Filmpodium Programmheft Juli/August/September 2015 / Programme issue july/aug/sept 2015

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1. Juli – 20. September 2015

Joan Crawford/Bette Davis Hayao Miyazaki


SOMMERFRISCHE

MR. N A L P A K EC ÁLVARO BR

HNER UR UG

STAR AN NA M E LI KIAN

R USS LAN D

AB 16. JULI IM KINO

AB 20. AUGUST IM KINO

www.trigon-film.org – 056 430 12 30

UAY


01 Editorial

Das Bessere und das Gute «Das Bessere ist des Guten Feind», besagt ein Sprichwort, das einigen Mitgliedern unseres Publikums angesichts der neuen Filmpodium-Website wohl aus dem Herzen sprach. Unhandlich sei die neue Präsentation, insbesondere wenn man nur wissen wolle, welche Filme heute und morgen liefen, bemängelten Einzelne. Manche Informationen seien nicht auf den ersten Blick erkennbar, sondern müssten mit weiteren Klicks aufgespürt werden. Auch fehle online eine tabellarische Übersicht, wie sie zuoberst auf dem Spielplan-Leporello zu sehen ist. Selbst jene, die sich über die vielen ansprechenden Fotos freuten, taten sich schwer mit dem langsamen Laden der Seite, das durch die vielen Bildinformationen verursacht wird. Diese und andere Rückmeldungen haben wir in den letzten Wochen ­gesammelt, und manche Kritikpunkte wurden (und werden) bei der Fein­ einstellung der Website berücksichtigt. Das Abwägen zwischen inhaltlichen Wünschen und technischen Möglichkeiten, Grenzen der Übertragungsgeschwindigkeit und budgetären Einschränkungen ist ein laufender Prozess, so dass der Online-Auftritt des Filmpodiums – wie jede andere Website auch – ein «work in progress» bleibt. Der überwiegende Teil des Feedbacks war allerdings schon jetzt positiv. Man lobt die offene, helle und in jeder Hinsicht farbige Darstellung, und nach kurzer Eingewöhnung gelingt es den allermeisten, die gewünschten Informationen schnell zu finden. Dieses Echo freut uns, und wir hoffen, dass die Neugestaltung somit dazu beiträgt, mit dem Programm noch mehr Publikum anzuziehen und zu begeistern. Eins ist jedoch klar: Wie schon im letzten Editorial bekräftigt, wird es das altbekannte und von vielen sehr geschätzte Programmheft samt Leporello weiterhin geben (und man kann es sogar in elektronischer Form auf der Website herunterladen). Die Website ist nicht als Ersatz für das Gedruckte gedacht, sondern als dessen Ergänzung – und umgekehrt: Wer gewisse Darstellungsformen in der Print-Version bevorzugt, kann und soll diese weiterhin nutzen, während die Website mit anderen Annehmlichkeiten lockt. Es geht also nicht darum, das Gute durch das Bessere zu ersetzen, sondern vielmehr, dass Sie «the best of both worlds» nutzen können. Und so hoffen wir, dass Sie unser vielseitiges Programmangebot der kommenden Sommermonate eingehend erkunden werden, ob in Druckform oder digital, und so oder so daran Gefallen finden. Corinne Siegrist-Oboussier & Michel Bodmer Titelbild: Dreharbeiten zu What Ever Happened to Baby Jane? (Robert Aldrich, 1962)


02 INHALT

Joan Crawford/Bette Davis

04

Hayao Miyazaki

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Sowohl Joan Crawford wie auch Bette Davis gelten als Inbegriff der Hollywood-Diva. Beide entwickelten sich im Laufe ihrer schauspielerischen Karrieren allmählich zu Ikonen – und schliesslich zu Karikaturen ihrer selbst. Ihr schillernder Ruf wurde nicht zuletzt genährt durch eine jahrzehntelange Rivalität, die von den Medien zelebriert und aufgebauscht wurde. Nur in einem einzigen Film (What Ever Happened to Baby Jane?) prallten die beiden monstres sacrés vor der Kamera aufeinander. Unsere Filmreihe zeigt, was Crawford und Davis gemein hatten und wie sich diese beiden grossen Schauspielerinnen unterschiedlich profilierten. Neben unverzichtbaren Klassikern gibt es auch selten gezeigte Frühwerke zu entdecken.

Im vergangenen Jahr hat sich der japanische Anime-Meister und Mit­ begründer der berühmten Ghibli-Studios, Hayao Miyazaki, mit seinem, nach eigener Aussage letzten Film The Wind Rises in den Ruhestand verabschiedet. Zeit, endlich einmal sein in der Deutschschweiz selten gezeigtes Werk und gleichzeitig das zum Teil noch immer als reiner Kinderfilm belächelte Genre des Animationsfilms mit der verdienten Sorgfalt zu wür­ digen. Dabei kommen sämtliche 14 Langfilme, bei denen Hayao Miya­ zaki für die Regie und/oder das Drehbuch verantwortlich zeichnet, zur Aufführung, in der japanischen Originalfassung mit deutschen Untertiteln. Zwei Titel laufen zusätzlich auf Deutsch im «Filmpodium für Kinder» (siehe nebenan).

Bild: Possessed

Bild: My Neighbor Totoro


03

Das erste Jahrhundert des Films: 1965 & 1975

26

Zwei Jahre voller filmischer Höhenflüge: 50-jährige Kassen- wie Pub­ likumserfolge (Doctor Zhivago, The Sound of Music), Nouvelle-VagueMeilensteine (Pierrot le fou) oder ­Albtraumklassiker (Repulsion), dazu 40-jährige Abstecher ins Mittelalter (Monty Python and the Holy Grail), ins 18. Jahrhundert (Barry Lyndon) oder in die letzten Tage des italienischen Faschismus (Salò).

Sommerpremieren

40

Métamorphoses verlegt Ovids griechisch-römische Sagen in die französische Gegenwart, während At Home einen kritischen Blick aufs heutige ­ Griechenland wirft. Von Leben und Sterben, Lieben und Hassen in Japan erzählt Still the Water, und Jahrgang 45 schildert den Traum von Ausbruch aus dem Ostberlin von 1965. In The Optimists bleiben lebensfrohe Greisinnen am Ball. Bild: Métamorphoses

Bild: Monty Python and the Holy Grail

Filmpodium für Kinder Christian Schocher

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Christian Schocher, Filmemacher war ein Geheimtipp der vergangenen Solothurner Filmtage. Nun kommt der Film über den eigenwilligen Bündner ins Kino, begleitet von einer längst fälligen Retrospektive mit den grossen Filmen von Christian Schocher, allen voran dem legendären Reisender Krieger.

2x Miyazaki: Das Schloss im Himmel & Chihiros Reise ins Zauberland (Spirited Away)


4


05 Joan Crawford/Bette Davis

Zwischen Kunst und Karikatur Ende des ersten Filmjahrhunderts gehörten beide noch zu den zehn beliebtesten Schauspielerinnen der USA. Heute sind die einstigen Mega-Stars jüngeren Generationen kaum noch ein Begriff. Dabei prägten Joan Crawford und Bette Davis als Rollenmodell der modernen Frau das Selbstbewusstsein einer ganzen Generation. Joan Crawford und Bette Davis gehören zu einer Spezies, die heute ausgestorben ist: den monstres sacrés, deren Ruhm nicht automatisch mit ihrer Jugend und ihrem Aussehen verschwand, sondern im Alter noch einmal ganz eigene Züge annahm – wenn auch vielleicht nicht unbedingt so, wie sie es sich gewünscht hätten. Doch beide waren überlebensgrosse Diven, ihr berufsbedingter Exhibitionismus verlangte Öffentlichkeit, besser eine negative als gar keine. Aber immerhin machte Hollywood damals noch Filme für Frauen über 50 – wie schräge auch immer –, die nicht nur nach gebotoxten Untoten verlangten. Vom leichten Mädchen zum Mannweib Vor allem Joan Crawford (1905 –1977), die mit ihrer herben Schönheit – muskulösen Schultern, klassischen, gemeisselten Zügen unter markanten Brauen, breitem roten Mund – auf der Leinwand gerne als entschlossene, ambitionierte Kämpferin auftrat, wurde von ihrem späten Ruf als alte HorrorQueen postum auf üble Weise eingeholt. Ein Jahr nach ihrem Tod veröffentlichte ihre Adoptivtochter Christina «Mommie Dearest», eine Abrechnung mit der Mutter, die das monstre sacré des Kinos zum realen Monster im Privatleben umdeutete: Ein alkoholisches Wrack, zerfressen von Eitelkeit und Ehrgeiz, habe sie ihre fünf Kinder nur aus Imagegründen adoptiert. Die Verfilmung von «Mommie Dearest» mit einer überkandidelten Faye Dunaway als Rabenmutter warf einen langen Schatten auf Crawfords grosse Karriere. Der Film und sein wohlfeiles Objekt der Verachtung sind mittlerweile Kult – paradoxerweise auch in ihrer Fangemeinde aus der Camp- und Trash-Szene. Besonders die Gay Community verehrt Crawford als Stilikone und Trendsetterin, eine schillernde Gestalt zwischen Überfrau und Mannweib. Doch ihr Stellenwert gründet nicht auf diesem beschränkten Verdienst.

>

Nur im Film die geplagte Mutter: Joan Crawford in Mildred Pierce < Rivalinnen als Schwestern: Davis und Crawford in What Ever Happened to Baby Jane?

<

Selbstbespiegelung einer reifen Schauspielerin: Davis in All About Eve


06 Dass sie ausgerechnet in jenem Film das Opfer spielen durfte, der sie 1962 mit ihrer angeblichen Nemesis Bette Davis zusammenbrachte, ist eine List der Ironie. What Ever Happened to Baby Jane?, Robert Aldrichs feixende Karikatur von der ewigen Stutenbissigkeit weiblicher Konkurrenz, war mit Crawford/ Davis raffiniert besetzt: Zwei abgetakelte Schauspielerinnen spielen den brutalen Schwesternkampf zweier abgetakelter Schauspielerinnen. Dass aber Baby Jane zu mehr als einer Camp-Fussnote der filmgeschichtlichen Zickenlegenden wurde, geht nicht allein auf das Konto des strategischen Castings. Die beiden zertrümmerten zwar mit Gusto – oder auch nur mit dem Mut der Verzweifelten – jeden Rest von Glamour-Image. Doch transzendierten sie mit den Leistungen, die ihnen als Schauspielerinnen, nicht als blossgestellte Celebrities abverlangt wurden, das ganze Grand-Guignol des schrillen PsychoHorrors mindestens teilweise. Joan Crawford füllte dabei den leiseren Part mit jener Stärke, die sie in ihren Paraderollen der dreissiger und vierziger Jahre zeigte (nachdem sie die lebenslustigen und bereits sehr selbstbewussten Revue-Girls abgelegt hatte): Arbeiterinnen und Verkäuferinnen, die sich in Krisen und Krisenzeiten zu bewähren hatten; «leichte Mädchen», sogar Prostituierte, in Hollywood später ein No-Go; Frauen, die verzweifelt oder mit Ehrgeiz den sozialen Aufstieg schafften; Frauen, die sich mehr an männlicher Skrupellosigkeit als an weiblicher Zurückhaltung orientierten; Unternehmerinnen mit eisernem Willen, wie Vienna im Western Johnny Guitar. Oder wie in Mildred Pierce (1945), Crawfords Oscar-gekrönter Titelrolle in einer harten, unsentimentalen Tellerwäscher-Story nach einem Roman des Noir-Autors James M. Cain. Die Newcomerin Ann Blyth in der Rolle von Mildred Pierces Tochter war übrigens des Lobes voll über die Zusammenarbeit mit Crawford, die sie in allen Bereichen liebevoll unterstützt habe. Schade für die Klatschindustrie, das Gegenteil hätte schön gepasst zu all den Schauergeschichten weiblicher Rivalitäten, die Hollywood auf und hinter der Leinwand gerne lieferte. George Cukor, der grosse Frauen-Regisseur, hat diese Obsession in The Women satirisch ad absurdum geführt, Crawford aber auch ernsthaftere Rollen gegeben. Als Protagonistin mit einem verunstalteten Gesicht in A Woman’s Face durfte sie mutig und ganz ohne Freak-Effekt beweisen, was sie konnte. Kampfgeist und Mut zur Hässlichkeit Der Freak-Effekt verfolgte auch Bette Davis (1908–1989) in ihren Altersrollen, zumal ihr unkonventionelles Gesicht – riesige, runde, leicht glubschige Augen, schwere Lider, hohe Stirn, verkniffener Mund – sich dafür mit dicken Make-up-Schichten leicht missbrauchen liess. Aldrich vermarktete ihn noch einmal in Hush... Hush, Sweet Charlotte, einer Art Spin-Off von Baby Jane (Crawford hatte zu seinem Leidwesen abgesagt). Doch ihr letzter Film, The Whales of August, Lindsay Andersons elegischer Abgesang auf ein intimes


07 Schwesternleben, erlaubte ihr – und der über neunzigjährigen Lillian Gish – den würdigen Schlusspunkt einer reichen Karriere. Auch Bette Davis galt zeitlebens als Frau, die sich gegen viele Widerstände nach oben boxte und sowohl innerhalb wie ausserhalb der Studios mit harten Bandagen focht. Auch sie scheute nicht zurück vor hässlichen Film­ figuren, die ihr keine Sympathien einbrachten; auch ihre Tochter rechnete in einem Buch hart mit der Mutter ab. Und der Zufall will, dass auch sie den Durchbruch zur Charakterdarstellerin mit einem Drehbuch versuchte, das auf W. Somerset Maugham basierte. Während Rain für Crawford aber zum Flop geriet, verkörperte Davis äusserst erfolgreich die selbstsüchtige, skrupellose Kellnerin Mildred (!) in Of Human Bondage. Mit der – unglaublich sexistischen – Inszenierung einer zerstörerischen Abhängigkeit war ihr Ruf als Schauspielerin auch für abstossende Charaktere gesetzt – als boshafte Lady, so der deutsche Titel von William Wylers Jezebel (1938), ihrer zweiten OscarRolle nach Dangerous drei Jahre zuvor. Unter andern auch dank dem unterschätzten Wyler konnte sie das Type­casting der launenhaften, hedonistischen Southern Belle immer wieder variieren. Etwa als Mörderin im kolonialistischen Upper-Class-Milieu von The Letter (wieder nach W. Somerset Maugham) und, besonders grossartig, in ihrer eiskalten Machtgier im Familiendrama The Little Foxes nach einem Stück von Lillian Hellman. (Nicht aber als Scarlett O’Hara in Gone with the Wind, für die sie auch im Gespräch war.) Vor zweihundert Jahren hätte man sie wohl als Hexe verbrannt, schrieb ein Zeitgenosse über die Wucht ihrer Energie «ohne richtiges Ventil». Da war sie erst in den Dreissigern, spielte problemlos Sechzigjährige (mit rasierten Haaren und Augenbrauen Königin Elizabeth I.) und sollte es noch, mit Hochs und Tiefs, zu einer Filmografie von über hundert Titeln bringen. Sie zeugen davon, was Roger Ebert über ihre Glanzrolle in All About Eve sagt, jenem Klassiker über die Gesetze von weiblichem Aufstieg und Fall in Hollywood: Zwar verliert die alternde Diva ihren Rang an eine junge Intrigantin, aber in der Filmgeschichte gehen sowohl sie wie Joan Crawford als Siegerinnen vom Platz, dank dem «Triumph von Persönlichkeit und Willenskraft über die oberflächliche Macht der Schönheit». Pia Horlacher

Pia Horlacher war langjährige Filmredaktorin der NZZ. Hinweis: Die Hollywood Diva. Vom Stummfilm bis in die 50er-Jahre. Vorlesung von Thomas Binotto an der Volkshochschule Zürich, 1., 8. und 15. September. Details/Anmeldung: www.volkshochschule-zuerich.ch


> The Unknown.

> Dangerous.

> Today We Live.

> Mannequin.

> The Little Foxes.

> The Letter.


09

Joan Crawford / Bette Davis.

THE UNKNOWN

TODAY WE LIVE

USA 1927

USA 1933

«The Unknown spielt in der Welt des Zirkus und der Jahrmärkte und handelt von der unglücklichen Liebe Alonzos, des armlosen Messerwerfers, zur berührungsscheuen Estrellita. Anders als sein Nebenbuhler, der Kraftmensch des Zirkus, kann sich Alonzo seiner Angebeteten nähern und ein gewisses Vertrauensverhältnis aufbauen. Zu nahe können sie sich jedoch nicht kommen, denn sonst würde Estrellita merken, dass Alonzo seine Armlosigkeit lediglich vortäuscht und keineswegs so harmlos ist, wie er erscheint.» (IOIC, Programm Filmpodium, Feb./März 2014) «Einer der grossen Stummfilme, erstaunlich in seiner Intensität.» (Tom Milne, Time Out Film Guide)

«Im Ersten Weltkrieg versuchen sich ein junger Amerikaner und ein Engländer, die beide in die gleiche Frau verliebt sind, als Flieger an Heldenmut zu überbieten. (...) Ein anfänglich papierenes Dreiecksdrama, das sich zu ungeahnten Höhen aufschwingt, sobald sich Howard Hawks mit ­seinen Helden in die Luft und aufs Wasser be­gibt. Die entsprechenden Action-Sequenzen gehören zu den erstaunlichsten des jungen Tonfilms.» (Andreas Furler, Programm Filmpodium, Sept. 2001) 113 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE Howard Hawks // DREHBUCH William Faulkner, Edith Fitzgerald, Dwight Taylor, nach einer Erzählung von William Faulkner // KAMERA O ­ liver T. Marsh // MUSIK William Axt, David Snell, Herbert Stothart

65 Min / sw / 16 mm / Stummfilm mit engl. Zw’titeln // REGIE

// SCHNITT Edward Curtiss // MIT Joan Crawford (Diana

Tod Browning // DREHBUCH Waldemar Young // KAMERA

Boyce-Smith), Gary Cooper (Richard ­Bogard), Robert Young

Merritt Gestard // SCHNITT Harry Reynolds, Errol Taggart //

(Claude Hope), Franchot Tone (Ronny Boyce-Smith), Roscoe

MIT Joan Crawford (Estrellita), Lon Chaney (Alonzo), Norman

Karns (McGinnis).

