Ongg (die Mutter), Ken Mitsuishi (der Ehemann), Yutaka Honda (Hoki).

8½ WOMEN GB/Niederlande/Luxemburg/ Deutschland 1999 Der reiche Philip Emmenthal trauert um seine verstorbene Frau. Sein erwachsener Sohn Storey versucht ihn zu trösten. Nachdem sie Fellinis 8 ½ gesehen haben, beschliessen sie, sich ein Privatbordell einzurichten, mit 8½ Frauen, die verschiedenen erotischen Fantasien entsprechen. Die Frauen aber wollen sich den Vorstellungen von Vater und Sohn nicht unterordnen, sondern gehen schon bald ihre eigenen Wege. Philip: «Wie viele Regisseure drehen Filme, um ihre sexuellen Fantasien zu befriedigen?» Storey: «Die meisten.» Greenaways fragmentarische Hommage an Fellini und (selbst)ironische Reflexion über das Filmemachen als Ersatzbefriedigung birgt viele Einfälle zum Verhältnis zwischen Kunst und Körper, Grössenwahn und Geschlechtlichkeit.

(Cosimo Medici), Don Henderson (der Beichtvater), Celia ­ ­Gregory (die Mutter Oberin), Jeff Nuttall (der Majordomus).

118 Min / Farbe / 35 mm / E+I+Jap+Latein/d/f // DREHBUCH UND REGIE Peter Greenaway // KAMERA Reinier van Brum-

THE PILLOW BOOK GB/Niederlande/Frankreich/ Luxemburg 1996

melen, Sacha Vierny // SCHNITT Elmer Leupen // MIT John Standing (Philip Emmenthal), Matthew Delamere (Storey Emmenthal), Vivian Wu (Kito), Annie Shizuka Inoh (Simato), Barbara Sarafian (Clothilde), Kirina Mano (Mio), Toni Collette (Griselda/Schwester Concordia), Amanda Plummer (Beryl),

Die kleine Nagiko erfährt von ihrem Vater Zärtlichkeit in Form von aufgepinselten Schriftzeichen. Diese Empfindung sucht sie als unglücklich verheiratete Frau bei ihren Liebhabern. Um Rache an dem Verleger zu üben, der einst ihren Vater nötigte, greift sie selbst zum Pinsel und fertigt als Schreibende menschliche Bücher an. Für seine Adaption des «Kopfkissenbuchs der Sei Shonagon», eines 1000 Jahre alten Buchs über Kunst und Sexualität, schöpfte Greenaway bei der digitalen Bildmanipulation aus dem Vollen. Im japanischen Kanji, einem ikonischen Schriftzeichen, fand er im Kleinen jene Verschmelzung von Bild

Polly Walker (Palmira).

THE TULSE LUPER SUITCASES, PART 1: THE MOAB STORY GB/Spanien/Italien/Luxemburg/Niederlande/ Russland/Ungarn/Deutschland 2003 Tulse Luper, in Wales geboren, erkundet 1938 als junger Mann den amerikanischen Westen. In Utah, wo er nach verschwundenen MormonenStädten sucht, begegnet Luper der Familie Hockmeister, deren verführerische Tochter Passion


> The Baby of Mâcon.

> 8 ½ Women.


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Peter Greenaway ihn fasziniert. Doch die Männer der Familie nehmen den britischen Nonkonformisten aufs Korn und machen ihm das Leben schwer. The Tulse Luper Suitcases sollte Greenaways Opus magnum werden, ein Gesamtkunstwerk in fünf Medien: Buch, Kino, Fernsehen, DVD und Internet. Im Zentrum dieses Epos über das 20. Jahrhundert steht die Figur des «ewigen Gefangenen» Tulse Luper, der auch ein Symbol für den Künstler schlechthin und für den Filmemacher Greenaway ist; als roter Faden dienen das Element Uran und die 92 Koffer, die Luper im Laufe seines Lebens sammelt. 127Min/Farbe+sw/DigitalHD/E+D+Niederl+Französisch+Sp/d // DREHBUCH UND REGIE Peter Greenaway // KAMERA ­Reinier van Brummelen // MUSIK Borut Krzisnik, Eduardo Polonio // SCHNITT Elmer Leupen, Chris Wyatt // MIT JJ Feild (Tulse Luper/Floris Creps), Raymond J. Barry (Stephan ­Figura), Michèle Bernier (Sophie van Osterhaus), Valentina Cervi (Cissie Colpitts), Caroline Dhavernas (Passion Hockmeister), Anna Galiena (Madame Plens), Debbie Harry ­(Fastidieux), Steven Mackintosh (Günther Zeloty).

THE TULSE LUPER SUITCASES, PART 2: VAUX TO THE SEA GB/Niederlande/Spanien/Luxemburg/ Italien/Ungarn 2004

THE TULSE LUPER SUITCASES, PART 3: FROM SARK TO FINISH GB/Spanien/Luxemburg/Niederlande/ Deutschland 2004 Tulse Luper, Autor, Sammler und Archivar, wandert auch am Ende des Zweiten Weltkriegs und im Kalten Krieg von einem Gefängnis ins andere. Von drei eifersüchtigen Schwestern an die Nazis verraten, flieht Luper nach Barcelona, wo er die lesbische Liaison von Mathilde Figura und Madame Plens unterstützt und schützt. Er begegnet Primo Levi und Raoul Wallenberg und gerät schliesslich in die Hände eines Russen, dem er Geschichten erzählen muss, um seine Freiheit wiederzuerlangen. Zum Abschluss der Trilogie löst Greenaway das Rätsel um dieses wohl extremste Beispiel von Fabulierlust seines Gesamtwerks. Lupers 92 Koffer, die am Ende versammelt werden, bergen zwar ein Geheimnis, aber nicht dasjenige ihres Besitzers. 124 Min / Farbe / Digital HD / E+Russ/d // DREHBUCH UND REGIE Peter Greenaway // KAMERA Reinier van Brummelen // MUSIK Sandra Chechik // SCHNITT Joppo in de Grot, Elmer Leupen, Chris Wyatt // MIT Roger Rees (Tulse Luper), Stephen Billington (Tulse Luper), Jordi Mollà (Hypolite/ ­ Gaudí), Ana Torrent (Charlotte des Arbres), Ornella Muti

Im Zweiten Weltkrieg gerät Tulse Luper verschiedentlich in Gefangenschaft: Im nordfranzösischen Schloss von Vaux, das von den Nazis besetzt ist, legt er sich mit seinem Gegenspieler Stephan Figura an; im Strassburger Kino Arc-enciel eingesperrt, füllt er einen Koffer mit Filmschnipseln, und in Dinard an der Küste Frankreichs wird er zum unfreiwilligen Gast der Familie Moitessier, deren Matriarchin (Isabella Rossellini) Ingres-Heldinnen nachahmt. Literarische Bildung erweist sich dabei für Luper ebenso als Kerker wie cineastische Träume oder die Klaustrophobie der Bourgeoisie. 108 Min / Farbe + sw / Digital HD / E/d // DREHBUCH UND ­REGIE Peter Greenaway // KAMERA Reinier van Brummelen // MUSIK Architorti, Borut Krzisnik, Eduardo Polonio // SCHNITT Joppo in de Grot, Elmer Leupen, Jaap Praamstra // MIT JJ Feild (Tulse Luper), Raymond J. Barry (Stephan ­Figura), Valentina Cervi (Cissie Colpitts), Marcel Iures (General Foestling), Steven Mackintosh (Günther Zeloty), Jordi Mollà (Jan Palmerion), Drew Mulligan (Martino Knockavelli), Ornella Muti (Mathilde Figura).

­(Mathilde Figura), Iori Hugues (Martino Knockavelli), Anna Galiena (Madame Plens), Itziar Castro (Frances Contumely).

NIGHTWATCHING GB/Polen/Kanada/Niederlande 2007 Rembrandt van Rijn ist ein begehrter und wohlhabender Porträtmaler, als er 1642 einen Auftrag annimmt, der ihn Ruhm und Reichtum und beinahe seinen Kopf kosten wird. Die Miliz von ­Amsterdam will, dass er sie in einem Gruppenbild verewigt. Als Rembrandt entdeckt, dass die geltungssüchtigen Kaufleute in Ausbeutung und Mord verstrickt sind, verschlüsselt er dies in seinem Gemälde «Die Nachtwache». Die blossgestellten Bürger sinnen auf Vergeltung. Greenaway erkundet in Nightwatching nicht nur eines der berühmtesten Bilder der Kunstgeschichte und lotet dessen mögliche Geheimnisse aus. Sein Film stellt ausserdem eine spannende Reflexion über die Wechselwirkungen zwischen Leben, Eros, Macht und Kunst dar. Der erste von mehreren Greenaway-Filmen über die niederländischen Meister der Barockmalerei. 134 Min / Farbe / DCP / E/d // DREHBUCH UND REGIE Peter Greenaway // KAMERA Reinier van Brummelen // MUSIK Wlodzimierz Pawlik // SCHNITT Karen Porter // MIT Martin


> Goltzius and the Pelican Company.

> Eisenstein in Guanajuato.

> The Greenaway Alphabet.


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Peter Greenaway Freeman (Rembrandt van Rijn), Emily Holmes (Hendrickje), Eva Birthistle (Saskia), Jodhi May (Geertje), Toby Jones (Gerard Dou), Jonathan Holmes (Ferdinand Bol), Michael Teigen (Carel Fabritius), Kevin McNulty (Hendrick Uylen­ burgh), Agata Buzek (Titia Uylenburgh).

GOLTZIUS AND THE PELICAN COMPANY GB/Niederlande/Frankreich/Kroatien/Vereinigte Arabische Emirate 2012 Hendrick Goltzius ist ein Zeitgenosse Rem­ brandts und damals als Künstler noch erfolgreicher, nicht zuletzt dank seiner erotischen Bibelillustrationen. Er versucht, den Markgrafen des Elsass, der für seine Freigeistigkeit bekannt ist, zu überreden, ihm eine Druckerpresse zu finanzieren. Um ihn gnädig zu stimmen, inszenieren Goltzius und die Mitglieder seiner Pelican Company sechs sexuelle Tabus aus dem Alten Testament auf der Bühne. Jede neue visuelle Technologie wird bald zu Erotik und Pornografie hingezogen, behauptet Greenaway. In diesem Film belegt er seine These anhand dieser Entwicklung beim aufkommenden Buchdruck. Goltzius amtiert dabei als Erzähler, der nicht nur eine Figur der barocken Handlung ist, sondern auch anachronistische kunstgeschichtliche Exkurse einflicht, die Greenaways An- und Absichten enthüllen. 128 Min / Farbe / DCP / E // DREHBUCH UND REGIE Peter Greenaway // KAMERA Reinier van Brummelen // SCHNITT Elmer Leupen // MIT Ramsey Nasr (Hendrick Goltzius), F. Murray Abraham (Markgraf), Kate Moran (Adaela), Giulio Berruti (Boethius), Anne Louise Hassing (Susannah), Flavio

len. In seiner schrägen Hommage verwebt er spekulatives biografisches Material mit formalen Zitaten und sarkastischen Szenen über Kulturkonflikte zwischen Russland, den USA und Mexiko. In der clownesken Hauptrolle tobt sich der finnische Schauspieler Elmer Bäck aus, der auch im geplanten Folgefilm Eisenstein in Hollywood den sowjetischen Cineasten verkörpern soll. 105 Min / Farbe + sw / DCP / E+Sp/e/d // DREHBUCH UND REGIE Peter Greenaway // KAMERA Carlos Salom, Reinier van Brummelen // SCHNITT Elmer Leupen // MIT Elmer Bäck (Sergei Eisenstein), Luis Alberti (Palomino Cañedo), Rasmus Slätis (Grisha Alexandrov), Jakob Öhrmann (Eduard Tissé), Maya Zapata (Concepción Cañedo).

THE GREENAWAY ALPHABET Niederlande 2017 Greenaways Filme werfen oft sehr eigenwillige Blicke auf starke und zwiespältige Frauenfiguren. Saskia Boddeke, Greenaways zweite Ehefrau, ist Theater- und Opernregisseurin und hat auch gemeinsam mit ihm diverse Inszenierungen auf der Bühne gestaltet. Zu seinem 75. Geburtstag schuf sie dieses Porträt, das Greenaway als Künstler, Gatten und Vater zeigt und ihn innerlich wie äus­ serlich ebenso enthüllt – wie er selbst es mit den Figuren und Darsteller:innen seiner Filme getan hat. Als Führerin durch den alphabetisch strukturierten Dokumentarfilm amtet Pip, die damals halbwüchsige gemeinsame Tochter von Boddeke und Greenaway. Sie lässt sich von ihrem Vater dessen künstlerischen Kosmos und sein Handwerk erklären, stellt ihm aber auch sehr direkte Fragen, zum Beispiel: «Steht A für Autismus?»

Parenti (Eduard), Lars Eidinger (Quadfrey), Halina Reijn ­(Portia), Pippo Delbono (Samuel van Gouda), Francesco de Vito (Rabbi Moab).

68 Min / Farbe / DCP / E/e // DREHBUCH UND REGIE Saskia Boddeke // KAMERA Ruzbeh Babol, Saskia Boddeke, Sander Snoep // SCHNITT Gys Zevenbergen // MIT Peter Greenaway,

EISENSTEIN IN GUANAJUATO Niederlande/Belgien/Finnland/ Mexiko/Frankreich 2015 Sergei Eisenstein, dessen Revolutionsepos Oktober unter dem Titel Ten Days That Shook the World auch Hollywood beeindruckt hat, reist in den 1930er-Jahren nach Mexiko, um dort mit amerikanischem Geld einen Film zu drehen. Das Projekt Que viva Mexico will aber nicht gelingen, denn was Eisenstein viel mehr bewegt, ist die Entdeckung seiner unterdrückten Homosexualität. Der Editor ist König, hat Greenaway gesagt, weil er alles Filmmaterial nach Belieben umorganisieren und uminterpretieren kann. In Sachen Montage ist Sergei Eisenstein der unangefochtene Pionier und somit eines von Greenaways Ido-

Pip Greenaway, Saskia Boddeke (Erzählerin/sie selbst).

 Donnerstag, 14. Juli, 20.45 Uhr: in Anwesenheit der Regisseurin

> Pip und Peter Greenaway.


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Peter Greenaway

GREENAWAY: KURZFILME I

GREENAWAY: KURZFILME II

INTERVALS

WINDOWS

GB 1973

GB 1975

Ein Film über Venedig, aber ohne jede Darstellung von Wasser. Ausgehend von einem Nota­ tionssystem von Vivaldi strukturiert und taktet Greenaway nichtpittoreske Aufnahmen der Lagunenstadt auf drei verschiedene Arten. Das eigentliche Thema ist die Künstlichkeit des Mediums Film.

Greenaways sarkastisch-metaphorischer Kommentar zum Phänomen der gehäuften Todesfälle durch Fenstersturz, die in den 1970er-Jahren in Südafrika bekannt wurden.

H IS FOR HOUSE

Parodie auf ethnologische Dokumentarfilme: Ein kurioser Volksstamm, der stark mit den Gewässern der südenglischen Landschaft verbunden ist, wird beschrieben, aber es ist nicht klar, ob er vor langer Zeit lebte – oder der Zukunft angehört.

GB 1973 Ein charmantes und witziges «Home Movie», in dem Greenaway seine damalige Familie porträtierte, vor allem seine kleinen Kinder, die das Alphabet lernten. Als Anfangsbuchstabe ist H äus­ serst unterschiedlichen Objekten und Konzepten gemeinsam, was die Absurdität alphabetischer Ordnung entlarvt.

VERTICAL FEATURES REMAKE GB 1978 Greenaways vielseitiger Protagonist Tulse Luper hat einen Film mit dem Titel Vertical Features gemacht, der sich auf senkrechte Objekte konzentriert. Mehrere Akademiker versuchen, den verschollenen Film je nach ihrem Gusto zu rekonstruieren. Greenaways frühe Abrechnung mit der Subjektivität der Filmkritik. INTERVALS 7 Min / sw / Digital SD / I // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT

WATER WRACKETS GB 1975

DEAR PHONE GB 1976 Ein Geflecht von kuriosen Geschichten, die alle mit dem Gebrauch oder Missbrauch des Telefons zu tun haben. Als Protagonisten erscheinen die roten, urbritischen Telefonzellen in verschiedensten Gefilden.

A WALK THROUGH H GB 1979 In diesem Film über «die Reinkarnation eines Ornithologen» lässt Greenaway seinen Protagonisten Tulse Luper nach dessen Tod durch imaginäre Länder ins Jenseits – sei es Himmel oder Hölle – reisen, bewaffnet mit 92 Landkarten.

Peter Greenaway.

WINDOWS

H IS FOR HOUSE

SCHNITT Peter Greenaway // MIT Peter Greenaway (Erzähler).

4 Min / Farbe / 16 mm / E // DREHBUCH, KAMERA, REGIE,

10 Min / Farbe / Digital SD / E // DREHBUCH, KAMERA, REGIE, SCHNITT Peter Greenaway // MIT Colin Cantlie (Erzähler), Hannah Greenaway (Kind), Peter Greenaway (Stimme).

VERTICAL FEATURES REMAKE 44 Min / Farbe / 16 mm / E // DREHBUCH, KAMERA, REGIE, SCHNITT Peter Greenaway // MUSIK Michael Nyman // MIT Colin Cantlie (Erzähler).

Das Filmpodium dankt dem Seminar für Filmwissenschaft für die Unterstützung der Retrospektive Peter Greenaway.

WATER WRACKETS 12 Min / Farbe / 16 mm / E // DREHBUCH, KAMERA, REGIE, SCHNITT Peter Greenaway // MUSIK Max Eastley // MIT Colin Cantlie (Erzähler).

DEAR PHONE 17 Min / Farbe / 16 mm / E // DREHBUCH, KAMERA, REGIE, SCHNITT Peter Greenaway // MIT Peter Greenaway (Erzähler).

A WALK THROUGH H 42 Min / Farbe / 16 mm / E // REHBUCH, REGIE, SCHNITT P ­ eter Greenaway. // KAMERA John Rosenberg, Bert Walker // ­MUSIK Michael Nyman // MIT Colin Cantlie (Erzähler).

Ebenfalls für die Unterstützung danken wir: Kurztexte wo nicht anders vermerkt: mb


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Peter Greenaway

Peter Greenaway live im Filmpodium Vom 13. bis zum 15. Juli wird Peter Greenaway in Zürich sein, begleitet von seiner Frau Saskia ­Boddeke und ihrer gemeinsamen Tochter Zoe alias Pip, die mit ihm das Dokumentar­film-Porträt The Green­away Alphabet (2017) gestaltet haben. Greenaway wird drei Vorträge mit Filmbeispielen (darunter selten oder nie gesehenes Material) über drei seiner zentralen künstlerischen Anliegen halten sowie sich bei einem offenen Gespräch auch Fragen aus dem Publikum stellen.

NON-NARRATIVE CINEMA? VORTRAG VON PETER GREENAWAY

MI, 13. JULI | 20.45 UHR

Peter Greenaway hat sich immer wieder gegen ein Kino ausgesprochen, das bloss die linearen erzählerischen Konventionen des viktorianischen Romans nachahmt und dabei einen dubiosen Anspruch auf Realismus erhebt. Für ihn ist die audiovisuelle Kunst für ganz andere Ausdrucksformen geschaffen, und in seinem Werk macht er das auch immer wieder spürbar, sei es durch die Verwendung nonnarrativer Strukturen für die Gliederung seiner Geschichten, mithilfe von Verfremdungseffekten oder durch die vielschichtige malerische Gestaltung der Bildebene. Unter anderem kommen folgende Filme zur Sprache: The Cook, the Thief, His Wife and Her Lover, Drowning by Numbers, Intervals, The Falls und Vertical Features Remake.

FILM AND LANDSCAPE VORTRAG VON PETER GREENAWAY

DO, 14. JULI | 18.15 UHR

Bei aller formalen Experimentierfreude steht Peter Greenaway als ausgebildeter Künstler durchaus auch in der altehrwürdigen Tradition der Landschaftsmalerei. Aufgrund seiner Biografie ist er ins­ besondere der wässrig-grünen Landschaft Südenglands verbunden, die in seinen Frühwerken immer wieder aufscheint. Auch in seinem jüngsten Film jedoch, Walking to Paris, der die Wanderung ­Constantin Brâncusis von Rumänien nach Paris nachzeichnet, ist die Inspiration des Künstlers durch die Landschaft ein Hauptthema. Ausserdem kommen folgende Filme zur Sprache: The Draughtsman’s Contract, Drowning by Numbers, The Falls, The Reitdiep Journeys.

