Filmpodium 1. Juli – 31. August 2013

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1. Juli – 31. August 2013

The Real Eighties

Rückeroberung eines Jahrzehnts

Daniel Auteuil

Der Zweifel als Triebfeder


AB 4. JULI IM KINO M anche Menschen folgen den M assen, manche der Sonne

WHEN I SAW YOU annemarie jacir, jordanien

Zwei starke Filme von Frauen AB 22. AUGUST IM KINO

Araf

Somewhere in Between

«Ustaoglus grosse Begabung ist ihre ausserordentliche Kunst der Kameraführung, die Bilder schaffen lässt, die wie eine Resonanz der Landschaft wirken.» The Hollywood Reporter

www.trigon-film.org


01 Editorial

Bekenntnisse eines Achtzigers Ich kann mir nicht helfen. Das Disco-Vehikel Saturday Night Fever halte ich einfach für einen unwiderstehlichen Film. Und auch den Soundtrack der Bee Gees würde ich sofort auf die sprichwörtliche Insel mitnehmen. Genau so geht es mir mit dem Pink-Floyd-Album «Wish You Were Here», der RollingStones-Scherbe «Some Girls» oder Jackson Brownes «Running on Empty»: Meisterwerke, Höhepunkte der abendländischen Musik! Komme ich schliesslich auf Woody Allens Manhattan zu sprechen, auf sämtliche Zucker-Abrahams-Zucker-Komödien von Airplane! bis zu The Naked Gun, auf Scorseses The King of Comedy oder John Carpenters Starman, so werde ich umgehend unpässlich, wenn jemand die Grandiosität dieser Filme nicht vorbehaltlos anerkennt: Dumpfbackige Ignoraten! (Man will ja kein engstirniger Mensch sein, doch gewisse Essentials sind einfach nicht verhandelbar.) Der Grund für mein zugegebenermassen leicht irrationales Verhältnis zu den genannten Werken der späten siebziger und frühen achtziger Jahre ist einfach: Ich bin damit gross geworden; es waren Initiationserlebnisse der Kunsterfahrung, die bei einem hoffungslosen Heiden wie mir den Stellenwert religiöser Erweckungen hatten. Auch wenn sich die Werte mit der Weitung des Kunsthorizonts dann Gott sei Dank noch verschieben: Eine eigenartige Verbundenheit mit den Werken der eigenen Jugendzeit erhält sich lebenslänglich. Ein unkontrollierbares Kribbeln verspürte ich deshalb im Bauch, als ich vom Projekt des ­Österreichischen Filmmuseums erfuhr, das amerikanische Kino der achtziger Jahre einer Neubewertung zu unterziehen. Angeblich markiert dieses Jahrzehnt im US-Kino ja nur das traurige Ende des glorreichen New Hollywood und den Anfang des heutigen Blockbuster-Stumpfsinns. Doch da gab es nicht nur Spielberg, Lucas & Co., sondern auch jede Menge feine kleine Filme grosser und grosse Filme kleiner Autoren, ganz zu schweigen von den schrägeren Exponenten des blühenden Genrekinos! Selten habe ich denn eine Reihe mit grösserer Genugtuung angekündigt als «The Real Eighties» in unserem verlängerten Sommerprogramm bis Ende August. XL-Schulterpolster und ­ schmale schwarze Lederkrawatten muss man deswegen ja nicht unbedingt zu Stilvorbildern erklären. Aber irgendwie mag ich sogar diese Ausgeburten der Achtziger. Für ein Kind jener Zeit sind diese Jahre alles andere als verloren. Andreas Furler

Titelbild Rumble Fish von Francis Ford Coppola


02 INHALT

The Real Eighties

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Daniel Auteuil

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Wie sähe das amerikanische Blockbuster-Kino der Gegenwart aus, wenn ihm nicht Star Wars, sondern John Carpenters Starman Pate gestanden hätte? Und warum kennt jedes Kind Spielberg und Lucas, aber kaum ein Mensch mehr den kantigen Walter Hill und den genuinen Filmautor John Sayles? Die Reihe «The Real Eighties» nimmt eine Neubewertung des verfemten Kinojahrzehnts vor. Sie erinnert an die kleinen Karrieren ver­ gessener Meisterregisseure ebenso wie an vermeintliche Nebenwerke anerkannter Grössen und zeichnet die Laufbahnen einiger prägender Schauspieler nach: Von der Katastrophenfilm-Parodie Airplane! über Coppolas stilisiertes Jugendbandenstück Rumble Fish und Jim McBrides stimmungsstarken New-Orleans-Krimi The Big Easy bis zum Erstlingswurf The Fabulous Baker Boys.

Der Schauspieler Daniel Auteuil (*1950) ist der grosse Stille im französischen Kino der letzten 25 Jahre: ein exquisiter Darsteller mehrheitlich leiser, introvertierter, bisweilen selbstquälerischer Charaktere. Seine Kinokarriere baute der gelernte Theaterschauspieler ab den mittleren siebziger Jahren jedoch mit Krimis und Boulevardkomödien auf, bis ihm die Pagnol-Verfilmung Jean de Florette 1986 die erste César-Rolle bescherte. Unsere Hommage zeichnet Auteuils Weg über die Arbeiten mit Claude Sautet (Un cœur en hiver), André Téchiné (Ma saison préférée) und weiteren Regie-Koryphäen wie Patrice Chéreau (La Reine Margot) oder Patrice Leconte (La fille sur le pont) nach, bis zu seiner bislang einzigen Regiearbeit La fille du puisatier (2011), die wir als Deutschschweizer Premiere zeigen können.

Bild: Blue Velvet

Bild: Quelques jours avec moi


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Das erste Jahrhundert des Films: 1963 & 1973

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1963 stand das europäische Autorenkino im Zenit und brachte Meisterwerke wie Bergmans bohrende Existenzparabel Das Schweigen, Fellinis lustvolle Midlife-Crisis-Fantasmagorie Otto e mezzo oder Godards Filmbusiness-Selbstreflexion Le mépris her­ vor. Zehn Jahre später legten René Laloux mit La planète sauvage einen Meilenstein des europäischen Animationsfilms und Claude Goretta mit L’invitation einen der wenigen neueren Schweizer Filme von Weltformat vor. Doch auch das krisengeschüttelte Hollywood hatte die Wende zum Autorenfilm nachvollzogen und produzierte mit Mean Streets das erste grosse Scorsese-Opus und mit Terrence Malicks Debüt Badlands den poetischsten Juvenile-Outlaws-Film aller Zeiten. Bild: La planète sauvage

Premiere: Schlafkrankheit

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Der Deutsche Ulrich Köhler erzählt von einem Arzt, dem nach zwanzig Jahren in Afrika die Heimat abhanden gekommen ist, und untersucht dabei unseren Blick auf den «Schwarzen Kontinent». Ein stilles Meisterwerk.

Premiere: Le thé ou l'électricité 46 Strom erzeugt Licht, treibt Kühlschränke und Fernseher an. Wie ein Leben ohne ihn aussieht, zeigt dieser Dokumentarfilm über die Elektrifizierung eines marrokanischen Bergdorfes. Eine subtile Parabel über den Fortschritt.

Einzelvorstellungen 43/48 Mann und Wagner: Death in Venice Sélection Lumière: Mimì metallurgico... Bild: Le thé ou l'électricité



05 The Real Eighties

Rückeroberung eines Jahrzehnts Mit der Reihe «The Real Eighties» hat das Österreichische Filmmuseum Wien in seinem Mai/Juni-Programm den bisher wohl umfangreichsten Versuch unternommen, das amerikanische Kino der achtziger Jahre neu zu bestimmen. In reduzierter und leicht modifizierter Form übernehmen wir diese faszinierende Schau, die sich für die kleinen Karrieren vergessener Meisterregisseure ebenso interessiert wie für vermeintliche Nebenwerke anerkannter Grössen und für gegenläufige Texturen im kanonischen Lauf der Filmgeschichte. Eine geläufige Verfallsgeschichte besagt: Alles Übel im US-Kino entspringt den Achtzigern. Sie sind das Scharnier zwischen New Hollywood, dem «last hurrah» der amerikanischen Filmkunst und der High-Concept-Wüste der Gegenwart: eine Zeit des Übergangs, in der das amerikanische Kino sich im Einklang mit Präsident Reagans neoliberaler Agenda neu ordnete. Die Filmschau «The Real Eighties» hinterfragt diese Vorstellung und sucht nach den widerständigen Erzählungen und Texturen des verfemten Jahrzehnts – auch und gerade in der Mitte des Hollywood-Mainstreams. Dort, in unmittelbarer Nähe zu den Traumfabriken eines Steven Spielberg oder eines George Lucas, harren filmische Realismen ihrer Wiederentdeckung, die quer zu den politischen und ästhetischen Zumutungen der Ära stehen. «The Real Eighties» schlägt Schneisen ins Kinojahrzehnt: Die Reihe interessiert sich für die kleinen Karrieren vergessener Meisterregisseure (Ivan Passer, Walter Hill, John Carpenter) ebenso wie für vermeintliche Nebenwerke anerkannter Grössen (Thief von Michael Mann; The King of Comedy von Martin Scorsese). Sie zeichnet die Laufbahnen einiger prägender Schauspieler nach (Mickey Rourke, Jeff Bridges) und trägt gegenläufige, verpasste oder gar verlorene Momente in den kanonischen Lauf der Filmgeschichte ein: Was wäre der heutige Blockbuster, wenn nicht Star Wars und E.T., sondern John Carpenters melancholisches Sci-Fi-Roadmovie Starman (1984) als Vorbild gedient hätte? Die besten Filme dieses innerlich zerrissenen Jahrzehnts erzählen mit Nachdruck, aber ohne falsche Nostalgie vom Vergehen der Utopien der 1960er und 1970er Jahre – aber auch von Lebenslinien, die sich über alle Um>

Hollywoods schönstes schiefes Maul: Ellen Barkin in The Big Easy von Jim McBride < Das längste Liebeswerben der achtziger Jahre: Tuesday Weld und James Caan in Thief

<

Charisma pur: Mickey Rourke als selbstherrlicher Cop in Year of the Dragon


06 brüche hinweg fortschreiben: «Because it hurts so much to face reality», wie Robert Duvall als ausrangierter Countrysänger in Tender Mercies (1983) intoniert. Bruce Beresfords Country-Melodram gehört zu einer Gruppe von Filmen aus der ersten Hälfte der Achtziger, die sich auf die Lebenswelt der weissen Unterschicht einlassen, ohne bereits in den Klischees des White Trash gefangen zu sein. Weder «Problemfilme» noch «Milieustudien», entwerfen sie eine poetisch vermittelte Innenansicht des abgehängten Subproletariats. Mehr als schöner Schein Hollywood in den Achtzigern, darunter stellen sich viele ein Kino der gefälligen Oberflächen und Wahrnehmungsintensitäten vor. «The Real Eighties» begegnet diesem Vorurteil etwa mit abgründigen Noirs, die von einer grundlegenden Bilderskepsis zeugen, sich bisweilen aber auch verführen lassen von ihrer eigenen Schönheit – so Brian De Palmas Blow Out (1981) und David Lynchs Blue Velvet (1986). Auch andere Bereiche des Genrekinos erfahren in den Achtzigern eine Renaissance. Die Reihe vollzieht insbesondere die Evolution der Komödie nach – von den ungehobelten, anarchischen Lustspielen der frühen Achtziger (Airplane! von Zucker, Abrahams & Zucker) über das solitäre Werk von Albert Brooks, des anderen grossen «Stadtneurotikers» (Modern Romance), bis zur neuen Form der Actionkomödie, die das Genre in der zweiten Hälfte der Dekade prägt (Midnight Run von Martin Brest). Daneben etablieren sich vor allem der postklassisch-drastische Horrorfilm und das dystopische ScienceFiction-Kino (Escape from New York von John Carpenter; James Camerons The Terminator) als herausgehobene Reflexionsorte gesellschaftlicher Verwerfungen. «The Real Eighties» ist es um eine kritische Errettung des Kinojahrzehnts zu tun, das – kraft seiner eigenen Bilder – unter Beweis stellen soll, welche filmischen Wirklichkeiten es dem viel beschworenen Wirklichkeitsverlust entgegenzusetzen vermag: Keine Restauration, sondern die lange überfällige Wiederbelebung eines einmaligen filmgeschichtlichen Erfahrungsraums zwischen Verlust, Exzess und Alltäglichkeit. The Canine Condition

The Canine Condition ist der Name des Kuratorenkollektivs – Lukas Foerster, ­Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke und Cecilia Valenti –, das die Wiener Reihe «The Real Eighties» zusammengestellt hat. Gemeinsam mit den regel­mässigen Filmmuseum-Autoren Christoph Huber und Harry Tomicek zeichnet es mit seinen Initialen auch für das Gros der nachfolgenden Kurztexte.