Kerry (Malabor), Nick De Ruiz (Zanzi), John George (Cojo), Frank Lanning (Costra).

OF HUMAN BONDAGE

DO, 9. JULI | 20.45 UHR AM FLÜGEL: GÜNTER A. BUCHWALD

RAIN USA 1932 Wegen monsunartigen Regens sitzt das Flittchen Sadie Thompson mit ein paar Matrosen und einer Predigerfamilie in einer heruntergekommenen Pension auf einer südpazifischen Insel fest. «Crawford ist die unnuancierteste Schauspielerin, die man sich denken kann, und ihrer Verkörperung von Sadie geht jegliches Feingefühl ab. Doch diesmal ist ihre verzweifelte Ernsthaftigkeit fesselnd. Mit all den Gefühlswallungen, die sie verströmt, ihren funkelnden Augen, (...) und ihrer gepressten Stimme ist sie so völlig affektiert, dass die Affektiertheit allmählich natürlich wirkt. Ihre Vitalität ist nicht zu bestreiten. Als scheinheiliger Reverend Davidson (Hollywoods Archetyp des lüsternen Heuchlers) hat Walter Huston ein paar verblüffend clevere Momente.» (Pauline Kael, 5001 Nights at the Movies, 1991)

USA 1934 Philip Carey, als Künstler gescheitert und mit ­einem Klumpfuss geschlagen, verfällt der blonden Kellnerin Mildred, die ihn ausbeutet. «Bei der gestrigen Premiere war das Publikum über das Betragen dieses Luders so empört, dass in der Szene, als Carey endlich seine Verachtung für Mildreds Benehmen ausdrückt, allseits Applaus zu hören war.» (Mordaunt Hall, New York Times, 29.6.1934) «Davis’ Energie wurde erstmals so richtig ­entfesselt, und die Rolle machte sie zum Star.» (Pauline Kael, 5001 Nights at the Movies, 1991) 83 Min / sw / 16 mm / E // REGIE John Cromwell // DREHBUCH Lester Cohen, Ann Coleman, nach dem Roman von W ­ .  Somerset Maugham // KAMERA Henry W. Gerrard // MUSIK Max Steiner // SCHNITT William Morgan // MIT Bette Davis (Mildred), Leslie Howard (Philip Carey), Frances Dee (Sally), Kay Johnson (Norah), Reginald Denny (Griffiths).

DANGEROUS USA 1935

93 Min / sw / Digital SD / E // REGIE Lewis Milestone // DREHBUCH Maxwell Anderson, John Colton, ­Clemence Randolph, nach der Kurzgeschichte «Miss Thompson» von W. Somerset Maugham // KAMERA Oliver T. Marsh // MUSIK ­Alfred Newman // SCHNITT Duncan Mansfield // MIT Joan Crawford (Sadie Thompson), Walter Huston (Alfred Davidson), William Gargan (Sergeant O’Hara), Beulah Bondi (Mrs. Davidson).

«Die Rolle der Joyce Heath, einer Schauspielerin, deren Karriere aus der Bahn gerät wegen ihres Alkoholismus und ihrer Überzeugung, dass sie jedem Mann Unglück bringt, war massgeschneidert für Davis und erlaubte ihr, eine grosse Bandbreite von Emotionen zu spielen, von wütenden


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Joan Crawford / Bette Davis. Trinkerinnen-Szenen bis zum Wiedererwachen der Liebe. Die Figur war inspiriert von einem Idol der Davis, der Bühnenlegende Jeanne Eagels, ­einer tragischen Drogensüchtigen, die mit 35 gestorben war.» (Frank Miller, tcm.com) Franchot Tone, der als braver Architekt Don die «verhexte» Joyce zu retten versucht, war damals mit Joan Crawford verlobt. Davis interessierte sich offenbar auch hinter den Kulissen für ihren Filmpartner, was angeblich der Grund für die legendäre Fehde der beiden Diven war.

Stadt zurückkommt, lässt sie nichts unversucht, um ihn zurückzugewinnen.
 Die 29-jährige Bette Davis ist der uneingeschränkte Star dieses Films: Grandios ihre herrischen Auftritte und Ränkespiele, die zugleich so durchschaubar und offensichtlich kontraproduktiv sind, dass die Fragilität hinter der kontrollierten Fassade aufscheint.» (Andreas Furler, Programm Filmpodium, Juli/Aug. 2011) 104 Min / sw / 16 mm / E // REGIE William Wyler // DREHBUCH Clements Ripley, Abem Finkel, John Huston, Robert Bruck-

79 Min / sw / 16 mm / E // REGIE Alfred E. Green // DREHBUCH

ner, nach dem Theaterstück von Owen Davis sr. // KAMERA

Laird Doyle // KAMERA Ernest Haller // MUSIK Ray Heindorf,

Ernest Haller // MUSIK Max Steiner // SCHNITT Warren Low

Bernhard Kaun, Heinz Roemheld // SCHNITT Thomas

// MIT Bette Davis (Julie ­Morrison), Henry Fonda (Preston Dil-

Richards // MIT Bette Davis (Joyce Heath), Franchot Tone (Don

lard), George Brent (Buck Cantrell), Margaret Lindsay (Amy

Bellows), Margaret Lindsay (Gail Armitage), Alison Skipworth

Bradford Dillard), Fay Bainter (Tante Belle Massey), R ­ ichard

(Mrs. Williams), John Eldredge (Gordon Heath).

Cromwell (Ted Dillard).

MANNEQUIN

THE LETTER

USA 1937

USA 1940

Um der Fabrikarbeit und dem kleinlichen Elternhaus zu entfliehen, heiratet Jessie Eddie. Doch dieser erweist sich als mittelmässiger Egoist. John, der sich aus ärmlichen Verhältnissen hochgearbeitet hat, liebt Jessie schon lange und bemüht sich erneut um sie. Nach ihrer Scheidung heiratet sie John, doch ohne Liebe; erst auf der Hochzeitsreise versteht sie, dass sie füreinander geschaffen sind. Und doch will sie ihn danach verlassen wegen einer Gaunergeschichte, die Eddie gegen John und sie aufgebaut hat.
 «Die Liebe ist stärker als die Not, sagt uns Borzage in diesem bewundernswerten Film (…) und bekräftigt eine seiner Grundideen: Das Glück eines Paares resultiert aus beständigem Bemühen.» (Jean Tulard: Guide des films)

«Leslie Crosbie lebt als Frau eines englischen Pflanzers in der Nähe von Singapur. Als sie Jeff Hammond aus nächster Nähe erschiesst, gerät sie unter Mordverdacht. Ihr Mann Robert vertraut ihrer Schilderung, wonach sie nur in Notwehr ihre Ehre gegenüber dem zudringlichen Hammond verteidigt habe. Roberts Freund, der Anwalt Howard Joyce, übernimmt ihre Verteidigung. (...) Als er jedoch von einem Brief erfährt, den Leslie Hammond am Todestag geschrieben hat, zweifelt er an ihrer Unschuld.» (filmzeit.de) «Bette Davis liefert als Mörderin, die sich in ein Lügengewebe verstrickt, um ihre Tat zu verschleiern, eine der besten Darstellungen ihrer Karriere.» (cinema.de) 95 Min / sw / 35 mm / E/f // REGIE William Wyler // DREHBUCH

92 Min / sw / Digital SD / E/f // REGIE Frank Borzage // DREH-

Howard Koch, nach einer Erzählung von W. Somerset Maugham

BUCH Lawrence Hazard, Frank Borzage, nach einer Story von

// KAMERA Tony Gaudio // MUSIK Max Steiner // SCHNITT

Katherine Brush // KAMERA George Folsey // MUSIK Edward

George Amy // MIT Bette Davis (Leslie Crosbie), Herbert ­Marshall

Ward // SCHNITT Frederick Y. Smith // MIT Joan Crawford

(Robert Crosbie), James Stephenson (­Howard Joyce), Gale

(Jessie Cassidy), Spencer Tracy (John L. Hennessey), Alan

­Sondergaard (Mrs. Hammond), Bruce Lester (John Withers),

Curtis (Eddie Miller), Ralph Morgan (Briggs), Mary Phillips

Elizabeth Earl (Adele Ainsworth).

(Beryl Lee), Oscar O’Shea (Pa Cassidy).

JEZEBEL

SUSAN AND GOD USA 1940

USA 1938 «Im New Orleans der amerikanischen Vorbürgerkriegszeit bringt eine verzogene junge Dame aus reichem Haus die bessere Gesellschaft durch ihr provozierendes Auftreten immer wieder gegen sich auf, bis sie bei einem Ball den Bogen überspannt und ihren Verlobten, einen korrekten Bankier, verliert. Als der Mann ein Jahr später in die

«Nach einem Europa-Urlaub flattert Susan, eine charmante, modische Dame der Gesellschaft, zurück nach Long Island und überrascht ihre reichen, abgestumpften Freunde mit der Nachricht, dass sie zu einer neuen Religion gefunden hat. Susan begnügt sich nicht damit, die Vorteile ihres neuen Glaubens zu predigen, sondern beginnt eine aggressive Kampagne, um Freunde und Fa-


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Joan Crawford / Bette Davis. milie zu bekehren, indem sie deren Sünden öffentlich enthüllt.» (Felicia Feaster, tcm.com) In dieser stilvollen Satire über Religion und Scheinheiligkeit plappert Joan Crawford von Gott und Glauben, als ginge es um die neuste Mode. Zu ihren Opfern zählen Fredric March als Susans geplagter Gatte sowie die blutjunge Rita Hayworth als Leonora, deren frischgebackene Ehe der erzwungenen Ehrlichkeit nicht standhält. 117 Min / sw / 16 mm / E // REGIE George Cukor // DREHBUCH

Pläne mit ihr: Sie soll seinen kleinen Neffen aus dem Weg räumen, der ihm vor einer grossen Erbschaft steht. Doch nachdem ein Chirurg Annas Gesicht wieder hergestellt hat, setzt auch ihre seelische Heilung ein, was Barrings teuflisches Komplott gefährdet. Cukor inszenierte das Melodram als Gerichtsfilm mit zahlreichen Rückblenden und führte Crawford umsichtig durch ihre erste wirklich ­ ­anspruchsvolle Rolle; als tückischer Verführer brilliert Conrad Veidt. (cs)

Anita Loos, nach dem Theaterstück von Rachel Crothers // KAMERA Robert H. Planck // MUSIK Herbert Stothart //

107 Min / sw / 35 mm / E/f // REGIE George Cukor // DREH-

SCHNITT William H. Terhune // MIT Joan Crawford (Susan),

BUCH Donald Ogden Stewart, Elliot Paul, nach dem Theater-

Fredric March (Barrie), Ruth Hussey (Charlotte), John Carroll

stück «Il était une fois» von Francis de Croisset // KAMERA

(Clyde), Rita Hayworth (Leonora), Nigel Bruce (Hutchie).

Robert H. Planck // MUSIK Bronislau Kaper // SCHNITT Frank Sullivan // MIT Joan Crawford (Anna Holm), Melvyn

THE LITTLE FOXES USA 1941

Douglas (Dr. Gustaf Segert), Conrad Veidt (Torsten Barring), Osa Massen (Vera Segert), Reginald Owen (Bernard Dalvik), Albert Bassermann (Consul Magnus Barring).

Eine Bankiersgattin will die Früchte betrügerischer Finanzspekulationen nicht ihren beiden Brüdern überlassen. Ihr Mann will da nicht mitmachen, was ihm zum Verhängnis wird. 
 «Neben einer superben Besetzung (etwa einer durch und durch niederträchtigen Bette Davis in einer ihrer ersten grossen ‹grande-dame-dumal›-Rollen) sind die eigentlichen Stars von The Little Foxes Regie und Kamera. (...) William Wylers sichere Regie kleidet die zunehmend düstere Blossstellung des amerikanischen Traums in Kompositionen von eisiger Schönheit, etwa so: im Vordergrund die regungslose Maske von Davis’ ungerührtem Gesicht, das verfolgt, wie sich hinten Herbert Marshall keuchend, schildkrö­ ­ tengleich die Treppe hinauf in den Herzinfarkt schleppt.» (Christoph Huber, 25frames.org, 29.10.2000)

Getrennt von ihrer dominanten Mutter blüht die verhuschte Tochter aus reicher Familie auf. «Davis, tadellos wie immer, macht aus diesem Ackergaul der Hollywood-Vorstellung von einer alten Jungfer (die Brille abnehmen und siehe! sie ist eine Schönheit) so etwas wie ein Rennpferd. Tolle Sache, wie der weltgewandte Psychiater eine Kreuzfahrt empfiehlt und an Bord eine bittersüsse Romanze mit einem unglücklich verheirateten Architekten erblüht. (...) Als Ganzes aber überzeugt dieses hypnotisch glitzernde Paket, geschnürt mit Rappers Regie, Sol Politos Kamera­ arbeit und Max Steiners üppig-romantischer Musik.» (Tom Milne, Time Out Film Guide)

115 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE William Wyler // DREH-

117 Min / sw / Digital SD / E/d // REGIE Irving Rapper // DREH-

BUCH Lillian Hellman, Arthur Kober, Dorothy Parker, Alan

BUCH Casey Robinson, nach dem Roman von Olive Higgins

Campbell, nach dem Theaterstück von Lillian Hellman // KA-

Prouty // KAMERA Sol Polito // MUSIK Max Steiner // SCHNITT

MERA Gregg Toland // MUSIK Meredith Wilson // SCHNITT

Warren Low // MIT Bette Davis (Charlotte Vale), Paul Henreid

Daniel Mandell // MIT Bette Davis (Regina Hubbard Giddens),

(Jerry Durrance), Claude Rains (Dr. Jaquith), Gladys Cooper

Herbert Marshall (Horace Giddens), Teresa Wright (Alexan­dra

(Mrs. Henry Vale), Bonita Granville (June Vale), John Loder

Giddens), Richard Carlson (David Hewitt), Patricia Collinge

(Elliot Livingston).

NOW, VOYAGER USA 1942

(Birdie Hubbard), Dan Duryea (Leo Hubbard).

A WOMAN’S FACE

MR. SKEFFINGTON

USA 1941

USA 1944

Remake eines schwedischen Films mit der blutjungen Ingrid Bergman. Crawford spielt Anna, eine Frau, die als Folge einer schrecklichen Entstellung zur eiskalten Erpresserin geworden ist. Nur einen scheint das nicht zur stören, den geheimnisvollen Torsten Barring – aber der hat

«Ein Film, der Bette Davis passt wie ein Seidenhandschuh, genauso wie die Kleider, die sie trägt, um in dieser Rolle einer hochnäsigen, selbstsüchtigen Ehefrau und Mutter allen Gesetzen braver Fraulichkeit zum Trotz den Männern den Kopf zu verdrehen. (...)


> Humoresque.

> Now, Voyager.

> A Woman’s Face.

> Hush... Hush, Sweet Charlotte.

> Lo scopone scientifico.

> Johnny Guitar.


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Joan Crawford / Bette Davis. Davis spielt die kokette Tochter einer einst wohlhabenden Familie und durchläuft die Zeit von 1914 vor dem Ersten Weltkrieg bis zur Gegen­wart, wobei sie sich unter allmählichen Veränderungen vom jungen Mädchenalter bis gegen fünfzig entwickelt und dann infolge einer Krankheit plötzlich böse altert. Davis’ Gegenüber ist der souveräne Claude Rains als erfolgreicher WallStreet-Tycoon, der erblindet und seinerseits vorzeitig altert, weil er nach Beginn des Zweiten Weltkriegs mehrere Jahre in einem Konzentra­ tionslager verbracht hat.» (Variety, 31.5.1944)

verliebt, folgt auf kurzes Glück ein tragischer Ausgang. «Humoresque verbindet klassische Musik und Drama zu einem erstrangigen Film. Die exzellente musikalische Untermalung verleiht vertrauten klassischen Stücken neue Frische. (...) Am meisten Leinwandpräsenz hat John Garfield als junger Violinist, der dank der Unterstützung seiner Mutter sein Leben der Musik widmet. (...). Joan Crawfords Part ist keine typische Starnummer, sondern verlangt nach Schauspielkunst, und sie macht das Beste daraus.» (Variety, 25.12.1946)

146 Min / sw / Digital SD / E/d // REGIE Vincent Sherman //

125 Min / sw / 16 mm / E // REGIE Jean Negulesco // DREH-

DREHBUCH Julius J. Epstein, Philip G. Epstein, nach dem Ro-

BUCH Clifford Odets, Zachary Gold, nach der Kurzgeschichte

man von Elizabeth von Arnim // KAMERA Ernest Haller // MU-

von Fannie Hurst // KAMERA Ernest Haller // SCHNITT Rudi

SIK Franz Waxman // SCHNITT Ralph Dawson // MIT Bette

Fehr // MIT Joan Crawford (Helen Wright), John Garfield

­Davis (Fanny Trellis Skeffington), Claude Rains (Job Skeffing-

(Paul Boray), Oscar Levant (Sid Jeffers), J. Carrol Naish (Rudy

ton), Walter Abel (George Trellis), George Coulouris (Dr. Byles),

Boray), Joan Chandler (Gina Romney), Tom D’Andrea (Phil

Richard Waring (Trippy Trellis), Marjorie Riordan (Fanny, Jr.).