A CONVERSATION WITH PETER GREENAWAY

FR, 15. JULI | 18.15 UHR

Peter Greenaway hat einige der meistdiskutierten Filme der letzten Jahrzehnte geschaffen. Seine kühl-ironische und gleichzeitig oft ungeschönte Darstellung von Nacktheit, Sexualität, Gewalt und Tod in Drowning by Numbers, The Cook, the Thief, His Wife and Her Lover, The Baby of Mâcon oder auch Goltzius and the Pelican Company und Eisenstein in Guanajuato hat manche Gemüter erregt. Ebenso provokativ ist sein Anspruch, dass Kino nicht bloss zur Unterhaltung dienen, sondern komplexe Kunstwerke hervorbringen sollte, die vom Publikum eine vertiefte Auseinandersetzung erfordern. Ein ­offenes Gespräch über diese und andere diskussionswürdige Aspekte von Greenaways Schaffen, moderiert von Michel Bodmer.

FILM AND MUSIC VORTRAG VON PETER GREENAWAY

FR, 15. JULI | 21.00 UHR

Peter Greenaway versteht Film als Gesamtkunstwerk, und dabei kommt auch der Musik eine grosse Rolle zu. Die vom Barock inspirierte Minimal Music Michael Nymans trug stark zur Gesamtwirkung von Greenaways Frühwerk bei, aber der Regisseur hat sich immer auch mit anderen Komponist:innen befasst. Allein und gemeinsam mit seiner Frau Saskia Boddeke hat er auch Opern und Musiktheater inszeniert. Unter anderem kommen folgende Werke zur Sprache: The Draughtsman’s Contract, Not ­Mozart, Rosa – A Horse Drama, Walking on Water, Windows.


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> Cold War.

> Down by Law.

> The Party.


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50 Jahre Filmcoopi 50 Jahre Filmcoopi. 50 Jahre engagierte, leidenschaftliche, herausfordernde und «künstlerisch wertvolle Filme» für die Schweizer Kinos. Das wollen wir feiern! Mit einem grossen Jubiläumsprogramm, das wegweisende Filme, Publikumslieblinge und natürlich Werke von Filmschaffenden, die die Filmcoopi über viele Jahre begleitet haben, vereint. Zum Auftakt freuen wir uns über die Vorpremiere von François Ozons Peter von Kant – und über den Besuch des Regisseurs am 8. Juli. Am 24. August wollen wir gemeinsam mit der Filmcoopi in die Zukunft schauen und fragen bei einer Podiumsdiskussion nach Visionen, Perspektiven und Herausforderungen in Zeiten von Sofakino und Streamingdiensten. Erst mal aber blicken mit Felix Hächler (66), Claudia Badoer (38) und Yves Blösche (37) Angehörige der ersten und der zweiten Filmcoopi-Generation im Interview mit Pascal Blum auf 50 bewegte und bewegende Jahre zurück.

«Es braucht eine Philosophie hinter allem» Interview mit Claudia Badoer, Felix Hächler und Yves Blösche Ich möchte mit euch über Enthusiasmus reden. Die Filmcooperative Zürich wurde 1972 in einer Zeit politischer Umwälzungen gegründet, heute ist der Filmverleih ein Player im Schweizer Kinomarkt. Kann man sich die Stimmung des Aufbruchs erhalten? Felix Hächler: Schau nicht mich an, du musst die Jungen anschauen! Aber für mich kann ich die Frage mit Ja beantworten.

Yves Blösche: Ich für mich auch. Claudia Badoer: Bei mir gilt das ebenfalls. Wenn wir an Krawall von Jürg Hassler von 1970 zurückdenken, den Film über die Globuskrawalle, dann gibt es solche engagierten Haltungen heute immer noch. Ich denke zum Beispiel an den Dokumentarfilm Demain über eine ökologischere Zukunft oder Die göttliche Ordnung. Gerade weil diese Filme den Zeitgeist treffen, motiviert mich die Arbeit.


20 Felix Hächler: Man vergisst leicht, was für ein politischer Verein die Filmcoopi in den Anfängen war. Im Keller gab es diese Lotta-ContinuaFilme, alles Traktate, das konnte man sich nicht ansehen. Auch deshalb war Krawall ein Highlight. Das war ein Film mit politischer Message. Aber einer, der immer noch ein Film ist. Am Anfang wollte die Filmcooperative «künstlerisch wertvolle Filme» ins Programm nehmen. Habt ihr das Motto immer noch im Kopf? Y: Der Slogan gilt immer noch. Wir reden permanent darüber, ob ein Film einen Anspruch hat und ob er mehr ist als blosse Unterhaltung. F: Ganz am Anfang hat die Filmcoopi mit Kaiseraugst über den Protest gegen den Bau des Atomkraftwerks 1975 selber einen Film produziert. Das war ja auch ein Signal, um zu zeigen: Wir sind widerständig. Und das noch mit Erfolg! Wir können uns die Begeisterung erhalten, weil wir die Filme selber auswählen. Es sind Einzelstücke. Und wir sind nicht abhängig von einem Anbieter, der uns Filme im Paket verkauft. Was heisst «künstlerisch wertvoll» heute? Y: Wenn ein Film die Gesellschaft spiegelt und relevant wird. Das kann man auf verschiedenen Ebenen anschauen. Wie ist der Film gemacht, wie ist er gespielt? Und dann inhaltlich. Was erzählt er? Wie äussert sich die Kreativität von Regisseur und Produzentin? Ich erlebe euch oft an Festivals wie Berlin oder Cannes, wo ihr begeistert aus einer Marktvorführung kommt.

Was sind eure schönsten Erinnerungen der letzten Jahre? Y: Ich glaube, da müssen wir Toni Erdmann erwähnen. F: Ich erinnere mich, dass wir das Drehbuch gelesen haben und es zu lang fanden. Unbrauchbar. Y: Wir waren unsicher. Und dann haben wir ihn in einer Privatvorführung im Riffraff gesehen, kurz bevor das Cannes-Festival begann. Wir pflegen ja mit Regisseuren wie Ken Loach, Aki Kaurismäki oder Jim Jarmusch über Jahre Beziehungen. So war es auch bei Maren Ade, deren ersten Film wir im Verleih hatten. In diesem Fall war auch die Beziehung zum Weltvertrieb The Match Factory wichtig, der uns sagte, Toni Erdmann werde im Cannes-Wettbewerb laufen. Also haben wir die Komödie in Zürich gesehen und waren total begeistert. In Cannes gab es Standing Ovations in einem Saal mit 3000 Personen. Ihr habt Toni Erdmann in einer kleinen Gruppe in Zürich gesehen. Wie könnt ihr so entscheiden, ob ein Film Erfolg haben könnte? Y: In diesem Fall waren wir eine kleine Einkaufsgruppe, fünf Leute. Man kann es immer nur bedingt sagen. Es geht um ein Bauchgefühl. F: Ein Bauchgefühl, bei dem wir in 70 Prozent der Fälle falsch liegen. C: Toni Erdmann hat einen speziellen Humor. Der Film haut die Figuren nicht in die Pfanne und schafft es, unsere kapitalistische Hamsterrad-Gesellschaft darzustellen. Und gleichzeitig ist es eine Familiengeschichte, auf eine aussergewöhnliche Art erzählt.


21 F: An Angel at My Table habe ich mit einer befreundeten Produzentin auf ­einem nicht besonders grossen Fernseher gesehen, wir waren beide nicht beeindruckt. Zum Glück haben wir den Film trotzdem gekauft, denn das führte dazu, dass wir später The Piano von Jane Campion gekriegt haben. Taxi Teheran von Jafar Panahi war auch so ein Festival-Glücksfall, oder? Alle: Ja, in Berlin! F: Wahnsinn. Wir sassen in der ersten Vorführung Im Berlinale-Palast, und zwei Stunden später hatten wir den Vertrag. Wir hatten das erste Meeting mit dem Weltvertrieb. Die hätten eine höhere Garantie haben können, wenn sie länger gewartet hätten. Aber am Ende spielt es gar keine Rolle, mit uns haben sie auch so gut Geld gemacht. Y: Es ist aber nie nur Business. Das würde auch nicht funktionieren, weil Film ein Kunstgut ist. Es braucht eine Philosophie hinter allem. Mit welchen Regisseur:innen baut die Filmcoopi aktuell eine Beziehung auf? Petra Volpe? C: Unbedingt. Wir hatten schon ihr Debüt Traumland bei uns im Verleih, im Herbst bringen wir Die goldenen Jahre, zu dem sie das Drehbuch geschrieben hat. Wenn man sich besser kennenlernt, weiss man irgendwann auch, wie man einen Film positionieren und wie die Pressearbeit aussehen sollte. Und natürlich halten wir auch Ausschau nach jungen Talenten, die eine eigene Handschrift haben. Zum Beispiel? Y: Aktuell ganz klar Cyril Schäublin und Unrueh.

C: Er hat mit Dene wos guet geit schon gezeigt, dass er eine eigene Vision hat. Und die Art, wie er erzählt, passt aus unserer Sicht gut zur Filmcoopi. Ausserdem lässt sich der Film über die Uhrenthematik in der Schweiz auch vermarkten. F: Bei einigen jungen Talenten ist es halt so, dass sie mal einen Spielfilm drehen, dann wieder mit Netflix zusammenarbeiten und dann vielleicht eine Independent-Produktion machen. Für uns bedeutet dass, das sie ständig den Weltvertrieb oder die Produktionsfirma wechseln. Alice Rohrwacher aus Italien ist so ein Beispiel. Ihr könnt euch doch auch darüber freuen, dass jemand, den ihr toll findet, auf anderen Kanälen weitermacht. Oder nicht? Y: Kommt drauf an. Manchmal geschieht es, dass wir einen Film ab Drehbuch kaufen wollen, aber dann keine Chance mehr haben. Ein Beispiel war The Power of the Dog von Jane Campion. Ein unabhängig produzierter Western, die Rechte waren zu haben. Aber dann kaufte Netflix die Weltrechte – und wir konnten nichts mehr machen. C: Im Einkauf sind die Streamingdienste zu unseren Konkurrenten geworden. Y: Und doch gibt es weiterhin die Filme, die die Streamer nicht auf dem Plan haben. Zu entdecken gibt es immer etwas. Wie ansteckend ist eure Begeisterung für eure Freund:innen, die nichts mit der Filmbranche zu tun haben? Verstehen sie, was ein Filmverleih macht?


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> Claudia Badoer, Yves Blösche und Felix Hächler.

Y: Viele kennen die Filmcoopi nicht, weil sie im Hintergrund steht. Wir sind weder ein Kino noch eine Produktionsfirma. Wenn mich jemand fragt, dann sage ich: «Hast du den Film über Amy Winehouse gesehen?» Den haben nämlich die meisten gesehen. Und wenn man an eine Party geht

und dort mit den Leuten redet, dann landet man am Ende sehr oft beim Kino. Und dann sagen die Leute dann auch: «Du hast einen coolen Job.» F: Bloss haben sie das früher öfter gesagt als heute. Jetzt fragen sie eher, was wir angesichts der Übermacht von Netflix noch zu sagen haben.


23 Das wollte ich auch fragen. Wenn ein Verleih Filme in die Kinos bringt, sagt er dem Publikum auch, was es sich zu schauen lohnt. Heute hat man das Gefühl, dass sich die Leute die Filme selber holen. Hat sich euer Job dadurch gewandelt? F: Wir bleiben Vermittler. Im Unterschied zu früher ist der MarketingPosten einfach sehr viel höher. Irgendwann haben wir gemerkt, dass wir Gefahr laufen, dass unsere Filme nach dem Startwochenende aus den Kinos rausfallen, wenn wir nicht genug Werbung schalten. Früher bestand das Marketing darin, dass wir einen Trailer geschaltet haben. Heute machen wir dramatisch viel mehr. Auch weil dank Digitalisierung einiges sehr viel billiger geworden ist. Zurück zum Enthusiasmus: Welcher Film aus eurem Programm begeistert euch restlos? F: Down by Law! 1980 habe ich in Mannheim zum ersten Mal Jim Jarmusch erlebt. Damals konnte das Branchenpublikum einen Film nachträglich in den Wettbewerb nominie-

ren. Das haben wir mit Permanent Vacation gemacht, und prompt hat er gewonnen. Ein paar Jahre später beglückte Jarmusch mit Down by Law das Cannes-Publikum. Das war unser erster grosser Cannes-Einkauf. Y: Sehr geblieben ist mir Amour von Michael Haneke. Zuerst in Cannes, dann in Zürich, wo wir Emmanuelle Riva eingeladen haben. Das hat mich alles sehr berührt. C: Cold War von Pawel Pawlikowski. Die Bildkompositionen, die Schauspieler, alles super. Nach der Weltpremiere habe ich das Kino voller Gefühle verlassen. Pascal Blum

Pascal Blum ist Kulturredaktor beim «Tages-Anzeiger».

VORPREMIERE: PETER VON KANT IN ANWESENHEIT VON FRANÇOIS OZON

FR, 8. JULI | 20.45 UHR

Zum Auftakt der Retrospektive «50 Jahre Filmcoopi» blickt der Verleih mit uns nach vorn und präsentiert als Vorpremiere einen Film, der erst ins Kino kommen wird: Peter von Kant ist eine kühne Hommage an Rainer Werner Fassbinder, die per Gendertausch faktisch den Regisseur zur Hauptfigur seines eigenen Liebesdramas Die bitteren Tränen der Petra von Kant macht. Als Gast erwartet wird der Schöpfer dieses raffinierten Remakes, François Ozon, einer jener ­Cineasten, denen die Filmcoopi seit vielen Jahren die Treue hält. Und gefeiert wird sowohl die Vorpremiere wie auch der Geburtstag des Verleihs mit einem Apéro ab 19.30 Uhr.


> Wo ist das Haus meines Freundes?.

> Toto le héros.

> I Hired a Contract Killer.

> Mery per sempre.

> Züri brännt.


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50 Jahre Filmcoopi

KAISERAUGST Schweiz 1975 Während der Besetzung des Baugeländes für das Atomkraftwerk Kaiseraugst (April bis Juni 1975) beschlossen Filmemacher der Filmcooperative Zürich, mit Defizitgarantien aus der eigenen Tasche die Realisierung eines Films zu ermöglichen. Der Kurzfilm sollte das Bild der Besetzer und ihrer Ziele korrigieren, wie es sich weitherum in den Köpfen festzusetzen begann.

KRAWALL Schweiz 1970 Juni 1968: An den Globuskrawallen eskalieren die Proteste der Zürcher Jugend, und der Filmschulabsolvent Jürg Hassler ist mit seiner Kamera mittendrin. Sein Bewegungsfilm kommentiert die rabiaten Methoden der Polizei und wie einseitig die Justiz damals urteilte. «Hassler hat sein Filmmaterial damals bei einem befreundeten Anwalt versteckt (...). Der Film kam dann erst 1970 heraus, als Premiere an den Solothurner Filmtagen. Trotzdem wurde Krawall danach an Hunderten Veranstaltungen im ganzen Land gezeigt – im Parallelverleih als erster Schweizer Film der neu gegründeten Filmcooperative.» (Kathrin Halter, Cinébulletin, 6.1.2022)

neral Wille, Emil Bührle und andere angesehene Eidgenossen ungestraft den Nazis den Teppich ausrollten (...). Ein wichtiges und haarsträubendes Stück helvetische Vergangenheitsbewältigung.» (Michel Bodmer, filmo.ch) 99 Min / Farbe / Digital HD / Dialekt+D/d // DREHBUCH UND REGIE Richard Dindo, Niklaus Meienberg // KAMERA Rob Gnant, Robert Boner // SCHNITT Georg Janett, Richard Dindo.

HARLAN COUNTY U.S.A. USA 1976 Für gerechte Arbeitsbedingungen treten 1973 in Harlan County Minenarbeiter in den Streik. Ihr Gegner ist ein skrupelloses Unternehmen, das auch vor Gewalt nicht zurückschreckt. Als eine New Yorker «Hippie-Film-Crew» den Kampf dokumentieren möchte, reagieren die Bergleute zuerst mit Ablehnung. Doch über die Jahre gewinnt Barbara Kopple ihr Vertrauen und kann so aus nächster Nähe den Kampf festhalten – samt seinen tödlichen Konsequenzen.«Es ist der beste Dokumentarfilm seit Langem. (...) Seine Stärke liegt nicht in seiner Schönheit (…), sondern in der moralischen Autorität, die in jedes Bild eingeschrieben ist.» (Peter Biskind, Jump Cut, 14/1977) 103 Min / Farbe / 35 mm / E/d // DREHBUCH UND REGIE Barbara Kopple // KAMERA Kevin Keating, Hart Perry // MUSIK

KAISERAUGST 24 Min / sw / 16 mm / Dialekt+D/d // REGIE ein Kollektiv der

Hazel Dickens, Merle Travis, David Morris // SCHNITT Nancy

Filmcooperative Zürich, (Hans Stürm, Mathias Knauer, Karl

Baker, Mary Lampson.

Saurer, Toni Stricker, Hansueli Schenkel, Carlo Varini, Urs Graf, Nina Stürm, André Pinkus, Richard Dindo, S. Ehrensberger) // KAMERA Hans Stürm u. a.

ZÜRI BRÄNNT Schweiz 1980

KRAWALL 64 Min / sw / Digital HD / Dialekt+D/d // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT Jürg Hassler // KAMERA Eduard Winiger, Jürg Hassler.

DIE ERSCHIESSUNG DES LANDESVERRÄTERS ERNST S. Schweiz 1976 «‹Die Kleinen hängt man, die Grossen lässt man laufen›: Diese These wird aufs Schönste illustriert von der Geschichte des Ernst S., die der wegweisende Dokumentarfilm (...) aufrollt. Ernst S. (...) wollte nicht für ein paar Rappen Stundenlohn in Fabriken malochen (...) und verhökerte 1941 ein paar gemauste Granaten an die Deutschen, um Bier zu kaufen. Dafür wurde er (...) totgeschossen, während der halbe Bundesrat, Ge-

«Strassenschlachten, Nacktdemonstrationen, Punk­ musik, gelebte Autonomie: Die Zürcher Bewegung sagte sich los von den Zwängen des zwinglianischen Zürich und forderte Leben, Raum, Geld, alles und subito. Gesammeltes Material des Video­ ­kollektivs ‹Videoladen Zürich› wird zu einem poetischen und agitatorischen Kultfilm verdichtet.» (swissfilms.ch) «Entstanden ist ein streckenweise hervorragend gemachtes Pamphlet (...). Seine expressionistische Emphase und die dadaistische Bürgerschreckattitüde sind jedoch nicht im Geringsten an auch nur einigermassen objektiver Informationsvermittlung (...) interessiert.» (NZZ, 29.1.1981) 100 Min / sw / Digital HD / Dialekt+D/d // REGIE Ronnie Wahli, Markus Sieber, Marcel Müller // DREHBUCH Ronnie Wahli, Markus Sieber, Marcel Müller, Thomas Krempke // KAMERA


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50 Jahre Filmcoopi Ronnie Wahli, Markus Sieber, Jürg Hassler // MUSIK Schläggstengel, TNT, The Bucks // SCHNITT Ronnie Wahli, Markus Sieber, Marcel Müller.

DER BIENENZÜCHTER (O melissokomos) Griechenland/Frankreich/Italien 1986 Ein Imker verlässt nach der Hochzeit seiner jüngeren Tochter Frau, Sohn und Haus, packt seine Bienenstöcke auf einen Lastwagen und fährt dem Frühling, der Sonne und den Blumen entgegen. Seine Fahrt wird zu einer Reise in die Vergangenheit und zur Suche nach Freiheit und Frieden. «Lange Einstellungen, langsame Fahrten, ruhige Schwenks, der merkwürdig bedächtige Rhythmus dieses Films – das alles übt einen ­frappierenden Sog aus. In ihm kann sich der Zuschauer treiben lassen wie in einem mächtigen Strom.» (Der Spiegel, 42/1987) 122 Min / Farbe / 35 mm / Griech/d/f // REGIE Theo Angelopoulos // DREHBUCH Theo Angelopoulos, Tonino Guerra, Dimitris Nollas // KAMERA Giorgos Arvanitis // MUSIK Eleni Karaindrou // SCHNITT Takis Yannopoulos // MIT Marcello Mastroianni (Spiros), Nadia Mourouzi (Mädchen), Serge ­Reggiani (kranker Freund), Jenny Roussea (Spiros’ Frau),

WO IST DAS HAUS MEINES FREUNDES? (Khane-ye doust kodjast?) Iran 1987

Ahmed hat «aus Versehen das Schulheft seines Freundes eingepackt. Um ihn vor der Strafe des brutal autoritären Lehrers zu retten, versucht er, ihm das Heft nach Hause zu bringen. Er begibt sich auf eine mühselige Odyssee durch unbekanntes Terrain.» (Filmfest München, 2010) «Ganz dringlich fragt Ahmed die Erwachsenen, spricht kaum etwas anderes als die Frage des Filmtitels. (…) Obwohl das stets glaubhaft alltäglich bleibt, gewinnt es grosse symbolische ­Gewalt. Hier wird meisterlich vom Nichtzuhören der Mächtigen erzählt, von einer verhärteten ­Gesellschaft.» (Thomas Klingenmaier, Stuttgarter Nachrichten, 5.7.2016) 82 Min / Farbe / DCP / Farsi/d/f // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT Abbas Kiarostami // KAMERA Farhad Saba // MUSIK Amine Allah Hessine // MIT Babek Ahmed Poor (Ahmed), Ahmed Ahmed Poor (Mohamed Reda Nematzadeh), Kheda Barech Defai (Lehrer), Iran Outari (Mutter), Ait Ansari (Vater), Biman Mouafi (Ali, ein Nachbar).