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The Real Eighties.

AIRPLANE!

brauchbar nur mehr als Material für weitere Bildproduktion: ein vergeblicher Aufschrei. (C.H.)

USA 1980 108 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE

Vom Katastrophenfilm-Zyklus der 1970er Jahre ist nicht allzu viel in Erinnerung geblieben – ausser dieser verspätet nachgereichten Parodie, einer regelrechten Füsilierung des Genres, dem Regiedebüt der legendären Komödienfabrik Zucker, Abrahams, Zucker (ZAZ). Eine Lebensmittelvergiftung legt ein ganzes Flugzeug lahm, der hysterische Kriegsveteran Ted Striker avanciert zum Helden wider Willen, Wort und Bild verknoten sich so hoffnungslos ineinander wie das Flugzeug auf dem legendären Filmplakat in sich selbst. Die anarchische, intertextuell wendige Blödel-Comedy, die in den siebziger Jahren das amerikanische Fernsehen erobert hatte (Saturday Night Live, Second City TV), gab in den frühen Achtzigern auch der Kinokomödie eine neue, aggressivere Ausrichtung. So weit wie der fröhlich Popkultur zersetzende Airplane! ging allerdings kaum jemand – kein Wunder, dass der Film auch für die amerikanischen ‹Lowbrow›-Avant­ gar­ disten der Gegenwart (Farrelly Brothers, Ferrell, Apatow) ein Referenzwerk geblieben ist. (L.F.) 88 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Jim Abrahams // DREHBUCH Jim Abrahams, David Zucker, Jerry Zucker // KAMERA Joseph Biroc // MUSIK Elmer Bernstein // SCHNITT Patrick Kennedy // MIT Robert Hays (Ted Striker), Julie Hagerty (Elaine), Kareem Abdul-Jabbar (Murdock), Lloyd Bridges (McCroskey), Robert Stack (Kramer), Lorna Patterson (Randy), Peter Graves (Captain Oveur), Leslie Nielsen (Dr. Rumack), Stephen Stucker (Johnny), Barbara Billingsley (Jive-Lady), Joyce Bulifant (Mrs. Davis).

BLOW OUT USA 1981

Brian De Palma // KAMERA Vilmos Zsigmond // MUSIK Pino Donaggio // SCHNITT Paul Hirsch // MIT John Travolta (Jack Terry), Nancy Allen (Sally Bedina), John Lithgow (Burke), Dennis Franz (Manny Karp), Peter Boyden (Sam), Curt May (Donahue), John Aquino (Det. Mackey), John McMartin (Lawrence Henry), Deborah Everton (Prostituierte).

CUTTER'S WAY USA 1981 In seiner totalen Verlorenheit, seinen Stimmungen und Atmosphären, darf Cutter's Way als Nachtrag zu den rettungslosen Noirs des New Hollywood gelten – und vielleicht sogar als ihre Radikalisierung. Das Komplott an sich besticht durch genreuntypische Klarheit, aber die Figuren sind so tief in ihren gescheiterten Existenzen verheddert, dass an ein Vorwärtskommen trotzdem nicht zu denken ist. Dass der invalide Kriegsveteran Cutter (John Heard in seitdem unerreichter Hochform) und sein abgewrackt-jovialer Jugendfreund Bone (Jeff Bridges) schliesslich doch so etwas wie einen Thriller in Bewegung setzen, verdankt sich weniger dem Tatendrang der beiden Antihelden als der Zählebigkeit ihrer schlechten Angewohnheiten: Vom betrunkenen Abhängen kommt man irgendwann auf Ideen. Im fulminanten Schlussakt werden die Melville'schen Obertöne Wirklichkeit – Cutter, der sein Bein in Vietnam gelassen hat, verwandelt sich in Captain Ahab auf der Jagd nach dem weissen Wal: «There she blows!» (N.P.) 109 Min / Farbe / DCP / E/d // RESTAURIERTE FASSUNG // REGIE Ivan Passer // DREHBUCH Jeffrey Fiskin, nach einem Roman von Newton Thornburg // KAMERA Jordan Cronenweth // MUSIK Jack Nitzsche // SCHNITT Caroline Ferriol //

Blow Out, eines von Brian De Palmas Hauptwerken, macht den Plot von Michelangelo Antonionis Blow-up zur Grundlage einer explosiven Dekonstruktion des filmischen Illusionsapparats: John Travolta als Sound-Effects-Spezialist, der zufällig den tödlichen, mysteriösen Unfall eines Präsidentschaftskandidaten aufzeichnet – und das Material bald nach Spuren eines Mordes abzusuchen beginnt. Ein Absturz in die Paranoia, garniert mit Hitchcock-Referenzen. In und zwischen den gigantomanischen Suspense-Sequenzen beschäftigt sich Blow Out mit den Manipulationsmöglichkeiten des Kinos: Die Schlüsselszene des Unfalls wird wiederholt durchgearbeitet, bis die richtige Kombination von Ton und Bild eine Auflösung des Rätsels verspricht. Diese Wahrheit erweist sich im bitter-zynischen Ende freilich als nutzlos,

MIT Jeff Bridges (Richard Bone), John Heard (Alex Cutter), Lisa Eichhorn (Mo Cutter), Stephen Elliott (J.J. Cord), Ann Dusenberry (Valerie Duran), Arthur Rosenberg (George Swanson), Patricia Donahue (Mrs. Cord), Geraldine Baron (Susie Swanson).

MODERN ROMANCE USA 1981 Als Stadtneurotiker der Westküste ist Komödienautor und Selbstdarsteller Albert Brooks zwar entfernt mit Woody Allen verwandt. Doch seine prosaischen Echtzeitbeobachtungen aus dem Beziehungsleben eines larmoyanten Filmcutters ähneln nichts, was Hollywood Anfang der Achtziger sonst noch zu bieten hatte. In langen Einstel-


> Airplane!.

> Blow Out.

> Modern Romance.

> Prince of the City.

> Southern Comfort.

> Cutter’s Way.


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The Real Eighties. lungen, jede für sich eine Tour de Force sozialer Dysfunktionalität, verdichtet sich Modern Romance zur hellsichtigen Pathologie des amerikanischen Alltagslebens. Brooks’ Humor sucht keinen Ausweg aus diesem Elend, sondern macht sich ihm gleich: Die Taktung der Witze gehorcht demselben Wiederholungszwang, an dem auch der Protagonist leidet. Wie nebenbei überführt Brooks die zeitgenössischen Leitmedien der Liebe – Rolodex, Telefon und Anrufbeantworter – derselben narzisstischen Schleifenbildung, für die heute Facebook & Co. verantwortlich gemacht werden: Ein überaus komischer Beitrag zur Geschichte der Social Media. (N.P.)

doxerweise sieht man Prince of the City gerade deswegen seine Zeitgenossenschaft kaum an: Lumets zupackender Realismus lenkt die Aufmerksamkeit auf Vergangenheitsschichten, die in der Gegenwart weiterwirken. (N.P.) 167 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Sidney Lumet // DREHBUCH Jay Presson Allen, Sidney Lumet, nach einem Roman von Robert Daley // KAMERA Andrzej Bartkowiak // MUSIK Paul Chihara // SCHNITT John J. Fitzstephens // MIT Treat Williams (Daniel Ciello), Jerry Orbach (Gus Levy), Richard Foronjy (Joe Marinaro), Don Billett (Bill Mayo), Kenny Marino (Dom Bando), Carmine Caridi (Gino Mascone), Tony Page (Raf Alvarez), Norman Parker (Rick Cappalino), Bob Balaban (Santimassino), Paul Roebling (Brooks Paige), James

93 Min / Farbe / 35 mm / E // REGIE Albert Brooks // DREH-

Tolkan (Dist. Att. Polito), Steve Inwood (Mario Vincente).

BUCH Albert Brooks, Monica Johnson // KAMERA Eric Saarinen // MUSIK Lance Rubin // SCHNITT David Finfer // MIT Albert Brooks (Robert Cole), Kathryn Harrold (Mary Harvard), Bruno Kirby (Jay), James L. Brooks (David), George Kennedy

SOUTHERN COMFORT USA 1981

(Zoron), Bob Einstein (Sportverkäufer).

PRINCE OF THE CITY USA 1981 Prince of the City ist die Verfilmung einer wahren Begebenheit: Detective Daniel Ciello (Treat Williams), Angehöriger einer auf Drogenhandel spezialisierten Einheit der New Yorker Polizei, wird zum Kronzeugen einer gross angelegten Ermittlung in den eigenen Reihen, die Sidney Lumet zu einem hochauflösenden Tableau rechtlicher und moralischer Verwerfungen ausrollt. Es geht, in Ciellos eigenen Worten, um nichts weniger als «the whole fucked up system». Erbarmungslos wie ein Uhrwerk schreitet das Verfahren voran, während Ciello zwischen den Fronten aufgerieben wird. Lumet ist weniger Routinier denn Meister der Routine. Seinen Filmen eignet eine dichte Textur orts- und zeitspezifischer Schauplätze, Physiognomien und Ausstattungsdetails. Para-

Der beängstigendste, effektivste, vielleicht auch klügste aller Filme über das Debakel der amerikanischen Armee in Vietnam spielt keine Minute lang auf südostasiatischem Boden. Stattdessen schickt Walter Hill in Southern Comfort eine Gruppe Nationalgardisten in die Sümpfe Louisianas. Zu Ausbildungszwecken eigentlich nur, doch als die Männer, eher aus gedankenloser Ignoranz denn aus offener Böswilligkeit, die lokale CajunBevölkerung gegen sich aufbringen, bricht die Hölle los. Was folgt, ist ein kompromisslos düs­ terer, bedrohlich gurgelnder Actionfilm in Graugrün, mit dem besten aller Ry-Cooder-Scores, ein Film, dessen zynisch-brutalisierte Oberfläche langsam umgeformt wird in die schon dokumentarisch anmutende Erforschung eines anderen, verborgenen Amerika. Das ist freilich nicht dazu geeignet, irgendjemanden zu erlösen von der «history of violence», die der Film zuallererst fortschreibt. (L.F.)

DER TOD DES GUTEN ALTEN NEUEN HOLLYWOOD?

PODIUMSGESRÄCH MO, 8. JULI | 18.00 UHR

Zur Einführung in die Retrospektive «The Real Eighties» unterhält sich Andreas Furler mit Lukas Foerster und Nikolaus Perneczky, den Kuratoren der Reihe, über Brüche und Kontinuitäten, Kanon und Antikanon im amerikanischen Kino seit den siebziger Jahren. Die Gesprächsrunde findet im Anschluss an die Vorstellung von Cutter’s Way statt – erstmals seit Jahrzehnten und in der restaurierten Fassung im Filmpodium –, kann aber auch unabhängig vom Film besucht werden. Für die Unterstützung dieser Veranstaltung danken wir:


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> Baby It’s You.

> The King of Comedy.

> Christine.


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The Real Eighties. 106 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Walter Hill // DREHBUCH Michael Kane, Walter Hill, David Giler // KAMERA Andrew Laszlo // MUSIK Ry Cooder // SCHNITT Freeman Davies // MIT Keith Carradine (Spencer), Powers Boothe (Cpt. Charles Hardin), Peter Coyote (Staff Sgt. Crawford Poole), Fred Ward (Cpl. Lonnie Reece), Franklyn Seales (Simms), Les Lannom (Casper), Brion James (Cajun-Trapper), Sonny Landham (Jäger).

THIEF USA 1981 Thief erzählt aus dem Alltag des Profidiebs Frank in knappen, dichten Szenen, die dennoch eine ganze Chicagoer Halbwelt atmen. Diebstahl erscheint als Präzisionsarbeit mit schweren industriellen Gerätschaften, und Michael Mann schenkt den jeweiligen Arbeitsschritten solche Aufmerksamkeit, dass man am Ende selbst mit Bunsenbrenner und Sauerstofflanze umgehen zu können vermeint. Mit der Kassiererin Jessie möchte Frank ein neues Leben anfangen. Die ungelenke Collage aus Fotos und Zeitschriftenbildern, die Frank der jungen Frau in der berührendsten Szene anstelle einer Liebeserklärung entgegenstreckt, verdichtet all seine Hoffnungen und Ambitionen in ein herzzerreissendes Wunschbild. Als die Wirklichkeit in Gestalt eines Gangsters, der ihn zum abhängigen Lohnarbeiter machen will, Franks Seifenblase zum Platzen bringt, schaltet er um auf Autopilot, Modus «Engel der Zerstörung». Tod oder Freiheit: Selten war ein Finale zugleich so unterkühlt und überhitzt. (N.P.) 122 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Michael Mann // DREHBUCH Michael Mann, nach dem Roman «The Home Invaders» von Frank Hohimer // KAMERA Donald E. Thorin // MUSIK Tangerine Dream, Craig Safan // SCHNITT Dov Hoenig // MIT James Caan (Frank), Tuesday Weld (Jessie), James Belushi (Barry), Willie Nelson (Okla), Robert Prosky (Leo), Tom Signorelli (Attaglia), Dennis Farina (Carl), Nick Nickeas (Nick), Norm Tobin (Guido).