Boray), Robert Blake (Paul Boray als Kind).

MILDRED PIERCE

POSSESSED

USA 1945

USA 1947

«Joan Crawfords Starstatus wankte in den mittleren vierziger Jahren, und von 1943, als ihr Vertrag mit MGM auslief, bis 1945 hatte sie überhaupt keine Arbeit. Dann fand ihr der Warner-BrothersProduzent Jerry Wald die Rolle ihres Lebens. Mildred Pierce bescherte ihr nicht nur einen Oscar, sondern auch wieder einen Platz unter den Hollywood-Topstars und eine Karriere, die noch 25 Jahre andauern sollte. (...) Eine tolle Mischung von Film noir und Frauen-Soap. Der Noir-Ton wird gleich mit der Anfangsszene gesetzt, einer mysteriösen nächtlichen Schiesserei, zu der eine lange Rückblende am Ende zurückkehrt. Crawford spielt eine unzähmbare Aufsteigerin, die nach dem Davonlaufen ihres Mannes allein mit zwei heranwachsenden Töchtern ringt.» (George Perry, BBC Films)

«Joan Crawford gebühren in diesem Film alle Ehren für ihre virtuose Verkörperung einer Frau, die von Schuldgefühlen besessen ist und darob den Verstand verliert. Die Schauspielerin besitzt so viel Selbstsicherheit, dass sie die Leinwand völlig dominiert. (...). Mittels Rückblenden erzählt, beginnt der Film mit einem enormen Knalleffekt, indem die Kamera Crawford einfängt, wie sie abgehärmt und benommen durch Los Angeles irrt, bis sie zusammenbricht. In der Psychiatrie-Abteilung des örtlichen Krankenhauses durchlebt sie unter Narkohypnose noch einmal die Folge von Schicksalsschlägen, die sie schliesslich in die Schizophrenie getrieben hat.» (Variety, 4.6.1947) 108 Min / sw / Digital HD / E/d // REGIE Curtis Bernhardt // DREHBUCH Silvia Richards, Ranald McDougall, nach einer Geschichte

113 Min / sw / 16 mm / E // REGIE Michael Curtiz // DREHBUCH

von Rita Weiman // KAMERA Joseph A. Valentine, Sidney Hickox

Ranald MacDougall, nach dem Roman von James M. Cain //

// MUSIK Franz Waxman // SCHNITT Rudi Fehr // MIT Joan

KAMERA Ernest Haller // MUSIK Max Steiner // SCHNITT

­Crawford (Louise Howell), Van Heflin (David Sutton), Raymond

­David Weisbart // MIT Joan Crawford (Mildred Pierce), Ann

Massey (Dean Graham), Geraldine Brooks (Carol Graham),

Blyth (Veda Pierce), Jack Carson (Wally Fay), Zachary Scott

­Stanley Ridges (Dr. Harvey Willard), John Ridgely (Harker).

(Monte Beragon), Eve Arden (Ida), Bruce Bennett (Bert Pierce), Jo Ann Marlowe (Kay Pierce).

HUMORESQUE USA 1946 Krämerssohn Paul Boray arbeitet sich mit Hilfe seines Freundes, des Pianisten Sid Jeffers, zum gefragten Geigenvirtuosen empor. Als die reiche, verheiratete Mäzenin Helen Wright sich in Boray

ALL ABOUT EVE USA 1950 «Einer der vergnüglichsten Filme aller Zeiten. Eine junge, aufstrebende Schauspielerin intrigiert, um einem alternden Star, Margo Channing, auf der Bühne und im Bett den Platz abzujagen, und sie kämpfen mit Klauen und Zähnen und Salven von Epigrammen. (...) Autor-Regisseur ­


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Joan Crawford / Bette Davis. ­oseph L. Mankiewicz’ schlechter Geschmack, J hier mit Verve zur Schau gestellt, macht mehr Spass als vorsichtiger, mausgrauer, saftloser guter Geschmack. Sein Unsinn zum Thema ‹Theater› wird von einer Darbietung gerettet, die das Wahre ist: Bette Davis, so instinktiv und sicher wie nie.» (Pauline Kael, 5001 Nights at the Movies, 1991)

Ganze ist bizarr, hysterisch und ganz anders als alles andere in der Geschichte des Cowboyfilms.» (Geoff Andrew, Time Out Film Guide) 110 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE Nicholas Ray // DREHBUCH Philip Yordan, nach dem Roman von Roy Chanslor // KAMERA Harry Stradling, Sr. // MUSIK Victor Young // SCHNITT Richard L. Van Enger // MIT Joan Crawford (Vienna),

138 Min / sw / DCP / E/d // REGIE Joseph L. Mankiewicz //

Sterling Hayden (Johnny «Guitar» Logan), Mercedes McCam-

DREHBUCH Joseph L. Mankiewicz, nach der Erzählung «The

bridge (Emma Small), Scott Brady (Dancin' Kid), Ward Bond

Wisdom of Eve» von Mary Orr // KAMERA Milton R. Krasner

(John McIvers), Ben Cooper (Turkey Ralston).

// MUSIK Alfred Newman // SCHNITT Barbara McLean // MIT Bette Davis (Margo Channing), Anne Baxter (Eve Harrington), George Sanders (Addison De Witt), Marilyn Monroe (Miss Claudia Casswell), Celeste Holm (Karen Richards).

SUDDEN FEAR USA 1952 «Crawford als wohlhabende Bühnenautorin feuert das Raubvogelgesicht Palance aus ihrer jüngsten Aufführung, weil er nicht die richtige romantische Persönlichkeit habe, und verfällt ihm dann, als er ihr ‹zufällig› im Zug begegnet und sie wie ein Wirbelwind umwirbt. Es folgt ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel, als Palance, unterstützt von der schmollenden Grahame, Crawford ihres Geldes wegen umbringen will und diese ihren Dramatikerverstand einsetzt, um einen Gegenplan zu schmieden. Mit einer Spannung, die weit über den Anschlag hochgeschraubt wird, der tollen Kamera von Charles Lang und Crawford in nervenzerrüttender Topform ist das ein Riesen­ spass.» (Tom Milne, Time Out Film Guide)

POCKETFUL OF MIRACLES USA 1961 «Eine verarmte Apfelverkäuferin will ihrer seit langem abwesenden Tochter weismachen, dass sie eine vermögende Dame ist. Das geht gut, solange die Tochter am andern Ende der Welt ist, doch als sie zu einem Besuch eintrudelt, ist Mama in der Klemme. Also muss Mamas liebster Apfelpolierer her, der einflussreiche Dave the Dude, der flugs eine komplizierte Maskerade auf die Beine stellt, mit Hilfe einer Truppe von Ganoven, deren knallharte Schale ein Herz aus Schlagsahne verbirgt. (...) Peter Falk stiehlt in seinen Szenen allen die Schau.» (Variety, 1.11.1961) 146 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE Frank Capra // DREHBUCH Hal Kanter, Harry Tugend, Jimmy Cannon, nach der Kurzgeschichte «Madame La Gimp» von Damon Runyon // KAMERA Robert J. Bronner // MUSIK Walter Scharf // SCHNITT Frank P. Keller // MIT Bette Davis (Apple Annie), Glenn Ford (Dave the Dude), Hope Lange (Queenie Martin), Arthur O'Connell (Graf Alfonso Romero), Peter Falk (Joy Boy),

104 Min / sw / DCP / E // REGIE David Miller // DREHBUCH

Edward Everett Horton (Hudgins), Ann-Margret (Louise).

­Lenore J. Coffee, Robert Smith, Joan Crawford, nach einem ­Roman von Edna Sherry // KAMERA Charles Lang // MUSIK (Myra Hudson), Jack Palance (Lester Blaine), Gloria Grahame

WHAT EVER HAPPENED TO BABY JANE?

(Irene Neves), Bruce Bennett (Steve Kearney), Virginia Huston

USA 1962

­Elmer Bernstein // SCHNITT Leon Barsha // MIT Joan Crawford

(Ann Taylor), Touch Conners (= Mike Connors) (Junior Kearney).

JOHNNY GUITAR USA 1954 Die geschäftstüchtige Besitzerin eines Spielcasinos in Arizona zieht wegen ihrer Grundstückspekulation den Hass der Rancher, insbesondere einer Rivalin, auf sich. Diverse Gewaltausbrüche gipfeln schliesslich im Duell der Frauen. «Mit dieser Geschichte über zwei kampfwütige, Pistolen schwingende Matriarchinnen, die sich um einen Saloon und die Männer ihres Herzens zanken, zettelt Ray das reinste Chaos unter den üblichen Westernkonventionen an: Er schwelgt in Genderrollen-Verkehrungen (...). Das

«Die lebenslange Feindschaft zweier Schwestern, die, nach einer Karriere im Film- und Showgeschäft seelisch und körperlich zerrüttet, in gegenseitige Abhängigkeit geraten und sich das Leben zur Hölle machen. (...) Paraderollen für die beiden gealterten Diven Bette Davis und Joan Crawford, die in ihren exaltierten Charakteren aufgehen und ihre ganze Leinwanderfahrung ausspielen.» (Lexikon des int. Films) What Ever Happened to Baby Jane löste eine ganze Serie von Horrorfilmen mit Altstars aus. 132 Min / sw / DCP / E/d // REGIE Robert Aldrich // DREHBUCH Lukas Heller, nach dem Roman von Henry Farrell // KAMERA Ernest Haller // MUSIK Frank De Vol // SCHNITT ­Michael Luciano // MIT Bette Davis («Baby Jane» Hudson),


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Joan Crawford / Bette Davis. Joan Crawford (Blanche Hudson), Victor Buono (Edwin Flagg), Anna Lee (Mrs. Bates), Maidie Norman (Elvira Stitt).

LO SCOPONE SCIENTIFICO Italien 1972

HUSH ... HUSH, SWEET CHARLOTTE USA 1964 «Bette Davis in einem Grand-Guignol-Melodrama von Robert Aldrich – einem Versuch, an den Kassenerfolg ihres kultigen Gruselfilms What Ever Happened to Baby Jane? anzuknüpfen (...). Davis lebt als reiche, kauzige Einsiedlerin in einer schimmligen Villa in Louisiana; sie streift durch die verschatteten Zimmer mit flatterndem Haar und wehenden Nachthemden und flüstert ihrem längst verblichenen Papa telepathische Koseworte zu. De Havilland ist ihre trügerische Cousine, Agnes Moorehead die hexenhafte Haushälterin und Joseph Cotten der Hausarzt. Die Story (...) stammt aus einem Roman von Henry Farrell, der auch die Vorlage des früheren Films lieferte.» (Pauline Kael, 5001 Nights at the Movies, 1991) 134 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE Robert Aldrich // DREHBUCH Henry Farrell, Lukas Heller, nach einem Roman von Henry Farrell // KAMERA Joseph Biroc // MUSIK Frank De Vol // SCHNITT Michael Luciano // MIT Bette Davis (Charlotte), Olivia de Havilland (Miriam), Joseph Cotten (Drew), ­Agnes Moorehead (Velma), Victor Buono (Big Sam).

Eine reiche alte Amerikanerin, deren Leidenschaft das Kartenspiel ist, trifft sich seit Jahren in Rom mit einem armen jungen Ehepaar, das durch Glück im Spiel gegen die Exzentrikerin auf eine bessere Zukunft für sich und seine Kinder hofft. Doch die beiden sind ohne jede Chance.
 «So schelmisch-vergnüglich diese Komödie auch ist, so wäre sie kaum mehr als eine typische Satire à l’italienne der fruchtbaren siebziger Jahre (...), wären da nicht zwei amerikanische monstres sacrés, Joseph Cotten und vor allem Bette Davis. (...) Letztere brilliert in einer Interpretation, in der die grosszügige, weltgewandte Seite der Figur mit deren verborgener hässlicher Seite koexistiert, die von Geiz gezeichnet ist, und wenn sie dabei ihr Leben lassen muss.» (mulderville.net, 2013) 116 Min / Farbe / 35 mm / I/f // REGIE Luigi Comencini // DREHBUCH Rodolfo Sonego // KAMERA Giuseppe Ruzzolini // MUSIK Piero Piccioni // SCHNITT Nino Baragli // MIT ­Alberto Sordi (Peppino), Silvana Mangano (Antonia), Bette Davis (die Amerikanerin), Joseph Cotten (George), Mario ­Carotenuto (Armando Castellini, der «Professore»).

«Eine beeindruckende Offenbarung.» watson «Sage noch jemand, Dokumentarfilme seien nicht sexy.» SRF

«Rhythmisch rasant – mit atemberaubenden Aufnahmen. Man kann sich der stupenden Präsenz der Protagonistinnen nicht entziehen.» NZZ

Ein Film von AnkA Schmid

Ab 17. SEptEmbEr im kino



17 Hayao Miyazaki

Der Weltenträumer Das humanistisch grundierte Werk des japanischen Animationskünstlers Hayao Miyazaki gleicht einem in sich geschlossenen Geflecht von Themen und Motiven, die sich in unterschiedlicher Ausprägung durch alle Schaffensphasen ziehen. Zur Aufführung kommen sämtliche Langfilme, bei denen Hayao Miyazaki für die Regie und/oder das Drehbuch verantwortlich zeichnet. Hayao Miyazaki ist ein Mann der Widersprüche: Der 1941 geborene Umweltaktivist und dezidierte Pazifist begeistert sich für Kampfflugzeuge, widmete sich als Student der politischen Ökonomie der europäischen Kinderliteratur und arbeitete sich anschliessend in der Animationsindustrie zum Animator und scene designer hoch. Seine Recherchereisen für eine Reihe von TV-Adaptationen europäischer Kinder- und Jugendbuchklassiker führten ihn 1973 unter anderem in die Schweiz, wo er auf der Suche nach Schauplätzen für Isao Takahatas Heidi (1974) Landschaft und Architektur studierte. Auf diese Recherchen griff Miyazaki auch bei der Gestaltung des fiktiven europäischen Königreichs seines Langfilmdebüts Lupin III: The Castle of Cagliostro (1979) zurück. Bereits hier zeigt sich sein freier Umgang mit dem Ausgangsmaterial. Den aus der Fernsehserie «Lupin III» bekannten Meisterdieb deutete er vom arroganten Millionenerben mit Mercedes zum unbekümmerten Fiat-Fahrer um. Während Miyazaki in dynamischen Autoverfolgungsjagden virtuos mit den Filmsprachen von Cartoon und Realfilm spielt, verweisen überwachsene Häuser und Ruinen im Hintergrund auf eine bewegte Zivilisationsgeschichte. Die exotischen Fantasiewelten sollen dem Publikum die Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen und sozialen Gegenwartsproblemen erleichtern. Miyazaki gelang es so, mit seinem postapokalyptischen Originalstoff Nausicaä of the Valley of the Wind (1984) die Kritik am Umgang des Menschen mit der Natur in eine optimistische Geschichte zu packen, ohne die Natur ihrer Ambivalenz zu berauben. So verbreitet der lebensspendende Wind ­ gleichzeitig giftige Pilzsporen. Selbst im Bewusstsein der tödlichen Bedrohung freut sich die tatkräftige Prinzessin Nausicaä an der Schönheit dieses Naturschauspiels.