­Dinos Iliopoulos (Spiros’ Freund).

MERY PER SEMPRE DOWN BY LAW

Italien 1989

USA 1986

Um in einer Anstalt kriminelle Jugendliche zu unterrichten, wird Marco Terzi nach Palermo versetzt. Nur schwer kann er eine Beziehung zu den feindseligen Schülern aufbauen. Einzig Mery, der gerne eine Frau wäre, findet an Terzi Gefallen. «Das Leben in einem Jugendgefängnis (…) schildert dieses Meisterwerk von Marco Risi. Dabei, so der (…) Regisseur, sei Mery per sempre ‹zuallererst eine Liebesgeschichte zwischen dem Lehrer und seinen Schülern›. Halb Melodram, halb kritische Milieustudie, könnte man in Risis dichter Chronik eine Art der Fortsetzung des Neo­ realismus mit anderen, weniger lyrischen Mitteln sehen.» (Michael Omasta, falter.at)

Zuhälter Jack und Radio-DJ Zack hatten gerade eine Rauferei, als sie mit dem Falschspieler ­Roberto einen neuen Zellengenossen erhalten. Der gesprächige Italiener hebt sogleich die Stimmung der Zwangsgemeinschaft und hat auch ­einen Plan, wie sie aus dem Gefängnis ausbrechen können. Eine skurrile Odyssee durch die Sümpfe Louisianas beginnt. «Dieser Film ist Jazz, nicht nur, was die fas­ zinierende Tonspur betrifft, sondern in seiner ganzen Anlage, in seinem Rhythmus, seinen Themen, seinen Improvisationen, seinen Soli, seinem lebendigen Ganzen.» (Fred Zaugg, Der Bund) 107 Min / sw / DCP / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE Jim ­Jarmusch // KAMERA Robby Müller // MUSIK John Lurie, Tom Waits // SCHNITT Melody London // MIT John Lurie (Jack), Tom Waits (Zack), Roberto Benigni (Roberto),­­Nicoletta Braschi (Nicoletta), Ellen Barkin (Laurette), Billie Neal ­(Bobbie), Rockets Redglare (Gig).

102 Min / Farbe / 35 mm / I/d/f // REGIE Marco Risi // DREHBUCH Sandro Petraglia, Stefano Rulli // KAMERA Mauro ­Marchetti // MUSIK Giancarlo Bigazzi // SCHNITT Claudio Di Mauro // MIT Michele Palcido (Marco Terzi), Claudio Amedola (Pietro Giancona), Francesco Benigno (Natale Sperandeo), Alessandra Di Sanzo (Mario «Mery» Libassi), Tony Sperandeo (Turris), Giovanni Alamia (Marra), Roberto Mariano (Antonio Patanè), Maurizio Prollo (Claudio Catalano), Salvatore ­Termini (Giovanni Trapani, «King Kong»).


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50 Jahre Filmcoopi

I HIRED A CONTRACT KILLER

LE PETIT PRINCE A DIT

Finnland/GB/D/Schweden 1990

Frankreich/Schweiz 1992

Der lebensmüde Henri Boulanger schafft es allein nicht, sich umzubringen. Deshalb heuert er einen Auftragsmörder an. Unverhofft verliebt sich Henri aber in die Blumenverkäuferin Margaret. Wie kann er nun den Killer stoppen? «In einem heruntergekommenen London angesiedelte Hommage an den Film noir und das klassische Melodram, die spielerisch und mit einfachen Mitteln die Suche des Menschen nach Erfüllung thematisiert. Beeindruckend durch die Knappheit des filmischen Ausdrucks und die Einbindung der Farben in die Dramaturgie.» (Lexikon des int. Films)

Die zehnjährige Violette erhält eine schreckliche Diagnose: Bei einer Routineuntersuchung wird ein unheilbarer Gehirntumor festgestellt. Überstürzt fährt der alleinerziehende Vater mit seiner Tochter los, um die Mutter in Mailand zu besuchen. Christine Pascals Film ist «ein Ereignis. (…) Unmittelbarkeit und Distanz, Spontaneität und Genauigkeit verbinden sich zu einer Geschichte, die von jener Offenheit erscheint, wie wir sie mit dem Leben assoziieren. Dabei besässe sie ein ­erkleckliches melodramatisches Potenzial, das auszuschöpfen sich der Film jedoch beharrlich weigert.» (Christoph Egger, Cinema 39/1993)

79 Min / Farbe / DCP / E/d/f // REGIE UND SCHNITT Aki

105 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Christine Pascal //

­Kaurismäki // DREHBUCH Aki Kaurismäki, Peter von Bagh //

DREHBUCH Robert Boner, Christine Pascal // KAMERA

KAMERA Timo Salminen // MIT Jean-Pierre Léaud (Henri

­Pascal Marti // MUSIK Bruno Coulais // SCHNITT Jacques

Boulanger), Margi Clarke (Margaret), Kenneth Colley (Harry,

Comets // MIT Richard Berry (Adam Leibovich), Anémone

der Killer), T. R. Bowen (Abteilungsleiter), Imogen Claire

(Mélanie), Marie Kleiber (Violette Leibovich), Lucie Phan

­(Sekretärin), Angela Walsh (Vermieterin), Cyril Epstein (Taxi-

­(Lucie), Mista Préchac (Minerve), Claude Muret (Jean-­Pierre),

fahrer), Nicky Tesco (Pete), Charles Cork (Al).

Jean Cuenoud (Otto), John Gutwirth (Victor).

BABYLON 2

TOTO LE HÉROS Belgien/Frankreich/Deutschland 1991

Schweiz 1993

«Dieser köstlich unkonventionelle Film erzählt vom nunmehr bejahrten Thomas, der von mörderischer Rache träumt, seit ihm der Gedanke gekommen ist, er sei wohl einst als Baby bei einem Brand in der Geburtenabteilung mit dem Nachbarssohn Alfred vertauscht worden. (…) Auch wenn die absonderlichen Elemente des Films dem Regiedebütanten Van Dormael gestatten, seinen einnehmend witzigen Blick für das Absurde walten zu lassen, hat er doch das Ganze in einer emotionalen Wirklichkeit verankert (…). Ein unendlich lebenssprühender, erfindungsreicher und einfühlsamer Film.» (Geoff Andrew, Time Out Film Guide)

«Die Schweiz der frühen 90er-Jahre wird ironisch eingeführt als eine einzige lang gezogene Agglomeration. Darin leben junge Erwachsene, deren Eltern eingewandert sind – die Secondos und Secondas (…). Selber als Kind Anfang der 60erJahre von Bagdad in diesem Land angekommen, begibt sich Samir auf die Suche nach der neuen Generation. (…) So vielseitig wie die Lebens­ geschichten ist die Machart dieses flimmernden Gruppenporträts. (…) Babylon 2 bietet eine provisorische Heimat, zelebriert Wurzeln und Füsse, die in die Zukunft gehen.» (Jenny Billeter, Xenix, 2021)

91 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Jaco Van Dormael //

// KAMERA Samir, Pierre Mennel, Marcel Ramsay (S8) //

90 Min / Farbe / DCP / OV/d // DREHBUCH UND REGIE Samir

DREHBUCH Jaco Van Dormael, Didier de Neck, Pascal

­MUSIK Felix Haug, Sens Unik // SCHNITT Samir, Ronnie

­Lonhay, Laurette Vankeerberghen // KAMERA Walther van

Wahli.

den Ende // MUSIK Pierre Van Dormael // SCHNITT Susana Rossberg // MIT Michel Bouquet (Toto im Alter), Jo De Backer (Toto als Erwachsener), Thomas Godet (Toto als Kind), Gisela Uhlen (Evelyne im Alter), Mireille Perrier (Evelyne als junge Frau), Sandrine Blancke (Alice), Peter Böhlke (Alfred im Alter), Didier Ferney (Alfred als Erwachsener), Hugo HaroldHarrison (Alfred als Kind).

THE PIANO Australien/Neuseeland/Frankreich 1993 Mitte des 19. Jahrhunderts: Für eine arrangierte Ehe reist Ada mit ihrer Tochter nach Neuseeland und muss am Strand ihr geliebtes Klavier zurücklassen. Dessen neuer Besitzer lässt Ada für Kla-


> Sommer vorm Balkon.

> The Ice Storm.

> Le fabuleux destin d’Amélie Poulain.

> Toni Erdmann.

> Frühling, Sommer, Herbst, Winter ... und Frühling.

> Gadjo dilo.


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50 Jahre Filmcoopi vierstunden zu sich kommen und unterbreitet ihr ein Angebot, wie sie sich ihr Instrument Taste für Taste zurückerobern kann. «Nie zuvor habe ich einen Film gesehen, der so einzigartig und eindringlich ist wie The Piano (...). Es ist einer dieser seltenen Filme, in denen es nicht nur um eine Geschichte oder einige Figuren geht, sondern um ein ganzes Universum von Gefühlen – darum, wie Menschen voneinander abgeschottet sein können, einsam und ­verängstigt, darum, wie Hilfe aus unerwarteten Richtungen kommen kann, und darum, dass man nie etwas erfährt, wenn man nicht fragt.» (Roger Ebert, rogerebert.com, 19.11.1993)

necticut wird aufgezeigt, wie die Mitglieder einer Kleinfamilie mit sexuellen Auf- und Ausbrüchen, Drogen und neureligiösen Strömungen experimentieren und sich mit zunehmender Ratlosigkeit des verloren gehenden Zusammenhalts bewusst werden. Das «ist grosses, intensives, stilistisch beeindruckendes Kino. Leidenschaften werden hier nicht zu Beziehungsfragen reduziert oder in das Saccharin des Kitsch aufgelöst.» (Rüdiger Suchsland, artechock.de) 112 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Ang Lee // DREHBUCH James Schamus, nach dem Roman von Rick Moody // KAMERA Frederick Elmes // MUSIK Mychael Danna //

120 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f / ab 12 // DREHBUCH UND RE-

SCHNITT Tim Squyres // MIT Christina Ricci (Wendy Hood),

GIE Jane Campion // KAMERA Stuart Dryburgh // MUSIK Mi-

Joan Allen (Elena Hood), Kevin Kline (Ben Hood), Tobey

chael Nyman // SCHNITT Veronika Jenet // MIT Holly Hunter

Maguire (Paul Hood), Sigourney Weaver (Janey Carver), ­

(Ada McGrath), Anna Paquin (Flora McGrath), Harvey Keitel

Jamey Sheridan (Jim Carver), Elijah Wood (Mikey Carver),

(George Baines), Sam Neill (Alisdair Stewart), Kerry Walker

David Krumholtz (Francis Davenport), Adam Hann-Byrd ­

(Tante Morag), Geneviève Lemon (Nessie), Tungia Baker

(Sandy Carver), Kate Burton (Dorothy Franklin), Katie Holmes

(Hira), Ian Mune (Pfarrer), Peter Dennett (Oberster Seemann),

(Libbets Casey).

Te Whatanui Skipwith (Häuptling Nihe), Cliff Curtis (Mana).

GADJO DILO

LE FABULEUX DESTIN D’AMÉLIE POULAIN

Frankreich/Rumänien 1997

Frankreich/Deutschland 2000

Stéphane, ein französischer Musikologe, fährt nach Rumänien auf der Suche nach einer geheimnisvollen Sängerin, deren Stimme sein Vater noch einmal hören wollte, bevor er starb. In einem kleinen Romadorf freundet er sich mit dem alten Musiker Izidor an und trifft auf Sabina, die seine erste grosse Liebe wird. Gatlifs Roadmovie ist ein «starkes Plädoyer für Toleranz (…). Die sinnliche Mischung aus ­Poesie, ungestümer Gefühlsgewalt, Sozialwirklichkeit und einer leidenschaftlichen, fast magischen Musik entwickelt einen faszinierenden und verstörenden Sog.» (Margret Köhler, AZ München, 1998)

Die schüchterne Kellnerin Amélie träumt sich mit viel Fantasie durch ihren tristen Alltag in Paris. Eines Tages entscheidet sie sich, ihren Mitmenschen Gutes zu tun. Heimlich und gut geplant greift sie in deren Leben ein und findet dabei die Liebe. «Es ist ein Film, der überbordet vor Freude – Freude am Erzählen, am Kino und all seinen Möglichkeiten (von denen keine ungenutzt bleibt) (…). Bei all seinem verschwenderischen Überschuss hat das doch nichts Erschlagendes, höchstens Überwältigendes (…). Weshalb der geradeste Weg zu zwei Stunden Glück (…) ins Kino führt – zu Amélie.» (Thomas Willmann, artechock.de) 122 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Jean-Pierre Jeunet //

104 Min / Farbe / DCP / F+Rum/d/f // DREHBUCH, REGIE,

DREHBUCH Guillaume Laurant, Jean-Pierre Jeunet // KA-

­MUSIK Tony Gatlif // KAMERA Eric Guichard // SCHNITT

MERA Bruno Delbonnel // MUSIK Yann Tiersen // SCHNITT

­Monique Dartonne // MIT Romain Duris (Stéphane), Rona

Hervé Schneid // MIT Audrey Tautou (Amélie), Dominique

Hartner (Sabina), Izidor Serban (Izidor), Ovidiu Balan (Sami),

­Pinon (Joseph), Urbain Cancellier (Collignon), Artus de Pen-

Dan Astileanu (Dimitru).

guern (Hipolito), Yolande Moreau (Madeleine Wallace), Rufus (Raphael Poulain), Mathieu Kassovitz (Nino Quincampoix).

THE ICE STORM USA 1997

NACKT Deutschland 2002

Thanksgiving 1973. Pauls Eltern sind in einer schwierigen Phase, eine Paartherapie haben sie abgebrochen und der Vater hat eine Affäre mit der Nachbarin. Auch Pauls jüngere Schwester landet im Bett eines Nachbarjungen. Am Beispiel des wohlhabenden Städtchens New Canaan in Con-

Beim Abendessen von drei Berliner Paaren um die 30 kommt es zu einer Wette: Welches Paar kann sich nackt und mit verbundenen Augen nur durch Ertasten erkennen? Schon bald steht mehr auf dem Spiel als nur die Wetteinsätze.


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50 Jahre Filmcoopi «Von hervorragenden Darstellern getragene Verfilmung eines Bühnenstücks, das seine Theaterhaftigkeit durch die Reduktion der Kamerabewegungen noch unterstreicht. Trotz des ernsthaften Themas verliert der hintergründige, perfekt ausgestattete ‹Seelen-Striptease› nie seine Leichtigkeit und verdichtet sich dank der fantasievollen Inszenierung zu einem bemerkenswerten Vergnügen.» (Lexikon des int. Films)

«Levys Helden parlieren nicht auf dem verfeinerten intellektuellen Niveau eines Woody Allen, sondern reden Berliner Dialekt und Tacheles. Alles auf Zucker! ist eine nicht versiegende Quelle des flapsigen, erfrischend respektlosen jüdischen Humors. (…) Levy (…) kombiniert fantasievoll Selbstironie mit Sozialkritik. Selten hatte man im deutschen Kino (…) so viel zu lachen.» (merkur.de, 4.1.2005)

100 Min / Farbe / 35 mm / D // DREHBUCH UND REGIE Doris

95 Min / Farbe / 35 mm / D // REGIE Dani Levy // DREHBUCH

Dörrie // KAMERA Frank Griebe // MUSIK Liquid Loop //

Dani Levy, Holger Franke // KAMERA Carl-Friedrich

SCHNITT Inez Regnier // MIT Heike Makatsch (Emilia), Benno

­Koschnick // MUSIK Niki Reiser // SCHNITT Elena Bromund

Fürmann (Felix), Alexandra Maria Lara (Annette), Jürgen Vo-

// MIT Henry Hübchen (Jaeckie Zucker), Hannelore Elsner

gel (Boris), Mehmet Kurtuluş (Dylan), Nina Hoss (Charlotte).

(Marlene), Udo Samel (Samuel), Golda Tencer-Szurmiej (Golda/Marilyn), Steffen Groth (Thomas), Anja Franke (Jana), Sebastian Blomberg (Joshua), Elena Uhlig (Lilly), Rolf Hoppe

FRÜHLING, SOMMER, HERBST, WINTER … UND FRÜHLING (Bom yeoreum gaeul gyeoul geurigo bom) Südkorea/Deutschland 2003

(Rabbi Ginsberg), Inga Busch (Irene), Renate Krößner (Linda), Antonia Adamik (Sarah), Klaus Wowereit (er selbst).

GROUNDING Schweiz 2006

Ein alter Mönch lebt mit seinem Schüler in einem Tempelkloster, das als hölzerne Insel mitten in einem Bergsee verankert ist. Im Lauf der Jahreszeiten ist jede Lebensphase der beiden von einer Intensität durchdrungen, die sie zu einer tieferen Spiritualität führt – und in eine Tragödie mit tödlichem Ausgang. «In der meditativen Ruhe der langen Einstellungen spiegelt sich das ritualisierte Leben der Mönche (…). Doch die Schönheit ist vordergründig. Die Grausamkeit bleibt zwischen den Bildern, findet sich wieder in den Weisheiten des Lehrers. (…) Selbst im Buddhismus entdeckt dieser Regisseur seine Arithmetik der Gewalt.» (Anke Leweke, Die Zeit, 18.3.2004)

2. Oktober 2001: Die Flugzeuge der Swissair bleiben am Boden und ein Teil der Schweizer Identität stirbt. Mit Mario Corti, dem letzten glücklosen Chef der traditionsreichen Airline, als Protagonist und in bester Hollywood-Manier erzählt Michael Steiner, wie es zum dramatischen Grounding kam. «Grounding ist nicht ‹groundings›; ist keine Marthaler’sche Veralberung eines WirtschaftsCrashs, sondern ein mitreissender Doku-Thriller, durchaus ‹in der Tradition von JFK und Traffic›. Mehr noch aber gemahnt dieser prismatische Blick auf das Platzen einer Luftblase an (die Serie) 24.» (Andreas Maurer, NZZ, 16.1.2006)

103 Min / Farbe / DCP / Kor/d/f // DREHBUCH, REGIE,

135 Min / Farbe / 35 mm / Dialekt+D // REGIE Michael Steiner,

SCHNITT Kim Ki-duk // KAMERA Baek Dong-hyun // MUSIK Park Jee-woong // MIT Oh Young-su (der alte Mönch), Kim ­Ki-duk (der reife Mönch), Kim Young-min (der erwachsene Mönch), Seo Yae-kyung (der junge Mönch), Ha Yeo-jin (das Mädchen), Kim Jong-ho (der Mönch als Kind), Kin Jungyoung (die Mutter des Mädchens), Ji Dae-han (Kommissar Ji), Choi Min (Kommissar Choi), Park Ji-a (die Mutter des Babys), Song Min-young (das Baby).

Tobias Fueter // DREHBUCH Jürg Brändli, Michael Sauter // KAMERA Filip Zumbrunn // MUSIK Adrian Frutiger // SCHNITT Tobias Fueter // MIT Hanspeter Müller-Drossaart (Mario Corti), Gilles Tschudi (Marcel Ospel), Rainer Guldener (Lukas Mühlemann), Michael Neuenschwander (André Dosé), László I. Kish (Moritz Suter), Katharina von Bock (Jaqualyn Fouse), Walter Hess (Kaspar Villiger), Niklaus Scheibli (Peter Siegenthaler), Georg Scharegg (Georges Schoderet).

ALLES AUF ZUCKER!

SOMMER VORM BALKON

Deutschland 2005

Deutschland 2006

Dem glücklosen Jaeckie Zucker steht das Wasser bis zum Hals. Doch als seine Mutter stirbt, winkt das grosse Erbe. Dafür muss er sich mit seinem verfeindeten Bruder, einem orthodoxen Juden, zusammenraufen und das Begräbnis organisieren.

Katrin und Nike, beide jenseits der 30, wohnen nicht nur im gleichen alten Mietshaus am Prenzlauer Berg, es verbindet sie auch eine enge Freundschaft. Doch dann erscheint Fernfahrer Ronald und zieht bei Nike ein.