THE KING OF COMEDY USA 1982 Rupert Pupkin, unüberbietbar nervtötender Niemand mit dem feisten Charme der Raspel und dem Witz des Fleischwolfs, hat sich in den Kopf gesetzt, «King of Comedy» zu werden. Nichts vermag sein frenetisch ins Galoppieren geratenes Mittelmass zu bremsen. Da Gott Langford (Jerry Lewis in der Rolle eines vom Beiwerk des Erfolgs mürrisch gewordenen Talkmasters der Nation)

sein Ansinnen, eine mediale Startchance zu erhalten, nicht erhört, kidnappt Pupkin kurzweg sein Idol. Der Weg zum Erfolg übers Trampolin der Sensation ist geebnet. Um alles noch neurotischer und dichter zu machen, geizt Scorsese nicht mit Sympathie für seinen von Furien gehetzten Helden: Dies sei just die Art, wie auch er sein Filmdebüt gemacht habe, ohne Geld, immerfort abgewiesen. Ein Grabgesang auf die US-Kultur des Gipfelsturms und eine Vernichtungshommage an deren hechelnde Medienstars – ein Scorsese-Rennwagen, der mit Vollgas zugleich vor- und rückwärts rast. (H.T.) 108 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Martin Scorsese // DREHBUCH Paul D. Zimmerman // KAMERA Fred Schuler // MUSIK Robbie Robertson // SCHNITT Thelma Schoonmaker // MIT Robert De Niro (Rupert Pupkin), Jerry Lewis (Jerry Langford), Sandra Bernhard (Masha), Diahnne Abbott (Rita Keane), Ed Herlihy (Ed Herlihy), Lou Brown (Bandleader), Whitey Ryan (Wachmann), Doc Lawless (Chauffeur), Marta Heflin (junges Mädchen), Catherine Scorsese (Ruperts Mutter), Cathy Scorsese (Dolores), Martin Scorsese (TV-Regisseur).

BABY IT'S YOU USA 1983 Die amerikanischen Achtziger standen im Zeichen einer grassierenden Fünfziger- und Sechziger-Nostalgie, die von linker wie von konservativer Seite ausging – und mitunter, wie hier bei Underdog-Auteur John Sayles, von links aussen. Baby It's You ist nominell zwar Mitte der Sechziger angesiedelt, der italoamerikanische ‹greaser› Albert alias The Sheik (Vincent Spano) schwelgt aber ähnlich selbstverloren in der unmittelbaren Vergangenheit wie die erwachsen gewordenen Babyboomer zwanzig Jahre später. Dass seine Liebelei mit Jill (Rosanna Arquette), einer Tochter aus gutem Hause, sich zuletzt nicht an den Vorstellungen ihrer Eltern, sondern an den verinnerlichten Imperativen einer «realistischen» Lebensführung messen lassen muss, ist nur ein Beispiel unter vielen für Sayles' unsentimentalen, aber solidarischen Blick auf die Enttäuschungen des Erwachsenwerdens: ein ideologiekritischer Meta-Nostalgiefilm, der sich doch stets auf Augenhöhe mit seinen verwirrten Figuren befindet. (N.P.) 101 Min / Farbe / Digital SD / E // REGIE John Sayles // DREHBUCH John Sayles, nach einer Geschichte von Amy Robinson // KAMERA Michael Ballhaus // MUSIK div. Songs der 1960er Jahre, Burt Bacharach // SCHNITT Sonya Polonsky // MIT Rosanna Arquette (Jill Rosen), Vincent Spano (Albert Capadilupo, «The Sheik»), Joanna Merlin (Mrs. Rosen), Jack Davidson (Dr. Rosen), Leora Dana (Miss Vernon, Lehrerin).


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The Real Eighties.

CHRISTINE USA 1983 1957 erblickte Christine das Licht der Welt – auf einem Fliessband in Detroit. Keine zwanzig Jahre später mutet ihre einst makellose Warenform (Christine ist ein schnittiger Plymouth Fury) hoffnungslos veraltet an – bis die Leidenschaft eines jungen Mannes ihre monströsen Fetischkräfte wiedererweckt. Christines neues Leben ist das eines Gespensts. Egal wie sehr wir uns bemühen, sie zu zerstören, kommt sie immer wieder zurück, um uns heimzusuchen: die gewaltsame Wiederkehr einer Ikone der amerikanischen Industrie im Zeitalter zunehmender Deindustrialisierung. John Carpenter findet sichtlich grosses Vergnügen daran, das obsolete Monstrum noch einmal in Betrieb zu nehmen. Wer nicht glaubt, dass Autos mit Blickmacht und Persönlichkeit ausgestattet sind, kann sich in Christine vom Gegenteil überzeugen. In bester Horrorfilmtradition zielt der geschulte Genre-Dialektiker Carpenter jedoch auf mehr als nur Angst und Schrecken: dass wir das Böse ebenso fürchten wie bemitleiden mögen. (N.P.) 110 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE John Carpenter // DREHBUCH Bill Phillips, nach dem Roman von Stephen King // KAMERA Donald M. Morgan // MUSIK John Carpenter // SCHNITT Marion Rothman // MIT Keith Gordon (Arnie Cun-

sich Francis Ford Coppola auf seine Wurzeln und brachte eine Crew nach Tulsa, Oklahoma, wo er zwei kostengünstige Teenagerstudien, The Out­ siders und Rumble Fish, produzierte. Beide basieren auf populären Romanen S. E. Hintons und wurden Rücken an Rücken gedreht. Nach ihrer Lancierung wurden die beiden Filme von der Kritik weitgehend übersehen, aber jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, sind sie eindeutig bahnbrechende Arbeiten in den Karrieren von Coppola und seinem Kameramann Stephen H. Burum. (…) Rumble Fish ist ein Traum für Filmliebhaber und wird mit jedem Wiedersehen besser. Fast jedes Bild ist visuell elegant, kühn und thematisch ausdrucksstark. (…) Während The Outsiders ein traditionelles Melodram ist – Coppola hat es als Gone with the Wind für Jugendliche bezeichnet – hat Rumble Fish mehr Gemeinsamkeiten mit den Avantgarde-Filmen von Stan Brakhage und Chris Marker als alles, das je in Hollywood gemacht wurde. Doch die Unkonventionalität von Schnitt und Sound-Design behindern seine beeindruckende Emotionalität nicht, sondern erhöhen sie noch. (…) Die komplizierte Beziehung zwischen den beiden jungen Männern und ihrem alkoholkranken Vater (Dennis Hopper) vermittelt Burum brillant, indem er Weitwinkelobjektive und Tiefenschärfe für Kompositionen nutzt, die alle Figuren im gleichen Bildausschnitt zusammenhalten.» (Jim Hemphill, American Cinematographer, Januar 2006)

ningham), John Stockwell (Dennis Guilder), Alexandra Paul (Leigh Cabot), Robert Prosky (Will Darnell), Harry Dean Stan­

94 Min / sw und Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Francis Ford

ton (Det. Rudolph Junkins), David Spielberg (Mr. Casey),

Coppola // DREHBUCH S. E. Hinton, Francis Ford Coppola,

Chris­ tine Belford (Regina Cunningham), Roger Blossom

nach dem Roman von S. E. Hinton // KAMERA Stephen H. Bu-

(George LeBay), Malcolm Danare (Moochie Wells).

rum // MUSIK Stewart Copeland // SCHNITT Barry Malkin // MIT Matt Dillon (Rusty James), Mickey Rourke (The Motorcycle Boy), Diane Lane (Patty), Dennis Hopper (Vater), Nicholas

RUMBLE FISH USA 1983 «Ein stilisierter Schwarzweissfilm über den Tod der Bandenkultur in einer rauhen Stadt, wo die Jugendlichen auf sich gestellt sind. Die Hauptfigur ist der herumstolzierende Rusty James, ein begriffsstutziger Unflat, der seine Zeit in Billardhallen verbringt und darauf wartet, dass ‹etwas› in seinem Leben geschieht. Dieses Etwas könnte die Rückkehr seines Bruders, allgemein als ‹Motorcycle Boy› bekannt, aus dem Exil in Kalifornien sein. Charismatisch und intelligent, hat der ‹Motorcycle Boy› einst zahlreiche blauäugige Anhänger in die Schlachten, die ‹rumbles› geführt, die in der Stadt damals alltäglich waren. Rusty James will diese Rolle übernehmen, doch fehlt ihm die Intelligenz dazu.» (www.mrqe.com) «Nach dem kommerziellen Flop seines ambitionierten Musicals One from the Heart besann

Cage (Smokey), Christopher Penn (B. J. Jackson), Tom Waits (Benny), Vincent Spano (Steve), Diana Scarwid (Cassandra), Larry Fishburne (Midget).

TENDER MERCIES USA 1983 Unter den vielen schönen Country-Melodramen der frühen Achtziger das allerschönste: Irgendwo in der texanischen Steppe stehen drei weisse Häuser, und in einem dieser drei Häuser, die das einzige sind, was sich zwischen Himmel und Erde, zwischen Mensch und Gott stellt, lernt der ehemalige Sänger und ‹recovering alcoholic› Mac Sledge die Tankstellenbetreiberin Rosa Lee kennen. Robert Duvall spielt diesen Mac Sledge mit einer leisen Intensität, die ihresgleichen sucht, gleichzeitig aber immer schon das Echo eines im Grossen und Ganzen vergangenen Lebens ist –


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The Real Eighties. das ihn schliesslich doch noch einholt, zunächst in Form eines Kleinbusses, dem eine Gruppe langhaariger Jungs entsteigt. Ein Film geprägt von Nachträglichkeiten: nach dem Suff, nach der Karriere, nach der grossen Liebe, nach Vietnam, nach New Hollywood. Rosa Lees Sohn fragt Mac Sledge einmal, an was er denke, an gute oder an schlechte Dinge. Seine Antwort: «Some of both, I think.» (L.F.) 90 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Bruce Beresford // DREHBUCH Horton Foote // KAMERA Russell Boyd // MUSIK George Dreyfus // SCHNITT William M. Anderson // MIT Robert Duvall (Mac Sledge), Tess Harper (Rosa Lee, die Witwe), Betty Buckley (Dixie, die Exfrau), Lenny von Dohlen (Robert Dennis), Allan Hubbard (Sonny), Wilford Brimley (Harry), Ellen Barkin (Sue Ann), Paul Gleason (Reporter), Norman Bennett (Pfarrer Hotchkiss), Michael Crabtree (Lewis Menefee).

STARMAN USA 1984 Ein Ausserirdischer ist der Voyager-Einladung auf die Erde gefolgt, doch statt der erwarteten friedlichen Mission erweist sich sein Besuch als gefährlich: Nachdem sein Raumschiff abgeschossen wird, nimmt er menschliche Form an – in Gestalt eines Unfallopfers. Dessen verwirrte Witwe wird seine Begleiterin auf einer Reise durch die USA zum designierten Treffpunkt mit einem anderen Raumschiff. Von Regierungsbeamten gejagt, kommen sich die beiden näher, während der Ausserirdische mit entwaffnender Naivität irdische Erfahrungen macht. Ein unterschätzter Film von John Carpenter, dem die Abkehr von Action und Horror zugunsten einer romantischen Fantasie übel genommen wurde. Dabei schuf er eine wunderbare Genre-Variation in humanistischer Tradition: Jeff Bridges, gewohnt beiläufig, gewandt und gewagt in der Darstellung, wird zum Wiedergänger des Alien-Besuchers aus The Day the Earth Stood Still. (C.H.) 115 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE John Carpenter // DREHBUCH Raynold Gideon, Bruce A. Evans // KAMERA Donald M. Morgan, Michael McAlister // MUSIK Jack Nitzsche // SCHNITT Marion Rothman // MIT Jeff Bridges (Starman), Robert Phalen (Major Bell), Richard Jaeckel (George Fox), Charles Martin Smith (Mark Shermin), Karen Allen (Jenny Hayden), Tony Edwards (Sgt. Lemon), John Walter Davis (Brad Heinmuller).