>

Pittoreske postapokalyptische Fabel: Nausicaä of the Valley of the Wind < Wandlungsfähige Figuren statt Stereotypen: Howl’s Moving Castle

<

Beklemmende Parabel über Umweltzerstörung: Princess Mononoke


18 Inspiriert von Jonathan Swifts Beschreibung einer fliegenden Stadt lässt ­Miyazaki in Laputa: Castle in the Sky (1986) seiner kindlichen Faszination für organische Flugmaschinen freien Lauf. Am Beispiel von Robotern, die je nach Auftraggeber als Gärtner oder Killermaschinen agieren, vermittelt ­Miyazaki seine Überzeugung, dass nie die Technik an sich, sondern einzig ihr Einsatz gut oder schlecht sei. Intuition macht den guten Erzähler Auf dieses erste Projekt seines neugegründeten Studios Ghibli folgte 1988 der Kinderfilm My Neighbor Totoro, der zu Miyazakis legendärem Engagement für die Erhaltung des Waldes in Tokio führte. Miyazakis Filme animieren die Natur im wahrsten Sinne des Wortes. Insbesondere Wind und Wetter vermitteln den inneren Zustand der aufgeweckten Protagonistinnen. Demgegenüber sind die Augen der flauschigen Fantasiekreatur Totoro bewusst ausdruckslos gezeichnet, um die Interpretation ihres Verhaltens den Zuschauenden zu überlassen. Miyazaki legt ganz grundsätzlich Wert darauf, dass man die Gesinnung seiner Figuren nicht am Äusseren ablesen kann. Darum sind seine Coming-ofAge-Geschichten höchst selten von Bösewichten motiviert. Eher handeln sie von den kleinen Unsicherheiten im Alltag heranwachsender Mädchen. Wenn etwa die Hexe Kiki in Kiki’s Delivery Service (1989) mit ihrem Selbstvertrauen auch die Fähigkeit zu fliegen verliert, verzichtet die Erzählung auf psychologische Erklärungen und plädiert stattdessen für einen Perspektivenwechsel. Der alternde Protagonist des Fliegermelodrams Porco Rosso (1992) ist überzeugt, dass nicht Erfahrung, sondern Intuition einen guten Piloten ausmache. Damit erklärt der Autor seine eigene Vorgehensweise beim Erschaffen von Geschichten: Oft lässt er sich den Verlauf der Handlung von den Figuren diktieren, ohne ihr Verhalten rational zu hinterfragen. Diese aus der Vermischung von innerem und äusserem Erleben resultierende Traumlogik erinnert mitunter an Fellinis Spätwerk, dem mit rationalen Erklärungen ebenfalls nicht beizukommen ist. Meist arbeitete Miyazaki noch während der Produktion eines Films an den chronologisch gezeichneten Storyboards (dem eigentlichen Drehbuch), ohne im Detail zu wissen, wie die Geschichte endet. Der Fokus liegt denn auch weniger auf der äusseren Handlung als auf der Überzeugungskraft von Bildern, die im Zuschauer eine bestimmte Empfindung auslösen. Miyazaki setzt dabei immer wieder auf schwindelerregende Blicke in die Tiefe. Wenn die Figuren nicht fliegen, bewegen sie sich mühelos auf ungesicherten Dächern oder alptraumartigen Abgründen entlang. Metamorphose als Stilmittel Sein eigener Tanz am Abgrund wurde dem Workaholic Miyazaki schmerz­lich bewusst, als sein langjähriger Mitarbeiter und designierter Nachfolger


19 Yoshifumi Kondo 1998 nach nur einer Regiearbeit, Whisper of the Heart (1995), an einem Aortariss starb, der auf Überarbeitung zurückgeführt wurde. Als Reaktion darauf trat der Regisseur in den Ruhestand, liess sich jedoch – beflügelt vom internationalen Erfolg von Princess Mononoke (1997) – zur Weiterarbeit überreden. Während sich Princess Mononoke mit der zerstörerischen Interdependenz von Mensch und Natur in einem archaisch-mythischen Japan auseinandersetzt, muss sich die kleine Chihiro im Meisterwerk Spirited Away (2001) als Kind unserer Zeit in einer von Gier korrumpierten Parallelwelt bewähren, um ihre in Schweine verwandelten Eltern zu retten. Im Gegensatz zu den meisten Fantasy-Welten im Kino scheinen Miyazakis überbordende Bilder über den Bildrand hinaus zu existieren und regen mit unerklärten Gestalten und Wesen die Fantasie an. Die charakteristische Atmosphäre wird entscheidend von Joe Hisaishis melodiöser Filmmusik geprägt, die mit Variationen wiederkehrender Grundmuster seit Nausicaä Szenen und Figuren der verschiedenen Filme miteinander verbindet. Anders als die psychologisch abgerundeten Helden gängiger Familienfilme lassen Miyazakis Kreationen oftmals eine definitive Form vermissen, befinden sich teilweise gar in einem permanenten Zustand der Metamorphose. Diese Spezialität des Zeichentrickfilms macht der Japaner zu einem zentralen Stilmittel seines Spätwerks. In Howl’s Moving Castle (2004) beispielsweise verrät die äussere Wandlungsfähigkeit die innere Instabilität der Figuren. So verliert der zwischen Teenagerängsten und Antikriegs-Feldzug aufgeriebene Zauberer Howl zunehmend die Kontrolle über sein Äusseres. Wie häufig bei Miyazaki hängt seine Identität an verborgenen Erinnerungen, deren Freilegung die Figuren nicht selten tief unter die Wasseroberfläche führt. Von der ambivalenten Kraft des Wasser fasziniert, gewinnt der Filmemacher in Ponyo (2009) selbst einer Flutwelle etwas Positives ab, indem er zeigt, wie Naturkatastrophen die Solidarität unter den Menschen fördern. Als er mit der fiktionalisierten Biografie The Wind Rises (2013) allerdings den umstrittenen Designer japanischer Bomber zu einem weltabgewandten Künstler stilisiert, der erst allzu spät bemerkt, welche Gräuel seine Kreationen anrichten, wurde der sonst hochverehrte Filmemacher heftig angegriffen. ­Miyazaki selbst hat sich mit diesem elegischen Film definitiv als Regisseur verabschiedet, um sich fortan anderen Projekten widmen können. Oswald Iten

Oswald Iten ist Filmwissenschaftler und Animationsfilmschaffender – oswalditen.ch


> Porco Rosso.

> Whisper of the Heart.

> From Up on Poppy Hill.


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Hayao Miyazaki.

LUPIN III: THE CASTLE OF CAGLIOSTRO

(Rupan sansei: Kariosutoro no shiro) Japan 1979 Lupin III. verschlägt es nach einem spektakulären Diebstahl nach Cagliostro. Der dortige Graf druckt Falschgeld und hält die zukünftige Gräfin auf seinem Schloss gefangen. Lupin III. beschliesst, sie vor der unfreiwilligen Ehe zu retten. Gleichzeitig ist Interpol hinter den beiden her. Hayao Miyazakis Kinodebüt ist ein fröhlicher Spass à la James Bond und The Pink Panther. (pm)

­iner legendären fliegenden Insel. Sie wird e verfolgt von Dora mit ihren skurrilen Himmels­ piraten, von der Armee und dem Agenten Muska, weil auf der Insel Schätze und mächtige Waffen vermutet werden. Ihr zur Seite steht der Bergwerksgehilfe Pazu, der auf den Spuren seines verstorbenen Vaters ebenfalls auf der Suche nach Laputa ist. Der erste von den Ghibli-Studios produzierte Film ist ein mitreissendes Abenteuer mit Anleihen von Jonathan Swift und Jules Verne. (pm) Laputa: Castle in the Sky zeigen wir auch in der deutsch synchronisierten Fassung, Das Schloss im Himmel, im «Filmpodium für Kinder».

125 Min / Farbe / 35 mm / Jap/d/f // REGIE UND DREHBUCH 100 Min / Farbe / Digital HD / Jap/d // REGIE Hayao Miyazaki

Hayao Miyazaki // KAMERA Hirokata Takahashi // MUSIK Joe

// DREHBUCH Hayao Miyazaki, Haruya Yamazaki, nach der

Hisaishi // SCHNITT Hayao Miyazaki, Yoshihiro Kasahara,

Manga-Serie «Lupin III» von Monkey Punch // KAMERA Hiro-

Takeshi Seyama // MIT DEN STIMMEN VON Keiko Yokozawa

kata Takahashi // MUSIK Yuji Ohno // SCHNITT Masatoshi

(Sheeta), Mayumi Tanaka (Pazu), Kotoe Hatsui (Dora), Minori

­Tsurubuchi // MIT DEN STIMMEN VON Yasuo Yamada (Arsène

Terada (Musca), Fujio Tokita (Onkel Pom), Yoshito Yasuhara

Lupin III), Eiko ­Masuyama (Fujiko Mine), Kiyoshi Kobayashi

(Louis), Sukekiyo Kameyama (Henri), Takumi Kamiyama

(Daisuke Jigen), Makio Inoue (Goemon Ishikawa XIII), Goro

(Charlie), Machiko Washio (Duffi [Okami]).

Naya (Inspektor Koichi Zenigata), Sumi Shimamoto (Lady Clarisse von Cagliostro), Taro Ishida (Graf Cagliostro).

NAUSICAÄ OF THE VALLEY OF THE WIND (Kaze no tani no Naushika) Japan 1984

Nach einem apokalyptischen Krieg breitet sich ein giftiger Pilzwald aus. Die Menschen leben in Angst. Einzig Nausicaä, Prinzessin des Reiches Pejite, versucht, angezogen von der Schönheit der giftigen Welt, eine Lösung zu finden. Aber dann unterwerfen die Tolmekianer ihr Tal und wollen die Gewächse niederbrennen. Bereits in Miyazakis erster Umsetzung eines eigenen Stoffes ist alles angelegt, was sein Werk ausmacht: kein simples Gut-Böse-Schema, sondern komplexe Figuren und Konstellationen, Koexistenz versus Vernichtung und natürlich fantastische Fluggeräte. (pm)

MY NEIGHBOR TOTORO (Tonari no Totoro) Japan 1988

In den späten fünfziger Jahren ziehen die Schwestern Satsuki und Mei mit ihrem Vater in ein altes Landhaus, um in der Nähe ihrer Mutter zu sein, die sich im Krankenhaus von einer schweren Krankheit erholt. Bald schon begegnen die Mädchen einem riesigen Waldwesen – der Beginn ­einer wunderbaren Freundschaft. Mit My Neighbor Totoro, diesem grossartigen japanischen Animeklassiker, entführt uns Hayao Miyazaki in seine verrückt-verwunschenen, liebevoll von Hand gezeichneten Bildwelten. Populär bei Alt und Jung wurde das Wesen Totoro zum Maskottchen der Ghibli-Studios. 86 Min / Farbe / Digital HD / Jap/d // REGIE UND DREHBUCH Hayao Miyazaki // KAMERA Hisao Shirai // MUSIK Joe Hisai-

117 Min / Farbe / 35 mm / Jap/d/f // REGIE UND DREHBUCH

shi // SCHNITT Takeshi Seyama // MIT DEN STIMMEN VON

Hayao Miyazaki // KAMERA Koji Shiragami, Yukitomo Shudo,

Noriko Hidaka (Satsuki), Chika Sakamoto (Mei), Shigesato Itoi

Yasuhiro Shimizu, Mamoru Sugiura // MUSIK Joe Hisaishi //

(Tatsuo Kusakabe, der Vater), Sumi Shimamoto (Yasuko

SCHNITT Tomoko Kida, Naoki Kaneko, Soji Sakai // MIT DEN

Kusakabe, die Mutter), Hitoshi Takagi (Totoro), Naoki Tatsuta

STIMMEN VON Sumi Shimamoto (Nausicaä), Goro Naya

(Katzenbus), Toshiyuki Amagasa (Kanta Ogaki, Dorfjunge),

(Yupa), Kohei ­Miyauchi (Goru), Ichiro Nagai (Mito).

Tanie Kitabayashi (Kantas Grossmutter).

LAPUTA: CASTLE IN THE SKY

KIKI’S DELIVERY SERVICE

Im Zeitalter der industriellen Revolution: Das Waisenmädchen Sheeta ist im Besitz eines magischen Steins, der den Weg nach Laputa weist –

Wie es der Brauch verlangt, verlässt die einfallsreiche 13-jährige Hexenanwärterin Kiki ihre Familie, um in der Fremde ihr Handwerk zu vervoll-

(Tenku no shiro Rapyuta) Japan 1986

(Majo no takkyubin) Japan 1989


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Hayao Miyazaki. kommnen. Unterwegs mit ihrem geschwätzigen schwarzen Kater Jiji kommt sie bei einem Bäcker in einer Stadt am Meer unter. Sie soll Auslieferungen machen. Bald versucht sie mit Hilfe ihres Besens einen eigenen Lieferdienst aufzubauen. Doch in einem Anflug von Selbstzweifeln verliert sie ihre Zauberkräfte. Eine charmante, zeitlose und, Miyazaki-typisch, detailreich handgezeichnete Geschichte vom Erwachsenwerden. (pm)

ken zu schweben, während die unerwiderte Romanze sie in ihrem schriftstellerischen Streben antreibt.» (Jasper Sharp, bfi.org.uk, 6.5.2014) Miyazaki verfasste das Drehbuch zum Debüt seines damaligen Protegés Yoshifumi Kondo. 111 Min / Farbe / Digital HD / Jap/d // REGIE Yoshifumi Kondo // DREHBUCH Hayao Miyazaki, nach dem Manga von Aoi Hiiragi // KAMERA Kitaro Kosaka // MUSIK Yuji Nomi // SCHNITT Takeshi Seyama // MIT DEN STIMMEN VON Youko Honna (Shi-

103 Min / Farbe / Digital HD / Jap/d // REGIE UND DREHBUCH

zuku Tsukishima), Issei Takahashi (Seiji Amasawa), Shigeru

Hayao Miyazaki, nach dem Roman von Eiko K ­ adono // KA-

Tsuyuguchi (der Baron), Maiko Kayama (Yuko Harada).

MERA Shigeo Sugimura // MUSIK Joe Hisaishi // SCHNITT Takeshi Seyama // MIT DEN STIMMEN VON M ­ inami Takayama (Kiki/Ursula), Mieko Nobusawa (Kokiri, ­Kikis Mutter), Koichi Miura (Okino, Kikis Vater), Rei Sakuma (Jiji), Sho Saito (Dora), Kappei Yamaguchi (Tombo), Keiko Toda (Osono).

PORCO ROSSO (Kurenai no buta) Japan 1992

Italien 1927. Marco, einst ein berühmter Kampfpilot, wurde auf geheimnisvolle Weise in ein Schwein verwandelt und heisst seither Porco Rosso. Jetzt beschützt er als Kopfgeldjäger Handelsschiffe vor Luftpiraten. Doch neue Zeiten brechen an. Die Faschisten sind auf dem Vormarsch und Porco wird vom arroganten Piloten Donald Curtis herausgefordert. Mit Unterstützung der schönen Witwe Gina und der talentierten Mechanikerin Fio stellt er sich dem Duell. Der noch immer zu entdeckende Porco Rosso ist einer von Miyazakis persönlichsten Filmen – eine Hommage an seine geliebte Fliegerei mit atemberaubend umgesetzten Flugszenen. (pm)

PRINCESS MONONOKE (Mononoke-hime) Japan 1997

Zu einer Zeit, als die Götter in Tiergestalt auf der Erde weilen. Eboshi, Herrscherin über die Eisenstadt, will den göttlichen Wald roden. Die Tiere nehmen das nicht hin und sammeln sich wütend zur letzten Schlacht. Unterdessen macht sich der junge Krieger Ashitaka tödlich verwundet auf den Weg auf der Suche nach Heilung beim Waldgott. Dort trifft er die Wolfstochter San – auch Mono­ noke genannt –, die auf der Seite der Tiere kämpft. Zusammen versuchen sie zwischen den Menschen und Tieren zu vermitteln. Der Film, 1998 mit dem Preis für den besten japanischen Film ausgezeichnet, gilt als eines der Meisterwerke des Anime. (pm) 133 Min / Farbe / 35 mm / Jap/d/f // REGIE UND DREHBUCH ­Hayao Miyazaki // KAMERA Atsushi Okui // MUSIK Joe Hisaishi // SCHNITT Takeshi Seyama // MIT DEN STIMMEN VON Yoji Matsuda (Prinz Ashitaka), Yuriko Ishida (San/Prinzessin Mononoke), Yuko Tanaka (Madame Eboshi), Akihiro Miwa (Moro), Ka-

93 Min / Farbe / Digital HD / Jap/d // REGIE UND DREHBUCH

oru ­Kobayashi (Jiko), Tsunehiko Kamijo (Gonza), Sumi Shima-

Hayao Miyazaki, nach seinem Manga «Hikotei Jidai» // KA-

moto (Toki), Masahiko Nishimura (Kouroku), Hisaya Morishige

MERA Atsushi Okui // MUSIK Joe Hisaishi // SCHNITT Hayao

­(Ok-Koto), Yuriko Ishida (Kaya), Makoto Saito (Nago).

Miyazaki, Takeshi Seyama // MIT DEN STIMMEN VON Shuichiro Moriyama (Porco Rosso), Akio Otsuka (Donald Curtis), Tokiko Kato (Frau Gina), Akemi Okamura (Fio Piccolo), Sanshi Katsura

SPIRITED AWAY

(Herr Piccolo), Tsunehiko Kamijo (Mamma Aiuto Bandenchef).

(Sen to Chihiro no Kamikakushi) Japan 2001

WHISPER OF THE HEART

Die 10-jährige Chihiro und ihre Eltern verirren sich in den Wäldern vor Tokio und stossen auf einen scheinbar verlassenen Park. Die Eltern verhalten sich respektlos und werden in Schweine verwandelt. Am Abend erscheinen die Parkbewohner, Götter, Dämonen und Geister. Durch harte Arbeit im Badehaus der Hexe Yubaba versucht Chihiro ihre Eltern zu befreien. Mit dem Oscar-prämierten Spirited Away gelang Miyazaki im Westen endgültig der Durchbruch. Die faszinierende Welt der Schinto-Götter und die herausfordernde Ambivalenz der Figuren

(Mimi wo sumaseba) Japan 1995

«Diese berührende Coming-of-Age-Geschichte ist reine Ghibli-Magie. Eine 14-jährige, sehr fantasiebegabte Büchernärrin verliebt sich in einen bisher unbeachteten Klassenkameraden, zu dessen Haus sie von seiner Katze geführt wird. Dem Film gelingt das doppelte Kunststück, mit den Füssen auf dem (buchstäblich) harten Boden der Realität zu bleiben und mit dem Kopf in den Wol-


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Hayao Miyazaki. überzeugen. So ist Kaonashi, das «Nicht-Gesicht», mal Freund, mal Monster. Die Hexe Yu­ baba scheint nur anfangs der eindeutige Bösewicht zu sein. (pm) Spirited Away zeigen wir auch in der deutsch synchronisierten Fas­ sung (Yubaba wird von Nina Hagen gesprochen) als Chihiros Reise ins Zauber­land im «Filmpodium für Kinder».

ist auf eine Botschaft nicht zu verpflichten.» ­(Ekkehard Knörer, perlentaucher.de, 15.9.2010) 100 Min / Farbe / 35 mm / Jap/d/f // REGIE UND DREHBUCH Hayao Miyazaki // KAMERA Atsushi Okui // ­MUSIK Joe Hisaishi // SCHNITT Takeshi Seyama // MIT DEN STIMMEN VON Yuria Nara (Ponyo), Hiroki Doi (Sosuke), Joji Tokoro (Fujimoto), T ­ omoko Yamaguchi (Lisa).

124 Min / Farbe / 35 mm / Jap/d/f // REGIE UND DREHBUCH Hayao Miyazaki // KAMERA Atsushi Okui // ­MUSIK Joe Hisaishi // SCHNITT Takeshi Seyama // MIT DEN STIMMEN VON Rumi Hiiragi (Chihiro/Sen), Miyu Irino (Haku), Mari Natsuki ­(Yubaba/Zeniba), Yumi Tamai (Lin), Bunta Sugawara (Kamaji),

THE SECRET WORLD OF ARRIETTY (Kari-gurashi no Arietti) Japan 2010

Yasuko Sawaguchi (Chihiros Mutter), Takashi Naito (Chihiros Vater), Akio Nakamura (Ohngesicht).