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50 Jahre Filmcoopi «Eine Prise britische Tragikomödie aus dem Arbeitermilieu (…), ein bisschen kesse Defa-Drehbuch-Tradition von Wolfgang Kohlhaase (…) und dann noch mit Handkamera und kleinem Team in 35 Tagen gedreht (…). So entstehen kleine Wunder. (…) (E)in Kino so leicht wie die französischen Sommerkomödien von Éric Rohmer, das zugleich so ernst sein kann wie (…) Bergman.» (Josef Schnelle, Deutschlandfunk, 5.1.2006) 110 Min / Farbe / 35 mm / D // REGIE Andreas Dresen // DREHBUCH Wolfgang Kohlhaase // KAMERA Andreas Höfer // MUSIK Pascal Comelade // SCHNITT Jörg Hauschild // MIT Inka Friedrich (Katrin), Nadja Uhl (Nike), Andreas ­Schmidt (Ronald), Stephanie Schönfeld (Tina), Christel Peters (Helene), Kurt Radeke (Oskar), Vincent Redetzki (Max), Hannes Stelzer (Herr Neumann), Lil Oggesen (Charly), ­Maximillian Moritz (Rico).

HOME Frankreich/Belgien/Schweiz 2008 Direkt an einer anscheinend aufgegebenen Autobahn leben Marthe und Michel mit ihren drei ­Kindern. Die leere Fläche nutzt die Familie als Terrasse oder Spielplatz. Als dann die Strasse doch in Betrieb genommen wird, ändert sich auf einen Schlag das Leben der Familie. «Dass Ursula Meier mit Home einer der interessantesten Schweizer Kinoerstlinge gelungen ist, wissen wir seit (…) Cannes (…). Dass sie (…) ein Ensemblestück komponiert hat, das alleine schon durch seine konsequente Grundidee zum InstantKlassiker geworden ist, wird auch kaum jemand bestreiten.» (Michael Sennhauser, sennhauserfilmblog.ch) 95 Min / Farbe / DCP / F/d // REGIE Ursula Meier // DREH-

GOMORRA Italien 2008 Macht, Geld, Blut. Damit werden die Einwohner der Provinzen von Neapel und Caserta tagtäglich konfrontiert. Nur eine privilegierte Minderheit kann überhaupt daran denken, ein «normales» Leben zu führen. Von den anderen, den nicht Privilegierten, erzählt Gomorra: Marco und Ciro sind überzeugt, ihr Leben sei buchstäblich Brian de Palmas Scarface entsprungen. Aber innerhalb des Systems haben sie das Ansehen zweier streunender Hunde, deren tollkühne Aktionen die Geschäftsroutine gehörig durcheinanderbringen. Als sie bei einem Raubüberfall Drogen erbeuten und im Anschluss ein verstecktes Waffenarsenal der Camorra ausheben, bekommen sie es mit den echten Mafiabossen zu tun. «Von der ersten Schiesserei in einem Sonnenstudio bis zum Schlussbild, in dem der Giftmüll buchstäblich und im übertragenen Sinn Krebs verbreitet, trifft Gomorra einen wie ein Schlag in die Magengrube. (…) Das ist brillantes Filme­ machen, ein Weckruf, der einen aufrütteln soll und es auch tut.» (Peter Travers, Rolling Stone, 21.1.2009)

BUCH Antoine Jaccoud, Olivier Lorelle // KAMERA Agnès ­Godard // SCHNITT François Gédigier, Nelly Quettier, Susana Rossberg // MIT Isabelle Huppert (Marthe), Olivier Gourmet (Michel), Adélaïde Leroux (Judith), Madeleine Budd (Marion), Kacey Mottet Klein (Julien).

MAMAN EST CHEZ LE COIFFEUR Kanada 2008 Québec, Sommer 1966: Élise und ihre beiden jüngeren Brüder freuen sich auf die Ferien. Dann zerbricht plötzlich ihre harmonische Familie: Der Vater hat mit seinem Golfpartner die Mutter betrogen. Léa Pools Film behält «lange Zeit seinen sommerlich-leichten Tonfall bei, in den sich anfangs kaum wahrnehmbar kleine Störungen und Widersprüchlichkeiten drängen (…). Dennoch überwiegt niemals das Schwere, was auch an den bezaubernden Kinderdarstellern liegt, die dafür sorgen, dass man selbst in den tragischsten Momenten noch ein Lächeln kaum unterdrücken kann.» (Joachim Kurz, kino-zeit.de) 97 Min / Farbe / 35 mm / F/d / ab 12 // REGIE Léa Pool // DREHBUCH Isabelle Hébert // KAMERA Daniel Jobin // ­MUSIK Laurent Eyquem // SCHNITT Dominique Fortin // MIT

135 Min / Farbe / DCP / I/d/f // REGIE Matteo Garrone //

Marianne Fortier (Élise Gauvin), Élie Dupuis (Coco Gauvin),

DREHBUCH Matteo Garrone, Roberto Saviano, Maurizio

Hugo St-Onge-Paquin (Benoît Gauvin), Laurent Lucas (Vater),

Braucci, Ugo Chiti, Gianni Di Gregorio, Massimo Gaudioso //

Céline Bonnier (Mutter), Gabriel Arcand (Monsieur Mouche),

KAMERA Marco Onorato // SCHNITT Marco Spoletini // MIT

Maxime Desjardins-Tremblay (Tracteur), Julien Carpentier-

Salvatore Abruzzese (Totò), Salvatore Ruocco (Boxer),

Roberge (Bernard).

­Gianfelice Imparato (Don Ciro), Maria Nazionale (Maria), Toni Servillo (Franco), Carmine Paternoster (Roberto), Italo Celoro (Contadino), Salvatore Cantalupo (Pasquale), Gigio Morra (Iavarone), Marco Macor (Marco), Ciro Petrone (Ciro), ­ ­Bernardino Terracciano (Zio Bernardino).


> Gomorra.

> Maman est chez le coiffeur.

> Un prophète.

> Die göttliche Ordnung.

> The Angels’ Share.

> Peter von Kant.


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50 Jahre Filmcoopi

UN PROPHÈTE

THE ANGELS’ SHARE

Frankreich/Italien 2009

GB/Frankreich/Belgien 2012

«Ein Kleinkrimineller maghrebinischer Abstammung kommt als Neunzehnjähriger in ein französisches Gefängnis und wird vom dort dominierenden Korsenclan umgehend zur Ermordung eines Mitgefangenen gezwungen. Vom allseits verachteten Handlanger steigt er im Lauf von sechs Jahren zum unentbehrlichen Gehilfen des alternden Korsenchefs auf. (…) Der Film, der Jacques Audiard endgültig in die Liga der grossen Regisseure gebracht hat, ist ein Gefängnisdrama, das bekannte Muster dieses Genres mit epischem Atem und seltener Wucht vorführt – um sie letztlich hinter sich zu lassen.» (Filmpodium, Mai/Juni 2010)

Robbie, ein arbeitsloser junger Kleinganove aus Glasgow, will eigentlich seinem neugeborenen Sohn zuliebe «vernünftig» werden. Doch beim Besuch einer Whiskybrennerei reift in ihm eine Idee für einen Coup, für den er ein letztes grosses Wagnis eingehen würde. «Auch das jüngste Werk vom britischen Altmeister des sozialkritischen Films lebt nicht zuletzt von der Unmittelbarkeit der Schauspielerei seiner Laiendarsteller (…). Loach bewegt sich (…) spielerisch zwischen den Genres, bedient sich eines pseudodokumentarischen Sozialrealismus ebenso wie der Erzählkonventionen des HeistMovies.» (Susanne Ostwald, NZZ, 28.11.2012)

154 Min / Farbe / DCP / F/d // REGIE Jacques Audiard //

102 Min / Farbe / DCP / E/d/f // REGIE Ken Loach // DREH-

DREHBUCH Jacques Audiard, Thomas Bidegain, nach einer

BUCH Paul Laverty // KAMERA Robbie Ryan // MUSIK George

Vorlage von Abdel Raouf Dafri // KAMERA Stéphane Fontaine

Fenton // SCHNITT Jonathan Morris // MIT Paul Brannigan

// MUSIK Alexandre Desplat // SCHNITT Juliette Welfling //

(Robbie), John Henshaw (Harry), Roger Allam (Thaddeus),

MIT Tahar Rahim (Malik El Djebena), Niels Arestrup (César

Gary Maitland (Albert), Siobhan Reilly (Leonie), Jasmin

Luciani), Adel Bencherif (Ryad), Hichem Yacoubi (Reyeb),

­Riggins (Mo), William Ruane (Rhino), Scott Dymond (Willy),

Reda Kateb (Jordi, «le gitan»), Jean-Philippe Ricci (Vettori),

Scott Kyle (Clancy), James Casey (Dougie), Gilbert Martin

Gilles Cohen (Prof), Antoine Basler (Pilicci), Leïla Bekhti

(Matt).

­(Djamila), Pierre Leccia (Sampierro), Foued Nassah (Antaro), Jean-Emmanuel Pagni (Santi).

 Donnerstag, 8. September, 18.15 Uhr: anschl. Whisky-Tasting mit J.B. Labat

AMOUR Frankreich/Deutschland/Österreich 2012

LE SEL DE LA TERRE Brasilien/Frankreich/Italien 2014

Georges und Anne sind um die 80. Eines Tages hat Anna einen Schlaganfall. Liebevoll kümmert sich Georges zu Hause um seine Frau, die offen Suizidgedanken hegt. Je weiter aber die Krankheit fortschreitet, umso mehr isoliert sich das Paar von der Aussenwelt. «Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant versammeln in ihren vermutlich letzten grossen Altersrollen noch einmal ihr ganzes stupendes Können. Sie zeigen Grade der Selbstentäusserung bei gleichzeitiger souveräner Kontrolle auch unwillkürlichster Regungen und minimster Gefühlsnuancen, wie sie nur das Kino ermöglicht – dasjenige eines Michael Haneke.» (Christoph Egger, NZZ, 27.9.2012)

In intensiven Gesprächen nähert sich Wim Wenders in seinem oscarnominierten Dokumentarfilm dem brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado, der mit seinen bildgewaltigen Schwarzweissaufnahmen unseren Umgang mit dem Planeten hinterfragt. Salgados Sohn steuert Bildmaterial von gemeinsamen Expeditionen bei. «Le Sel de la terre ist (…) ein kleines Kunstwerk. Ein Film, der als Ode an die Fotografie genauso gut funktioniert wie als Porträt von ­ ­Sebastião Salgado. Der Brasilianer hat in seinen Bildern stets den Menschen ins Zentrum gerückt. Und war trotzdem weit davon entfernt, ihn zu glorifizieren.» (Selim Petersen, srf.ch, 13.11.2014)

125 Min / Farbe / DCP / F/d // DREHBUCH UND REGIE Michael

110 Min / Farbe + sw / DCP / F+E+Port/d/f // REGIE Juliano

Haneke // KAMERA Darius Khondji // MUSIK Franz Schubert, Ludwig van Beethoven, Johann Sebastian Bach // SCHNITT Monika Willi, Nadine Muse // MIT Jean-Louis Trintignant (Georges), Emmanuelle Riva (Anne), Isabelle Huppert (Eva), Alexandre Tharaud (Alexandre), William Shimell (Geoff), Ramón Agirre (Hausmeister), Rita Blanco (Hausmeisterin).

­Ribeiro Salgado, Wim Wenders // DREHBUCH Juliano Ribeiro Salgado, Wim Wenders, David Rosier // KAMERA Hugo ­Barbier, Juliano Ribeiro Salgado // MUSIK Laurent Petitgand // SCHNITT Maxine Goedicke.


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50 Jahre Filmcoopi

DIE GÖTTLICHE ORDNUNG

ON BODY AND SOUL

Schweiz 2016

(Testről és lélekről) Ungarn 2017

Die junge Hausfrau und Mutter Nora lebt Anfang der 1970er-Jahre in einem Schweizer Dörfchen. Von den Umwälzungen der 68er-Bewegung ist hier wenig zu spüren. Doch als Nora sich für das Frauenstimmrecht einsetzt, gerät der Dorf- und Familienfrieden gehörig ins Wanken. Petra Volpes Film «ist dramatisch und erhellend, versöhnlich und aufklärend, vergnüglich und erschreckend. Es kommt selten vor, dass ein Deutschschweizer Spielfilm mit dieser Leichtigkeit vom Drama zur Komödie wechselt, dabei die Satire streift, ohne den Realismus aufzugeben, und schliesslich wieder ganz selbstverständlich im Familienfilm mündet.» (Michael Sennhauser, sennhauserfilmblog.ch) 96 Min / Farbe / DCP / Dialekt+D+E/d // DREHBUCH UND REGIE Petra Volpe // KAMERA Judith Kaufmann // MUSIK Annette Focks // SCHNITT Hansjörg Weissbrich // MIT Marie Leuenber-

Mária wird als Qualitätskontrolleurin in einem Schlachthaus angestellt. Die Autistin ist dort unbeliebt, denn sie ist streng. Dann lernt sie ihren Kollegen Endre kennen, der in der Finanzabteilung arbeitet und halbseitig gelähmt ist. Sie verstehen sich gut und stellen fest, dass sie die gleichen Träume haben, und zwar jede Nacht: Sie träumen davon, Hirsche zu sein, die sich in einem verschneiten Wald begegnen. «Sanft lässt On Body and Soul uns seinen ungewöhnlichen Figuren nahekommen (…). Und wenn die beiden Hauptfiguren dann tatsächlich zusammenfinden, sie unversehens die Liebe im realen Leben finden, die sie in ihrem Traum verkörperten und herbeisehnten, lässt der Film in uns noch lange über sein Ende hinaus die Schwingungen des Glücks und seiner magischen Poesie nachklingen.» (Doris Senn, Filmbulletin, 5.12.2017)

ger (Nora), Maximilian Simonischek (Hans), Rachel Braunschweig (Theresa), Sibylle Brunner (Vroni), Marta Zoffoli (Gra-

116 Min / Farbe / DCP / Ungar/d/f // DREHBUCH UND REGIE

ziella), Bettina Stucky (Magda), Noe Krejcí (Max), Finn Sutter

Ildikó Enyedi // KAMERA Máté Herbai // MUSIK Ádám Balázs

(Luki), Peter Freiburghaus (Gottfried), Therese Affolter (Dr. Char-

// SCHNITT Károly Szalai // MIT Alexandra Borbély (Mária),

lotte Wipf), Ella Rumpf (Hanna), Nicholas Ofczarek (Werner).

Géza Morcsányi (Endre), Réka Tenki (Klára), Zoltán Schneider (Jenő), Ervin Nagy (Sándor), Itala Békés (Zsóka), Éva Bata

TONI ERDMANN Deutschland/Österreich 2016 Winfried möchte seine Tochter Ines von ihrem freudlosen Manager-Dasein erlösen. Um sie aus der Reserve zu locken, verwandelt er sich in den kauzigen Toni, eine struppige Kunstfigur irgendwo zwischen Loriot und Andy Kaufman. Damit bringt er Ines in immer peinlichere Situationen, aus denen sie sich nur schwer retten kann. Toni Erdmann «ist grosses dialogisches Schauspielerkino. (…) Mehr noch als (…) Peter Simonischek begeistert dabei Sandra Hüller, die ihre Rolle in jeder Szene ein wenig anders anlegt, als würde sie ihre Figur selbst erst im Lauf des Films kennenlernen.» (Lukas Foerster, Filmbulletin, 22.7.2016) 162 Min / Farbe / DCP / D // DREHBUCH UND REGIE Maren Ade // KAMERA Patrick Orth // SCHNITT Heike Parplies // MIT Sandra Hüller (Ines Conradi), Peter Simonischek (Winfried Conradi), Michael Wittenborn (Titus Henneberg), Thomas

(Jutka, Jenős Frau), Pál Mácsai (Detektiv), Zsuzsa Járó (Zsusza), Nóra Rainer-Micsinyei (Sári), Tamás Jordán (Marias Therapeut).

THE PARTY GB/Dänemark 2017 In einem vornehmen Londoner Stadthaus feiert die alternde linksliberale Politikerin Janet ihren Aufstieg zur Minister-Kandidatin. Als ihr Ehemann Bill vor versammelten Freunden ein schockierendes Geständnis macht, bröckeln nicht nur die gelifteten Fassaden der Gäste, sondern auch die äusserst brüchigen Bande weiblicher Solidarität. «Sally Potters Film ist ein kurzer, scharfer und witziger Schocker; ein ebenso theatralisches wie komödiantisches Kammerspiel, das sich mit Eleganz und Eile in Echtzeit abspielt und auf eine freche Pointe zusteuert, die einen über den Abspann hinaus lachen lässt.» (Peter Bradshaw, The Guardian, 13.2.2017)

Loibl (Gerald Marburger), Trystan Pütter (Tim Trauter), Ingrid Bişu (Anca Pavelescu), Hadewych Minis (Tatjana), Lucy

71 Min / sw / DCP / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE Sally

­Russell (Steph), Victoria Cociaş (Flavia), Vlad Ivanov (Illescu).

­Potter // KAMERA Aleksei Rodionov // SCHNITT Anders Refn, Emilie Orsini // MIT Kristin Scott Thomas (Janet), Timothy Spall (Bill), Patricia Clarkson (April), Bruno Ganz (Gottfried), Cherry Jones (Martha), Emily Mortimer (Jinny), Cillian ­Murphy (Tom).


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50 Jahre Filmcoopi

COLD WAR (Zimna wojna) Polen/Frankreich/GB 2018 Im Nachkriegs-Polen verliebt sich der Komponist Wiktor in die junge Elevin Zula. Inmitten der Wirren des Kalten Krieges folgt der Film der wechselvollen Geschichte des Paares mit dessen Flucht in den Westen und zurück. «In losen Episoden, manche durch beinahe Jahrzehnte getrennt, entwirft Pawlikowski die Liebe von Zula und Wiktor. Epische Tragik macht sich breit. Gleichzeitig kommt Cold War auf eine Laufzeit von nur 88 Minuten. In dieser Gleichzeitigkeit liegt womöglich das Geheimnis von Pawlikowski (…). Seine Filme sind zugleich kunstvoll und zugänglich, präzise und assoziativ, politisch brisant und berauschend schön.» (Hannah Pilarczyk, Der Spiegel, 22.11.2018) 88 Min / sw / DCP / OV/d/f // REGIE Paweł Pawlikowski // DREHBUCH Paweł Pawlikowski, Janusz Głowacki // KAMERA Łukasz Żal // SCHNITT Jarosław Kamiński // MIT Joanna Kulig (Zula Lichon), Tomasz Kot (Wiktor Warski), Agata ­ Kulesza (Irena Bielecka), Borys Szyc (Lech Kaczmarek), ­ Jeanne Balibar (Juliette), Cédric Kahn (Michel), Adam ­Ferency (Minister), Adam Woronowicz (Konsul).

VORPREMIERE PETER VON KANT Frankreich 2022 Leichtfüssiger und mit mehr Camp als das Vorbild wagt sich François Ozon an eine freie Adaption von Fassbinders Die bitteren Tränen der Petra von Kant: Peter von Kant verliebt sich in den jungen Amir und gibt ihm die Hauptrolle in seinem neuen Film. Nach der erfolgreichen Premiere verlässt Amir aber Peter und stürzt ihn damit in eine tiefe Krise.Peter von Kant ist ein Berlinale-Eröffnungsfilm, «wie man ihn sich perfekter nicht hätte ausdenken können. Ein Film, der das Kino feiert und die Menschen, die es machen. Eine Hommage des Franzosen Ozon an sein Vorbild Fassbinder.» (Carolin Ströbele, Die Zeit, 10.2.2022) 90 Min / Farbe / DCP / F+D/d // DREHBUCH UND REGIE ­François Ozon // KAMERA Manuel Dacosse // MUSIK ­Clemens Ducol // SCHNITT Laure Gardette // MIT Denis Ménochet (Peter von Kant), Isabelle Adjani (Sidonie), Khalil Gharbia (Amir), Hanna Schygulla (Rosemarie), Stéfan Crépon (Karl), Aminthe Audiard (Gabrielle).

 Freitag, 8. Juli, 20.45 Uhr: in Anwesenheit des Regisseurs

Kurztexte wo nicht anders vermerkt: Marius Kuhn

DIE KINO- UND VERLEIHBRANCHE IM UMBRUCH Podiumsdiskussion zu Herausforderungen, Zukunftsperspektiven und Visionen

MI, 24. AUG. | 19.00 UHR

Die Filmbranche ist im Umbruch. Das ist augenfällig. Während das Publikum vor 50 Jahren neue Filme noch im Kino entdeckte, berichten Tageszeitungen heute im immer dünner werdenden Kulturteil über die heissen Starts auf Streamingportalen. Zürich zählt 73 Leinwände – so viele wie noch nie – und beklagt eine historisch tiefe Zuschauer:innenzahl. MUBI, die cinephile Streamingplattform schlechthin, hat 2021 den deutschen Weltvertrieb The Match Factory ­ ­gekauft – einen der aktuell interessantesten Filmproduzenten sowie Händler von Filmrechten – und drängt gerade mit drei Titeln ins Kino. Verleiher und Kinos antworten auf diese Entwicklung mit eigenen Streamingportalen und innovativen Verleihformen: Memoria von Apichatpong Weerasethakul beispielsweise wurde in den USA nicht gleichzeitig in mehreren Staaten gestartet, sondern wanderte von Stadt zu Stadt, von Kino zu Kino – und war immer nur an einem Ort und für ein Publikum zu sehen. Anlässlich des 50. Geburtstags der Filmcoopi fragen wir nach Herausforderungen, Zukunftsperspektiven und Visionen für den Kino- und Filmmarkt. Es ­diskutieren: Yves Blösche und Felix Hächler (Filmcoopi), Frank Braun (Kinobetreiber), Cyril Schäublin (Filmemacher) und andere Gäste. Endgültige Zusammensetzung der Gesprächsrunde unter filmpodium.ch.