THE TERMINATOR USA 1984 Aus der apokalyptischen Zukunft des Jahres 2029, in der ein erbitterter Kampf der Maschinen

gegen die zahlenmässig unterlegenen Menschen tobt, kommt ein Terminator ins Los Angeles des Jahres 1984. Diese perfekte, mit synthetischer Haut überzogene Killermaschine hat den Auftrag, die unscheinbare Kellnerin Sarah Connor zu eliminieren. Denn in naher Zukunft bringt Sarah den späteren Freiheitskämpfer John zur Welt, der den entscheidenden Schlag gegen die Maschinen führen wird. «Durchbruch des Action-Virtuosen James Cameron, der dieses souveräne Low-Budget-Frühwerk mit mindestens soviel Verve orchestriert wie seine späteren Grossproduktionen: Der Geist der schlauen Exploitation-Filme von Roger Cormans Firma ‹New World› wird beschworen und mit Elementen der damals Aufsehen erregenden Cyberpunk-Literatur gekreuzt. Inmitten der flüssigen, fast federleicht choreografierten Gewalt: Arnold Schwarzenegger als destruktives, weniger menschlich denn geologisch anmutendes Kraftpaket, zu dessen amüsant markigen Einzeilern ein wahres Versprechen gehört: ‹I'll be back.› » (Christoph Huber, Programmheft Österreich. Filmmuseum, Mai/Juni 2013) 108 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE James Cameron // DREHBUCH Gale Anne Hurd, James Cameron, William Wisher // KAMERA Adam Greenberg // MUSIK Brad Fiedel // SCHNITT Mark Goldblatt // MIT Arnold Schwarzenegger (Terminator), Michael Biehn (Kyle Reese), Linda Hamilton (Sarah Connor), Paul Winfield (Traxler), Lance Henriksen (Vukovich), Shawn Schepps (Nancy), Rick Rossovich (Matt), Bess Motta (Ginger), Earl Boen (Silberman), Dick Miller (Verkäufer).

TO LIVE AND DIE IN L.A. USA 1985 William Friedkins perfektionistischer Falschgeld-Thriller taucht ein in die Ästhetik der Achtziger, um ihre Extreme zum Schillern zu bringen. Pathos und Banalität kommen sich im Zwielicht von To Live and Die in L.A. so nahe, dass man sie kaum auseinanderhalten kann. Um verbotene Kopiervorgänge geht es nicht nur in der Erzählung; der Film selbst lässt sich von Doppelungen und Spiegelfiguren irritieren, die vom infernalischen Falschgeldkünstler Eric Masters (Willem Dafoe) auszustrahlen scheinen und darin eine geheime Komplizenschaft von Bösewicht und Regisseur offenbaren. Masters’ Gegenspieler, der fanatische Secret-Service-Agent Richard Chance (William Petersen), mag alle Insignien eines Helden tragen. Doch seine Todesgetriebenheit macht ihn – spätestens am Steuer bei der unglaublich intensiven Autoverfolgungsjagd – zur dunkelsten Figur des Films. Masters vs. Chance: Meisterschaft und Zufallsprinzip liefern sich ein Spiegelgefecht auf Leben und Tod. (N.P.)


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> The Terminator.

> Blue Velvet.

> The Fabulous Baker Boys.

> Midnight Run.


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The Real Eighties. 116 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE William Friedkin // DREHBUCH William Friedkin, Gerald Petievich, nach dem Roman von Gerald Petievich // KAMERA Robby Müller // MUSIK Wang Chung // SCHNITT Bud Smith, Scott Smith // MIT William Petersen (Richard Chance), Willem Dafoe (Eric Masters), John Pankow (John Vukovich), Debra Feuer (Bianca Torres), Darlanne Fluegel (Ruth Lanier), John Turturro (Carl Cody), Dean Stockwell (Bob Grimes), Steve James (Jeff Rice), Robert

Sadomasochismus die Debatte um die mediale Gewaltdarstellung. Der Grund für die Verstörung liegt aber tiefer: Der Film konfrontierte das Mainstreampublikum erstmals mit dem obsessiven, das Genre fortan prägenden Lynch'schen Blick für das grausige Gewusel und den gnadenlosen Darwinismus hinter den heilen Fassaden von Natur und Gesellschaft. (afu)

Downey Sr. (Thomas Bateman), Michael Greene (Jim Hart). 120 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE Da-

YEAR OF THE DRAGON USA 1985 Der erste Film, den Michael Cimino nach dem finanziellen Debakel Heaven's Gate drehen konnte, rekonstruiert das New Yorker Chinatown im Studio als Kriegsgebiet. Stanley White, ein psychotischer, rassistischer Cop und Vietnam-Veteran, nimmt den Kampf gegen einen aalglatten asiatisch-amerikanischen Yuppie-Gangster auf. Eine smarte Journalistin bringt Whites manichäisch organisiertes Weltbild zunächst ein wenig durcheinander, am Ende ist sie aber auch nur ein Element in einer Eskalationsdramaturgie, der sich nichts und niemand entziehen kann und die eine Welt in Scherben hinterlässt. In politischer Hinsicht ist Year of the Dragon kaum weniger fragwürdig als The Deer Hunter; Ciminos Hang zur inszenatorischen Grossspurigkeit allerdings wird vom Genrekorsett des Polizeifilms weitgehend im Zaum gehalten. Und die an die sprühende Brutalität des zeitgenössischen Hongkong-Kinos erinnernden Actionszenen suchen im Hollywood der Achtziger ihresgleichen. (L.F.) 134 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Michael Cimino // DREHBUCH Michael Cimino, Oliver Stone, nach einem Roman von Robert Daley // KAMERA Alex Thomson // MUSIK David Mansfield // SCHNITT Françoise Bonnot // MIT Eddie Jones (William McKenna), Caroline Kava (Connie White), Raymond J. Barry (Louis Bukowski), Leonard Termo (Angelo Rizzo),

vid Lynch // KAMERA Frederick Elmes // MUSIK Angelo Badalamenti // SCHNITT Duwayne Dunham // MIT Kyle Mac­ Lachlan (Jeffrey Beaumont), Isabella Rossellini (Dorothy Vallens), Laura Dern (Sandy Williams), Dennis Hopper (Frank Booth), Dean Stockwell (Ben), Hope Lange (Mrs. Williams), George Dickerson (Det. Williams), Priscilla Pointer (Mrs. ­Beaumont), Frances Bay (Tante Barbara), Jack Harvey (Mr. Beaumont), Ken Stovitz (Mike), Brad Dourif (Raymond).

SOMETHING WILD USA 1986 Jeff Daniels als Biedermann, der vom aufregenden Leben träumt – bis er bei einer amoralischen Femme fatale mit dem Wedekind-Namen Lulu (Melanie Griffith) ins Auto steigt und sich in einem Alptraum-Abenteuer wiederfindet. Was als verrücktes Wochenende mit Alkoholraub und Fesselspiel-Sex beginnt, wird nach dem Eintreffen von Lulus kriminellem Ex (psychopathische Heiligkeit: Ray Liotta) zum lebensgefährlichen Trip. Jonathan Demmes Eintrag ins Mitte der achtziger Jahre populäre Genre der «yuppie nightmare comedy» hebt sich durch die Sympathie ab, mit der Demme seine exzentrischen Figuren schildert: ein selbstsicheres «shotgun wedding» zwischen erotisch und tiefschwarz eingefärbter Screwball Comedy und asozialem Alptraum in Thriller-Manier. Ein philosophierender Hotelgast gibt weise Worte mit auf den Weg: «Remember, no matter what, it’s better to be a live dog than a dead lion.» (C.H.)

Ariane (Tracy Tzu), John Lone (Joey Tai), Mickey Rourke (Stanley White), Victor Wong (Harry Yung).

114 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Jonathan Demme // DREHBUCH E. Max Frye // KAMERA Tak Fujimoto // MUSIK

BLUE VELVET USA 1986 In einem amerikanischen Provinznest wird ein schüchterner Student durch den Fund eines abgeschnittenen Ohres in einen Strudel der Perversionen gezogen: Er lernt eine neurotische Nachtclubsängerin kennen, spioniert ihr nach und gerät an deren psychopathischen Liebhaber und Erpresser. David Lynchs grosser Durchbruchsfilm intensivierte in den mittleren achtziger Jahren durch die unverblümte Zeichnung von Erniedrigung und

John Cale, Laurie Anderson // SCHNITT Craig McKay // MIT Jeff Daniels (Charles Driggs), Melanie Griffith (Lulu/Audrey Hankel), Ray Liotta (Ray Sinclair), Margaret Colin (Irene), Tracey Walter (Country Squire), Dana Preu («Peaches»), John Waters (Autohändler), Robert Ridgely (Graves), Gary Goetzman (Guido Paonessa), Charles Napier (Koch), John Sayles (Polizist).

THE BIG EASY USA 1986 Wenn Pop-Maverick Jim McBride sich an Genreformeln versucht, ist mit allerhand Verunreini-


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12. JU LI – 1 7. AUG

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Bus 32 & Tram 8 bis Helvetiaplatz, Tram 2 & 3 bis Bezirksgebäude

Alpsummer Inserat 127x98mm

10.5.2013

10:30 Uhr

Telefonische Reservation: 044 242 04 11 Seite per 1 SMS und Internet siehe Reservation www.xenix.ch


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The Real Eighties. gungen zu rechnen. In diesem New-Orleans-Noir gibt es statt der gewohnten Femme denn auch einen (zu erlösenden) Homme fatale. Dennis Quaid, dem keine Grimasse zu steil ist, legt ihn als realweltliche Comicfigur an: Wenn der korrupte Cop der linkischen Staatsanwältin (Ellen Barkin) in einem von Neonlettern erleuchteten Gumbo-Lokal den Hof macht, wähnt man sich in Gesellschaft von Tex Averys liebestollem ZeichentrickWolf. Überall streut The Big Easy wesensfremde Einsprengsel in das Formen- und Affektrepertoire des Film noir; kaum eine Einstellung, die nicht gebrochen oder doch zumindest angeschrägt wäre – etwa die herrlich unrhythmische Sexszene, die McBride mit einer Live-Einspielung von Aaron Nevilles «Tell It Like It Is» unterlegt. Bei aller Begeisterung für das traditionelle Gemeinschaftsleben der Eingeborenen macht sich The Big Easy dennoch keine Illusionen: Unter New Orleans der Sumpf. (N.P.) 102 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Jim McBride // DREHBUCH Daniel Petrie jr. // KAMERA Affonso Beato // MUSIK Brad Fiedel // SCHNITT Mia Goldman // MIT Dennis Quaid (Det. Remy McSwain), Ellen Barkin (Anne Osborne), Ned Beatty (Jack Kellom), John Goodman (Det. Andre DeSoto), Lisa Jane Persky (McCabe), Ebbe Roe Smith (Ed Dodge).

THE NAKED GUN USA 1988 Nach Airplane! die zweite grandiose Genreparodie aus der Werkstatt des begnadeten Blödeltrios ZAZ, das sich hier die Klischees von Polizeifilm und Film noir vorknöpft. Ein ebenso hochgeachteter wie beschränkter Polizeileutnant versucht ein Attentat auf die englische Königin während eines Staatsbesuchs in Los Angeles zu verhindern. «Die Handlung ist Auslöser für ein Feuerwerk von Slapstick-Gags, absurden Parodien und Veralberungen erfolgreicher Film- und Fernsehgenres. Nicht immer dezent und geschmackvoll, aber irrsinnig komisch. Konzept und Hauptpersonen wurden der absurd-überdrehten Fernsehserie Police Squad entnommen, die David und Jerry Zucker 1982/83 kreierten.» (Lexikon des int. Films) 85 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE David Zucker // DREHBUCH David Zucker, Jerry Zucker, Jim Abrahams, Pat Proft // KAMERA Robert M. Stevens // MUSIK Ira Newborn // SCHNITT Michael Jablow // MIT Leslie Nielsen (Lt. Frank Drebin), Priscilla Presley (Jane Spencer), Ricardo Montalbán (Vincent Ludwig), George Kennedy (Capt. Ed Hocken), O. J. Simpson (Det. Nordberg), Nancy Marchand (Mayor), John Houseman (Fahrlehrer), Susan Beaubian (Wilma Nordberg).

MIDNIGHT RUN USA 1988 Das ganze Amerika steckt in diesem Film. Buchstäblich. Denn weil «Duke» Mardukas (Charles Grodin) unter Flugangst zu leiden behauptet, muss ihn der Kopfgeldjäger Jack Walsh (Robert De Niro) mit unterschiedlichen Fahrzeugen einmal quer durch den Kontinent nach Los Angeles transportieren, wo sein Gefangener in zwielichtige Finanztransaktionen verwickelt war – die auch dafür verantwortlich sind, dass zahlreiche andere, ebenso zwielichtige Gestalten daran interessiert sind, dass Mardukas nicht heil in Kalifornien ankommt. Ein Buddy-Roadmovie mit «Action-Comedy»-Einschlag. Auf den ersten Blick ein Film wie viele andere der Zeit. Auf den zweiten ein entspanntes Stück uramerikanisches Erzählkino, das sich für die Welt, in der es spielt, nicht nur als Kulisse, sondern weitaus grundsätzlicher interessiert. (L.F.) 126 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Martin Brest // DREHBUCH George Gallo // KAMERA Donald E. Thorin // MUSIK Danny Elfman // SCHNITT Billy Weber, Chris Lebenzon, Michael Tronick // MIT Robert De Niro (Jack Walsh), Charles Grodin (Jonathan Mardukas), Yaphet Kotto (Alonzo Mosely), John Ashton (Marvin Dorfler), Dennis Farina (Jimmy Serrano), Joe Pantoliano (Eddie Moscone), Richard Foronjy (Tony Darvo), Robert Miranda (Joey), Jack Kehoe (Jerry Geisler).