HOWL’S MOVING CASTLE (Hauru no ugoku shiro) Japan 2004

«Als sich die Hutmacherin Sophie in den jungen Zauberer Hauro verliebt, wird sie von einer eifersüchtigen Hexe mit einem Fluch belegt, der sie in eine alte Frau verwandelt. Sophie (…) verlässt ihre Heimatstadt und trifft in der Einöde auf Hauros ‹wandelndes Schloss›, dessen bunter Truppe sie sich als Putzfrau anschliesst. Im Feuerdämon Calcifer sowie im Zauberlehrling Markl findet sie neue Freunde.» (Xenix, April 2011) Der zweite Ghibli-Film, der für einen Oscar nominiert wurde.

Arrietty, bloss ein paar Zentimeter klein, gehört mit ihren Eltern zu den letzten ihrer Art, den Borgern, die sich von den Menschen das Nötige «borgen». Von diesen heimlichen Untermietern weiss niemand, doch gibt es Menschen, die überzeugt sind, dass es sie gibt. Dazu gehört auch die Familie von Sho, einem herzkranken Jungen. Als Arrietty ihren Vater zum ersten Mal auf eine Expedition begleitet, blickt sie plötzlich in die Augen von Sho. Hiromasa Yonebayashi zeigt mit seinem Regiedebüt nach Miyazakis Drehbuch, dass er die Kunst, die Welt bis ins kleinste Detail zu beleben, souverän beherrscht. (th) 94 Min / Farbe / Digital HD / Jap/d // REGIE Hiromasa Yonebayashi // DREHBUCH Hayao Miyazaki, Reiko Niwa, nach «The Borrowers» von Mary Norton // KAMERA Atsushi Okui // MUSIK Cécile Corbel // SCHNITT Takeshi Seyama, Keiko Kadokawa, Rie Matsuhara // MIT DEN STIMMEN VON Mirai Shida

119 Min / Farbe / 35 mm / Jap/d/f // REGIE UND DREHBUCH

(Arrietty), Ryunosuke Kamiki (Sho), Shinobu Otake (Homily),

­Hayao Miyazaki, nach dem Roman von Diana Wynne Jones //

Keiko Takeshita (Maki Sadako), Tatsuya Fujiwara (Spiller),

KAMERA Atsushi Okui // MUSIK Joe Hisaishi // SCHNITT Take-

­Tomokazu Miura (Pod), Kirin Kiki (Haru).

shi Seyama // MIT DEN STIMMEN VON Chieko Baisho (Sophie), ­Takuya Kimura (Hauro), Tatsuya Gashuin (Calcifer), Ryunosuke Kamiki (Markl), Akihiro Miwa (Hexe), Kayako Tsuzuki (Lettie).

PONYO

(Gake no ue no Ponyo) Japan 2008 Der kleine Sosuke freundet sich mit dem Goldfischmädchen Ponyo an, das gerne ein richtiger Mensch werden möchte. Mittels seiner Zauberkräfte gelingt ihm dies auch. Doch diese Kräfte bringen das Gleichgewicht der Natur durcheinander und beschwören einen Sturm herauf, der alle in Gefahr bringt. «Im Vergleich zu manch früherem Werk gibt es deutlich weniger Steampunk und viel mehr Märchen. Nur was für Kinder, wie von manchem behauptet, ist Ponyo dennoch sicher nicht. Die Themen sind gross wie stets, das Pathos wird von Humor umspült und umspielt, und die Geschichte

FROM UP ON POPPY HILL (Kokuriko-zaka kara) Japan 2011

Yokohama, 1963. Allmorgendlich hisst die 17-jährige Umi zu Ehren ihres im Koreakrieg verschollenen Vaters die Signalflagge vor ihrem Haus auf dem Mohnblumenberg. Als eines Tages in der Schülerzeitung ein Artikel über ihr Ritual erscheint, sucht sie die Redaktion auf und lernt den Herausgeber Shun kennen. Die beiden vaterlosen Jugendlichen freunden sich an. Detailreich und sorgfältig gezeichnet, erzählt der Film mit glaubwürdigen Figuren seine Geschichte einer (nicht nur) für Japan wichtigen Phase, als die Nachkriegsgeneration die Zeit als die ihrige entdeckt und packen will. (pm) 91 Min / Farbe / Digital HD / Jap/d // REGIE Goro Miyazaki // DREHBUCH Hayao Miyazaki, Keiko Niwa, nach dem Manga von Tetsuro Sayama, Chizuru Takahashi // KAMERA Atsushi Okui


> Laputa: Castle in the Sky / Das Schloss im Himmel.

> Spirited Away / Chihiros Reise ins Zauberland.


Hayao Miyazaki. // MUSIK Satoshi Takebe // SCHNITT Takeshi Seyama // MIT DEN STIMMEN VON Masami Nagasawa (Umi Matsuzaki), Junichi Okada (Shun Kazama), Keiko Takeshita (Hana Matsuzaki), Yuriko Ishida (Miki Hokuto), Rumi Hiiragi (Sachiko Hirokoji).

THE WIND RISES (Kaze tachinu) Japan 2013

«Nach historischen Figuren und Ereignissen modelliert Hayao Miyazaki einen Animationsfilm, der technisch brillant und mit grosser Ernsthaftigkeit von den Verwicklungen des Ingenieurs in die Rüstungsindustrie und seiner Liebe zu einer an Tuberkulose erkrankten jungen Frau erzählt.» (film-dienst.de) 126 Min / Farbe / DCP / Jap/d // REGIE UND DREHBUCH ­Hayao Miyazaki // KAMERA Atsushi Okui // M ­ USIK Joe Hisaishi //

Jiro Horikoshi träumt vom Fliegen. Aber seiner schlechten Augen wegen wird er «nur» ein berühmter Flugzeugkonstrukteur – bestärkt vom ebenfalls in seinen Träumen erscheinenden «Vorfahren» Giovanni Caprioni. Horikoshi wird ­ schliesslich unter anderem die Kamikaze-Bomber bauen.

SCHNITT Takeshi Seyama // MIT DEN STIMMEN VON Hideaki Anno (Jiro Horikoshi), Miori Takimoto (Naoko Satomi), ­Hidetoshi Nishijima (Honjo), Jun Kunimura (Hattori), Keiko Takeshita (Jiros Mutter), Mansai Nomura (Caproni), Masahiko Nishimura (Kurokawa), Mirai Jita (Kayo Horikoshi), Morio Kazama (Satomi), Shinobu Otake (Kurokawas Frau), Stephen Alpert (Castorp).

Filmpodium für Kinder

2x Hayao Miyazaki Diesen Sommer steht das Kinderprogramm Magiers Hayao Miyazaki, mit zwei verwun-

DAS SCHLOSS IM HIMMEL (LAPUTA: CASTLE IN THE SKY) / Japan 1986

schen-abenteuerlichen Märchen.

Miyazaki // KAMERA Hirokata Takahashi // MUSIK Joe Hisaishi

ganz im Zeichen des japanischen Anime-

125 Min / Farbe / 35 mm / D // REGIE UND DREHBUCH Hayao // SCHNITT Hayao Miyazaki, Yoshihiro Kasahara, Takeshi

Die detailreich und stets von Hand gezeichneten Animationsfilme aus dem Studio Ghibli bezaubern seit rund 30 Jahren Jung und Alt. Vor allem die Werke von Hayao ­Miyazaki begeistern, weil sie keine einfach gestrickten Gut-Böse-Geschichten erzäh-

­Seyama // MIT DEN STIMMEN VON Nathalie Loewenberg (Sheeta), Nico Mamone (Pazu), Ilona Grande (Dora), ClausPeter Damitz (Musca), Claus Brockmeyer (Louis), Jens Kretschmer (Henri), Christoph Jablonka (Charlie), Thorsten Nindel (Duffi), Manfred ­Erdmann (General Mouro). Inhaltsangaben siehe S.21

len, sondern es wagen, ihr Publikum auch

CHIHIROS REISE INS ZAUBERLAND (SPIRITED AWAY) / Japan 2001

herauszufordern.

124 Min / Farbe / 35 mm / D // REGIE UND DREHBUCH Hayao

Wir zeigen zwei Filme aus der Hayao-­ Miyazaki-Retrospektive hier zusätzlich in

Miyazaki // KAMERA Atsushi Okui // MUSIK Joe Hisaishi // SCHNITT Takeshi Seyama // MIT DEN STIMMEN VON Sidonie von Krosigk (Chihiro/Sen), Tim Sander (Haku), Nina Hagen

der deutsch synchronisierten Fassung: Das

(Yubaba/Zeniba), Cosma Shiva Hagen (Lin).

Schloss im Himmel, den ersten Film, der im

Inhaltsangaben siehe S.22

Hause Ghibli entstand, und Chihiros Reise ins Zauberland (Spirited Away), den wohl grössten Erfolg dieses Animationsfilmstudios. Vorschau: Vom 10. Oktober bis am 14. November 2015 zeigen wir mit Ponyo noch einen weiteren Film von Hayao Miyazaki im «Filmpodium für Kinder».

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26 Das erste Jahrhundert des Films

1965 & 1975 1965 feiert eine wild-bewegte Lebensgeschichte vor dem Hintergrund der russischen Revolution einen Triumphzug durch die Kinosäle der Welt: Doctor Zhivago beschert David Lean einen der grössten Kassenerfolge des ganzen Jahrzehnts. Der Geist der 1960er Jahre wird wiederum von Jean-Luc Godard in Pierrot le fou eingefangen: Mit seiner Geschichte über das «letzte romantische Liebespaar» (Godard) schafft er ein Meisterwerk der Nouvelle Vague. Roman Polanski zieht in diesem Jahr seine Zuschauer in die inneren Abgründe der somnambulen, psychopathischen Catherine Deneuve hinein (Repul­ sion), Agnès Varda irritiert ihr Publikum mit ihrer schmerzhaft schönen Reflexion über das Glück (Le bonheur), und Robert Wise verzaubert es mit Bergen, Kindern im Dirndl, einem verliebten Paar und einem Lied über das Edelweiss: Der amerikanische Regisseur schafft mit The Sound of Music einen Musicalfilm, der bis heute zu den fünf meistgesehenen Filmen zählt – im deutschen Sprachraum allerdings kennen ihn nur wenige. Zehn Jahre später bringt Stanley Kubrick sein akribisch rekonstruiertes Historiendrama Barry Lyndon auf die Leinwand, und Monty Python beweisen mit ihrer aberwitzigen Mittelalterparodie (Monty Python and the Holy Grail), dass sie auch hinter der Kamera unschlagbar schräg sind, während Theo Angelopoulos mit Die Wanderschauspieler eines der Hauptwerke des Weltkinos der 1970er Jahre dreht. In den USA schickt Robert Altman 24 Protagonisten auf die (satirisch gefärbte) Suche nach dem «American Dream» (Nashville), wogegen Milos Forman in One Flew Over the Cuckoo’s Nest dem rebellischen Geist der Gegenkultur der 1960er und 1970er Jahre Ausdruck verleiht; in Italien gelingt Pier Paolo Pasolini mit seinem radikalen Salò eines der umstrittensten Werke der Filmgeschichte. Tanja Hanhart Das erste Jahrhundert des Films In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 w ­ egweisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. ­Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, d. h. im Jahr 2015 sind Filme von 1915, 1925, 1935 usw. zu sehen. Vor einzelnen Filmen zeigen wir Filmwochenschauen des betreffenden Jahres (siehe Leporello).

Weitere wichtige Filme von 1965

Weitere wichtige Filme von 1975

Akahige Akira Kurosawa, J Alphaville Jean-Luc Godard, F Chimes at Midnight Orson Welles, Sp/CH Die Handschrift von Saragossa Wojciech J. Has, Polen Die Liebe einer Blondine Miloš Forman, ČSSR I pugni in tasca Marco Bellocchio, I Kwaidan Masaki Kobayashi, J Per qualque dollaro in più Sergio Leone, I Schatten vergessener Ahnen Sergej Paradshanow, UdSSR Simón del desierto Luis Buñuel, Mexiko The War Game Peter Watkins, GB Tokyo orinpikku Kon Ichikawa, J

Dersu Uzala Akira Kurosawa, J Dog Day Afternoon Sidney Lumet, USA Faustrecht der Freiheit Rainer Werner Fassbinder, BRD Jaws Steven Spielberg, USA Jeanne Dielman Chantal Akerman, Belgien/F Maynila: Sa mga kuko ng liwanag Lino Brocka, Philippinen Picnic at Hanging Rock Peter Weir, Australien Professione: reporter Michelangelo Antonioni, I The Rocky Horror Picture Show Jim Sharman, GB/USA Three Days of the Condor Sydney Pollack, USA Welfare Frederick Wiseman, USA Zerkalo Andrei Tarkowskij, UdSSR


Das erste Jahrhundert des Films: 1965 & 1975.

REPULSION GB 1965 Die attraktive Belgierin Carol lebt mit ihrer Schwester Helen zusammen in einer Londoner Wohnung. Sie ist Angestellte eines Kosmetik­ salons und verdient ihren Lebensunterhalt damit, anderen die Fingernägel zu säubern, zu schneiden und zu feilen, knabbert aber wie besessen an den eigenen. Männer und deren Nähe sind ihr ­verhasst – als sie mehrere Wochen allein in der Wohnung zubringt, zieht sie sich in eine erschreckende Welt aus Fantasien und Albträumen zurück. Roman Polanski drehte in London mit Repulsion seinen ersten englischsprachigen Film und prägte damit nachhaltig das Thriller- und Horrorgenre. «Dieser Film ist immer noch Polanskis unheimlichster und verstörendster – nicht nur wegen seiner Beschwörung sexueller Panik, sondern auch in seinem meisterhaften Einsatz von Ton, der auf die Vorstellungskraft des Zuschauers einwirkt. Repulsion ist der expressionistischste seiner frühen Schwarzweiss-Filme: Tiefenschärfe, extreme Weitwinkel und andere visuelle Kunstgriffe ver-

mitteln subjektive Geisteszustände, in denen Träume, Vorstellungen und Alltagsrealität in eins verschmelzen.» (Jonathan Rosenbaum, in: 1001 Filme, Ed. Olms, 2012) «Ein atemberaubendes Porträt des geistigen und emotionalen Zerfalls einer schüchternen jungen Belgierin. (...) Viele gut integrierte Bildund Toneffekte suggerieren die innere Qual: Risse im Asphalt, Hände, die sich aus den Wänden strecken, Schatten unter Türen. (…) Die Männer, denen das Mädchen begegnet, sind alles andere als sympathisch dargestellt, und wir verstehen ihre Angst und ihren Ekel durch den surrealen Expressionismus, mit dem ihr Zustand dargestellt wird. Alles in allem einer der intelligentesten Horrorfilme und bestimmt ein besonders beängstigender.» (Geoff Andrew, Time Out Film Guide) 109 Min / sw / DCP / E/d // REGIE Roman Polanski // DREHBUCH Roman Polanski, Gérard Brach // KAMERA Gilbert Taylor // MUSIK Chico Hamilton // SCHNITT Alastair McIntyre // MIT Catherine Deneuve (Carol Ledoux), Ian Hendry (Michael), John Fraser (Colinvonne), Yvonne Furneaux (Helen Ledoux), Patrick Wymark (Vermieter), Renée Houston (Miss Balch), Valerie Taylor (Madame Denise), James Villiers (John), Helen Fraser (Bridget), Hugh Futcher (Reggie), Monica Merlin (Mrs. Rendlesham), Mike Pratt (Arbeiter).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1965 & 1975.

DOCTOR ZHIVAGO USA/GB 1965 Im zaristischen Moskau wächst Yuri Zhivago bei einer grossbürgerlichen Familie auf, studiert Medizin und heiratet die Tochter seiner Pflegeeltern, die er zwar schätzt, jedoch nicht liebt. Zufällig kreuzen sich seine Wege immer wieder mit denen der schönen Lara, die mit einem Revolutionär verheiratet ist. Als Yuri im Ersten Weltkrieg an die Front zieht, trifft er Lara wieder, die im Lazarett als Krankenschwester arbeitet – die beiden verlieben sich ineinander. Eine berührende Liebesgeschichte und eines der grössten Leinwandepen von David Lean, der das europäische Kino, laut Georg Seesslen, zu einer «prachtvollen Grossartigkeit geführt hat, zu der das amerikanische nie imstande war». «Lean konzentriert sich in seiner Verfilmung von Boris Pasternaks Roman vor allem auf die dramatischen Lebensschicksale der Hauptpersonen, für die er monumentale Stimmungsbilder findet. Doctor Zhivago gehört zu den grössten Kassenerfolgen der sechziger Jahre und hat wie kaum ein anderer Film die gängigen Vorstellungen vom ‹alten Russland› geprägt und verfes­ tigt.» (arsenal-berlin.de) «Doctor Zhivago zieht die Zuschauer in seinen Bann, weil das Menschenschicksal ins Zentrum

gerückt wird. Die Verwirrung der Gefühle, die Leidenschaften eines Mannes zwischen zwei Frauen, nichts kann uns mehr ergreifen, nichts ist grösser, nicht einmal die Oktoberrevolution. (…) Lean war ein Gigantomane, ein Perfektionist des Dekors. Er baut sein künstliches, pathetisches Bilderbuch-Russland um die Figuren herum und verleiht ihnen damit fast biblischen Glanz, erzählt unaufgeregt und unglaublich glamourös, verlässt nie die Perspektive der Leidenden und führt den Zuschauer mit der Autorität des gewieften Erzählers durch die Höhen und Tiefen einer gewaltigen Geschichte. Er zeigt das Grausame, Unvorstellbare schön und gibt dem Leiden Poesie; er erzählt ein Märchen über die Wahrheit der Gefühle.» (Leander Haussmann, SZ-Filmkritik, 18.4.2006) 192 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE David Lean // DREHBUCH Robert Bolt, nach dem Roman von Boris Pasternak // KAMERA Freddie Young, Nicolas Roeg (ungenannt) // MUSIK Maurice Jarre // SCHNITT Norman Savage // MIT Omar Sharif (Dr. Yuri Zhivago), Julie Christie (Lara), Geraldine Chaplin (Tonya Gromeko), Rod Steiger (Komarowsky), Alec Guinness (General Yevgraf Zhivago), Tom Courtenay (Pascha Antipow), Rita Tushingham (das Mädchen), Klaus Kinski (Kostoyed Amurski), Siobhan McKenna (Anna), Ralph Richardson ­(Alexander Gromeko), Noel Willman (Razin), Adrienne Corri (Amelia).