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Spike Lee’s Joints Wake up! Spike Lee, der bedeutendste Regisseur des New Black Cinema ist 75 geworden! Selbstbewusst, erfrischend und laut hat er in den 80erJahren mit Filmen wie Do the Right Thing die Leinwand erobert und erst unlängst bewies er mit dem Grosserfolg BlacKkKlansman wieder, dass sein kämpferischer Gestus sich bestens mit Humor und Mainstream versteht. Unsere von Elisabeth Bronfen und Greg de Cuir Jr kuratierte Retrospektive lässt sein vielfältiges Werk Revue passieren und sucht nach seinen Paten und Vorbildern von Harry Belafonte über die Nouvelle Vague à la Melvin Van Peebles bis zur Blaxploitation. In Spike Lees Heist-Thriller Inside Man (2006) dreht sich alles um ein geheimnisvolles Schliessfach an der Wallstreet. Es trägt die Nummer 392, doch in den Unterlagen der Manhattan Bank ist es nie registriert worden. Tatsächlich ähnelt es einer Krypta, denn hier werden Relikte verwahrt, die nicht ans Tageslicht gelangen sollen: Juwelen, die wohlhabenden Juden geraubt wurden, bevor man sie den Nazi-Schergen in Frankreich auslieferte. Der NYPD-Detective, der diese historische Schuld an die Öffentlichkeit bringt, wird von ­Denzel Washington gespielt. Das ist nur konsequent. Der Holocaust ist zwar nicht seine Geschichte der Ausbeutung, aber Gerechtigkeit für jene zu fordern, die aufgrund von Rassismus enteignet wurden, ist auch für diesen schwarzen Polizisten ein Anliegen. Doch noch aus einem weiteren Grund ist der Einsatz eines geheimen Schliessfaches für die Gedankenwelt Spike Lees charakteristisch. Wiederholt zeigt er in seinen Filmen auf, wie eine Handlung aus der Vergangenheit nachträglich unerwartete Folgen haben wird. Es gibt dafür im Amerikanischen eine griffige Redewendung: «Chickens coming home to roost». Untaten unterschiedlichster Prägung rächen sich an den Verantwortlichen mit einer eigenen Intensität. Vergangenheit als Trauma und als Inspiration Ein Interesse für die gewaltsamen Folgen historisch-traumatischer Ereignisse prägt das gesamte Œuvre von Spike Lee, der an der New York University seinen M.A. erhielt und dort seit 2002 als Künstlerischer Leiter eingestellt ist. Als einer der prominentesten Vertreter des New Black Cinema nutzt er seine Filme, für die er oft auch das Drehbuch verfasst, um unsere Aufmerksamkeit

Autorenfilmer und Aktivist: Spike Lee in When the Levees Broke Filmisches Monument: Malcolm X Fulminantes Comeback: BlacKkKlansman


38 auf systemischen Rassismus zu lenken. In Malcolm X (1992) beispielsweise setzt er eine Mischung aus Found Footage und fiktionalem Reenactment ein, um in Erinnerung zu rufen, wie sehr die Konflikte der Bürgerrechtsbewegung die US-amerikanische Gesellschaft weiterhin heimsuchen. In diesem Sinn verstehen sich auch seine engagierten Dokumentarfilme als kritische Geschichtslektionen. Dabei tritt Spike Lee mit seinem unerbittlichen Blick auf die Unterdrückung und Ausbeutung der Black Community bewusst das Erbe der L.A. Rebels an. Seinen Signature Shot aber – Figuren, die im Raum schweben, von ihrem Hintergrund losgelöst – hat er von Regisseur Melvin Van Peebles übernommen. Geprägt von so unterschiedlichen Vorbildern ist es Spike Lee schon früh in seiner Karriere gelungen, sich erfolgreich im Hollywood-Mainstream zu behaupten. Schon Lees erste Filme aus den Jahren 1986–1995 sind vorwiegend von seinem Blick auf das vielfältige Leben der Black Community in Brooklyn geprägt, und auch in seinen späteren Filmen kehrt der Regisseur immer wieder in diesen Stadtteil zurück. Sein erster Spielfilm, She’s Gotta Have It (1986), handelt von der jungen Grafikerin Nola Darling, die darauf besteht, ihren Traum von sexueller Unabhängigkeit zu leben, und sich deshalb zwischen drei Liebhabern nicht entscheiden will. Frauen nehmen in Lees Geschichten künftig aber eher den Part der Helferin oder der Kontrahentin ein. Die ehrgeizige Mutter, die sorglose Verführerin oder die kritische Gefährtin. Dafür treten die gebildeten, kreativen, urbanen Männer in den Vordergrund. Allen voran der Jazzmusiker in Mo’ Better Blues (1990), von seinem Erfolg so geblendet, dass er sein Glück verspielt. Bill Lee hat für diesen Film – wie für viele Frühwerke seines Sohnes – die Musik geschrieben. Die Wichtigkeit, die Musik für Spike Lee einnimmt, zeigt sich jedoch nicht nur in s­ einen Soundtracks. Er hat auch zahlreiche Musikvideos gedreht: für Miles Davis, Public Enemy, Michael Jackson und Eminem. Dann gibt es aber auch die Männer aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen, die in seinem Ensemble-Stück Get on the Bus (1996) gemeinsam nach Washington, D.C. fahren, um am Million Man March teilzunehmen. Der kontroverse religiöse Anführer Louis Farrakhan, dessen Antisemitismus der Film thematisiert, hatte zu diesem Treffen männlicher Solidarität aufgerufen. Die Reise konfrontiert die Männer mit ihren eigenen internen Widersprüchen: Colorism, Homophobie, politische Intoleranz. Brennpunkt Brooklyn Spike Lees Brooklyn entpuppt sich allerdings auch als Ort, wo sich ethnisch bedingte Spannungen aufbauen. In Do the Right Thing (1988) entlädt sich an einem heissen Sommertag eine Wut, die sich unterschwellig in dieser Nachbarschaft über längere Zeit angestaut hatte. Der Streit darüber, ob in einer Pizzeria neben den Fotografien italoamerikanischer Celebrities auch die von


39 afroamerikanischen Ikonen hängen sollen, mündet in einem tödlichen Zusammenstoss mit der Polizei. Auch wenn am nächsten Morgen alle Spuren des nächtlichen Ausbruchs weggeräumt werden, bleibt die Gewalt dicht unter der Oberfläche spürbar. Die auf Vorurteilen beruhende Feindschaft soll – so die moralische Botschaft Spike Lees – nicht aufgelöst werden, weil diese fiktionalen Geschichten auf den sozialen Antagonismus jenseits der Leinwand verweisen. Spike Lee selbst ist übrigens hier, wie in vielen seiner Filme, auch Darsteller: Er verkörpert mal zögerliche Rechtschaffene, mal glücklose Kleinganoven, mal ironisch distanzierte Kommentatoren. Auch in Summer of Sam (1999) erfährt das von gegenseitigem Hass geprägte Verhältnis zwischen verschiedenen ethnischen Communities eine entlarvende Wende – und das ist kennzeichnend für Spike Lees Blick auf systemischen Rassismus: Im August 1977 wurde der Serienmörder David Richard Berkowitz alias «Son of Sam» festgenommen. Im Zentrum des Films steht nicht der Täter, sondern die Frage, wie jene italoamerikanische Gemeinde in der Bronx, in deren Mitte er seine Morde verübt, auf die Gefahr reagiert. Während die Polizei die örtliche Mafia um Hilfe bittet, bildet sich eine Bande junger Männer, die Selbstjustiz üben wollen. Diffuse interne Differenzen haben nun einen klaren Feind bekommen. Auf den Punkrockmusiker passt die Zuschreibung, weil er die Vorstellung von Männlichkeit seiner ehemaligen Schulkameraden stört. Bezeichnend dabei: Der Freak ist an die Stelle getreten, an der wir einen Schwarzen als Sündenbock erwartet hätten. Doch wenn Spike Lee in seinen Geschichten beharrlich darauf hinweist, dass ungelöste gesellschaftliche Konflikte sich irgendwann rächen, so zeichnet sich in seinen Filmen auch ein Ausweg aus dieser Logik ab: nicht im Ausblenden von Schuld – sei es ein kollektives Verbrechen oder ein persönliches Vergehen –, sondern in der Suche nach Sühne. Als 25th Hour (2002) bereits in Planung war, fanden die Anschläge auf das World Trade Center statt. Spike Lee entschloss sich kurzerhand, das tragische Ereignis in die Geschichte des Drogenhändlers Monty Brogan zu integrieren. Mit Details wird an 9/11 erinnert. Zugleich kommt auch hier ein Hinweis jenseits der Leinwand zum Tragen. Montys Einsicht, er hätte das Elend, mit dem er sich bereichert hat, geflissentlich übersehen, trifft grundsätzlich auf die späten 1990er-Jahre zu. Man hätte sehen können – wollte aber nicht sehen –, dass sich die von der Globalisierung geförderten Untaten rächen würden. In der Verquickung von fiktionaler und realer politischer Verantwortung sind Spike Lees Filme ein Mahnruf geblieben. Ein Appell an uns, aus der Vergangenheit für die Gegenwart Konsequenzen zu ziehen. Elisabeth Bronfen Elisabeth Bronfen ist Kulturwissenschaftlerin an der UZH und Autorin.


> She's Gotta Have It.

> Mo’ Better Blues.

> Clockers.

> Jungle Fever.


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Spike Lee´s Joints

SHE’S GOTTA HAVE IT

MO’ BETTER BLUES

USA 1986

USA 1990

«Unterlegt mit coolen Jazzklängen erzählt der Film von Nola Darling, einer Künstlerin in New York, die zwischen drei Liebhabern schwankt und nicht weiss, für wen sie sich entscheiden soll. 2017 hat Lee die Story in die Gegenwart verlegt und als Netflixserie neu gedreht.» (Rex Bern, 2019) «Eine Geschichte, die nicht nur die üblichen Erzählmuster ignoriert, sondern ihren Referenzrahmen, ihre Typisierungen und Anspielungen auf einen afroamerikanischen Lebenshintergrund bezieht und gerade durch ihre Authentizität auch beim weissen Publikum Interesse weckte.» (Katja Nicodemus in: Spike Lee, Bertz + Fischer, 2006)

«Für den Jazztrompeter Bleek gibt es nur die Musik und Giant, seinen Manager und Freund. Doch Giant steht Bleeks Karriere wegen seiner Leidenschaft für das Glücksspiel immer wieder im Wege. Hin- und hergerissen zwischen der Treue zu seinem Freund und dem brennenden Wunsch nach dem ganz grossen Erfolg steuert Bleek auf die schwerste Entscheidung seines Lebens zu.» (moviepilot.de) «Lee hat gesagt, dass er keine Baukasten-Filme mache, und in der Tat vermeidet Mo’ Better Blues zentrale Klischees fast aller musikalischen Biopics. (...) Mo’ Better Blues ist kein grossartiger, aber ein interessanter Film, was fast genauso selten ist.» (Roger Ebert, rogerebert.com, 3.8.1990)

84 Min / Farbe + sw / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH, REGIE,

129 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE

SCHNITT Spike Lee // KAMERA Ernest R. Dickerson // MUSIK

Spike Lee // KAMERA Ernest R. Dickerson // MUSIK Bill Lee

Bill Lee // MIT Tracy Camilla Johns (Nola Darling), Redmond

// SCHNITT Sam Pollard // MIT Denzel Washington (Bleek

Hicks (Jamie Overstreet), John Canada Terrell (Greer Childs),

Gilliam), Spike Lee (Manager Giant), Wesley Snipes (Shadow

Spike Lee (Mars Blackmon), Ray Dowell (Opal Gilstrap).

Henderson), Joie Lee (Indigo Downes), Cynda Williams (Clarke), Giancarlo Esposito (Left Hand Lacey), Robin Harris (Butterbean Jones), Bill Nunn (Bottom Hammer).

DO THE RIGHT THING USA 1989

JUNGLE FEVER USA 1991

Ein heisser Tag in einem schwarzen Viertel Brooklyns: Mookie arbeitet als Pizzabote für Sal, einen Italoamerikaner, der hier seit 20 Jahren eine Pizzeria betreibt. Ein schwarzer Aktivist beklagt sich, dass Sal auf seiner «Wall of Fame» keine Schwarzen aufgenommen habe, und droht mit einem Boykott. Die Auseinandersetzung schaukelt sich immer weiter hoch, bis die angestauten sozialen Spannungen explodieren. «Der Film war eine pointierte Auseinandersetzung mit der damaligen Rassenpolitik New Yorks. (...) Es war auch ein packendes menschliches Drama mit einer grossartigen Besetzung (…). Do the Right Thing, den Barack und Michelle Obama bei ihrem ersten Date gesehen haben, gilt heute als Kunstwerk sowie als Meilenstein des afroamerikanischen Films.» (Gavin Edwards, rollingstone.com, 20.6.2014)

«Die Beziehung eines schwarzen Architekten zu einer weissen Sekretärin italienischer Abstammung löst im Verwandten- und Freundeskreis heftige, von rassistischen Vorurteilen motivierte Reaktionen aus. Vor dem Hintergrund eines kulturellen Nationalismus entwirft Regisseur Spike Lee ein schier ausweglos erscheinendes Bild afroamerikanischer Existenz in einer von Rassenproblemen, Rauschgift und Verbrechen bedrohten Umwelt.» (Lexikon des int. Films) «Drei Jahrzehnte nach seiner Premiere in Cannes ist Spike Lees pessimistisches Porträt einer gemischtrassigen Beziehung mit Wesley ­ Snipes und Annabella Sciorra als unglückliches Liebespaar immer noch einer seiner provokantesten Filme.» (Alex Ramon, bfi.co.uk, 6.5.2021)

119 Min / Farbe / 35 mm / E/d // DREHBUCH UND REGIE Spike

132 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE

Lee // KAMERA Ernest R. Dickerson // MUSIK Bill Lee //

Spike Lee // KAMERA Ernest R. Dickerson // MUSIK Terence

SCHNITT Barry Alexander Brown // MIT Danny Aiello (Sal),

Blanchard // SCHNITT Sam Pollard // MIT Wesley Snipes

Spike Lee (Mookie), Richard Edson (Vito), Ossie Davis (Da

(Flipper Purify), Annabella Sciorra (Angie Tucci), Spike Lee

­Mayor), Ruby Dee (Mother Sister), John Turturro (Pino), Bill

(Cyrus), Ossie Davis (The Good Reverend Doctor Purify), Ruby

Nunn (Radio Raheem), Samuel L. Jackson (Mister Señor Love

Dee (Lucinda Purify), Samuel L. Jackson (Gator Purify),

Daddy), Giancarlo Esposito (Buggin Out), Rosie Perez (Tina,

­Lonette McKee (Drew), John Turturro (Paulie Carbone), Frank

Mookies Freundin), Robin Harris (Sweet Dick Willie), Martin

Vincent (Mike Tucci), Anthony Quinn (Lou Carbone), Halle

Lawrence (Cee).

Berry (Vivian), Tyra Ferrell (Orin Goode).


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Spike Lee´s Joints

MALCOLM X USA/Japan 1992 Biopic über Leben und Tod des Aktivisten und Anführers der schwarzen Bürgerrechtsbewegung Malcolm X (1925 –1965). Im Boston der 1940erJahre lebt Malcolm Little in den Ghettos der Schwarzen und finanziert seinen «weissen Lebenstil» mit Kleinkriminalität. Während eines Gefängnisaufenthalts tritt er der «Nation of Islam» bei, die eine strikte Trennung der schwarzen von der weissen Gesellschaft anstrebt. Malcolm legt seinen «Sklavennamen» ab und steigt zu einem einflussreichen Anführer der Bewegung auf. Machtstreitigkeiten führen zu Zerwürfnissen, die schliesslich auch zu seiner Ermordung führen. «Lee polarisiert weniger als auch schon zwischen der schwarzen und der weissen Gesellschaft. Er setzt ein leuchtendes Filmzeichen für die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtungsweise komplexer sozialer, politischer, ethnischer und ethischer Probleme, nicht nur in den USA. (…) Sein Film geht zwar von einer agitatorischen Propagandagebärde aus (am Anfang verbrennt die US-Flagge zu einem markanten X und der Videofilm von der Misshandlung des Schwarzen Rodney King durch Polizeibeamte in Los Angeles 1991 läuft ab), entkräftet diese aber fast versöhnlich durch eine subtile, glaubwürdige Verbeugung vor einem Idol mit Schrunden, ohne heldenverehrerische Züge.» (Michael Lang, Zoom, 3/1993)

Dennoch ist Clockers kein Schrei der Verzweiflung. Lee findet in all seinen Geschichten Poesie und Humor.» (Roger Ebert, rogerebert.com, 13.9.1995) 128 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE Spike Lee // DREHBUCH Richard Price, Spike Lee, nach dem Roman von Richard Price // KAMERA Malik Hassan Sayeed // MUSIK Terence ­Blanchard // SCHNITT Sam Pollard // MIT Harvey Keitel (Rocco Klein), John Turturro (Larry Mazilli), Delroy Lindo (Rodney), Mekhi Phifer (Strike), Isaiah Washington (Victor), Keith David (Andre the Giant), Peewee Love (Tyrone), Regina Taylor (Iris Jeeter), Thomas Jefferson Byrd (Errol Barnes).

GET ON THE BUS USA 1996 «Get on the Bus ist ein packendes Porträt einer Gruppe von Männern, die von Los Angeles nach Washington zum sogenannten Million Man March reisen, einer Demonstration, die 1995 von dem umstrittenen radikalen Moslemführer Louis Farrakhan organisiert wurde. Spike Lee nutzt die Reise, um uns einen Querschnitt durch die afroamerikanische Gemeinschaft zu zeigen, indem er die Gespräche der Buspassagiere aufgreift, um aktuelle gesellschaftliche Probleme zu thematisieren. Brisantes wird nicht ausgespart: Hass auf alles Weisse, Abneigung gegen Schwule und sexistisches Verhalten werden in einem Film angesprochen, der nie didaktisch ist, sondern überzeugend auf einen dramatischen Höhepunkt zusteuert.» (Int. Film Festival Rotterdam, 1998)

202 Min / Farbe / 35 mm / E/d // REGIE Spike Lee // DREH-

121 Min / Farbe / 35 mm / E // REGIE Spike Lee // DREHBUCH

BUCH Arnold Perl, Spike Lee, nach «The Autobiography of

Reggie Rock Bythewood // KAMERA Elliot Davis // MUSIK

Malcolm X» von Alex Haley, Malcolm X // KAMERA Ernest

­Terence Blanchard // SCHNITT Leander T. Sales // MIT

R. Dickerson // MUSIK Terence Blanchard // SCHNITT Barry

­Richard Belzer (Rick), De´aundre Bonds (Junior aka Smooth),

Alexander Brown // MIT Denzel Washington (Malcolm X),

Andre Braugher (Flip), Thomas Jefferson Byrd (Evan Thomas

Angela Bassett (Betty Shabazz), Albert Hall (Baines), Al ­

Sr.), Gabriel Casseus (Jamal), Albert Hall (Craig), Hill Harper

­Freeman Jr. (Elijah Muhammad), Delroy Lindo (West Indian

­(Xavier), Harry Lennix (Randall), Bernie Mac (Jay), Wendell

Archie), Spike Lee (Shorty), Theresa Randle (Laura).

Pierce (Wendell).