THE FABULOUS BAKER BOYS USA 1989 Die Brüder Jeff und Beau Bridges spielen die Brüder Jack und Frank Baker, zwei Show-Pianisten, die durch zweitklassige Nachtclubs tingeln – weitgehend erfolglos, zumindest bis die Sängerin Susie Diamond (Michelle Pfeiffer) bei ihnen anheuert. Einerseits macht ihre Nummer plötzlich Kasse, andererseits schlittern die Brüder sehenden Auges in ein wie in Zeitlupe ausgespieltes Eifersuchtsmelodram. Das Regiedebüt des Drehbuchautors Steve Kloves ist ein atmosphärisch ungemein stimmiger, von Michael Ballhaus wunderbar fotografierter Film über die morsche, unbarmherzige, Biografien zermalmende Rückseite der Kulturindustrie, ein Film, der am Ende der Achtziger noch einmal die Brücke schlägt zu Schausteller-Roadmovies wie Knightriders und … All the Marbles vom Anfang des Jahrzehnts. Die Hoffnung, im Leben ‹on the road› eine andere, freiere Existenz finden zu können, ist längst enttäuscht worden. Was bleibt, ist Melancholie. (L.F.) 114 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE Steve Kloves // KAMERA Michael Ballhaus // MUSIK Dave Grusin // SCHNITT William Steinkamp // MIT Jeff Bridges (Jack Baker), Beau Bridges (Frank Baker), Michelle Pfeiffer (Susie Diamond), Ellie Raab (Nina), Xander Berkeley (Lloyd).



19 Daniel Auteuil

Der Zweifel als Triebfeder Gequält, unwohl in der eigenen Haut, oft schäbig und verschlagen: Die Männer, die Daniel Auteuil spielt, sind nicht die typischen Sympathie­ träger. Die grosse Kunst des 1950 geborenen Charakterdarstellers liegt darin, den unterschiedlichsten Figuren Wahrhaftigkeit zu verleihen und ihre Verletzlichkeit freizulegen – gerade auch in seinen Komödienrollen. «Jeder Take ist für mich ein Todeskampf», vertraute er mir einmal in einem Interview an. Das muss man nicht für bare Münze nehmen. Schliesslich hat dieser Schauspieler in fast vier Jahrzehnten über neunzig Filme gedreht. Wie lässt sich ein solches Pensum bewältigen, wenn man bei jeder Aufnahme eine Heidenangst überwinden muss? Im Hinterkopf darf man die Behauptung gleichwohl behalten. Daniel Auteuils Karriere ist eine Flucht nach vorn, ein Triumph über die eigene Schüchternheit. Falls für ihn das Spielen tatsächlich angstbesetzt sein sollte, dann hat er diese Furcht souverän in Euphorie und Dringlichkeit verwandelt. Mitunter scheint es, als würde er vor der Kamera eine kindliche Abenteuer- und Verwandlungslust wiederentdecken. Seine Spielfreude ist nicht zu verwechseln mit jener Unersättlichkeit, die sein ewiger Rivale und häufiger Gegenspieler Gérard Depardieu zu einem veritablen Lebensentwurf gemacht hat. Sie erzählt vielmehr vom Glück der Überwindung. Das hat glänzend funktioniert. Seine ersten Erfolge feierte er in extrovertierten Komödienrollen. Und seinen zweiten César erhielt er nicht von ungefähr für eine Rolle, in der er lustvoll dem Affen Zucker geben konnte: die des selbstgewissen Gauklers und exzentrischen Pygmalion in La fille sur le pont. Ihm blieb womöglich keine andere Wahl, als Komödiant zu werden. Seine Eltern waren Opern- und Operettensänger, er trat schon als Kind an ihrer Seite auf und spielte im Alter von 16 Jahren seine erste grosse Bühnenrolle in einem Einakter von Tschechow. Bald liess er das heimatliche Avignon hinter sich, um in Paris das Kino zu erobern. Sein Ehrgeiz zielte auf unbedingte Präsenz; es war ihm lieber, eine tragende Rolle in einem mittelprächtigen Film zu spielen als eine kleine Rolle in einem hervorragenden. (Le paltoquet ist einer der wenigen Ensemblefilme, in denen er sich in seinem Element zu fühlen scheint.) Seinen Durchbruch erlebte er mit Mitte dreissig als Ugolin in den >

Ein Schwarzweiss wie zu Zeiten des poetischen Realismus: Daniel Auteuil als Zirkusartist in La fille sur le pont von Patrice Leconte

<

Catherine Deneuve und Daniel Auteuil als Geschwister in André Téchinés hinreissender Familiengeschichte Ma saison préférée


20 Marcel-Pagnol-Verfilmungen Jean de Florette und Manon des sources. Die Verspätung, mit der sich der grosse Erfolg einstellte, war ein Glück. Nun besass er Erfahrung und Reife. Die Scheu hatte er längst gemeistert, aber der Zweifel durfte eine mächtige Triebfeder bleiben. Darstellung als Parteinahme Er konnte ein Filmstar werden, ohne eine Sehnsuchtsfigur zu sein. Oder hat man je von einem Zuschauer gehört, der davon träumt, Daniel Auteuil zu sein? Sein Gesicht ist ganz und gar nicht ebenmässig, seine Nase sogar schief; seit einem Unfall in der Jugend trägt er eine Doppelnarbe über der Oberlippe. Bisweilen ist in seinen Filmen gar die Rede von der Hässlichkeit seiner Figuren, etwa von Ugolin oder von Henri de Navarre in La Reine Margot. Besonders hoch gewachsen ist er auch nicht: Auf Gruppenfotos der diesjährigen Jury in Cannes konnte man feststellen, dass ihn seine Kollegin Nicole Kidman beinahe um Haupteslänge überragt. Überdies verwehren seine Figuren dem Zuschauer eine leichte Identifikation. Es fällt oft schwer, sie zu mögen; sie können zu grosser Schäbigkeit und Verschlagenheit fähig sein. Für Claude Sautet hat er Charaktere gespielt, die mutwillig ihre freundschaftlichen und erotischen Beziehungen vergiften; halb aus unausgelebter Sehnsucht, halb aus Lust an der Manipulation. Die Protagonisten von Quelques jours avec moi und Un cœur en hiver scheinen dem eigenen Leben nur mehr beizuwohnen, schlagen Nähe und Gemeinschaft grausam aus. Auch André Téchiné ist fasziniert von dem beinahe autistischen Zug, der Auteuils Leinwandpersona zu eigen sein kann. Das Innenleben Antoines in Ma saison préférée ist kaum in Übereinstimmung zu bringen mit der Aussenwelt; er muss in der Abgeschiedenheit einer Toilette Verhaltensregeln aufsagen, um den Alltag bewältigen zu können. Wie viele Auteuil-Figuren erwartet auch Alex in Les voleurs nicht, geliebt zu werden. Als Polizist ist er gleichsam das schwarze Schaf in einer Familie von Verbrechern, hat schon als Kind lernen müssen, dass die Einsamkeit seine beste Überlebenschance ist. Die Fürsorglichkeit, die er gegenüber einem kleinen Jungen entwickelt, spielt Auteuil ohne jede Sentimentalität. Die Verführungskraft, die dieser Schauspieler besitzt, musste andere Wege gehen, als es das Kino gemeinhin vorsieht. Auteuil ist ein Paradoxon: ein Star, der nie aufgehört hat, ein «acteur de composition», ein Charakterdarsteller zu sein. Sein Spektrum ist breit. Er kann den unterschiedlichsten Figuren Wahrhaftigkeit verleihen. In allen findet er etwas, von dem er zulässt, dass es ihn heimsucht. Er bürgt für seine Charaktere, mögen sie auch noch so armselig, kaltherzig oder verschlossen wirken, durch die Sorgfalt, mit denen er ihnen Gestalt gibt. Sein Mienenspiel, seine Gestik sind von grosser, unpathetischer Ergriffenheit. Die unverwechselbare Art, wie er das Kinn anhebt, oder die Agilität seines Blicks demonstrieren, wie ernst er die Emotionen


21 nimmt, die es auszudrücken gilt. Selbst der leicht offenstehende Mund, der bei amerikanischen Schauspielern stets ein wenig einfältig wirkt, besitzt bei ihm die Noblesse von Sorge oder Wachsamkeit. Darstellung ist für ihn umsichtige Parteinahme: Er weiht den Zuschauer ein in die Zerrissenheit seiner Figuren, ohne ihn gleich mit dieser versöhnen zu wollen. Deren Geheimnisse wahrt er gleichwohl. Welche gemeinsame Vergangenheit verbindet ihn und seinen Kontrahenten Depardieu im Polizeifilm 36, quai des Orfèvres; woher rühren das Gefühl für Ehre und Loyalität, an dem der alternde Gangster Gu in Le deuxième souffle festhält; welche Kränkung veranlasst den Geigenbauer Stéphane in Un cœur en hiver, das Liebesglück seines besten Freundes zu zerstören? Die Komödie weiss Rat Einnehmend sind freilich alle grossen Charaktere Auteuils dennoch, denn er versäumt es nicht, ihre Verletzbarkeit freizulegen. Das macht ihn zu einer einzigartigen, romantischen Kinofigur. Er eröffnet sich ungekannte Freiräume in den Konventionen des Melodrams, unterhält ungeläufige Liebesbeziehungen. In La séparation etwa kehren sich die traditionellen Geschlechterrollen um: Hier definiert sich der Mann nicht durch den Beruf, sondern durch seine Gefühle; die Trennung von Anne vollzieht sich als eine Folge von Implosionen. In der aus Staatsraison geschlossenen Ehe in La Reine Margot entwickelt sich eine echte Komplizenschaft. In La fille sur le pont und Sade findet Auteuil in die Rolle des erotischen Mentors. In Je l’aimais baut er eine aufgeklärte, respektvolle Beziehung zu seiner Schwiegertochter auf. Seine Komödienrollen führen gleichsam systematisch vor, wie offen die Kinofigur Auteuil für Wandlungen und Lernprozesse ist. Liebe oder Freundschaft bringen ihn in Filmen wie Romuald et Juliette, Le huitème jour und Mon meilleur ami dazu, Ignoranz und Überheblichkeit abzulegen. Sie führen vor, wie viel Wärme und Aufmerksamkeit ihm zu Gebot stehen, wenn Hindernisse beherzt aus dem Weg geschafft werden. Es braucht zwar eine Weile, bis er in Coline Serreaus Film auf die Idee kommt, Juliette die schweren Einkaufstüten abzunehmen. Aber in diesem Genre gelingt dem Schauspieler fulminant die optimistische Umkehrung der Sinnkrisen, die er in seinen «ernsten» Filmen durchlebt. Es sind einerseits Studien darüber, wie man sein Lächeln wiederfindet. Zugleich sind es Filme, in denen Auteuil sich vergnügt treu bleiben kann: Sein grosses Talent ist es, Figuren zu zeichnen, die lernen, sich in Frage zu stellen. Gerhard Midding

Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin.


22

> Un cœur en hiver.

> Manon des sources.

> La Reine Margot.

> La sĂŠparation.

> Le placard.


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Daniel Auteuil.