Das erste Jahrhundert des Films: 1965 & 1975.

an Bedeutung zugenommen.» (Ethan de Seife, in: 1001 Filme, Ed. Olms 2012) «Vermutlich der schönste, kühnste, reichste Frankreich/Italien 1965 Godard-Film, der Louis Aragon veranlasst hat zu Ein romantischer junger Mann nimmt eine Leiche schreiben: ‹Was ist Kunst? Ich kämpfe mit dieser in seiner Wohnung zum Anlass, aus der bürger- Frage, seit ich Pierrot le fou gesehen habe.› Ein lichen Gesellschaft auszubrechen und sich dem fulminant romantischer, berauschend labyrinthischer Abgesang auf Abenteuer-, Reise- oder LieAbenteuer der Freiheit zu überlassen. Pierrot le fou ist ein Meilenstein unter Jean- besfilme, der von Gewalt, Blut, Mord, dem Müll Luc Godards grossen Werken sowie einer der Hö- und den Lichtekstasen der Côte d’Azur, dem hepunkte der Nouvelle Vague, ohne den Chantal Traum der Freiheit, der schrecklichen Pracht des Akerman nach eigener Aussage nie Regisseurin Rot-wie-Blut und der Farbe Blau handelt (Blau geworden wäre und dessen Einfluss Filmkritiker wie Sehnsucht, wie Meereshorizont). (...) Unter etwa noch in Wes Andersons Moonrise Kingdom den 1000 Inserts, Tagebuchnotizen und Sentenzen dieses trunkenen Abenteuer-Kino-Schiffs (2012) festmachten. «Pierrot le fou bildet eine Art Wendepunkt, findet sich auch ein nahezu gemeingefährlich rodenn er liegt in der Mitte zwischen dem expe­ mantischer Satz: ‹Nous sommes faits de rêves›.» rimentellen Schwung von Godard-Filmen wie­ (Harry Tomicek, Österreichisches Filmmuseum, À bout de souffle und Vivre sa vie und den hochpo- 10/2011) litischen, zynischen und bitter-witzigen Werken wie Week-end. In Pierrot le fou finden sich Ele- 110 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Jean-Luc Godard // mente von beidem, was ihn zum reichen Filmer- DREHBUCH Jean-Luc Godard, nach einem Roman von Lionel lebnis macht. Und er ist von grosser visueller White // KAMERA Raoul Coutard // MUSIK Antoine Duhamel // Schönheit. (...) Godards wunderbarer Kamera- SCHNITT Françoise Collin // MIT Jean-Paul Belmondo (Fermann Raoul Coutard drehte im Techniscope-For- dinand Griffon), Anna Karina (Marianne Renoir), Graziella Galmat – eine Verbeugung vor den grossen Holly- vani (Maria, Ferdinands Frau), Dirk Sanders (Fred, Mariannes woodfilmen der 1950er und 1960er Jahre und «Bruder»), Jimmy Karoubi (Gangsterboss), Roger Dutoit deren handwerklichen Perfektion. (...) Die Kraft (Gangster), Hans Meyer (Gangster), Raymond Devos (Mann am von Godards Bildern und seiner Satire ist mit der Hafen), Samuel Fuller (er selbst), Lászlo Szábó (politisch VerZeit nicht geringer geworden, sondern hat eher folgter), Jean-Pierre Léaud (junger Mann im Kino).

PIERROT LE FOU

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Das erste Jahrhundert des Films: 1965 & 1975.

LE BONHEUR Frankreich 1965 François lebt mit seiner Frau Thérèse und seinen zwei kleinen Kindern ein glückliches und geregeltes kleinbürgerliches Leben. Eines Tages lernt er die hübsche Postangestellte Emilie kennen, verliebt sich in sie, schläft mit ihr – und hat somit zwei Frauen. Das Leben gefällt ihm jetzt noch besser als vorher: Unter der Woche liebt er Emilie, samstags tanzt er mit beiden, der Sonntag gehört wie eh und je der Familie. An einem dieser Sonntage erzählt er Thérèse von seinem verdoppelten Glück. Le bonheur, der zweite lange Spielfilm von Agnès Varda, ist «ein Film über Reinheit und Beflecktheit, eine Studie in Transparenz, als ironische Abfolge impressionistischer Genreszenen. Sujet: Alltag. Und auch eine Reflexion über den ‹vérité›-Stil, der vom Zyklus der Jahre und Zeiten, von der Indifferenz des Grases und dem rabiaten ‹Daneben› der Musik, von der trügerischen Durchsichtigkeit des Wassers und dem opaken Geflirre des Geästs immer wieder etwas auf den Deckel kriegt: Lügner! Der Augenblick ist nichts, wo man bleiben kann, er ist noch nicht einmal ein Hotel, eine Parkbank bestenfalls, aber mit kaputter Lehne.» (Rui Hortênsio da Silva e Costa, Österreichisches Filmmuseum, 10/2006) «Ausgegangen bin ich von ganz kleinen, winzigen Impressionen, von fast nichts: von Familienfotos. Detailliert sieht man da Leute, eine Gruppe von Personen, alle um einen Tisch, unter einem Baum, sie haben ihre Gläser erhoben und lächeln, während sie in die Kamera schauen. Wenn sie das Foto betrachten, sagen sie sich: Das ist das Glück – ein Eindruck nur, eine Impression.» (Agnès Varda, Cahiers du cinéma, 165/1965)

die inzwischen als ‹singende Familie› berühmt geworden sind, zur Auswanderung nach Amerika. «The Sound of Music ist der fünfterfolgreichste Film der Geschichte. (...) Es ist eine wahre Geschichte – zumindest in den Grundzügen. Die 1938 aus Österreich in die USA emigrierten Trapp Family Singers feierten dort und auf verschiedenen Tourneen unter anderem in Südamerika und Australien bis 1956 Erfolge. Nicht zu vergleichen waren diese aber mit dem Ruhm, den der Film mit einer hinreissenden Julie Andrews als bergsteigende und gitarrenspielende Novizin brachte. 1,2 Milliarden Zuschauer weltweit, so schätzt man, haben The Sound of Music gesehen. In Südamerika und vielen angelsächsischen Ländern ist der mit fünf Oscars prämierte Film ein Dauergast im Weihnachtsprogramm wie hierzulande Drei Nüsse für Aschenbrödel oder Der kleine Lord. (...) Dass das deutschsprachige Publikum bis heute ahnungslos geblieben ist, liegt an aus heutiger Sicht eigenartigen Empfindlichkeiten der Nachkriegszeit. Man glaubte, den Zuschauern eines Unterhaltungsfilms keinerlei Bezüge zur NS-Zeit zumuten zu können, und beschnitt die Geschichte in der deutschen Version unter dem Titel Meine Lieder, meine Träume rigoros. Daraufhin floppte der Film in den Kinos. Erstmals ins Fernsehen kam das Musical erst in der später wieder ergänzten Fassung – in Deutschland 2005, in der Schweiz 2007. Dann war es aber schon zu spät, um von Fräulein Maria das ‹Do-ReMi› zu lernen.» (Ruth Spitzenpfeil, NZZ, 24.3.2015) 172 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE Robert Wise // DREHBUCH Ernest Lehman // KAMERA Ted D. McCord // MUSIK Irwin Kostal // SCHNITT William Reynolds // MIT Julie Andrews (Maria), Christopher Plummer (Captain von Trapp), Eleanor Parker (Baronin), Richard Haydn (Max Detweiler), Peggy Wood (Mutter Oberin), Charmian Carr (Liesl), Heather Menzies-Urich (Louisa), Nicholas Hammond (Friedrich), Duane Chase (Kurt).

79 Min / Farbe / DCP / F/e // REGIE Agnès Varda // DREHBUCH Agnès Varda // KAMERA Jean Rabier // MUSIK Jean-Michel Defaye // SCHNITT Janine Verneau // MIT Jean-Claude Drouot (François Chevalier), Claire Drouot (Thérèse Chevalier), Olivier Drouot (Pierrot Chevalier), Sandrine Drouot (Gisou Chevalier), Marie-France Boyer (Emilie Savignard).

THE SOUND OF MUSIC USA 1965 Eine lebensfrohe junge Novizin kommt als Erzieherin ins Haus des verwitweten Barons von Trapp, gewinnt seine Liebe und die seiner sieben Kinder und heiratet ihn. Der Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich im Jahr 1938 zwingt den heimattreuen ehemaligen Offizier und die Seinen,

> The Sound of Music.


Das erste Jahrhundert des Films: 1965 & 1975.

NASHVILLE USA 1975 Nashville, die Hauptstadt der CountrymusikIndustrie, rüstet sich zum 200. Geburtstag der Vereinigten Staaten. Die Manager eines Präsidentschaftskandidaten gewinnen die populärsten Sänger für eine Wahl-Show, die eine dramatische Wendung nimmt. Nashville ist der Film, mit dem der amerikanische Regisseur Robert Altman endgültig in den Olymp des Kinos aufgefahren ist. «Wie revolutionär Robert Altmans Nashville bei seinem Erscheinen 1975 gewesen sein muss, kann man heute nur noch ahnen. Damals wagte noch kaum ein Regisseur Geschichten parallel zu erzählen, inzwischen hat man sich dank weiterer Filme Altmans und in seiner Nachfolge Paul Thomas Andersons oder Alejandro González Iñárritus an solche Erzählweisen gewöhnt. (...) Keine lineare Handlung wird aufgebaut, vielmehr folgt Altman 24 Figuren durch fünf Tage durch die Metropole der Country- und Western-Musik. Nur die Stadt verbindet alle Figuren, die sich mal zufällig, mal bewusst begegnen und manche treffen sich auch nie. (...) So werden eine Fülle privater Geschichten erzählt, aber gleichzeitig geht es in ­diesem als kritischer Gegenbeitrag zu den Jubelfeiern zum 200-jährigen Bestehen der USA angelegten Kaleidoskop immer um das Showbusiness

und dessen Vermarktung, um den Versuch der Politik, die Musik und deren Stars für ihre Zwecke einzuspannen, und auch die Erschütterungen durch Vietnamkrieg, Watergate und der noch nicht überwundene Schock durch die Morde an John F. und Robert Kennedy sowie an Martin Luther King schimmern durch. (...) Furios ist, mit welcher Leichtig- und Selbstverständlichkeit Altman die Fülle der Figuren verknüpft, wie er sie einführt, bei einem grossen Crash auf dem Highway zusammenführt, dann ihre eigenen Wege gehen lässt und in der denkwürdigen Schlussszene beim Open-Air-Konzert wieder zusammenführt. Doch Nashville ist nicht nur ein Meisterstück des Schnitts und der Organisation der Szenen, sondern auch sensationell in seiner Arbeit mit dem Ton, der mit einem damals revolutionären Ton­ system mit acht Tonspuren aufgenommen wurde und immer wieder Songs und Dialoge überlappen lässt.» (Walter Gasperi, kultur-online.net) 159 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Robert Altman // DREHBUCH Joan Tewkesbury // KAMERA Paul Lohmann // MUSIK Richard Baskin // SCHNITT Sidney Levin, Dennis M. Hill // MIT David Arkin (Norman), Barbara Baxley (Lady Pearl), Ned Beatty (Delbert Reese), Karen Black (Connie White), Ronee Blakley (Barbara Jean), Geraldine Chaplin (Opal), Timothy Brown (Tommy Brown), Keith Carradine (Tom Frank), Shelley Duvall (L. A. Joan), Scott Glenn (Glenn Kelly), Jeff Goldblum (Dreirad-Mann), Lily Tomlin (Linnea Reese).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1965 & 1975.

MONTY PYTHON AND THE HOLY GRAIL

SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA

GB 1975

Italien/Frankreich 1975

England im Jahr 932: King Arthur zieht mit seinem Diener Patsy kreuz und quer durchs Land, um nach Rittern für seine Tafelrunde zu suchen. Es gelingt ihm, eine mehr oder weniger wackere Rittertruppe zusammenzutrommeln: Sir Lancelot, Sir Robin, Sir Bedevere und Sir Galahad stehen ihm fortan treu zur Seite. Gemeinsam begeben sie sich auf die abenteuerliche Suche nach dem Heiligen Gral und müssen dabei zahlreiche Gefahren überstehen. Monty Python and the Holy Grail ist der erste Kinofilm von Terry Gilliam und Terry Jones, zum ers­ten Mal nahmen hier Mitglieder von «Monty Python» auch hinter der Kamera Platz: «Die sechs schrägen Vögel mit den unzähligen Diplomen liessen sich von ihrer fünfjährigen harten ­Arbeit für die BBC inspirieren, wo sie den ‹Monty Python Flying Circus› betrieben, ein wahres Experimentierfeld für abseitigen Humor, Witze an der Grenze des Tragbaren und fröhlichen Nonsens. (...) Was haben sie von der Serie übernommen? Die einzelnen Kurzszenen, aus denen dieser ­hervorragende Film von atemberaubender Geschwindigkeit besteht. Es gibt keine toten Momente, und jeder Witz sitzt, der umwerfende Humor stellt alle Klischees bloss und auf den Kopf. Kein Geld im Budget für echte Pferde? Da reicht eine Kokosnuss, um den Hufschlag zu simulieren. Jede Improvisation erzielt einen Lacherfolg.» (Delphine Valloire, arte, 12.3.2009) «Natürlich hat jeder Fan dieses Films seinen Lieblingsmoment (der trojanische Hase, Robin und seine Minnesänger, der Killerhase, die heilige Handgranate und der verrückte Brückenwächter). Monty Python and the Holy Grail ist nicht nur ein bizarrer Film, er entwirft auch ein (...) Porträt mittelalterlichen Lebens. Das Set-Design und der optische Stil sind detailverliebt und reichhaltig und verleihen dem Film eine solche Glaubwürdigkeit, dass die zeitgenössische Polizeirazzia am Ende ein richtiger Schock ist.» (The Motion Picture Guide)

Italien im Jahre 1944: Vier Grossbürger, eingefleischte Nietzsche- und Baudelaire-Kenner, ziehen sich für einige Zeit auf ein Anwesen in der Republik Salò zurück und inszenieren terroristische Grausamkeitsrituale: Junge Frauen und Männer werden entführt und mit Hilfe von faschistischen Soldaten gefoltert und ermordet. Salò o le 120 giornate di Sodoma, nach einem Romanfragment von de Sade, gilt bis heute als eines der umstrittensten Werke der Filmgeschichte: Wegen seiner offenen Darstellung von Vergewaltigung, Folter und Mord wurde er in vielen Ländern verboten. Pier Paolo Pasolini nahm mit diesem Film alle Kompromisse zurück, die er in seiner Karriere eingegangen war: Salò o le 120 giornate di Sodoma, die Vision des totalen sadistischen Terrors, ist bis heute ein «schwarzer Block im Herzen des europäischen Kinos» (Andreas Kilb). Schon die beiden Handlungsorte sind vielsagend: Salò, Mussolinis letzter Aufenthaltsort, und Marzabotto, wo die Nazis die Einwohner eines ganzen Dorfes ermordeten. «Pasolini verlegt Salò o le 120 giornate di Sodoma in die letzten Tage des italienischen Faschismus. (...) In vier Teilen schildert Pasolini ausschliesslich Unmenschlichkeit. Der Einleitung folgen die Höllenkreise Dantes: der Kreis der Leidenschaft, der Scheisse und des Blutes. Monoton, abstossend, ohne jedes Mitleid und in starrer Symmetrie zeigt Pasolini eine bleiche, kalte Welt jenseits aller Tabus, die den letzten Reiz in sadistischer Ausübung von Macht findet. Er wirft der Welt den Fehdehandschuh hin: Jede Erwartungshaltung wird verneint, jede Hoffnung der früheren Filme ist begraben. In einem Pas de deux, der ebenso gut ein Totentanz sein könnte, bricht Salò o le 120 giornate di Sodoma ab. Beim Erscheinen des Films war sein Schöpfer bereits tot.» (Christoph Huber, Österreichisches Filmmuseum, 4/2008) 117 Min / Farbe / 35 mm / I/d/f // REGIE Pier Paolo Pasolini // DREHBUCH Pier Paolo Pasolini, Sergio Citti, nach dem Ro-

92 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE Terry Gilliam, Terry

manfragment von Donatien Alphonse François Marquis de

Jones // DREHBUCH Terry Jones, Graham Chapman, John

Sade // KAMERA Tonino Delli Colli // SCHNITT Nino Baragli

Cleese, Eric Idle // KAMERA Howard Atherton, Terry Bedford //

// MIT Paolo Bonacelli (Fürst Blangis), Umberto Paolo Quin-

MUSIK Neil Innes, De Wolfe // SCHNITT John Hackney //

tavalle (seine Exzellenz Curval, Präsident des Berufungsge-

MIT Graham Chapman (King Arthur/Wächter mit Schluckauf/

richts), Sonia Saviange (Pianistin), Aldo Valletti (Präsident

Stimme Gottes u. a.), John Cleese (Sir Lancelot, der Tapfere/

Durcet), Giorgio Cataldi (Bischof), Hélène Surgère (Signora

Der Schwarze Ritter/Der Zauberer u. a. ), Terry Gilliam (Knappe

Vaccari), Caterina Boratto (Signora Castelli), Elsa De Giorgi

Patsy/Der Wahrsager/Sir Bors u. a.), Eric Idle (Sir Robin/Bru-

(Signora Maggi).

der Maynard u. a.), Michael Palin (Sir Galahad/Dennis/King of Swamp Castle u. a.), Terry Jones (Sir Bedevere/Dennis’ Mutter/ Prince Herbert u. a.), Connie Booth (Hexe), Carol Cleveland (Zoot/Dingo), Neil Innes (der erste Mönch u. a.).