CLOCKERS

4 LITTLE GIRLS

USA 1995

USA 1997

Strike verdient sein Geld als Clocker, als Rundum-die-Uhr-Drogendealer. Als er Darryl, einen seiner Kollegen, umbringen soll, sucht Strike Hilfe bei seinem Bruder Victor. Kurz darauf wird Darryl ermordet aufgefunden und Victor nimmt die Schuld auf sich. Ein Polizist zweifelt an seinen Aussagen, stösst dabei auf Strike und beginnt sich seiner anzunehmen. «Im Kern ein Krimi, doch wird hier bei der Aufklärung des Mordes nicht einmal ansatzweise eine Lösung für das System gefunden, das dazu geführt hat. Genau das ist der Punkt. (…)

Spike Lees erster Dokumentarfilm dreht sich um den Bombenanschlag auf eine Baptistenkirche in Birmingham, Alabama, am 15. September 1963, bei dem vier Mädchen im Alter von 11 bis 14 Jahren ums Leben kamen. Der Täter, ein Anführer des Ku-Klux-Klan, wird erst 15 Jahre später angeklagt und verurteilt. «Der engagierte Dokumentarfilm beschreibt die Spuren, die der hinterhältige Anschlag auf dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung in der amerikanischen Gesellschaft hinterliess, und lässt Betroffene ebenso zu Wort kommen wie Po-


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Spike Lee´s Joints litiker und Bürgerrechtler. Spike Lee widmet sich (…) einmal mehr der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung und thematisiert die Schwierigkeiten der Integration.» (Lexikon des int. Films) 102 Min / Farbe / Digital SD / E/e // DREHBUCH UND REGIE Spike Lee // KAMERA Ellen Kuras // MUSIK Terence ­Blanchard // SCHNITT Sam Pollard.

SUMMER OF SAM

(…). Unter dem Druck, die niedrigen Einschaltquoten seines Senders wieder anzukurbeln, kommt der Fernsehautor Pierre Delacroix auf eine explosive Idee: die Wiedereinführung von Blackface in der ‹New Millennium Minstrel Show›. Die weissen Führungskräfte des Senders und das Publikum sind begeistert (…). Bamboozled ist eine vernichtende Anklage der Massenunterhaltung an der Wende zum 21. Jahrhundert, die mit jedem Jahr eindringlicher wirkt.» (criterion.com)

USA 1999

135 Min / Farbe / Digital HD / E/e // DREHBUCH UND REGIE

Der Sommer 1977 in New York ist heiss. Was aber wirklich die Gemüter erhitzt, ist der Serienkiller «Son of Sam», der die Stadt in Angst versetzt. Dieses Setting entfaltet sich rund um die beiden Freunde Vinny und Richie. Richie, ein Punk, entdeckt seine Neigung zur Homosexualität, während Vinny von Wochenende zu Wochenende lebt und seine Freundin betrügt. Als die Stimmung überkocht und eine Gang beschliesst, den Mörder auf eigene Faust dingfest zu machen, geraten Andersartige wie Richie in deren Fokus. Vinny muss eine Entscheidung treffen. «Spike Lees Summer of Sam ist bewundernswert intelligent und voller Überraschungen. Die grösste ist natürlich die, dass Lee hier zum ersten Mal einen Film gedreht hat, der nicht in der ‹Black Community› spielt. Das mache nichts, hat der Regisseur abgewiegelt, die Themen – Freundschaft und Verrat, Moral und Verbrechen, Eingrenzungsund Ausschlussmechanismen im heutigen Amerika – seien schliesslich dieselben. Dennoch: Der Bruch, auch stilistisch, ist unübersehbar. Schnell und doch rhythmisch sanft wird erzählt, Lee gelingt mit diesem Quasi-Kostümfilm ein souveräner epischer Grundton, der anknüpft an das ganz grosse klassische Kino Amerikas.» (Rüdiger Suchsland, Schnitt, Nov. 2000)

­Blanchard // SCHNITT Sam Pollard // MIT Damon Wayans

142 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Spike Lee // DREHBUCH Spike Lee, Victor Colicchio, Michael Imperioli //

Spike Lee // KAMERA Ellen Kuras // MUSIK Terence (Pierre Dela­ croix), Savion Glover (Manray/Mantan), Jada ­Pinkett-Smith (Sloan Hopkins), Tommy Davidson (Womack/ Sleep´n Eat), Michael Rapaport (Dunwitty), Thomas Jefferson Byrd (Honeycutt), Paul Mooney (Junebug), Sarah Jones (Dot), Gillian White (Verna), Susan Batson (Orchid Dothan), Yasiin Bey aka Mos Def (Big Blak Afrika).

25TH HOUR USA 2002 Wegen Drogenhandels wird Monty Brogan zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Nun hat er 25 Stunden Zeit, bevor er seine Haft antreten muss. Er verabschiedet sich von seinem Vater, seiner Freundin, seinen Freunden und seinem Auftraggeber. Dabei reflektiert Monty die Entscheidungen, die er in seinem Leben bisher getroffen hat. «Die Tristesse und die Melancholie, die den Film durchziehen, werden als allgemeines Lebensgefühl des Augenblicks etabliert. (…) Untermalt von eindringlicher Musik ist The 25th Hour eine New-York-Nocturne, ein Traumstück, das Anspielungen auf Western und Film noir zu einer hymnischen Liebeserklärung an die Stadt verschmelzen lässt, dabei Wunden nicht maskiert. Bis zum Ende konzentriert sich der Film aufs Fragen und Offenhalten, verzichtet auf vorschnelle Antworten.» (Rüdiger Suchsland, artechock.de)

­KAMERA Ellen Kuras // MUSIK Terence Blanchard // SCHNITT Barry Alexander Brown // MIT John Leguizamo (Vinny), Adrien

135 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Spike Lee // DREH-

Brody (Richie), Mira Sorvino (Dionna), Jennifer Esposito

BUCH David Benioff, nach seinem Roman // KAMERA Rodrigo

(Ruby), Michael Rispoli (Joey T), Saverio Guerra (Woodstock),

Prieto // MUSIK Terence Blanchard // SCHNITT Barry

Brian Tarantina (Bobby Del Fiore), Al Palagonia (Anthony),

­Alexander Brown // MIT Edward Norton (Monty Brogan),­

Bebe Neuwirth (Gloria), Patti LuPone (Helen), Mike Starr

Philip Seymour Hoffman (Jacob Elinsky), Barry Pepper ­

­(Eddie), Ben Gazzara (Luigi).

(Frank Slaughtery), Rosario Dawson (Naturelle Riviera), Anna Paquin (Mary D´Annunzio), Brian Cox (James Brogan), Tony

BAMBOOZLED USA 2000 «Mit dieser unverblümt witzigen und konfrontativen Satire untersuchte Autor und Regisseur Spike Lee Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Rassismus in der amerikanischen Populärkultur

Siragusa (Kostya Novotny).

INSIDE MAN USA 2006 Vier maskierte Räuber überfallen in New York eine Bank und verschanzen sich mit 50 Geiseln.


> Summer of Sam.

> 25th Hour.

> Bamboozled.

> Miracle at St. Anna.

> Inside Man.


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Spike Lee´s Joints Die Polizei nimmt Verhandlungen auf, während die Bankräuber in aller Ruhe ihren Plan des «perfekten Banküberfalls» verfolgen. Gleichzeitig engagiert einer der Bankbesitzer auf eigene Faust eine Krisenmanagerin, um mit den Gangstern zu verhandeln. Nach und nach wird klar, dass es hier um mehr geht als um eine übliche Räuber-Polizei-Geschichte. «An der Oberfläche simpel, aber technisch kompliziert, kunstvoll, voller Wut, Diversität und Lebensfreude, kampfeslustig, wendig, grausam und grossherzig, voller Liebe für den kleinen Mann und die ‹poor and huddled masses› – auch dieser Film gerät Spike Lee, und dieses Mal eher unerwartet, zum akkuraten Porträt und zur Liebeserklärung an seine Wahlheimat New York.» (Daniel Bickermann, Schnitt, März 2006)

ACT I 67 Min / ACT II 65 Min / ACT III 61 Min / ACT IV 64 Min Farbe / Digital SD / E/e // DREHBUCH UND REGIE Spike Lee // KAMERA Cliff Charles // MUSIK Terence Blanchard // SCHNITT Geeta Gandbhir, Nancy Novack.

WHEN THE LEVEES BROKE: NEXT MOVEMENT, ACT V (EPILOGUE) USA 2007 Ein Jahr nach der vierteiligen DokumentarfilmSerie fügte Spike Lee noch einen Epilog bei. Bewohner:innen von New Orleans erinnern sich an den Hurrikan Katrina und erzählen von den Folgen, die die Katastrophe für sie hatte. 108 Min / Farbe / Digital SD / E/e // DREHBUCH UND REGIE Spike Lee // KAMERA Cliff Charles // MUSIK Terence

129 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Spike Lee // DREH-

­Blanchard // SCHNITT Barry Alexander Brown.

BUCH Russell Gewirtz // KAMERA Matthew Libatique // MUSIK Terence Blanchard // SCHNITT Barry Alexander Brown // MIT Denzel Washington (Detective Keith Frazier), Clive Owen

MIRACLE AT ST. ANNA

(Dalton Russell), Jodie Foster (Madeleine White), Christopher

USA/Italien 2008

Plummer (Arthur Case), Willem Dafoe (Captain John Darius), Chiwetel Ejiofor (Detective Bill Mitchell).

WHEN THE LEVEES BROKE: A REQUIEM IN FOUR ACTS USA 2006 Spike Lees vielfach ausgezeichneter Dokumentarfilm spürt den Folgen der Verwüstung durch den Hurrikan Katrina in New Orleans im Jahr 2005 nach. Drei Monate nach dem Sturm begann Lee mit seinem Team mit den Dreharbeiten. Mittels Aussagen von Zeugen und Nachrichtenmaterial beleuchtet er die Katastrophe und die mangelnde Hilfe der Regierung in der Folgezeit. Darüber hinaus gelingt ihm ein eindringliches Porträt der Südstaatenmetropole und ihrer Bewohner:innen. «Die vierstündige HBO-Doku von Spike Lee ist hauptsächlich als Oral History aufgebaut und zeichnet die schrecklichen Ereignisse nach, die New Orleans (2005) verwüstet haben. Die vielen Geschichten über bürokratische Stümperei, politische Sündenböcke und persönliche Traumata nach Katrina sind ebenso schockierend wie die Aufnahmen von Tod und Leid während des Sturms selbst. Lees unschätzbar wertvoller Film ist durchdrungen von Gefühlen des Schmerzes, der Empörung und der Verzweiflung und kehrt immer wieder zu der Frage zurück, wie das reichste Land der Welt es zulassen konnte, dass dies seiner eigenen Bevölkerung widerfuhr. Zwei nicht schockierende Antworten: Rasse und Geld.» (Eye Weekly, 2006, zit. nach dvdbeaver.com)

Während des Zweiten Weltkriegs werden vier Soldaten einer ausschliesslich aus Afroamerikanern bestehenden Infanterietruppe (sogenannte Buffalo Soldiers) bei einem Einsatz in der Toskana von ihrer Einheit getrennt. Von Einheimischen in einem Bergdorf aufgenommen, warten sie zusammen mit italienischen Partisanen auf einen bevorstehenden Angriff der Deutschen. «Es gibt eine ‹unbedeutende› Szene, die aber absolut wichtig ist. Während der Grundausbildung im tiefen Süden wird den vier Soldaten in einem Restaurant die Bedienung verweigert. Gleichzeitig machen es sich vier deutsche Kriegsgefangene an einem Tisch bequem. Eine solche Behandlung war nicht unüblich. Warum sollten Schwarze ihr Leben für Weisse riskieren, die sie hassen? (…) In einer Zeit, in der die Studios und viele Filmemacher auf Nummer sicher gehen (…), hat Lee eine Vision und hält sich daran. (…) Miracle at St. Anna enthält Reichtum, Wut, Geschichte, Gefühl, Fantasie, Realität, Gewalt und Leben. Vielleicht zu viel. Aber besser als zu wenig.» (Roger Ebert, rogerebert.com, 25.9.2008) 160 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE Spike Lee // DREHBUCH James McBride, nach seinem Roman // KAMERA Matthew Libatique // MUSIK Terence Blanchard // SCHNITT Barry Alexander Brown // MIT Derek Luke (2nd Staff Sergeant Aubrey Stamps), Michael Ealy (Sergeant B ­ ishop Cummings), Laz Alonso (Corporal Hector Negron), Omar Benson Miller (Private First Class Sam Train), P ­ierfrancesco Favoino (Peppi «Der grosse Schmetterling» Grotta), Valentina Cervi (Renata).


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Spike Lee´s Joints

SPIKE LEE UND SEINE INTERVENTION IM HOLLYWOOD-GENREKINO

VORTRAG VON ELISABETH BRONFEN DI, 2. AUG. | 20.00 UHR

Elisabeth Bronfen, Professorin für Englisch und Amerikanistik, zeichnet in ihrem Vortrag nach, wie Spike Lee als prominentester Vertreter des Black Cinema sich in den Hollywood-­Mainstream einschreibt und diesen zugleich einer kritischen Relektüre unterzieht. Dabei gilt es, seinen Dialog mit Scorsese, Spielberg und Eastwood genauer zu beleuchten wie auch seine Umschrift von Filmen wie Saturday Night Fever und Marathon Man.

PODIUMSDISKUSSION SPIKE LEE – FROM THE ROOTS TO THE HEIRS MI, 17. AUG. | 19.00 UHR

Mit dem Drängen nach Veränderung und viel Wut im Bauch dreht Spike Lee seit über 40 Jahren Filme und kämpft für die Rechte von Schwarzen. Mit seinen Filmen legt er den Finger in die unverheilten Wunden der amerikanischen Gesellschaft und verhandelt das schwierige Erbe seines Landes. Von Black-Ci­nema-Pionieren wie Melvin Van Peebles inspiriert, hat Lee, zwischen den Polen Kommerz und Unabhängigkeit navigierend, in Brooklyn-Manier das amerikanische Filmgeschehen der letzten Jahrzehnte ge­prägt und einer neuen Welle des schwarzen Kinos den Weg bereitet. Das vom Filmbulletin und Filmpodium organisierte Podium geht den komplexen Verbindungen in Lees Werk nach: Die Amerikanistin Elisabeth Bronfen, der freie Kurator Greg de Cuir Jr und die Filmkuratorin Stefanie Rusterholz diskutieren mit Marius Kuhn (Gesprächsleitung) darüber, wie Lee eine alternative Geschichte der USA erzählt. Wo finden sich Spuren seines Schaffens im Kino der jüngeren schwarzen Regiegeneration? Und wie positioniert Lee sich heute zwischen Regielegende und unermüdlichem Kämpfer? Das Filmbulletin 4/22 erscheint am 21.7 und widmet sich Spike Lees Erben in Hollywood.

BLACKKKLANSMAN USA 2018 Adaption eines autobiografischen Buches von Ron Stallworth, dem ersten afroamerikanischen Polizeibeamten in Colorado Springs. In den 1970er-Jahren gelingt es ihm, im Zuge von verdeckten Ermittlungen den Ku-Klux-Klan zu infiltrieren. Als seine physische Präsenz gefragt ist, nimmt er die Hilfe seines weissen und jüdischen Kollegen Flip Zimmerman in Anspruch. «Jedes Lachen (…) geht auf Kosten von dummen rassistischen Hinterwäldlern. (…) Aber das ist der Punkt: Narren können gefährlich sein. Lach, so viel du willst, scheint Spike Lee zu sagen. Wir haben auch Donald Trump ausgelacht. (…)

Der Film ist eine brisante Mischung aus Ernst und Unterhaltung in einem körnigen BlaxploitationStil. Genreverspielt, urkomisch und überraschend versöhnlich.» (Marietta Steinhart, Zeit online, 21.8.2018) 135 Min / Farbe / DCP / E/d/f // REGIE Spike Lee // DREHBUCH Charlie Wachtel, David Rabinowitz, Kevin Willmott, Spike Lee, nach dem Buch «Black Klansman» von Ron ­Stallworth // KAMERA Chayse Irvin // MUSIK Terence ­Blanchard // SCHNITT Barry Alexander Brown // MIT John David Washington (Ron Stallworth), Adam Driver (Philip «Flip» Zimmerman), Topher Grace (David Duke), Alec ­Baldwin (Dr. Kennebrew Beauregard), Jared Johnston (CSPD Officer Brickhouse), Harry Belafonte (Jerome Turner).

Kurztexte wo nicht anders vermerkt: pm


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Spike Lee´s Joints

WHITE LINES, BLACK MUSIC Greg de Cuir Jr präsentiert Spike Lees Musikvideos

DO, 18. AUG. I 18.15 UHR

Spike Lee ist ein Pionier und Erneuerer für viele Aspekte der schwarzen Filmkultur und wird zu Recht für seine zahlreichen Erfolge auf der grossen Leinwand gefeiert. Weit weniger Aufmerksamkeit hat die Filmkritik jedoch seinen Musikvideo-Arbeiten gewidmet. Dabei ist Lee auch ein Pionier und Erneuerer des Hip-Hop-Musikvideos. Er war Vorbild für viele schwarze Regisseure, die nach ihm kamen und ihre ersten Arbeiten im Musikvideo-Genre realisierten, bevor sie ihre ersten Spielfilme drehen konnten. Zu ihnen zählen so herausragende Namen wie F. Gary Gray, Antoine Fuqua oder Hype Williams. Der Kurator Greg de Cuir Jr stellt in diesem Programm Musikvideos vor, die Spike Lee inszeniert hat, und diskutiert ihre Ästhetik in Bild und Ton. Mehrere der gezeigten Videos stammen aus den Soundtracks von Spike Lees Filmen und können als Erweiterungen seines filmischen Werks betrachtet werden. Einige davon zählen zu den besten Songs und visuellen Umsetzungen

15. JULI –19. AUGUST 2022

Filmstill: Le notti di Cabiria (1957)

des Hip-Hop-Genres.


> La permission.

> Ganja & Hess.

> Foxy Brown.

> Odds Against Tomorrow.


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Spike Lee’s Joints: Meta Spike In unserem Programm «Meta Spike» sucht der Kurator Greg de Cuir Jr nach Spike Lees ­filmischen Wurzeln und Vorbildern. Es ist Filmen gewidmet, die Spike Lee inspiriert haben, von denen er Remakes gemacht hat oder auf die er sich in seinen Filmen direkt bezieht. Zudem lädt Greg de Cuir Jr zu einer audiovisuellen Performance in die FilmpodiumLounge, zu einer Freestyle-Collage aus Filmen und Musikvideos. Greg de Cuir Jr ist unabhängiger Kurator, Autor und Übersetzer. Er lebt und arbeitet in Belgrad. Seinen ausführlichen Text zu «Meta Spike» finden Sie auf unserer Website: filmpodium.ch THE JACKIE ROBINSON STORY USA 1950 Dieser Film ist einzigartig, weil er das Leben eines der legendärsten Sportler in der Geschichte der USA dramatisiert und dieser Sportler sich auch selbst spielt. The Jackie Robinson Story ist Jackie Robinsons Einstand als Schauspieler, und doch trägt er diesen Film mühelos. Auch Spike Lee hat mit der Idee geliebäugelt, einen Film über das Leben des Sportlers zu drehen. Die Geschichte liegt ihm sehr am Herzen, nicht nur wegen Robinson, der als schwarzer Pionier die Rassenschranke im Baseball durchbrach, sondern auch, weil er für die Brooklyn Dodgers spielte – der Club jenes New Yorker Stadtteils also, in dem Lee aufwuchs und der immer wieder Schauplatz seiner Filme sein sollte. In der Jackie Robinson Story ist auch die junge Ruby Dee zu sehen, die in einigen von Lees berühmtesten Filmen Schlüsselrollen spielte. Preserved by the Library of Congress 76 Min / sw / 35 mm / E // REGIE Alfred E. Green // DREHBUCH Arthur Mann, Lawrence Taylor // KAMERA Ernest Laszlo // MUSIK Herschel Burke Gilbert // SCHNITT Arthur H. Nadel // MIT Jackie Robinson (er selbst), Ruby Dee (Rae Robinson), Minor Watson (Branch Rickey), Louise Beavers (Jackies Mutter), Richard Lane (Clay Hopper), Harry Shannon (Frank Shaughnessy), Ben Lessy (Shorty), Bill Spaulding (er selbst).

ODDS AGAINST TOMORROW USA 1959 Odds Against Tomorrow entstand am Ende der klassischen Periode des Film noir und zeichnet sich durch eine brillante Ansammlung von Talen-

ten vor und hinter der Kamera aus. Die Geschichte eines Bankraubs, der schiefgeht (wie immer im Film!), lebt von der entschlossenen Präsenz des Schauspielers, Produzenten und Stars Harry Belafonte. Belafonte war einer der wenigen ­ Schwarzen, die während der Blütezeit des Stu­ diosystems in Hollywood eine eigene Produktionsfirma be­sassen, und übte somit ein hohes Mass an Kontrolle über sein eigenes Image und seine kreative Visionen aus. Odds Against Tomorrow ist ein geradezu archetypischer Film, der das Fundament für das Gedeihen eines Spike Lee war. 96 Min / sw / Digital HD / E/e // REGIE Robert Wise // DREHBUCH Abraham Polonsky, Nelson Gidding, John O. Killens, nach dem Roman von William P. McGivern // KAMERA Joseph C. Brun // MUSIK John Lewis // SCHNITT Dede Allen // MIT Harry Belafonte (Johnny Ingram), Robert Ryan (Earle Slater), Shelley Winters (Lorry), Ed Begley (Dave Burke), Gloria ­Grahame (Helen), Will Kuluva (Bacco).