LE PALTOQUET Frankreich 1986 «Fünf Stammgäste einer Hafenkneipe – vier Männer und eine Frau – stehen im Verdacht, jemanden im gegenüberliegenden Hotel ermordet zu haben. Der ermittelnde Kommissar tappt im Dunkeln, verhaftet einen der Verdächtigen auf gut Glück, muss ihn aber bald wieder freilassen. Nun gibt jeder seine Version der Ereignisse zum Besten. Ein kriminalistisches Kammerspiel ohne eigentliche Auflösung, getragen von einer Riege französischer Starschauspieler. Ein trotz seiner inszenatorischen Kühle erotischer Film, der seine Spannung aus den geschliffenen Dialogen bezieht.» (Lexikon des int. Films) «Geschickt und durch die herausragenden Leistungen aller Darsteller unterstützt, macht sich Michel Deville einen Spass daraus, sein Publikum in einer Art mentalem Labyrinth in die Irre zu führen und gleichzeitig den Suspense des klassischen Krimis zu erhalten. Le paltoquet präsentiert sich als angenehmes Divertissement, bei dem man nie genau weiss, ob man sich in der Realität oder in der Illusion befindet.» (Raymond Lefèvre, La revue du cinéma/La saison cinématographique 1987)

Doppelfilm wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem wurde er vom National Board of Review zum besten fremdsprachigen Film 1987 gewählt. Vor Jean de Florette hatte Auteuil vor allem in Krimis und Komödien mitgespielt und war damit bekannt geworden; der Wechsel machte viele Journalisten skeptisch – und dies wiederum Daniel Auteuil wütend: «Das nervt!», fauchte er im Sommer 1986 die Journalistin Solveig Anspach der Zeitschrift Cinématographe im Interview an. «‹Série B› – was soll das denn heissen? Ich hasse es, wenn man Millionen von Zuschauern geringschätzt. Ist Zidi [Les sous-doués (1980) und Les sous-doués en vacances (1981), beide mit Auteuil; Anm. d. Red.] etwa Scheisse? Ich bin ein volkstümlicher Schauspieler!» Auteuil zu wählen und ihn gegen seine bisherigen Rollen zu besetzen, war ein Risiko, doch Berri meint dazu: «Ich hatte das Vergnügen, einem Komödianten zu ermöglichen, endlich zeigen zu können, welch grossartiger Schauspieler er sein kann. (...) Er hat eine Mehrdeutigkeit, die der Figur entspricht.» (Cinématographe 121, Juli/ August 1986) 120 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Claude Berri // DREHBUCH Claude Berri, Gérard Brach, nach dem Roman «L'eau des collines» von Marcel Pagnol // KAMERA Bruno Nuytten

92 Min / Farbe / 35 mm / F/e // REGIE Michel Deville // DREH-

// MUSIK Jean-Claude Petit // SCHNITT Arlette Langmann,

BUCH Michel Deville, nach dem Roman «On a tué pendant

Noëlle Boisson // MIT Daniel Auteuil (Ugolin), Yves Montand

l'escale» von Franz-Rudolf Falk // KAMERA André Diot //

(Papet), Gérard Depardieu (Jean Florette), Elisabeth De-

MUSIK Antonin Dvorak, Leos Janacek // SCHNITT Raymonde

pardieu (Aimée), Ernestine Mazurowna (Manon), Marcel

Guyot // MIT Daniel Auteuil (Journalist), Fanny Ardant (Lotte),

Champel (Pique-Bouffigue).

Richard Bohringer (Arzt), Jeanne Moreau (Barbesitzerin), Michel Piccoli (Tölpel), Claude Piéplu (Professor), Jean ­ Yanne (Kommissar), Philippe Léotard (Kaufmann).

MANON DES SOURCES Frankreich 1986

JEAN DE FLORETTE Frankreich/Italien 1986 Nach dem Doppelroman «L’eau des collines» von Marcel Pagnol erzählt Jean de Florette von Ugolin Soubeyran (Daniel Auteuil), der in der französischen Provence im frühen 20. Jahrhundert mit seinem Onkel Papet zusammenlebt und davon träumt, eine Nelkenplantage aufzubauen. Da das eigene Grundstück nicht über genug Wasser verfügt, reden sie mit dem benachbarten Bauern, der jedoch nicht verkaufen will, worauf der Onkel den Nachbarn tötet. Sein Erbe, Jean de Florette, hat aber eigene Pläne mit dem Land. Claude Berri, bis dahin bekannt für seine eher intimen Sittenkomödien, nahm sich mit Jean de Florette und Manon des sources einen epischen Stoff des südfranzösischen Autors und Filmemachers Marcel Pagnol vor; der sehr aufwendige

Die Fortsetzung von Jean de Florette: Manon de Florette lebt als Hirtin hinter den Hügeln in der Nähe eines Hofs, der einst ihrem Vater Jean gehörte. Manon beobachtet den neuen Lehrer Bernard beim Spazieren und verliebt sich in ihn, während der Nelkenzüchter Ugolin sich zu ihr hingezogen fühlt, aber abgewiesen wird. Ugolin hatte einst den Hof ihres Vaters gekauft, nachdem dieser auf der Suche nach einer Wasserquelle ums Leben gekommen war. Nach und nach kommt die Vergangenheit ans Tageslicht. 113 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Claude Berri // DREHBUCH Claude Berri, Gérard Brach, nach einem Roman von Marcel Pagnol // KAMERA Bruno Nuytten // MUSIK JeanClaude Petit // SCHNITT Geneviève Louveau, Hervé de Luze // MIT Daniel Auteuil (Ugolin), Yves Montand (César), Emmanuelle Béart (Manon), Hippolyte Girardot (Bernard), Elisabeth Depardieu (Aimée).


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Daniel Auteuil.

QUELQUES JOURS AVEC MOI Frankreich 1988 Martial Pasquier, der reiche Erbe einer Supermarktkette, ist depressiv. Zur Ablenkung schickt ihn seine Familie auf eine scheinbar harmlose Mission: In Limoges soll er die Bücher einer Filiale überprüfen, die zu wenig Umsatz macht. Als er feststellt, dass der Filialleiter Fonfrin die Zahlen manipuliert, richtet er sich in Limoges ein – mit Fonfrins Hausangestellter, die auf sein Angebot eingeht, einige Tage mit ihm zu verbringen. Sautet hat in diesem Film mit (für ihn) ganz neuen Schauspielern zusammengearbeitet, mit Sandrine Bonnaire und Daniel Auteuil. «Sautet bestätigt hier seine Vorliebe für gequälte, etwas randständige Figuren (die hier jünger sind als üblich), die an einem Wendepunkt ihres Lebens stehen. (…) Wie üblich mildert Sautet die Bitterkeit und Härte des Themas durch chronische Freundlichkeit und Optimismus ab, die dem in der ersten Hälfte überzeugenderen Film etwas von seiner Kraft nehmen. Der Film ist aber mehr als beachtlich, zumal das Schauspielerensemble hervorragend und die Inszenierung professionell und wirkungsvoll zugleich sind.» (François Chevassu, La revue du cinéma/La saison cinématographique 1988) 135 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Claude Sautet // DREHBUCH Claude Sautet, Jérôme Tonnerre, Jacques Fieschi, nach einem Roman von Jean-François Josselin // KAMERA Jean-François Robin, Jean-Paul Meurisse // MUSIK Philippe Sarde // SCHNITT Jacqueline Thiédot // MIT Daniel Auteuil (Martial), Sandrine Bonnaire (Francine), Jean-Pierre Marielle (Fonfrin), Dominique Lavanant (Madame Fonfrin), Vincent Lindon (Fernand).

ROMUALD ET JULIETTE Frankreich 1989 Romuald ist Leiter einer Joghurtfabrik, Juliette putzt dort nachts die Büros. Sie hat fünf Kinder von fünf verschiedenen Männern. Als er in der Firma Opfer einer Intrige wird, findet er bei ihr Unterschlupf. «Das Duett zwischen einem Unternehmer und einer Putzfrau, die keinen Millimeter von ihrem Stand wegwill, (ist) sehr unüblich. Coline Serreau (hat) exzellent mit den richtigen Schauspielern arbeiten gelernt, ist selber bühnenerfahren (...). Für den Romuald, der vom Paulus zum Saulus des Fabrikantenwesens wird, hat sie Daniel Auteuil gewählt, der seit Jean de Florette und anderen Charakterrollen zu den Superstars des französischen Kinos gehört. Ein Rolleninterpret, der sich im richtigen Moment zurücknehmen kann, sich nie penetrant in den Vordergrund spielt. Er

trifft auf die nahezu unbekannte Firmine Richard (...), die mit ihrer erdigen Natürlichkeit, mit neugieriger Skepsis die Juliette facettenreich und glaubhaft abbildet. Man ist sofort von ihrer Präsenz gefangen und kann nachvollziehen, dass Romuald dieser Frau rettungslos verfallen muss.» (Michael Lang, Zoom, 12/1989) 111 Min / Farbe / 35 mm / F/d // DREHBUCH UND REGIE Coline Serreau // KAMERA Jean-Noël Ferragut // MUSIK Jérôme Reese // SCHNITT Catherine Renault // MIT Daniel Auteuil

(Romuald

Blindet),

Firmine

Richard

(Juliette

Bonaventure), Pierre Vernier (Blache), Maxime Leroux (Cloquet), Gilles Privat (Paulin), Catherine Salviat (Françoise Blindet), Muriel Combeau (Nicole), Alexandre Basse (Benjamin), Aissatou Bah (Félicité), Mamadou Bah (Désiré), Isabelle Carré (Valérie).

UN CŒUR EN HIVER Frankreich 1992 Stéphane und Maxime, Geschäftspartner einer renommierten Geigenwerkstatt, ergänzen sich bestens: Der introvertierte Stéphane lockt aus Instrumenten die schönsten Klänge heraus, während er im Umgang mit Menschen verstummt; Maxime ist kommunikativ und offen für wechselnde Liebschaften. Die Konstellation gerät aus dem Takt mit dem Erscheinen der hochbegabten Violinistin Camille, Maximes grosser Liebe. Zwischen ihr und dem schweigsamen Stéphane entwickelt sich eine immer grössere Anziehung. «Wesentlich trägt auch Hauptdarsteller Daniel Auteuil, der die Rolle des Stéphane mit der kühlen Würde des bemitleidenswert Verfehlenden einkleidet, zur beinahe lückenlosen Stimmigkeit dieser filmischen Existenz- und Charakterstudie bei. Als würde Stéphane sorgfältig eine Geige zerlegen, öffnet er Camilles Herz mit emotionsloser Ruhe. Sein Gesicht gibt keinerlei Regungen preis, und nur die äusserst aufmerksame Kamera bietet sich zuweilen als eine Art Lesehilfe bei der Entzifferung von Stéphanes Intentionen an.» (Robert Buchschwenter, Die Presse, 11.1.1994) Auteuil wurde in Venedig 1993 als bester Hauptdarsteller und im selben Jahr in Berlin mit dem «Europäischen Filmpreis» ausgezeichnet. 105 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Claude Sautet // DREHBUCH Claude Sautet, Jacques Fieschi, Jérôme Tonnerre // KAMERA Yves Angelo // MUSIK Maurice Ravel, Philippe Sarde // SCHNITT Jacqueline Thiédot // MIT Daniel Auteuil (Stéphane), Emmanuelle Béart (Camille), André Dussollier (Maxime), Elisabeth Bourgine (Hélène), Brigitte Catillon (Régine), Myriam Boyer (Mme Amet), Dominique De Williencourt (Christophe), Stanislas Carré de Malberg (Brice), Jean-Luc Bideau (Ostende), Maurice Garrel (Lachaume).


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Daniel Auteuil.

MA SAISON PRÉFÉRÉE Frankreich 1993 Erst durch die Pflegebedürftigkeit ihrer Mutter begegnen sich Emilie und ihr Bruder Antoine wieder. Das Zusammentreffen der entfremdeten, früher gefühlsmässig stark verbundenen Geschwister und das langsame, von ihnen beiden verdrängte Sterben ihrer Mutter wirft die beiden aus der Bahn und konfrontiert sie mit der Gegenwart ihrer Vergangenheit. «Wie Daniel Auteuil und Catherine Deneuve diese beiden Figuren, Antoine und Emilie, verkörpern, ist die eine Meisterleistung dieses Films. Weit muss man suchen, um eine vergleichbare Natürlichkeit und Intimität, Leichtigkeit und Intensität der Konfrontation zu finden. Gena Rowlands und John Cassavetes gingen in ihren gemeinsamen Filmen solche Risiken ein. Téchiné hat das Paar in den Zweierszenen jeweils gleichzeitig mit je einer Kamera gefilmt, damit die Auseinandersetzungen möglichst echt wirken. Feinste Nuancen sind nun sichtbar: Auf Auteuils Gesicht die Anflüge jener Panik, die Antoine immer wieder davonlaufen liess. In Deneuves Stimme mitunter eine Brüchigkeit, die das Leiden hinter Emilies beherrschtem Gesicht erahnen lässt.» (Andreas Furler, Tages-Anzeiger, 1993) 127 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE André Téchiné // DREHBUCH Pascal Bonitzer, André Téchiné // KAMERA Thierry Arbogast // MUSIK Philippe Sarde // SCHNITT Martine Giordano // MIT Daniel Auteuil (Antoine), Catherine Deneuve (Emilie), Marthe Villalonga (Berthe), Jean-Pierre Bouvier (Bruno), Chiara Mastroianni (Anne), Carmen Chaplin (Khadija), Anthony Prada (Lucien), Bruno Todeschini (Mann im Spital), Roschdy Zem (Medhi), Ingrid Caven (Frau in Bar).