Das erste Jahrhundert des Films: 1965 & 1975.

BARRY LYNDON GB/USA/Irland 1975 Barry, ein ebenso armer wie ambitiöser Ire aus der Provinz, will mit allen Mitteln in den englischen Adel aufsteigen. Durch die Heirat mit der reichen, verwitweten Lady Lyndon gelingt ihm dies, doch schon bald bringen ihn seine Verschwendungssucht und seine törichte Gier nach gesellschaftlichem Ansehen in eine katastrophale Lage. «1975 wurde Barry Lyndon mit Gleichgültigkeit aufgenommen, doch heute wird er weithin als einer der besten Filme von Stanley Kubrick angesehen. Jede einzelne Einstellung deutet unverkennbar darauf hin, dass dies ein Kubrick-Film ist: technisch genial, emotional distanziert, unbarmherzig in seinem Zweifel an der menschlichen Güte. (...) Barry Lyndon muss einer der schönsten Filme überhaupt sein – doch steht die Schönheit nicht im Dienst der Emotion. Vor den prächtigen Schauplätzen spinnen die Figuren Intrigen und provozieren Skandale. (...) Barry Lyndon mag keine grossartige Unterhaltung im üblichen Sinn sein, doch er ist ein wunderbares Beispiel für Kubricks Vision.» (Roger Ebert, Great Movies, 9.9.2009) «Stanley Kubrick entfaltet ein historisches Panorama mit einem Ausmass an Akkuratesse, Akribie und abenteuerlicher Schönheit, das im

Kino kaum Parallelen hat. Tatsächlich entzieht sich die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Barry Lyndon im Europa des 18. Jahrhunderts den üblichen Kategorien in einer viel tieferen Dimension. Nichts bietet Halt in diesem betörend und durchdringend kalt inszenierten Film, in dem die Genregrenzen Fallgruben, die Schlachten Gemetzel, die Duelle Orgien der Lächerlichkeit und die zurückweichenden Kamerafahrten Chiffren der Entzauberung und des Untergangs sind. Das barocke Europa als Totenreich, die Geschichte als Palast der Unerfülltheit, die Welt als Niemandsland.» (Harry Tomicek, Österreichisches Filmmuseum, 11/2002) 184 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE Stanley Kubrick // DREHBUCH Stanley Kubrick, nach «The Memoirs of Barry Lyndon» von William Makepeace Thackeray // KAMERA John Alcott // MUSIK Leonard Rosenman // SCHNITT Tony Lawson // MIT Ryan O’Neal (Barry Lyndon), Marisa Berenson (Lady Lyndon), Hardy Krüger (Capt. Potzdorf), Patrick Magee (Chevalier de Balibari), Steven Berkoff (Lord Ludd), Gay Hamilton (Nora Brady), Leonard Rossiter (Capt. Quin), Godfrey Quigley (Capt. Grogan), Arthur O’Sullivan (Capt. Feeny), Diana Koerner (Lieschen), Marie Kean (Barrys Mutter).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1965 & 1975.

ONE FLEW OVER THE CUCKOO’S NEST USA 1975 Um dem Gefängnis zu entgehen, spielt McMurphy, ein charismatischer Aussenseiter, den Verrückten und wird zur Beobachtung in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Dort erwartet ihn jedoch ein menschenverachtendes Regime, das schlimmer ist als jedes Gefängnis. Bald schon rebelliert McMurphy gegen die Oberschwester Ratched, was ihm unter den Insassen der Anstalt Ansehen verschafft – doch der Aufmüpfige hat kaum eine Chance gegen die Götter in Weiss, die ihm fortan das Leben zur Hölle machen. Milos Forman gelang mit One Flew Over the Cuckoo’s Nest nicht nur eine beissende Kritik an der amerikanischen Gesellschaft, sondern er schaffte es auch, dem rebellischen Geist der Gegenkultur der 1960er und 1970er Jahre Ausdruck zu verleihen. «Nicht Psychiatrie ist das eigentliche Thema des Films, sondern wie gesellschaftliche Institutionen und Normen den Menschen unterjochen. Als der Film 1975 in die Kinos kommt, haben Vietnam-Krieg und Watergate-Skandal das Vertrauen in den Staat erschüttert. Autorität wird überall in Frage gestellt: Studentendemonstra­ tionen, Rassenunruhen und Terrorbewegungen sind deutliche Anzeichen. In diesem Zusammenhang ist es zu sehen, dass der Film zum Kultfilm und der unbequeme Jack Nicholson in dieser

Rolle zum ‹Helden› einer Nation werde konnte.» (Stefanie Weinsheimer, in: Filmklassiker, Reclam 1998) «One Flew Over the Cuckoo’s Nest schrieb ­Oscar-Geschichte, denn er gewann als zweiter Film überhaupt fünf Oscars. Jeder einzelne war verdient: Forman drehte einen hypnotischen und sehr menschlichen Film voller exzentrischer Charaktere und entlockte Louise Fletcher die beste Leistung ihrer Karriere. Nicholson ist natürlich faszinierend als der gefangene, aber freiheitliebende McMurphy, und die Szenen zwischen ihm und der herablassenden Schwester Ratched sind die aufregendsten im gesamten modernen US-Kino.» (Joanna Berry, in: 1001 Filme, Ed. Olms 2012) 129 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Milos Forman // DREHBUCH Lawrence Hauben, Bo Goldman, nach dem Roman von Ken Kesey und einem Theaterstück von Dale Wasserman // KAMERA Haskell Wexler, William A. Fraker, Bill Butler // MUSIK Jack Nitzsche // SCHNITT Sheldon Kahn, Lynzee Klingman, Richard Chew // MIT Jack Nicholson (Randle Patrick McMurphy), Louise Fletcher (Mildred Ratched, die Oberschwester), William Redfield (Harding), Brad Dourif (Billy Bibbit), Will Sampson (Häuptling Bromden), Michael Berryman (Ellis), Danny DeVito (Martini), Lan Fendors (Schwester Itsu), Sydney Lassick (Cheswick), Christopher Lloyd (Taber), Marya Small (Candy), Louisa Moritz (Rose), Peter Brocco (Col. Matterson), Dean R. Brooks (Dr. Spivey), Scatman Crothers (Turkle), Alonzo Brown (Miller), Anjelica Huston (Frau am Pier; ungenannt).


Das erste Jahrhundert des Films: 1965 & 1975.

DIE WANDERSCHAUSPIELER (O Thiasos) Griechenland 1975

Eine Gruppe von Wanderschauspielern zieht zwischen 1939 und 1952 mit dem Volksstück «Golfo, die Schäferin» durch Griechenland. Unter ihnen finden sich verschiedene politische Haltungen, vom Opportunisten und Kollaborateur bis hin zum Partisanen. Die Wanderschauspieler ist eines der Hauptwerke des Weltkinos der 1970er Jahre, an dem Theo Angelopoulos noch während der griechischen Militärdiktatur zu arbeiten begann, das er aber erst nach deren Fall fertigstellte. Angelo­ poulos setzte formal und technisch Massstäbe: Erstmals erzählt er seine Geschichte mit kunstvoll komponierten Plansequenzen, die zu seinem Markenzeichen wurden. «Mit dieser Geschichte, die in der epischen Länge von fast vier Kinostunden Mythos und Moderne, nähere und entferntere Geschichte souverän ineinander verschränkt, wurde Angelopoulos Mitte der siebziger Jahre berühmt. Die Auszeichnungen, die der Film damals erhielt, markierten den Aufstieg des griechischen Kinos aus tiefer Vergessenheit und den Beginn der Karriere eines Regisseurs, der die ästhetischen Freiheiten des europäischen Nachkriegsfilms mit einer spezifisch neuhellenischen, melancholischen Sensibilität zu verbinden wusste. (…) Mit Die Wander-

schauspieler gelang ihm etwas völlig Neues: ein Film, der unterschiedliche Erzählzeiten nicht mehr durch Rückblenden trennt, sondern sie fliessend ineinander übergehen lässt. Hier wie in allen folgenden Filmen von Angelopoulos wurde der filmische Raum zu einem magischen Ort, an dem sich die Toten und die Überlebenden, die Sieger und die Opfer der Geschichte versammelten.» (Andreas Kilb, FAZ, 25.1.2012) 230 Min / Farbe / 35 mm / Gr/d/f // REGIE Theo Angelopoulos // DREHBUCH Theo Angelopoulos // KAMERA Giorgos Arvanitis // MUSIK Loukianos Kilaidonis // SCHNITT Takis Davlopoulos, Giorgos Triantafillou // MIT Eva Kotamanidou (Elektra), Aliki Georgouli (ihre Mutter), Stratos Pachis (ihr Vater), Maria Vassiliou (Chrysothemis, ihre Schwester), Vangelis Kazan (Truppenmitglied), Petros Zarkadis (Orestes), Iannis Firos (Akkordeonist), Nina Papasafiropoulos (alte Schauspielerin), Alexis Boubis (alter Schauspieler), Kyrianos Katrivanos (Truppenmitglied), Grigoris Evangelatos (Dichter).

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37 Christian Schocher

Schweizer Kinomythos Man hat Christian Schocher einen genialen Dilettanten genannt, einen Kino-Pionier, einen Einzelgänger, einen alpenländischen Derwisch. Aus Anlass der Premiere des Dokumentarfilms Christian Schocher, Filmemacher von Marcel Bächtiger und Andreas Mueller zeigen wir vier der legendären Filme des mittlerweile 69-jährigen Filmfanatikers, die soeben auf DCP wieder zugänglich gemacht wurden. Reisender Krieger (1981), die über dreistündige Odyssee eines Kosmetik­ vertreters durch die Schweiz, ist längst zu einem Mythos geworden: Wahres cinéma copain, das das Schweizer Kino revolutionierte. «Wir erfanden jeden Tag und jede Nacht neu, was wir drehen wollen und wie das aussehen soll. Für mich ist es sozusagen ein neuer Filmstil, den wir während den Dreharbeiten entwickelt und erfunden haben», sagt Christian Schocher, der Filmfanatiker, der damit seinen dritten langen Film realisierte und zum vielleicht legendärsten Schweizer Filmemacher avancierte. Gleichzeitig ist er auch der unbekannteste: Er, der als Haupterwerb über 45 Jahre lang das kleine Kino Rex in Pontresina führte, zieht seine Kreise weitab der öffentlich wahrnehmbaren Filmszene. Nach einer Fotografenlehre in Chur entschied er sich 1968, nicht nach Zürich zu ziehen, sondern in Pontresina zu bleiben. Neben dem Kinobetrieb, der dem Autodidakten Schocher quasi als Filmschule diente, entstanden so in völliger Unabhängigkeit die ersten selbst finanzierten Filme: Die Kinder von Furna (1974), ein Dokumentarfilm über das Leben der Schulkinder in einem abgelegenen Bergdorf des Prättigaus, und Das Blut an den Lippen der Liebenden (1977), ein stilisierter Alpenwestern, der gleichzeitig Ingmar Bergman als auch Sergio Leone und Sergio Corbucci die Reverenz erweist, aber völlig quer in der damaligen «engagierten» Schweizer Filmlandschaft stand und in Solothurn ausgebuht wurde. Christians Schochers Weg ist «ein Leben der Aufbrüche und der Heimkehr, der künstlerischen Erfolge und wirtschaftlichen Niederlagen», sagen die beiden Filmemacher Marcel Bächtiger und Andreas Mueller über ihren Protagonisten. «Ein Leben, das selbst einem Roadmovie gleicht und letztlich kaum von den Stoffen und Figuren seiner Filme zu trennen ist.» Corinne Siegrist-Oboussier >

Ein Stück Dritte Welt im Prättigau: Die Kinder von Furna < Ein Bündner Western: Das Blut an den Lippen der Liebenden

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Blick eines Aussenseiters: Lüzzas Walkman


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Christian Schocher.

DIE KINDER VON FURNA Schweiz 1974 «In den siebziger Jahren war mein Jugendfreund Heinz Lüdi Lehrer in Furna, einem kleinen Bergbauerndorf im Prättigau. Dank ihm konnte ich meinen ersten Film realisieren, das Porträt dieses Dorfes und seiner Kinder, die von ihrem Alltag, ihren Wünschen und Träumen erzählen.» (Christian Schocher, swissfilms.ch) «Nur anderthalb Stunden vom reichen Zürich entfernt stossen wir auf ein Stück ‹Dritte Welt›, das wir vorerst gar nicht irgendwo im fernen Indien suchen müssen. Hier oben gibt es keine millionenschweren Schulhausbauten mit allem technischen Schnickschnack (…). Die Kinder turnen an einer verrosteten Reckstange und springen im Nebel auf der Dorfstrasse herum. Freizeitprobleme kennt man da nicht, denn die Kinder müssen nach der Schule in den Stall oder beim Heuen helfen. (…) Der eindrückliche Dokumentarfilm des Bündners Christian Schocher macht ein Stück Realität sichtbar. Er manifestiert eine Wirklichkeit, die nicht mit erhobenem Mahnfinger droht. Die ganze Problematik (der Abwanderung; Anm. d. Red.) wird hier nicht mit schönen, ideologisierenden Sprüchen abgetan.» (Christian Murer, Zoom, 4/75) 82 Min / sw / DCP / Dialekt // DREHBUCH, REGIE UND KAMERA Christian Schocher.

DAS BLUT AN DEN LIPPEN DER LIEBENDEN Schweiz 1977

heiten. Alle haben erwartet, dass ich nach den Kindern von Furna was weiss ich … Die Behinderten von Flawil machen würde. Stattdessen habe ich einen Bündner Western gedreht.›» (Presseheft zu Christian Schocher, Filmemacher) 85 Min / sw / DCP / Dialekt // DREHBUCH, REGIE, KAMERA UND SCHNITT Christian Schocher // MUSIK Walter Lietha, J&F Quintett // MIT Joseph Gahlinger, Delio Realini, Carina Zanolla.

LÜZZAS WALKMAN Schweiz 1989 1989 liess Christian Schocher «einen jungen Bergbauernsohn mit einem geborgten Jeep nach Zürich fahren: Durch einen unendlich langen Tunnel gelangt der 18-jährige rockverrückte Lüzza direkt von seinem Bündner Dorf auf den Zürcher Bellevueplatz. Eigentlich vom Wunsch getrieben, die Touristen, für die er jeweils die Skiliftsessel poliert, an ihrem Wohnort kennenzulernen, erlebt Lüzza die blankgeputzte Bankenstadt aus der Sicht von unten: In langen, dokumentarisch-authentischen Sequenzen begegnet er Gestrauchelten und Gestrandeten, selbst ernannten Heilsbringern beiderlei Geschlechts, Freaks und Querschlägern, Pennern und Alkis, Outcasts und Fixern.» (Felix Aeppli, aeppli.ch) «Eine irrsinnige Reise zurück in eine Ära, in der man noch in Telefonzellen schlafen konnte und der ‹Züritipp› nur ein p hatte. Auch das Dokument einer Übergangszeit zwischen Jugendbewegung und Gentrifizierung. Baby Jail treten auf, und manchem Zürcher mögen vor Wehmut die Tränen kommen.» (Pascal Blum, Züritipp, 27.2.2014) 105 Min / Farbe / DCP / Dialekt // REGIE UND DREHBUCH

«Die Geschichte einer Heimkehr, die unter keinem guten Stern steht, und einer tragisch endenden Liebe. Die mit Mustern des Western und des Melodramas inszenierte Odyssee erweist sich als holperig-verquere Geschichte, dennoch vermittelt der – mit bescheidenen Mitteln gedrehte – Film ein Gefühl genereller Ausweglosigkeit.» ­(kabeleins.ch/filmlexikon) «Während sich die Zuschauer ‹blitzartig› in die Kinder von Furna verliebt hätten, so Schocher, sei die Solothurner Premiere von Blut ein einziges Pfeifkonzert gewesen. Das formal ambitionierte Werk stand quer in der Schweizer Filmlandschaft der späten siebziger Jahre, das nach kritischen und politisch engagierten Filmen fragte und mit dem Pathos einer zeitlosen Liebesgeschichte nichts anfangen konnte. Dabei, so Schocher, (...) sei Das Blut an den Lippen der Liebenden doch ‹endlich einmal etwas anderes aus der Schweiz – nicht immer diese todsauren, todtraurigen Dokumentarfilme über die armen, geplagten Minder-

Christian Schocher // KAMERA Jürg Hassler // MUSIK Fredy Studer, Christy Doran, Baby Jail, La Lupa // SCHNITT Franz Rickenbach // MIT Thomas Pfister (Lüzza), Bice, La Lupa, Hannes R. Bossert, Roger H., Fredi Meier, David Wechsler, Dora Koster, Christina.