LA PERMISSION Frankreich 1968 Das Spielfilmdebüt des Übervaters des unabhängigen schwarzen Kinos. Es gibt keine Vorläufer und keine Nachfolger für einen so talentierten Cineasten wie Melvin Van Peebles: Er verliess die USA, um sich in Europa niederzulassen, erlernte mehrere Sprachen und konnte sich in vielen künstlerischen Disziplinen wie Theater, Literatur, Musik und Kino profilieren. La permission wurde in Frankreich produziert und erzählt die Geschichte eines schwarzen Soldaten, der eine Beziehung mit einer weissen Französin eingeht. Der Film entstand zu einem Zeitpunkt, als Ousmane Sembène – der Übervater des afrikanischen Kinos – in Frankreich sein epochemachendes Spielfilmdebüt La Noire de... drehte. La permission ent-


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Spike Lee´s Joints stand aber auch unter dem Einfluss der Nouvelle Vague und vieler anderer moderner Strömungen des Kinos der 60er-Jahre. Ein Film wie Spike Lees Jungle Fever verdankt ihm viel, unter anderem auch jene Kamerafahrt, die für Lee zum typischen Stilmittel werden sollte.

110 Min / Farbe / DCP / E // DREHBUCH UND REGIE Bill Gunn // KAMERA James E. Hinton // MUSIK Sam L. Waymon // SCHNITT Victor Kanefsky // MIT Duane Jones (Dr. Hess Green), Marlene Clark (Ganja Meda), Bill Gunn (George Meda), Sam L. Waymon (Rev. Luther Williams), Leonard ­Jackson (Archie), Mabel King (Queen of Myrthia), Tommy Lane (Pimp), Enrico Fales (Dr. Greens Sohn).

87 Min / sw / DCP / F+E/e // DREHBUCH UND REGIE Melvin Van Peebles // KAMERA Michel Kelber // MUSIK Melvin Van

FOXY BROWN

Peebles, Mickey Baker // SCHNITT Liliane Korb // MIT Harry

USA 1974

Baird (Turner), Nicole Berger (Miriam), Pierre Doris (Bauer), Christian Marin (Hotelangestellter), Hal Brav (Captain), Tria French (Madame Abernathy), Karell Jonathan Beer, George Birt, Jon Carlson.

GANJA & HESS USA 1973 Ganja & Hess ist einer der Filme, für die der Blaxploitation-Boom zum Verhängnis werden sollte: Bill Gunns schwarzer Horrorfilm mit kompromisslosem künstlerischen und intellektuellen Flair wurde von Produktion und Verleih verstümmelt, ohne Rücksicht auf die Vision des Regisseurs. Der Anthropologe Dr. Hess Green, der sich mit bluttrinkenden afrikanischen Urvölkern beschäftigt, wird von seinem Assistenten mit einem alten Zeremoniendolch attackiert. Green wird unsterblich und entwickelt einen unstillbaren Durst nach Blut. Schon bald findet er eine Partnerin, mit der er eine mörderische Liebesaffäre eingeht. Der Film wurde unlängst gemäss den ursprünglichen Absichten des Regisseurs restauriert und nimmt seitdem zu Recht einen herausragenden Platz in der Geschichte des schwarzen Kinos ein. 2014 legte Spike Lee unter dem Titel Da Sweet Blood of Jesus ein Remake von Ganja & Hess vor.

Einer der wahrlich stilbildenden BlaxploitationFilme. Pam Grier sinnt als Foxy Brown nach Rache für den Mord an ihrem Freund, einem Undercover-Cop. Grier war nicht nur der erste weibliche Actionstar, sondern verkörperte wohl auch die erste kompromisslose und sexuell unabhängige schwarze Frau auf der Leinwand. Damit avancierte Grier zu einem der ersten schwarzen Sexsymbole, dem Legionen von Bewunder:innen in den folgenden Jahrzehnten huldigen sollten. Foxy Brown war nicht Griers erster Film, aber zweifellos der Film, der ihren Status als Star der Popkultur begründete. Foxy Brown – und Pam Griers Leinwandfiguren ganz allgemein – können als das wichtigste Vorbild für Nola Darling in She’s Gotta Have It gelesen werden. 87 Min / Farbe / Digital HD / E/d // DREHBUCH UND REGIE Jack Hill // KAMERA Brick Marquard // MUSIK Willie Hutch // SCHNITT Chuck McClelland // MIT Pam Grier (Foxy Brown), Antonio Fargas (Link Brown), Peter Brown (Steve Elias), Terry Carter (Michael Anderson/Dalton Ford), Sid Haig (Hays), Kathryn Loder (Katherine Wall), Harry Holcombe (Richter ­ ­Fenton), Juanita Brown (Claudia), Sally Ann Stroud (Deb).

Kurztexte: Greg de Cuir Jr

WHITE LINES, BLACK MUSIC: EXPANDED Musikvideo-Performance von Greg de Cuir Jr

DO, 18. AUG. I 21.00 UHR FILMPODIUM-LOUNGE

Greg de Cuir Jr lädt zu einer audiovisuellen Performance in die Filmpodium-Lounge, zu einer Freestyle-Collage aus Filmen, Musikvideos und einer Vielzahl von Klang- und Bildfragmenten, die das «Meta Spike»-Programm aus schrägen Blickwinkeln kommentiert. Greg sampelt sich ganz in der Ästhetik des Hip-Hop online und instant durch öffentliche Archive. Er nimmt uns mit auf eine Reise durch die Medien des 20. Jahrhunderts, um so ein kritisches Verständnis unserer heutigen Position innerhalb unserer von Algorithmen bestimmten Welt zu entwickeln. Eintritt frei, Platzzahl beschränkt.


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Kinuyo Tanaka Kinuyo Tanaka war ein grandioses Paradox: Während sie in ihren vielen Rollen die unterwürfige Japanerin verkörperte, agierte sie im Leben als höchst unabhängige Frau. Sie schaffte es, in einer zutiefst patriarchalischen Gesellschaft Regisseurin zu werden, zu einer Zeit, als es weltweit nur sehr wenige Filmemacherinnen gab, und sie tat dies mit grosser Bescheidenheit, indem sie auf dem Höhepunkt ihres Ruhms als Praktikantin neu anfing. Sie arbeitete für die Studios und drehte ­Filme, die in streng genormte Genres passten, während sie Frauen­ themen auf völlig ungeschönte Art und Weise in Szene setzte. Radikal und bescheiden: Das war Kinuyo Tanaka. Kinuyo Tanaka, 1909 geboren, war schon als Kind wild entschlossen und unabhängig: Mit neun Jahren ging sie nach einer Standpauke ihrer Lehrerin von der Schule ab, und mit vierzehn trat sie in ihrem ersten Film auf. In den 1920er- und 1930er-Jahren wirkte Tanaka jährlich in mindestens zehn Produktionen des Studios mit, meist in der weiblichen Hauptrolle. Mit neunzehn war sie bereits eine «kanbu» (Hauptdarstellerin in kleineren Produktionen) und mit 25 erreichte sie «daikanbu», die höchste Stellung, die eine Schauspielerin erreichen kann. 1940 lernte Tanaka den Filmemacher kennen, für den sie sowohl Mitarbeiterin als auch Muse werden sollte: Kenji Mizoguchi. Gemeinsam schufen sie einige der wichtigsten Werke des japanischen Kinos, darunter Die Liebe der Schauspielerin Sumako (1947), Frauen der Nacht (1948), Frau Oyu (1951), Das Leben der Oharu (1952), Ugetsu (1953) und Sansho, der Landvogt (1954). In den 50er-Jahren, der blühendsten und glorreichsten Ära des japanischen Kinos, spielte Tanaka in einer schwindelerregenden Folge von Klassikern unter der Regie von Ozu, Heinosuke Gosho, Mikio Naruse und Keisuke Kinoshita. Im Alter von 42 Jahren, nachdem sie in mehr als 200 Filmen mitgespielt hatte, beschloss Tanaka, selbst als Regisseurin hinter der Kamera zu arbeiten. Diese Entscheidung war ein Meilenstein in der Geschichte der Frauen im japanischen Kino. Vor Tanaka hatte nur eine einzige Frau je bei einem japanischen Spielfilm Regie geführt: Tazuko Sakane, eine regelmässige Mitarbeiterin von Mizoguchi. Ihr Erstling Neue Kleider (1936; verschollen) war ein kommerzieller Misserfolg, und Sakane führte nie wieder bei einem Spielfilm Regie. Fast zwei Jahrzehnte lang wagte es keine Frau mehr, sich um einen Regieposten in der japanischen Filmindustrie zu bewerben. Als Tanaka dies ankündigte, wurde ihre Entscheidung mit Skepsis aufgenommen. Die 278 Spielfilme, die im Jahr 1952 in den japanischen Studios entstanden, wurden alle


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53 von Männern inszeniert. Ausserdem stand Tanaka auf dem Höhepunkt ihrer Karriere: Sie trat in mehreren Filmen pro Jahr auf und galt als die berühmteste Schauspielerin ihres Landes. Tanaka jedoch wollte sich beweisen und arbeitete bei Bruder und Schwester (1953) mit Naruse als Regieassistentin zusammen, um das Handwerk des Filmemachens zu erlernen. Vom Leinwandstar zur Regiedebütantin Im Herbst 1953 begann Tanaka mit den Dreharbeiten zu Love Letter. Die Produktion des Films wurde in der Öffentlichkeit stark beworben und geriet zu einer Mediensensation. Dass eine Starschauspielerin – deren Leinwand­ figur typischerweise gedemütigte, verletzte und leidende Weiblichkeit verkörperte – Männerkleidung anzog und ein Team von mehr als sechzig Personen leitete, war unerhört. Die sechs Filme, die Tanaka als Regisseurin gedreht hat, behandeln bedeutende gesellschaftspolitische Themen, aus einer weiblichen Perspektive erzählt und von dieser geprägt. In ihren Filmen vermeiden es die Frauen, zu Objekten des männlichen Blicks zu werden, auch wenn sie Männer begehren, und sie lehnen es ab, sich in restriktive soziale Rollen zu fügen, da sie nach Unabhängigkeit und individueller Handlungsfähigkeit streben. Mit Tiefblick und Mitgefühl kritisiert Tanaka die gesellschaftlichen Bedingungen und Kräfte, die das Ringen ihrer Heldinnen prägen: Prostitution und gesellschaftliche Schande (Love Letter, 1953), die Reduzierung der Frau auf die passive romantische Partnerin (The Moon Has Risen, 1955), Tabus im Zusammenhang mit der Sterblichkeit und dem weiblichen Körper (Forever a Woman, 1955), Kolonialpolitik (The Wandering Princess, 1960), die Rehabilitierung «gefallener Frauen» (Die Nacht der Frauen, 1961) sowie religiöse Verfolgung und verbotene Liebe (Frau Ogin, 1962). Anfang der 60er-Jahre begann der Niedergang der japanischen Filmstudios, und Tanakas Karriere folgte demselben Weg. 1974 bot Tanaka in Kei Kumais Sandakan No. 8 eine letzte beeindruckende Leistung, für die sie 1975, zwei Jahre vor ihrem Tod, bei den Berliner Filmfestspielen einen Silbernen Bären als beste Schauspielerin erhielt, ihre erste grosse internationale Auszeichnung als Schauspielerin. Lili Hinstin Lili Hinstin ist die künstlerische Leiterin des Villa Medici Film Festival und hat massgeblich zur Wiederentdeckung von Kinuyo Tanakas Werk beigetragen. Kinuyo Tanaka als Objekt der Begierde: Frau Oyu Verliebter Veteran: Love Letter Jane Austen meets Yasujiro Ozu: The Moon Has Risen


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Kinuyo Tanaka

WO SIND DIE TRÄUME DER JUGEND GEBLIEBEN? (Seishun no yume ima izuko) Japan 1932 Das Herrensöhnchen Tetsuo und seine drei weniger privilegierten Freunde schummeln sich mehr schlecht als recht durch die Uni. Alle vier verehren Shigeko (Kinuyo Tanaka), die Barista im Quartiercafé. Als sein Vater plötzlich stirbt, wird Tetsuo unversehens zum Chef der Familienfirma. Er verhilft dann zwar seinen arbeitslosen drei Freunden zu Stellen im Betrieb, indem er sie durchs Aufnahmeverfahren mogeln lässt. Als er aber pro forma ihre Einwilligung einholt, Shigeko zu heiraten, kommt es zum Konflikt. Wie andere Studentenkomödien von Ozu beginnt Wo sind die Träume der Jugend geblieben? munter und unbeschwert. Als aber Tetsuo zum Chef wird, entwickelt sich der Film zu einer tragikomischen Studie über den Konflikt zwischen Klassenhierarchie und Freundschaft, die durchaus an René Clairs À nous la liberté (1931) erinnert. Gelöst wird das Dilemma in einer der handfestesten Szenen von Ozus Werk. 92 Min / sw / 35 mm / stumm, jap Zw’titel/f/d // REGIE Yasujiro Ozu // DREHBUCH Kogo Noda // KAMERA Hideo Shigehara // SCHNITT Hideo Shigehara // MIT Ureo Egawa (Tetsuo Horino), Kinuyo Tanaka (Shige), Tatsuo Saito (Taichiro Saiki), Haruro Takeda (Kenzo Horino), Ryotaro Mizushima (Kanzo), Kenji ­Oyama (Kumada). MI, 6. JULI I 18.15 UHR LIVE-BEGLEITUNG: RICHARD OCTAVIANO KOGIMA, ZÜRICH (PIANO)

FRAU OYU (Oyu-sama) Japan 1951

ich nicht, die Szene plötzlich zu schneiden. Ich versuche, den Augenblick zu intensivieren, indem ich die Einstellung so lange anhalte. Solcherart ist der Inszenierungsstil entstanden, den man bei mir beobachten kann – weder aus bewusster Überlegung noch aus Sucht zu Neuerung.» 94 Min / sw / Digital HD / Jap/d // REGIE Kenji Mizoguchi // DREHBUCH Yoshikata Yoda, nach dem Roman «Ashikari» von Junichiro Tanizaki // KAMERA Kazuo Miyagawa // MUSIK ­Fumio Hayasaka // SCHNITT Mitsuzo Miyata // MIT Kinuyo ­Tanaka (Oyu Kayukawa), Nobuko Otawa (Shizu, Oyus Schwester), Yuji Hori (Shinnosuke Seribashi), Kiyoko Hirai (Osumi, Shinnosukes Tante), Reiko Kongo (Otsugi Kayukawa), Eijiro Yanagi (Eitaro), Eitaro Shindo (Kusaemon), Kanae Kobayashi (Kindermädchen).

LOVE LETTER (Koibumi) Japan 1953 Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hilft der Veteran Reikichi in einer Schreibstube japanischen Frauen, Liebesbriefe an heimgekehrte amerikanische GIs zu schreiben. Er selbst durchstreift die Strassen des geschäftigen Nachkriegs-Tokio auf der Suche nach seiner Jugendliebe Michiko, die einst einen andern geheiratet hat. Als Michiko selbst als Kundin in der Schreibstube auftaucht, bricht für Reikichi eine Welt zusammen. Tanakas erster Film als Regisseurin beruht auf einem Drehbuch von Keisuke Kinoshita, für den sie oft vor der Kamera stand. Anderthalb Jahre nach dem Ende der amerikanischen Besetzung erschienen, zählte dieses Drama um Ideale und Realität, Schuld und Versöhnung zu den ersten Filmen, die sich mit den lange tabuisierten Beziehungen zwischen GIs und Japanerinnen auseinandersetzten. 98 Min / sw / DCP / Jap/e // REGIE Kinuyo Tanaka // DREH-

Der junge Shinnosuke soll endlich heiraten, doch als mit Shizu eine weitere Kandidatin zu Besuch kommt, verliebt er sich in deren elegante Schwester Oyu (Kinuyo Tanaka). Diese darf als Witwe und Mutter nicht mehr heiraten, weil die Tradition will, dass sie bei ihrer Schwiegerfamilie bleibt. Shizu willigt schliesslich ein, Shinnosuke zu heiraten, damit er Oyu fortan nahe ist und sie glücklich machen kann. Doch Shizus selbstloser Akt führt zu Frustration und Unheil. Die Geschichte einer Liebe zu dritt, extrem stilisiert und gleichzeitig extrem realistisch. Über die lange Einstellung, in der das Liebesdreieck endgültig aus den Fugen gerät, sagte Mizoguchi: «Wenn im Ablauf einer Szene mit sich steigernder Dichte ein psychischer ‹Akkord› auftritt, vermag

BUCH Keisuke Kinoshita, nach einem Roman von Fumio Niwa // KAMERA Hiroshi Suzuki // MUSIK Ichiro Saito // SCHNITT Toshio Goto // MIT Masayuki Mori (Reikichi Mayumi), Yoshiko Kuga (Michiko Kubota), Jukichi Uno (Naoto Yamaji), Juzo Dosan (Hiroshi), Shizue Natsukawa (Reikichis Mutter), ­ ­Kinuyo Tanaka (Vermieterin).

EINE FRAU, VON DER MAN SPRICHT (Uwasa no onna) Japan 1954 Im Kyoto der 1950er-Jahre führt die verwitwete Hatsuko (Kinuyo Tanaka) ein beliebtes GeishaHaus. Ihre Tochter Yukiko hat sich von der Mutter und deren anrüchigem Geschäft distanziert. Nach


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Kinuyo Tanaka einem Selbstmordversuch aus Liebeskummer sucht Yukiko dennoch bei Hatsuko Zuflucht. Während sie anfängt, für die Geishas Verständnis zu entwickeln, verliebt sie sich in einen jungen Arzt, mit dem aber auch ihre Mutter ein neues Leben anfangen will. «Wie sonst nur Stroheim und Bergman hat ­Mizoguchi registriert, was den Frauen in einer männlichen Gesellschaft widerfährt: heimliche Pervertierung und krasse Gewalt. Frauen schenken in seinen Filmen Männern das reinste Glück, das diese mutwillig zerstören.» (Gregor/Patalas: Die Geschichte des Films, Bertelsmann 1973) 84 Min / sw / Digital HD / Jap/e // REGIE Kenji Mizoguchi // DREHBUCH Yoshikata Yoda, Masashige Narusawa // KAMERA Kazuo Miyagawa // MUSIK Toshiro Mayuzumi // SCHNITT Kanji Sugawara // MIT Yoshiko Kuga (Yukiko Mabuchi), Kinuyo ­Tanaka (Hatsuko Mabuchi, ihre Mutter), Eitaro Shindo ­(Yasuichi Harada), Tomoemon Otani (Kenji Matoba, der Arzt), Bontaro Miake (Kobayashi), Haruo Tanaka (Kawamoto), Hisao Toake (Yamada), Chieko Naniwa (Osaki), Teruyo Hasegawa (­ Kirasagi Dayu), Teruko Daimi (Onoue Dayu), Sachiko Mine (Chiyo).

FOREVER A WOMAN (Chibusa yo eien nare) Japan 1955

THE MOON HAS RISEN (Tsuki wa noborinu) Japan 1955 Der verwitwete Mokichi ist der gutmütige Vater dreier Töchter im heiratsfähigen Alter, die in seinem Haus in Japans alter Hauptstadt Nara leben. Die jüngste, Setsuko, merkt, dass der nach Tokio abgewanderte Ingenieur Amamiya offenbar eine Schwäche für ihre mittlere Schwester Ayako hat. Setsuko überredet ihren Freund Shoji, ihr zu helfen, die beiden zu verkuppeln. Dieses komplizierte Unterfangen belastet allmählich allerdings ihre eigene Beziehung zu Shoji. In dieser charmanten Romantic Comedy vermählt sich Jane Austen mit Yasujiro Ozu: Tanaka durfte mit Ozus Segen eines seiner nie verfilmten Drehbücher in Szene setzen, verschob den Fokus aber vom Vater, der seine Töchter ungern verliert, auf die jungen Frauen, die im engen Sittenkorsett der traditionellen japanischen Familie Mühe haben, zu ihrem Glück zu finden. Wie Emma Woodhouse glaubt Setsuko, die Herzen anderer Menschen besser zu kennen als diese selbst, und ihr Ungestüm prallt auf ungeahnten Widerstand. 102 Min / sw / DCP / Jap/e // REGIE Kinuyo Tanaka // DREHBUCH Yasujiro Ozu, Ryosuke Saito // KAMERA Shigeyoshi

Fumiko, Ehefrau und Mutter zweier Kinder, stellt fest, dass ihr Mann sie betrügt, und verlässt ihn; der Sohn wird dem Vater zugesprochen, Fumiko bleibt nur ihre Tochter. Trost findet sie in einem literarischen Zirkel, wo auch ihre eigenen Gedichte geschätzt werden, vor allem vom verheirateten Hori, in den sie sich verliebt. Er verhilft ihren Werken auch zur Veröffentlichung, und bald geniesst sie als Poetin einige Anerkennung. Doch dann erkrankt Fumiko an Brustkrebs und muss sich einer Mastektomie unterziehen. Ausgerechnet im Krankenhaus findet sie eine neue Liebe. Gleich doppelt ungewöhnlich ist Tanakas Verfilmung der Autobiografie der Dichterin Fumiko Nakajo: sowohl als Geschichte einer Hausfrau, die aus einer zerrütteten Ehe ausbricht und als Dichterin reüssiert, als auch als Drama um Brustkrebs, eine Frauenkrankheit, von der in den 50erJahren noch kaum offen gesprochen wurde, die Nakajo aber kühn in ihren Gedichten thematisierte. 106 Min / sw / DCP / Jap/e // REGIE Kinuyo Tanaka // DREHBUCH Sumie Tanaka, nach einem Buch von Akira Wakatsuki, Fumiko Nakajo // KAMERA Kumenobu Fujioka // MUSIK ­Takanobu Saito // SCHNITT Tadashi Nakamura // MIT Yumeji Tsukioka (Fumiko Shimojo), Ryoji Hayama (Akira Otsuki), ­Junkichi Orimoto (Shigeru Anzai), Hiroko Kawasaki (Tatsuko), Shiro Osaka (Yoshio), Toru Abe (Yamagami), Masayuki Mori (Hori), Yoko Sugi (Kinuko), Kinuyo Tanaka (Frau des Nachbarn).