LA REINE MARGOT Frankreich/Italien/Deutschland 1994 Frankreich, 1572. Zwischen Katholiken und Protestanten droht der Glaubenskrieg. Um die Situation zu entspannen, arrangiert Katharina von Medici eine pompöse Hochzeit zwischen ihrer Tochter, der katholischen Prinzessin Margot, und dem protestantischen Fürsten Heinrich von Navarra – gegen deren Willen. Am Hofe, wo Inzest, Betrug, Promiskuität und Ehebruch an der Tagesordnung sind, werden darauf weitere Intrigen gesponnen; angedacht ist ein Massaker an den französischen Protestantenführern. «Obwohl Chéreau (…) auf jedes Detail geachtet hat, um das Zeitkolorit zu treffen, sieht man dem Film die hohen Produktionskosten auf den

ersten Blick nicht an. Denn im Vordergrund seiner Inszenierung stehen nicht gemäldeartige Tableaus (…), Chéreaus Augenmerk liegt ganz auf seinen Schauspielern, ihren Bewegungen und Gesichtern, so dass die Bilder trotz aller Opulenz nicht selten einen Hauch ‹cinema vérité› atmen. (…) Das differenzierte Spiel der Schauspieler vermittelt jene unerquickliche Mischung aus Fanatismus, religiösem Wahn, rücksichtsloser Fleischeslust, ungestilltem Machthunger, aber auch aufopferungsvoller Liebe.» (Rolf-Ruediger Hamacher, film-dienst 19/1994) 159 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Patrice Chéreau // DREHBUCH Danielle Thompson, Patrice Chéreau, nach dem Roman von Alexandre Dumas // KAMERA Philippe Rousselot // MUSIK Goran Bregovic // SCHNITT François Gédigier, Hélène Viard // MIT Daniel Auteuil (Henri de Navarre), Isabelle Adjani (Margot), Jean-Hugues Anglade (Charles IX.), Vincent Perez (La Môle), Virna Lisi (Catherine de Médicis), Dominique Blanc (Henriette de Nevers), Pascal Greggory (Anjou), Claudio Amendola (Coconnas), Asia Argento (Charlotte de Sauve), Jean-Claude Brialy (Coligny), Barbet Schroeder (Berater), Bruno Todeschini (Armagnac).

LA SÉPARATION Frankreich 1994 Anne und Pierre, ein unverheiratetes Paar mit einem zweijährigen Kind, gehen eines Abends ins Kino; während der Vorstellung greift Pierre vergeblich nach Annes Hand. Als Anne einige Zeit später Pierre erzählt, dass sie ein Verhältnis mit einem anderen Mann hat, beginnt die Agonie einer Beziehung, die harte Erkenntnis, dass man sich auseinandergelebt hat. «Wie viel Mut braucht es, einen so abgedroschenen Stoff zu bearbeiten. Und wie viel Talent braucht es, daraus nicht nur einen neuen, sondern mehr noch einen geglückten Film zu machen. Die Klischees und Übertreibungen, die billigen Effekte, sie lauerten als Fallen in jedem Bild. Christian Vincent hat es fertiggebracht, sie zu vermeiden und einen nüchternen, schnörkellosen und treffenden Film zu drehen.» (Olivier Nicklaus, Fiches du Cinéma, Versailles 1995) «Christian Vincent hat sich nicht damit begnügt, (…) das schönste Filmpaar seit langem zu schaffen; La séparation zeigt uns auch von der einen wie vom anderen eine bisher unbe­ kannte Seite (...) Diese schauspielerische Blutauffrischung verleiht einem Film, der bloss eine harmonische kleine Kammermusik nach bekannter Melodie hätte sein können, seine Dichte und seinen berauschenden Charme.» (Frédéric Strauss, Les Cahiers du cinéma, Paris 1994)


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Daniel Auteuil. 88 Min / Farbe / 35 mm / F // REGIE Christian Vincent // DREHBUCH Dan Franck, Christian Vincent, nach dem Roman von Dan Franck // KAMERA Denis Lenoir // MUSIK Johann Sebastian Bach // SCHNITT François Ceppi // MIT Daniel Auteuil (Pierre), Isabelle Huppert (Anne), Jérôme Deschamps (Victor), Karin Viard (Claire), Laurence Lerel (Laurence), Nina Morato (Marie), Louis Vincent (Loulou), Claudine Challier (Loulous Grossmutter), Christian Benedetti (Anwalt), Frédéric Gélard (Immobilienmakler).

LE HUITIÈME JOUR Belgien/Frankreich/GB 1996 Die Strategien des Marketingexperten Harry gehen für seine Karriere auf, nicht aber für sein Privatleben, das nach dem Auszug seiner Frau mit den beiden Töchtern in Trümmern liegt. Eines Nachts fährt er mit seinem Auto beinahe Georges an, einen Mann mit Down-Syndrom, der aus seinem Heim ausgerissen ist. Alle Versuche, den sonderbaren Kerl loszuwerden, scheitern. «Auf dieser Gegensätzlichkeit von Harry und Georges baut das Szenarium auf. (…) Georges ist für Harry eine unberechenbare Urgewalt, an der die Lebenslügen und -strategien zerbrechen. Harry hat gelernt, seine Gefühle und Launen zu beherrschen. Georges kann nicht anders, als ihnen nachgeben. Gegenüber den Ansprüchen der Gesellschaft ist Georges der Behinderte, gegenüber dem Leben ist es aber Harry. (…) Es steckt eine Liebe zum Leben im Film drin, die ansteckend wirkt, die Lust macht, die einengenden Bahnen zu sprengen, auf die einen der Alltag immer wieder führt. Ohne die Situation der Behinderten zu beschönigen, verweist der Film auf den Reichtum des Andersartigen.» (Matthias Rüttimann, Zoom 8/96) Für ihre schauspielerische Leistung wurden die beiden Hauptdarsteller in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. 118 Min / Farbe / 35 mm / F/d // DREHBUCH UND REGIE Jaco Van Dormael // KAMERA Walther Van den Ende // MUSIK Pierre Van Dormael // SCHNITT Susana Rossberg // MIT Daniel Auteuil (Harry), Pascal Duquenne (Georges), Miou-Miou (Julie), Isabelle Sadoyan (Georges' Mutter), Henri Garcin (Firmendirektor), Michèle Maes (Nathalie), Laszlo Harmati (Luis Mariano), Fabienne Loriaux (Georges' Schwester), Didier de Neck (Schwager).

LES VOLEURS Frankreich 1996 Die Studentin Juliette liebt die ältere Philosophieprofessorin Marie und teilt das Bett mit dem Kriminalkommissar Alex, der die junge Studentin einst nach einem Ladendiebstahl laufen liess.

Derzeit ermittelt er im Todesfall seines Bruders Ivan, Chef einer Bande von Autodieben. Für Ivan arbeitete Jimmy, der Bruder von Juliette. Noch dichter werden die Verstrickungen, als Alex zu ahnen beginnt, dass Juliette in den Auto-Coup verwickelt gewesen sein könnte, bei dem sein Bruder ums Leben kam. «André Téchiné ist kein Mathematiker. Er will nicht ausrechnen, sondern erzählen: von Leuten, die sich gegenseitig ein Stück Leben stehlen, ein Bild, einen Wunsch, einen Moment der Schwäche, einen Augenblick der Lust. Von einem Autoklau, der zufällig schiefgeht, und dem, was daraus folgt. Von Dieben und Diebstahl aller Art. Er will ganz nah an die Person heran, so nah, wie man mit einer Filmkamera überhaupt kommen kann. (…) Die alte Ordnung des Genres kommt aus dem Tritt − und entsteht dadurch neu. Es ist, als hätten die Dinge schärfere Kanten, die Menschen wachere Gesichter. Vor vierzig Jahren spürte man dieses Erwachen in den Filmen von Antonioni, in Il grido oder L'avventura. Jetzt ist es wieder da, wie absichtslos, bei Téchiné.» (Andreas Kilb, Die Zeit, 25.4.1997) 123 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE André Téchiné // DREHBUCH André Téchiné, Gilles Taurand // KAMERA Jeanne Lapoirie // MUSIK Philippe Sarde // SCHNITT Martine Giordano // MIT Daniel Auteuil (Alex), Catherine Deneuve (Marie), Laurence Côte (Juliette), Benoît Magimel (Jimmy), Fabienne Babe (Mireille), Didier Bezace (Ivan), Julien Rivière (Justin), Ivan Desny (Victor), Naguime Bendidi (Nabil), Didier Raymond (Lucien).

LA FILLE SUR LE PONT Frankreich 1999 Der Messerwerfer Gabor rettet eine Selbstmörderin aus den Fluten und macht sie zu seiner Zielund schliesslich auch zu seiner Herzensdame. «Sanft überzeichnete Figuren (…) erscheinen bei Leconte im Rahmen sorgfältig inszenierter, voluminös ausgeleuchteter Schwarzweissbilder, die wie eine ferne Erinnerung an Marcel Carnés poetischen Realismus wirken. Nur, dass sie immer wieder von einem skurrilen, beinahe comicartigen Humor durchkreuzt werden, der sie donnernd wieder auf das Terrain der Gegenwart zurückholt. (…) Eine lakonische Ballade mit poetischen Spitzen, ein taumeliges Artistenstück, das sich in allen Tiefen von Kitsch und Klischee immer wieder aufzuraffen vermag.» (Alexandra Stäheli, Basler Zeitung, 30.9.1999) «Das Wort wunderbar wäre angebracht. Es bezeichnet die Logik und den Charakter einer Geschichte, die von dem Punkt ausgeht, an dem zwei nichts mehr zu verlieren haben, und dann zwei Unglücke zu einem wahlverwandtschaftlichen


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Daniel Auteuil. Glück multipliziert. (…) Ganz leichtfüssig bewegt sich La fille sur le pont sozusagen auf der Messerschneide des modernen Märchens, wo weder mit der Poesie noch der Ironie übertrieben werden darf, wenn man glaubwürdig bleiben will.» (Christoph Schneider, NZZ, 24.9.1999)

(Madame Santero), Grégoire Colin (Fournier), Isild Le Besco (Emilie), Jean-Pierre Cassel (Vicomte de Lancris), Philippe Duquesne (Coignard), Vincent Branchet (Chevalier de Coublier), Raymond Gérôme (Président de Maussane), Frédérique Tirmont (Madame d'Amblet), Sylvie Testud (Renée de Sade), Dominique Reymond (Madame de Lancris).

90 Min / sw / 35 mm / F/d // REGIE Patrice Leconte // DREH-

LE PLACARD

BUCH Serge Frydman // KAMERA Jean-Marie Dreujou // MU-

Frankreich 2001

SIK Benny Goodman, Noro Morales, Marianne Faithful u. a. // SCHNITT Joëlle Hache // MIT Daniel Auteuil (Gabor), Vanessa Paradis (Adèle), Demetre Georgalas (Takis), Bertie Cortez (Kusak), Isabelle Petit-Jacques (Braut), Frédéric Pfluger (Schlangenmensch), Nicola Donato (Monsieur Loyal), Catherine Lascaut (Irène), Claude Aufaure (Suizidopfer), Natasha Solignac (Krankenschwester), Stéphane Metzger (italienischer Kellner), Mireille Mossé (Miss Memory).