REISENDER KRIEGER – DIRECTOR’S CUT Schweiz 2008 «Mit einem kleinen Trupp verschworener Kollegen zog der damals 33-jährige Christian Schocher im Winter 1979 durch die Deutschschweiz, um mit seinem Odysseus des Parfümeriewesens dem Land den Puls zu fühlen (…). Ein Drehbuch gab es nicht, der Hauptdarsteller Willy Ziegler alias Krieger war eine Zufallsbekanntschaft Schochers, die Spielszenen wurden teils mit Schauspielern und Freunden, teils mit unterwegs angetroffenen Laien improvisiert. Man (…) schaute Haarfestiger-


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Christian Schocher.

> Reisender Krieger.

Vertretern bei Schulungsseminaren über die Schultern, klapperte mit Krieger hundskommune Kneipen, Nachtclubs und Hotels ab und liess dazwischen graue Landschaften, Dörfer und Städte an sich vorbeispulen. (…) Das monumentale ‹Klimaprotokoll› der siebziger Jahre löste Konsternation und Begeisterung aus, machte eine grosse Festival- und eine marginale Kinokarriere. So geriet es zur Legende (…). Im Traurigen wie im Komischen sind Schochers Beobachtungen zeitlos: Reisender Krieger ist das Epos vom spurlos ver-

streichenden Leben, und der Schweizer Alltag mieft heute nicht wesentlich anders als vor dreissig Jahren.» (Andreas Furler, Programm Filmpodium, Jan./Feb. 2010) 142 Min / sw / DCP / Dialekt // REGIE UND DREHBUCH ­Christian Schocher // KAMERA Clemens Klopfenstein // ­MUSIK Scharlatan Quintett // SCHNITT Christian Schocher, Franz Rickenbach // MIT Willy Ziegler (Krieger), Barbla ­Bischoff (Coiffeuse), Max Ramp (der Vertreter), Jürgen Zöller (der Schlagzeuger), Marianne Huber, Heinz Lüdi.

White God (2014) www.xenix.ch

juli/aug

in mir r e i t Das Indoor:

ust 2015


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Jung, alt und (un)sterblich

JAHRGANG 45 DDR 1966 Unbequem und seiner Zeit voraus: Das war Jahrgang 45, der einzige Spielfilm des angesehenen DDR-Dokumentaristen Jürgen Böttcher. 1966 an Originalschauplätzen gedreht, verblüfft er heute mit seiner unverbrauchten Frische. Eine späte «Premiere». «Ostberlin im Sommer 1965. Alfred und Lisa leben in Scheidung. ‹Al› ist Kfz-Schlosser, ‹Li› ist Säuglingsschwester. Al hat Urlaub und streunt durch die Stadt. Er trifft sich mit der Motorradclique von früher, bändelt mit der blonden Rita an. Schliesslich verlässt er die gemeinsame Altbauwohnung im Prenzlauer Berg und zieht zu seiner Mutter. Doch über den Nachbarn ‹Mogul› hält Al Kontakt zu Li. Am Ende könnte es Hoffnung auf einen Neubeginn geben ... Von der Sehnsucht nach einem anderen Leben erzählt Jürgen Böttcher, stark beeinflusst vom italienischen Neorealismus der 1950er Jahre, in ebenso poetischen wie dokumentarischen Bildern. Böttcher, 1990: ‹Spielfilme wollte ich ma-

chen. Aber authentische, aus der unmittelbaren Wirklichkeit heraus entwickelte, worin auch die Alltagshärten nicht verschwiegen werden.› Kulturfunktionäre sahen in dem Film eine ‹Heroisierung der Abseitigen›. Böttcher musste die Arbeit an ihm 1966 abbrechen, erst 1990 wurde er uraufgeführt.» (Katalog Berlinale 2015) 2014/15 liess die DEFA-Stiftung den Film digital restaurieren. Er bezaubert heute durch seine unmittelbare Frische und durch authentische Figuren; etliche Szenen – etwa die Tanzveranstaltung oder die Touristen am Gendarmenmarkt – wirken fast dokumentarisch und erinnern an frühe Forman- (Der schwarze Peter, Die Liebe ­einer Blondine) oder Szabo-Filme (L’âge des illusions). 94 Min / sw / DCP / D // REGIE Jürgen Böttcher // DREHBUCH Jürgen Böttcher, Klaus Poche // KAMERA Roland Gräf // ­MUSIK Henry Purcell, Wolf Biermann, Matthias Suschke, Eva-Maria Hagen // SCHNITT Helga Gentz // MIT Monika Hildebrand (Lisa), Rolf Römer (Alfred), Paul Eichbaum ­(Mogul), Holger Mahlich (Hans), Werner Kanitz (Napoleon), Walter Stolp (Kaderleiter), Gesine Rosenberg (Rita), Anita Okon (Sylvi), Ruth Kommerell (Mutter).


Sommerpremieren.

THE OPTIMISTS (Optimistene) Norwegen 2013

Seit 40 Jahren trainiert die 98-jährige Goro jede Woche mit den anderen älteren Damen Volleyball. In ihrem charmanten Dokumentarfilm begleitet Gunhild Westhagen Magnor die rüstigen Norwegerinnen in ihrem Alltag, vor allem aber bei den Vorbereitungen auf den Wettkampf gegen ein ebenfalls «reiferes» schwedisches Männerteam. «Durch den ganzen Film hindurch widersteht Kamerafrau und Regisseurin Magnor der ‹Alle Achtung!›-Herablassung, die viele Filme über alte Menschen prägt. Eindrückliche Bilder der Frauen beim Langlauf sprechen Bände über ihre Entschlossenheit und Anmut. (…) Beim Lunch nach dem Training entspinnt sich eine unverblümte, leicht respektlose Diskussion darüber, ob man zu Hause alt werden oder in eine kleinere Bleibe umziehen soll. Bei der 88-jährigen Lillemor, einer Mitbegründerin des Volleyballclubs, die mit ihrem Mann vor dem Trauma steht, sich nach einem halben Jahrhundert im gemeinsamen Haus ‹verkleinern› zu müssen, durchbricht die Wucht der Emotionen ihren Stoizismus.

Was den Hauptevent angeht, so führt der Film verspielt-komödantisch zum Showdown. Nachdem der schwedische Volleyballverband die Damen mit einem leicht jüngeren Männerteam in Kontakt gebracht hat (Altersspanne von 60 bis 90), fängt Magnor die bewundernden Blicke der beiden Teams beim Betrachten des Bilds der jeweiligen Gegner ein. Die Norwegerinnen forschen online nach den aktuellen Spielregeln, machen sich mit den Dimensionen eines Norm-Spielfelds vertraut und suchen den Rat professioneller Volleyballtrainer, die verständlicherweise belustigt und beeindruckt von ihrem Spielstil sind. Als die Damen schliesslich das Spielfeld in Sollentuna bei Stockholm betreten, in Team-TShirts, deren Nummern ihr Alter preisgeben, haben sie das Publikum vollends für sich gewonnen.» (Sheri Linden, The Hollywood Reporter, 18.2.2015) Der Film hatte im Februar 2015 im Xenix bereits ein paar Vorstellungen im Rahmen einer Auswahlschau «Visions du réel, Nyon 2014».

90 Min / Farbe / Digital HD / Nor/d // REGIE Gunhild Westhagen Magnor // DREHBUCH Gunhild Westhagen Magnor // KAMERA Gunhild Westhagen Magnor // MUSIK Svenn ­Jakobsen // SCHNITT Robert Stengård, Jo Eldøen.

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Sommerpremieren.

STILL THE WATER

(Futatsume no mado ) Japan/Frankreich/Spanien 2014 Der Wald von Mogari hiess der Film, der 2008 im Filmpodium Premiere hatte und von einem Greis und einer jungen Frau handelte, die gemeinsam aus ihrer Trauer herauszufinden suchten. Die japanische Regisseurin Naomi Kawase ist ihren Leitthemen seither treu geblieben. «Niemand hat in den letzten Jahren feinere und zurückhaltendere Bilder gefunden für die Zyklen von Leben und Sterben, Lieben und Hassen, Eifersucht und Hoffnung (...). Im Zentrum stehen der Junge Kaito und das Mädchen Kyoko. Sie sind Nachbarn und Freunde und sie gehen in die gleiche Schule auf der subtropischen japanischen Insel Amami-Oshima. (...) Kyoko hängt an dem Jungen, fährt im Stehen auf seinem Fahrrad mit und ihr Vater, der ein kleines Café führt, macht den Teenagern Abendessen. Denn Kaitos Mutter arbeitet in einem der Küstenhotels und ist selten zuhause. Während Kyokos Mutter sterbenskrank ist und schliesslich im Kreise von Familie, Freunden und Nachbarn mit Gesang in den versöhnten Tod begleitet wird, zeigt sich, dass Kaito sich mit der Trennung seiner Eltern nicht abfinden kann und dass er der Mutter insbesondere ihre Liebhaber übel nimmt. Das sind die zwei einfachen Plotlinien, an denen Kawase eine ganze naturmystische Inselphilosophie aufhängt und durchspielt. Der Gelassenheit und Versöhnlichkeit von Kyokos Familie stehen die Spannung und die Frustration von Kaito gegenüber. (...) Naomi Kawases jüngster Film berührt und trägt auf die ihr eigene stille und lyrische Art. Und er hat ein paar Momente der Wut und der Frustration, welche ihm guttun.» (sennhausersfilmblog.ch, 20.5.2014) 119 Min / Farbe / DCP / Jap/d // REGIE UND DREHBUCH Naomi Kawase // KAMERA Yutaka Yamazaki // MUSIK ­Hasiken // SCHNITT Tina Baz // MIT Nijiro Murakami (Kaito), Jun Yoshinaga (Kyoko), Miyuki Matsuda (Isa), Tetta Sugimoto (Tetsu), Makiko Watanabe (Misaki), Jun Murakami (Atsushi), Fujio Tokita (Kamejiro).


Sommerpremieren.

MÉTAMORPHOSES Frankreich 2014 Christophe Honoré hat Ovids «Metamorphosen» wiedergelesen und aus rund 20 der Fabeln über Verwandlungen eine faszinierende Collage geschaffen, die zwischen zeitlosem Mythos und heutiger Realität oszilliert. Die Gymnasiastin Europe lässt sich von einem attraktiven Unbekannten namens Jupiter mitnehmen, der in einem bulligen Sattelschlepper daherkommt. Sie stellt fest, dass die Wiesen und Wälder von Wesen wimmeln, die sie bestenfalls aus Träumen kennt: Neben Jupiter sind auch Bacchus und Orpheus allgegenwärtig, greifen in die Schicksale der Sterblichen ein und verwandeln diese in Tiere und Pflanzen. «Meine Absicht ist es, von Körpern zu erzählen, die in eine andere Gestalt verwandelt wurden» – Regisseur Christophe Honoré hat Ovids Satz als kreativen Imperativ aufgefasst: «Was ist es am Kino, das mich anzieht, wenn nicht die Metamorphose der Wirklichkeit in etwas Neues?»

«Natürlich kann man einem Werk namens Métamorphoses nie eine einzige Bedeutung zuschreiben, doch unter der schillernden Oberfläche des Films tummeln sich stets unterschiedliche Ideen. Eine Einstellung mit zwei schwimmenden, nackten Figuren in türkisblauem Wasser, untermalt von Flötenmusik, deutet an, wie wenig nötig ist, um alltägliche Orte und Handlungen auf eine höhere, gottähnliche oder paradiesische Ebene zu heben. Anderseits zeigt das Nachspiel von Narziss’ Tod, wie dünn die Grenzen zwischen heute, der fernen Vergangenheit und selbst den Zeiten von Mythen und Sagen wirklich sind, denn in schwierigen Zeiten verfallen wir immer noch in uralte Muster und Rituale, die unserem Leben Sinn verleihen.» (Boyd van Hoeij, The Hollywood Reporter, 26.8.2014) 102 Min / Farbe / DCP / F/d // REGIE Christophe Honoré // DREHBUCH Christophe Honoré, nach den « Metamorphosen» von Ovid // KAMERA André Chemetoff // SCHNITT Chantal ­Hymans // MIT Amira Akili (Europe), Sébastien Hirel (Jupiter), Mélodie Richard (Junon), Damien Chapelle (Bacchus), George Babluani (Orphée), Matthis Lebrun (Actéon), Samantha Avrillaud (Diane), Coralie Rouet (Io).

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Sommerpremieren.

AT HOME (Sto spiti) Griechenland/Deutschland 2014 Letztes Jahr zeigte das Filmpodium Akadimia Platonos, in dem Filippos Tsitos das griechische Prekariat porträtierte. Sein Landsmann Athanasios Karanikolas schildert in At Home die Krise selbst, die mehr eine zwischenmenschliche ist denn eine finanzielle. In der modernen Villa hoch über der Ägäis hat sich die georgische Bedienstete Nadja in der Familie von Stefanos und Evi eingelebt. Sie ist für Evi «wie eine Freundin» und für deren Tochter Iris eine zweite Mutter. Nadjas Freund Markos misstraut der Idylle, und als die Georgierin schwer erkrankt, will Stefanos sie mit einer Abfindung loswerden. «At Home gelangt zu diesem Bruch im sozialen Gefüge ohne äussere Empörung. Man könnte Karanikolas’ unterkühlten Stil leicht für mitleidlos halten. Er verschafft Maria Kallimani in der Rolle der Nadja aber im Gegenteil eine imponierende darstellerische Freiheit, die die vielen Nuancen

ihrer Verletzung – von Trauer über Fassungslosigkeit bis Stolz – zum Vorschein bringen. Nadja will kein Geld, sie möchte Anerkennung: als Mensch, als Freundin. Markos wiederum wirft ihr Naivität vor: Sie habe sich von der Freundlichkeit der Familie täuschen lassen. Doch ihr sanftes Insistieren auf die Erfüllung eines unausgesprochenen Kontrakts ist die ehrlichste Reaktion auf die Bedrohung durch eine ökonomische Krise. Nadja erinnert in ihrem unerschütterlichen Vertrauen an eine Heldin der Dardenne-Brüder. Karanikolas’ architektonische Formsprache fungiert als soziales Gefängnis, aus dem sich die Frau unbeirrt zu befreien versucht.» (Andreas Busche, epd film, 25.8.2014) 97 Min / Farbe / DCP / OV/d // REGIE UND DREHBUCH Athanasios Karanikolas // KAMERA Johannes M. Louis // MUSIK Manuel Meichsner // SCHNITT Lorna Hoefler Steffen // MIT Maria Kallimani (Nadja), Marisha Triantafyllidou (Evi), Alexandros Logothetis (Stefanos), Zoi Asimaki (Iris), Giannis Tsortekis (Markos), Ieronimus Kaletsanos (Dimitris), Nefeli Kouri (Katerina), Alexia Kaltsiki (Dora), Nikos Georgakis (­ Alexis), Romanna Lobach (Tania).


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DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS

in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Corinne Siegrist-Oboussier (cs), STV. LEITUNG Michel Bodmer (mb) WISSENSCHAFTLICHE MITARBEIT Tanja Hanhart (th), Primo Mazzoni (pm) SEKRETARIAT Claudia Brändle // BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 212 13 77 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 211 66 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: Arsenal Distribution, Berlin; Ciné Tamaris, Paris; Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin; Eagle Rock Entertainment, London / Courtesy of Python (Monty) Pictures Limited; Filmcoopi, Zürich; Frenetic Films, Zürich; Hollywood Classics, London; Look Now!, Zürich; Park Circus, Glasgow; Reel Media Int., Plano; Severin Rüegg, Zürich; The Saul Zaentz Company, Berkeley; Christian Schocher, Pontresina; Studiocanal, Berlin; SRF, Zürich; Tamasa Distribution, Paris; TMS Entertainment Co. Ltd., Paris; trigon-film, Ennetbaden; Visions du réel, Nyon; Warner Bros. France, Neuilly sur Seine. DATABASE PUBLISHING BitBee Solutions GmbH, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS & Partner, Zürich // KORREKTORAT N. Haueter, D. Kohn // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 8000 ABONNEMENTE Filmpodium-Generalabonnement : CHF 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halbtaxabonnement: CHF 80.– / U25: CHF 40.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Abonnement Programmheft: CHF 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

VORSCHAU John Waters

Fredi Murer

John Waters, mit unorthodoxen Vorlieben im

Fredi M. Murer, Zeichner, Zauberkünstler,

biederen Baltimore aufgewachsen, fing in

Fotograf und Fabulierer des Neuen Schwei-

den sechziger Jahren an, Underground-

zer Films, wird am 1.  Oktober 75 Jahre alt.

Filme zu drehen, und wurde dank Skandalen

Zum Geburtstag zeigt das Filmpodium vier

um Pink Flamingos und andere Provokatio-

seiner Filme. Murer wuchs in der Inner-

nen bald zum Buhmann des Kino-Establish-

schweiz auf und floh als Teenager nach

ments. In den achtziger Jahren allerdings

­Zürich. In Wir Bergler in den Bergen sind

bescherte die nostalgische Komödie Hair-

­eigentlich nicht schuld, dass wir da sind und

spray dem Dandy mit dem Schurkenschnurr-

Höhenfeuer hat er sich mit der Bergwelt

bart einen Crossover-Erfolg. Waters’ einzig-

seiner Jugend auseinandergesetzt. Seine ­

artige Verquickung von haarsträubendem

Wahlheimat Zürich hat Murer in Grauzone

Humor mit ästhetischen Zumutungen kenn-

ironisch-verfremdet hinterfragt, und sein

zeichnete auch seine späteren Filme sowie

Dokumentarfilm Der grüne Berg von 1991

seine Arbeit als Buchautor, Künstler, Kura-

über die Entsorgung radioaktiver Abfälle ist

tor und Entertainer. Anlässlich der Waters

heute wieder hochaktuell.

gewidmeten Ausstellung im Kunsthaus zeigt

Vom 21.–23.9. bleibt das Filmpodium ge-

das Filmpodium eine Retrospektive.

schlossen. 24.9.–4.10.: Zurich Film Festival


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