Mine // MUSIK Takanobu Saito // SCHNITT Mitsuo Kondo // MIT Chishu Ryu (Mokichi Asai), Shuji Sano (Shunsuke T ­ akasu), Hisako Yamane (Chizuru Asai), Yoko Sugi (Ayako), Mie Kitahara (Setsuko), Ko Mishima (Wataru Amamiya), Shoji ­ ­Yasui (Shoji Yasui), Kinuyo Tanaka (Yoneya, Bedienstete der Familie Asai).

DIE BALLADE VON NARAYAMA (Narayama bushiko) Japan 1958 Am Narayama ist es Brauch, dass sich die Alten mit 70 Jahren auf den Berg zurückziehen und dort sterben, um die knappen Nahrungsmittel den jüngeren Generationen zu überlassen. Grossmutter Orin (Kinuyo Tanaka) will vor ihrem 70. Geburtstag die Geschicke ihrer Kinder und Kindeskinder regeln, um dann gelassen ihrem Schicksal entgegenzugehen. Ihr Sohn Tatsuhei aber tut sich schwer damit. «Zum Faszinierenden und Zeitlosen in dieser im besten Sinn eigenwilligen Verfilmung (der Novelle von Shichiro Fukazawa) gehört das Spiel mit der Künstlichkeit, die den Realismus betont meidet. Die Anlehnung ans Theater ist unübersehbar, gleichzeitig nutzt Kinoshita die Mittel des Kinos, mit denen er den Bühnenraum durchbricht und einzelne Szenen grandios auseinander hervorgehen lässt, fliessend, als wechsle er einfach den


> Frau Ogin.

> Die Ballade von Narayama.

> Forever a Woman.

> Eine Frau, von der man spricht.

> Die Nacht der Frauen.


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Kinuyo Tanaka Bühnenraum. Das Ganze ist in breitem Cinemascope gedreht und damit noch einmal in einer die Künstlichkeit unterstreichenden Form. Ein Film, der die Natur hereinholt in den Kunstraum – und damit umso stärker wirken lässt.» (Walter Ruggle, trigon-film.org) 98 Min / Farbe / DCP / Jap/d/f // REGIE Keisuke Kinoshita // DREHBUCH Keisuke Kinoshita, nach Geschichten von Shichiro Fukazawa // KAMERA Hiroshi Kusuda // MUSIK Chuji ­Kinoshita, Matsunosuke Nozawa // SCHNITT Yoshi Sugihara // MIT Kinuyo Tanaka (Orin), Teiji Takahashi (Tatsuhei), Yuko Mochizuki (Tamayan), Danko Ichikawa (Kesakichi), Seiji ­Miyaguchi (Mata-yan), Keiko Ogasawara (Matsu-yan).

THE WANDERING PRINCESS (Ruten no ohi) Japan 1960

­ uniko nach einem Aufenthalt in einem RehabiliK tationszentrum gezwungen, in ein «ehrbares» Gewerbe zu wechseln. In Tokio kann sie bei einem Lebensmittelladen arbeiten, doch als ihre Vergangenheit ruchbar wird, sehen Nachbarn und Kunden sie mit anderen Augen an. Tanaka, die selbst häufig in Filmen von Männern Prostituierte verkörpert hatte, wirft hier einen dezidiert weiblichen und zeitkritischen ­ Blick auf die Thematik. Noch schärfer als in Love Letter stellt sie die scheinheilige Doppelmoral der Gesellschaft bloss, welche die Prostituierten ­dafür brandmarkt, was ihnen die Männer aufzwingen. 93 Min / sw / DCP / Jap/d // REGIE Kinuyo Tanaka // DREHBUCH Sumie Tanaka, nach einem Roman von Masako Yana // KAMERA Asakazu Nakai // MUSIK Hikaru Hayashi // MIT Hisako Hara (Kuniko), Akemi Kita (Chieko), Chieko Seki

Der letzte chinesische Kaiser Puyi regierte als Marionette der Japaner im Vasallenstaat Mandschukuo in der Mandschurei. Zur Stärkung der ­diplomatischen Bande wurde die japanische Adelstochter Hiroko Aiishinkakura mit Puyis ­Bruder, einem Offizier der japanischen Armee, vermählt. In Kinuyo Tanakas leicht fiktionalisierter Verfilmung von Aiishinkakuras Autobiografie heiratet Ryuko den Bruder des Kaisers nur ungern, verliebt sich dann aber in ihn, da er zwar ­Offizier der japanischen Armee ist, aber zugleich sehr feinfühlig. Doch die Manipulationen des faschistischen japanischen Militärs und der Einmarsch der Sowjets in der Mandschurei stürzen Ryuko und ihre kaiserliche Familie in eine Notlage nach der anderen. Eine solche Grossproduktion in Cinemascope und Farbe mit vielen Kostümen und Actionszenen war ein abrupter Stilwechsel für Tanaka, doch sie meisterte diese handwerkliche Herausforderung souverän. Inmitten der historischen Umwälzungen im Film behauptet sich auch Machiko Kyo in der Titelrolle. 102 Min / Farbe / DCP / Jap/e // REGIE Kinuyo Tanaka // DREHBUCH Natto Wada, nach der Autobiografie von Hiroko Aiishinkakura // KAMERA Kimio Watanabe // MUSIK Chuji ­Kinoshita // SCHNITT Isao Natori // MIT Machiko Kyo (Ryuko Korinkakura), Eiji Funakoshi (Futetsu), Atsuko Kindaichi ­(Kaiserin Wan Rong), Chieko Higashiyama (Nao Sugawara), Sadako Sawamura (Kazuko Sugawara), Yuko Yashio (Asa), Mitsuko Mito (Izumi), Shozo Nanbu (Ryukos Vater).

(Oyuki), Masumi Harukawa (Harada), Sadako Sawamura ­ ­(Kitamura), Chikage Awashima (Nogami), Fumiko Okamura (Okada), Chieko Nakakita (Yoshi Takagi).

FRAU OGIN (Ogin-sama) Japan 1962 Tanakas letzter Film spielt im 16. Jahrhundert, als sich Japans Feudalherren gegen die zunehmende Christianisierung zur Wehr setzen. Ogin, die Stieftochter des berühmten Teemeisters ­Rikyu, ist verliebt in den verheirateten christlichen Samurai Ukon Takayama. Dieser weist ihren Antrag ab, weil er seinen Glauben nicht verraten will, und befiehlt ihr, den Kaufmann Mozuya zu heiraten. Dieser weiss von Ogins Gefühlen für Ukon und stellt den beiden eine Falle, um sie beim Ehebruch zu ertappen und Ogin dann zu erpressen. Für Tanakas letzte tragische Heldin sind die Gebote des christlichen Glaubens neben dem streng patriarchalischen System ein weiteres Hindernis für die Selbstverwirklichung der Frau. Vor die Wahl gestellt, sich einem Feudalherrn sexuell zu unterwerfen oder als Ehebrecherin gekreuzigt zu werden, entscheidet sich Ogin für den einzigen selbstbestimmten Ausweg. 102 Min / Farbe / DCP / Jap/d // REGIE Kinuyo Tanaka // DREHBUCH Masashige Narusawa, nach dem Roman ­«Ogin-sama» von Toko Kon // KAMERA Yoshio Miyajima // MUSIK Hikaru Hayashi // SCHNITT Hisashi Sagara // MIT ­Ineko Arima (Gin), Tatsuya Nakadai (Ukon Takayama), Ganjiro ­Nakamura (Rikyu), Mieko Takamine (Riki), Osamu Takizawa

DIE NACHT DER FRAUEN (Onna bakari no yoru) Japan 1961 Nach dem Verbot der Prostitution in Japan im Jahre 1956 sieht sich die junge Sexarbeiterin

(Hideyoshi Toyotomi), Koji Nanbara (Mitsunari Ishida), ­Manami Fuji (Uno), Yumeji Tsukioka (Yodo Gimi).

Kurztexte wo nicht anders vermerkt: mb


58

Women Make Film: A New Road Movie Through Cinema Teil 1+2 «Die Filmindustrie ist sexistisch durch Unterlassung, sie ist ein Männerclub», verrät Tilda Swinton gleich zu Beginn von Women Make Film. Der nord­ irische Dokumentarfilmer und Autor Mark Cousins hat nun ein 14-stündiges Werk geschaffen, das sich nur mit Filmen von Frauen beschäftigt, um diesen weitgehend übersehenen Teil der Filmgeschichte ans Licht zu bringen und zu würdigen. Als Organisationsprinzip dieses epischen Roadmovies dienen 40 Kapitel, in denen Fragen zum Filmemachen gestellt werden, etwa zu Filmanfängen, Schnitt, Close-ups, zu Filmgenres und zu Themen wie Liebe, Arbeit und Tod. Die Antworten illustriert Cousins mit mehr als 500 ausgewählten Filmbeispielen von über 180 Regisseurinnen aus aller Welt, von der Stummfilmzeit bis zur Gegenwart. (Filmübersicht unter: womenmakefilm.net) Viele bekannte Namen sind dabei, aber es gibt auch zahlreiche ver­ gessene Regisseurinnen zu entdecken. Neben Swinton führen uns Adjoa ­Andoh, Jane Fonda, Kerry Fox, Thandie Newton, Sharmila Tagore und D ­ ebra Winger durch die grossen filmischen Errungenschaften von Frauen. (th) Women Make Film ist in fünf Teile gegliedert; wir zeigen sie bis Ende 2022, wobei jeder Teil für sich a ­ lleine funktioniert. Im aktuellen Programm gibt es folgende Filme aus Women Make Film (erneut) zu entdecken: Kinuyo Tanaka (ganze Reihe, ab S. 51), Barbara Kopples Harlan County U.S.A. (S. 25), Ursula Meiers Home (S. 31), Maren Ades Toni Erdmann (S. 34) sowie Jane Campions The Piano (S. 27) und Ildikó Enyedis On Body and Soul (S. 34), beide in Women Make Film, Teil 5.

WOMEN MAKE FILM: A NEW ROAD MOVIE THROUGH CINEMA TEIL 1 GB 2018 In Teil 1 (Kapitel 1–8) thematisiert Cousins Filmanfänge und Glaubwürdigkeit, er zeigt, wie Figuren eingeführt und Gespräche gefilmt werden, und endet mit dem Kapitel über Kamerafahrten.

TEIL 2 GB 2018 In Teil 2 (Kapitel 9–17) zeigt Cousins, wie das «Staging» vorgenommen wird, wie Figuren im Film auf Reisen gehen bzw. geschickt werden, wie Ökonomie in der filmischen Bildsprache funktioniert; er beschäftigt sich mit der Beziehung Erwachsene:r/Kind, behandelt den Schnitt und die subjektive Kameraeinstellung und endet bei den Träumen. 178 Min / Farbe + sw / DCP / OV/d // DREHBUCH UND REGIE Mark Cousins // SCHNITT Timo Langer // TEIL 1: MIT Tilda Swinton (Erzählerin); TEIL 2: MIT Tilda Swinton, Jane Fonda, Adjoa Andoh, Sharmila Tagore (Erzählerinnen).


59 Filmpodium für Kinder

Mirai – Das Mädchen aus der Zukunft Für den kleinen Kun ist die Welt in Ordnung. Doch als seine Schwester Mirai geboren wird, ist sie der neue Mittelpunkt der Familie. In Kun wächst die Eifersucht. Als Kun eines Tages im Garten spielt, wird er in eine fantastische Welt katapultiert. Dort verschmelzen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er begegnet seinen Eltern, seinen Grosseltern und der kleinen Schwester Mirai in verschiedenen Lebensaltern. Durch diese Abenteuer gelingt es ihm, seine neue Rolle als grosser Bruder zu finden. (pm)

MIRAI – DAS MÄDCHEN AUS DER ZUKUNFT (Mirai no Mirai) / Japan 2018 98 Min / Farbe / DCP / D / ab 6 // DREHBUCH UND REGIE Mamoru Hosoda // MUSIK Masakatsu Tagaki, Tatsuro Yamashita // SCHNITT Shigeru Nishiyama // MIT DEN DEUTSCHEN STIMMEN VON Julia Meynen (Mirai), Peggy Pollow (Kun), Linus Drews (Kun als Jugendlicher), Fabian Oscar Wien (Kuns Vater), Nadine Heidenreich (Kuns Mutter), Moira May (Kuns Mutter, jung), Anja Rybiczka (Mirai als Kleinkind), Florian Clyde (Yukko), Nina Herting (Kuns Grossmutter), Hans Bayer (Kuns Grossvater), Matti Klemm (Urgrossvater), Fritz Rott (Bahnhofsroboter). Altersfreigabe: Zutritt ab 6 Jahren (Begleitung durch Erwachsene generell empfohlen). Kinderfilm-Workshop Im Anschluss an die beiden Vorstellungen vom 3. und 17. September bietet das Filmpodium einen Film-Workshop für ­Kinder unter der Leitung der Filmwissenschaftlerin Julia Breddermann an (ca. 30 Min., gratis, keine Voranmeldung nötig). Die Kinder erleben eine Entdeckungsreise durch die Welt der Filmsprache und werden an einzelne Szenen und Themen des Films herangeführt.


60 MI, 14. SEPT. | 19.00 UHR

BUCHVERNISSAGE

PETER LIECHTI. PERSONAL CINEMA

144

[2]

Der Filmemacher und Autor Peter Liechti

(Film-)Sprache:

(1951–2014)

gleichzeitig spielerisch nähert sie sich aus

war

ein

herausragender

Formal

stringent

und

Schwei­zer Künstler. Ein Virtuose der Wort-

unterschiedlichen

und Bildkomposition, der scharf denkend

Werk. Gleichzeitig werden ausgewählte

und humorvoll Menschen, Orte und Land-

Texte sowie Bilder, Fotos und Fundstücke

schaften befragte und dabei stets seine

aus dem Nachlass von Peter Liechti zum

künstlerische Unabhängigkeit verteidigte.

­ersten Mal veröffentlicht.

Blickwinkeln

seinem

Sein radikal subjektives Schaffen, mutig

Zur Vernissage des Buchs organisiert

und zumutend zugleich, wurde weit über

das Filmpodium Zürich einen Abend zu

die Grenzen der Schweiz hinaus rezipiert

Ehren Peter Liechtis. Neben einer Lesung

und vielfach ausgezeichnet. Jetzt erscheint

und e ­iner Diskussion wird der filmische

die erste Monografie über den Filme­

Essay Ausflug ins Gebirg gezeigt. Mit

macher. Das Filmpodium und der Verlag

dem 30-minütigen «Antiheimatfilm» (Ta-

Scheidegger & Spiess laden zur Vernissage

ges-Anzeiger) wurde Peter Liechti 1985

mit Gästen.

einem breiten Publikum bekannt. Spezieller Gast des Abends ist die Schriftstellerin Anke

Der Sammelband «Peter Liechti. Personal

Stelling, die einen Beitrag in der Monografie

Cinema» liefert einen Überblick über Liech-

verfasst hat und Passagen aus dem Buch

tis Gesamtwerk: Er weitet den Blick über

liest. Die Herausgeber Hannes Brühwiler

das filmische Universum hinaus auf seine

und David Wegmüller sowie weitere Gäste

­literarische und künstlerische Arbeit und

werden in die Publikation einführen. Im

situiert diese im internationalen Kontext. ­

Anschluss an die Veranstaltung findet ein

Mit einer offen essayistischen Herange-

Apéro statt.

hensweise tritt die internationale Autorenschaft in Dialog mit Peter Liechtis eigener

David Wegmüller


61 IMPRESSUM

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS

in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Nicole Reinhard (nr), STV. LEITUNG Michel Bodmer (mb) WISSENSCHAFTLICHE MITARBEIT Tanja Hanhart (th), Primo Mazzoni (pm), Flurina Gutmann SEKRETARIAT Claudia Brändle BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 412 31 25 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 415 33 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: Bankside Films, London; Saskia Boddeke & Peter Greenaway, Amsterdam; Robert Boner, Crissier; British Film Institute, London; Carlotta Films, Paris; Charades, Paris; Contemporary Films, London; Crunchyroll, Berlin; Dogwoof Global, London; Dschoint Ventschr, Zürich; George Eastman Museum, Rochester; Filmconfect GmbH, Potsdam; Filmcoopi, Zürich; Films Boutique, Berlin; Adriano Gloor, Weiningen; Jürg Hassler, Zürich; IndieCollect, New York; Janus Films, New York; Kinemathek Le Bon Film, Basel; Kino Lorber, New York; Library of Congress, Culpeper; Outside the Box, Lausanne; Pandastorm Pictures, Berlin; Park Circus, Glasgow; Praesens-Film, Zürich; Rommel Film, Berlin; Shochiku International, Tokio; Studiocanal, Berlin; TF1, Paris; trigon-film, Ennetbaden; Universal Pictures International, Zürich; Urban Group, Paris; Videoladen, Zürich; Warner Bros. Entertainment Switzerland GmbH, Zürich; Wazabi Films, Montréal. DATABASE PUBLISHING BITBEE Solutions AG, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS, Zürich // KORREKTORAT Nina Haueter, Daliah Kohn // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 6000 ABONNEMENTE & VERGÜNSTIGUNGEN Filmpodium-Generalabonnement: CHF 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halbtaxabonnement: CHF 80.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // alle unter 25 Jahre & Kulturlegi: CHF 9.– // Sommer-Abo: CHF 95.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen vom 1.7.–27.9.22) // Abonnement Programmheft: CHF 20.–, Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

VORSCHAU OKTOBER/NOVEMBER Douglas Sirk

Female Horror!

Douglas Sirks bekannteste Melodramen der

Julia Ducournau hat mit ihrem furiosen Body-

1950er-Jahre wie Imitation of Life oder All

Horror-Film Titane 2021 als zweite Frau

That Heaven Allows behandeln unter ihrer ge-

überhaupt in Cannes die Goldene Palme ge-

fälligen Oberfläche brisante Themen wie

holt. Es ist offensichtlich: Frauen erobern im

Rassismus und die Klassengesellschaft.

Eiltempo ein Genre, das Männern vorbehal-

Überhaupt behielt der der 1897 als Detlef

ten war – den Horrorfilm. Was passiert, wenn

Sierck geborene Cineast in Hollywood seinen

Autorinnen das «Final Girl» in den Kampf mit

oft kritischen Aussenblick, was die Cineasten

dem Bösen schicken? Mit wel­chen Themen

der Nouvelle Vague und des Neuen deut-

und Kniffen lehren uns Regisseurinnen das

schen Films würdigten. Unsere Auswahl aus

Fürchten? Wir präsentieren die aufregends-

der Retrospektive von Bernard E ­ isenschitz

ten Frauen-Horrorfilme der letzten Jahre

und Roberto Turigliatto am diesjährigen

und wagen einen Blick in die Filmgeschichte

­Locarno Film Festival spannt den Bogen von

mit feministischer Horror-Sexploitation von

Siercks UFA-Anfängen bis zu Sirks Blütezeit

Stephanie Rothman oder Vampirfilmen von

in Hollywood.

Kathryn Bigelow und Claire Denis.


re Premie iv xklus Jet zt e bei

WHITE BUILDING K AV IC H N E A NG • K A M BOD S CHA

«In vielfacher Hinsicht ein Symbol für die facettenreiche Geschichte des Landes und seiner Gesellschaft.» FILM-REZENSIONEN.DE

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