SADE Frankreich 2000 «In gedämpften Erdtönen erzählt Sade von den Monaten, die De Sade im Luxusgefängnis Picpus zubringt. Parallel dazu werden Bilder aus der fiebrigsten Phase der Französischen Revolution montiert. Am Ende des Films wird Robespierre tot und der Marquis de Sade − mehr aus Zufall − am Leben sein. (…) Daniel Auteuil spielt darin den während der Französischen Revolution zum einfachen Bürger gewandelten Marquis, und wie nicht anders zu erwarten, entspricht dieser ‹Citoyen Sade› keinem gängigen Klischee. Er ist weder dämonischer Verführer noch sabbernder Lustgreis, sondern ein amüsanter Plauderer mit einem Blick für Schwächen seiner Mitmenschen. Er passt sich den herrschenden Umständen an und weiss seine kleinen Vorteile wohl zu nutzen, bleibt aber respektlos und unbeugsam in seiner Ablehnung kirchlicher oder sonstiger Heilsversprechen. Er setzt die Faszination seines verderblichen Rufes geschickt zu seinem Nutzen ein, gleichzeitig hegt er die grösste Ehrfurcht vor der Freiheit des Menschen. (…) Drehbuchautor Jacques Fieschi (…) orientierte sich bei den Dialogen weniger an De Sades Romanen als an seinen Briefen, in denen er Beweis ablegt von seinem Hang zum Spielerischen und seiner Lust zum Spott. Der Film lässt keinen Zweifel daran, wer die eigentlichen Sadisten sind. Nicht der Freidenker, Libertin und Autor der ‹Justine›, sondern jene, die ihre Mordgelüste im Namen der Republik und des Kampfes gegen den Atheismus ausleben.» (HS, www.film.at) 100 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Benoît Jacquot // DREHBUCH Jacques Fieschi, Bernard Minoret // KAMERA Benoît Delhomme // SCHNITT Luc Barnier // MIT Daniel Auteuil (Sade), Marianne Denicourt (Sensible), Jeanne Balibar

François Pignon, einem bescheidenen Buchhalter in einer Kondomfabrik, droht nach familiären Krisen auch noch die Kündigung infolge Personalabbaus. Beim Versuch, sich vom Balkon in die Tiefe zu stürzen, lernt er seinen neuen Nachbarn kennen, dessen gewagter Tipp nicht nur seine Stelle sichert, sondern ihn auch vom farblosen Langweiler-Dasein befreit: Pignon soll sich als Schwuler outen. «Genüsslich verteilt Veber satirische Seitenhiebe wider den Dogmatismus der politischen Korrektheit, treibt aber listigerweise gleichzeitig die unter diesem Siegel vorgenommene Umwertung vieler Werte weiter – Schwindler, Schwule und Kiffer erscheinen in dieser Geschichte sympathischer als jene heuchelnden, opportunistischen und gelegentlich zu aggressiven Ausfällen neigenden Normalos.» (Andreas Berger, Der Bund, 15.8.2001) «Getragen wird Vebers Komödie (…) vom schauspielerischen Personal: Daniel Auteuils schwächlichem Buchhalter (…) und Gérard Depardieu, diesem vielseitig-explosiven, zunehmend voluminösen Komödianten, der ausser der Jungfrau von Orléans schon fast alles gespielt hat, was das Kino hergibt.» (Rolf Niederer, NZZ, 24.8.2001) 84 Min / Farbe / 35 mm / F/d // DREHBUCH UND REGIE Francis Veber // KAMERA Luciano Tovoli // MUSIK Vladimir Cosma // SCHNITT Georges Klotz // MIT Daniel Auteuil (François Pignon), Gérard Depardieu (Félix Santini), Thierry Lhermitte (Guillaume), Michèle Laroque (Mlle Bertrand), Jean Rochefort (Kopel, Direktor), Michel Aumont (Belone, Nachbar), Alexandra

Vandernoot

(Christine),

Stanlislas

Forlani

(Franck), Edgar Givry (Mathieu).

36, QUAI DES ORFÈVRES Frankreich 2004 Bei der Jagd auf eine gefährliche Verbrecherbande schiessen die ungleichen Pariser Polizeikommissare Denis Klein und Léo Vrinks übers Ziel hinaus. Für die Sicherung von Macht, Pres­ tige und Anerkennung liefern sich die beiden ein beispielloses Psychoduell und nehmen es dabei mit dem Gesetz alles andere als genau.


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> Le huitième jour.

> 36, quai des Orfèvres.

> La fille du puisatier.

> Mon meilleur ami.


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Daniel Auteuil. «Bei aller Kompliziertheit der Handlung erliegt Marchal nie den Gefahren des Genres und entwickelt einen Cop-Thriller mit Antihelden ohne Schablone. Den diversen Geschichten und Charakteren verleiht er Tiefe, wobei nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint; je länger man hinschaut, umso mehr Abgründe offenbaren sich. (…) Überhaupt spielen das System und die Hierarchie, in denen sich diese Art polizeilicher Ethik behaupten kann, eine nicht zu unterschätzende Rolle in dem düsteren Thriller, der in seiner stillen Lakonie oft an die Polizeifilme von Jean-­ Pierre Melville erinnert. Die beiden Hauptdarsteller zeigen sich von ihrer besten Seite: Daniel Auteuils melancholischer Charme funktioniert eben nicht nur in besinnlichen Komödien, sondern steht auch einem ausgebrannten Polizisten zu Gesicht.» (Hans Messias, film-dienst, 17/2006) 110 Min / Farbe / Digital HD / F/d // DREHBUCH UND REGIE Olivier Marchal // KAMERA Denis Rouden // MUSIK Erwann Kermorvant, Axelle Renoir // SCHNITT Hugues Darmois // MIT Daniel Auteuil (Léo Vrinks), Gérard Depardieu (Denis Klein), André Dussollier (Robert Mancini), Roschdy Zem (Hugo Silien), Valeria Golino (Camille Vrinks), Daniel Duval (Eddy Valence), Francis Renaud (Titi Brasseur), Mylène Demongeot (Manou Berliner), Catherine Marchal (Eve Verhagen).

MON MEILLEUR AMI Frankreich 2006 François, ein ebenso erfolgreicher wie skrupelloser Antiquitätenhändler, ersteigert bei einer Auktion eine sündhaft teure griechische Vase, weil deren Legende ihn emotional berührt: Aus Trauer um seinen Freund Patroklos soll Achilles die Vase bis zum Rand mit seinen Tränen gefüllt haben. François' Geschäftspartnerin Catherine zwingt ihn darauf zu einer Wette, wonach er innerhalb von zehn Tagen seinen besten Freund präsentieren soll. «Daniel Auteuil darf man als François einmal in einer weniger enigmatisch-düsteren Rolle sehen; die Mischung von Weltgewandtheit und psychischer Verkrüppelung seines Charakters spielt er überzeugend vielschichtig aus, ohne die Figur blosszustellen. Und Dany Boon als sein Mit- und Gegenspieler ist ihm in allen Facetten gewachsen. Er verkörpert den Taxifahrer Bruno, der vom verzweifelten François als ‹FreundschaftsCoach› engagiert wird, weil er die für diesen rätselhafte Fähigkeit besitzt, mit Leichtigkeit ­ Freunde zu gewinnen. (…) Patrice Leconte, ein Meister in der Darstellung einsamer und verkrus­ teter Seelen (…), führt seine beiden Antihelden durch die Turbulenzen ihrer Lebenskrisen, bevor er ihnen gnädig ein spätes, aber gutes Ende beschert.» (Bettina Spoerri, NZZ, 16. Mai 2007)

94 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Patrice Leconte // DREHBUCH Patrice Leconte, Jérôme Tonnerre, nach der Idee von Olivier Dazat // KAMERA Jean-Marie Dreujou // MUSIK Xavier Demerliac // SCHNITT Joëlle Hache // MIT Daniel Auteuil (François Coste), Dany Boon (Bruno Bouley), Julie Gayet (Catherine), Julie Durand (Louise Coste), Jacques Mathou (Brunos Vater), Marie Pillet (Brunos Mutter), Élizabeth Bourgine (Julia), Henri Garcin (Étienne Delamotte), Audrey Marnay (Marianne), Philippe du Janerand (Luc Lebinet), Anne Consigny (Hélène Klein).

DIALOGUE AVEC MON JARDINIER Frankreich 2007 Ein erfolgreicher Maler aus Paris kehrt in sein auf dem Land gelegenes Elternhaus zurück. Er stellt einen Gärtner ein, der sich als alter Schulkamerad entpuppt. Viel verbindet die beiden, die ein vollkommen unterschiedliches Leben gewählt haben, nicht. Und dennoch entwickelt sich zwischen den Männern in langen Gesprächen eine zarte Freundschaft, die ihnen auch die Augen öffnet für eine andere Perspektive auf die Welt. «So scheint sich die anfängliche Rollenverteilung von oben und unten alsbald umzukehren: Der Gärtner wird zur treibenden kreativen Kraft, der sich durchaus produktiv an der Scholle austobt, während der intellektuelle Schöngeist seinen Pinsel eher lustlos über einer überflüssigen Auftragsarbeit schwingt. (…) Für diejenigen, die ein Ohr dafür haben, spielt Jean Becker geschickt mit den fragwürdigen Glücksvorstellungen unserer Zeit (…). Vor allem aber gelingt es ihm, zwei so unterschiedliche Charaktere wie Daniel Auteuil und Jean-Pierre Darroussin zu einem famosen Duo zusammenzuschweissen, zu mehr als einer Männerfreundschaft, zu einer Liebe, die ihresgleichen sucht.» (Marli Feldvoss, NZZ, 13.12.2007) 110 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Jean Becker // DREHBUCH Jean Becker, Jean Cosmos, Jacques Monnet, nach dem Roman von Henri Cueco // KAMERA Jean-Marie Dreujou // MUSIK Wolfgang Amadeus Mozart // SCHNITT Jacques Witta // MIT Daniel Auteuil (Maler, genannt Dupinceau), JeanPierre Darroussin (Gärtner Léo, genannt Dujardin), Fanny Cottençon (Hélène), Alexia Barlier (Magda), Hiam Abbass (Frau des Gärtners), Élodie Navarre (Carole), Roger Van Hool (Tony), Michel Lagueyrie (René), Christian Schiaretti (Charles).

LE DEUXIÈME SOUFFLE Frankreich 2007 1960. Dem zu lebenslanger Haft verurteilten Gangster Gustave «Gu» Minda gelingt es, nach zehn Jahren hinter Gittern aus dem Gefängnis auszubrechen. Unterschlupf findet er bei seiner


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Daniel Auteuil. Geliebten Manouche, mit der er sich ins Ausland absetzen will. Um das nötige Geld aufzutreiben, lässt er sich auf einen letzten Coup ein, während ihm Kommissar Blot bereits dicht auf den Fersen ist. Für seinen Film liess sich Alain Corneau von José Giovannis gleichnamigen Série-noire-Roman inspirieren, der bereits 1966 von Jean-Pierre Melville verfilmt wurde. «Alain Corneau stilisiert auf seine ganz eigene Art. Neongrün und von fuchsiafarbigen Lampen erleuchtete Nachtclubs, Blutfontänen und ästhetisierende Zeitlupen: Absichtlich kehrt er der schwarzweissen oder stahlblauen Stimmung den Rücken, die das Genre geprägt hatte, um mit modernen Abstraktionen zu spielen, Sam Peckinpah seine Reverenz zu erweisen, Johnny To zuzuzwinkern und Wong Kar-Wais saturierte Retro-Farben einzusetzen. Corneau begeht dabei keinen Selbstverrat: Man findet bei Gu den gleichen Drang, aufs Ganze zu gehen, wie bei Patrick Dewaere in Série noire. Er schlägt eine moderne Version des ‹Polar› vor, neu gesehen durch die Filmemacher aus Hongkong, poetisiert und ergreifend.» (Jean-Luc Douin, Le Monde, 23.10.2007) 155 Min / Farbe / 35 mm / F // REGIE Alain Corneau // DREHBUCH Alain Corneau, nach dem Roman von José Giovanni // KAMERA Yves Angelo // MUSIK Bruno Coulais // SCHNITT Marie-Josèphe Yoyotte // MIT Daniel Auteuil (Gustave «Gu» Minda), Monica Bellucci (Manouche), Michel Blanc (Commissaire Blot), Jacques Dutronc (Stanislas Orloff), Eric Cantona (Alban), Daniel Duval (Venture Ricci), Gilbert Melki (Jo Ricci), Nicolas Duvauchelle (Antoine), Jacques Bonnaffé (Pascal).

JE L'AIMAIS Frankreich/Belgien/Italien 2009 Die Konfrontation mit dem Leid seiner Schwiegertochter Chloé, die von ihrem Mann verlassen wurde, bringt Pierre dazu, seinen eigenen verschütteten Kummer über eine verlorene Liebe zu offenbaren. «Er erzählt ihr, während sie spät­ abends, in einen dicken Pullover gewickelt, auf dem Sofa liegt und Desinteresse signalisiert, eine Geschichte. Eine Liebesgeschichte, die seine eigene ist, die ihn in die völlige Verzweiflung, in bitterste Reue, in ein seelisches Ödland geführt hat, in dem er nun seit Jahren haust. Und so handelt der Film (…) alsbald nicht mehr von Chloé, sondern von Pierre und Mathilde, seiner Geliebten, am Rand auch von Suzanne, seiner Frau, die ihn liebt, sich um die Ehe sorgt und nicht weiss, was sie tun soll.» (Christoph Egger, NZZ, 27.8.2009) «Ausschliesslich Auteuils konstant zuverlässiger Schauspielkunst ist es zu verdanken, dass die Rekapitulation eines emotionalen, im Desaster endenden Wechselbads dennoch glaubwür-

dig ausfällt. Wie er die Nuancen der Euphorie oder die Entgleisungen des Schmerzes auf seinem Gesicht toben lässt, ist ein Ereignis, das die Zumutungen des belanglosen, in jedem zweiten Pilcher-Drama verhandelten Rests vergessen lässt.» (Alexandra Wach, film-dienst 16/2009) 112 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Zabou Breitman // DREHBUCH Zabou Breitman, Agnès de Sacy, nach dem Roman von Anna Gavalda // KAMERA Michel Amathieu // MUSIK Krishna Levy // SCHNITT Françoise Bernard // MIT Daniel Auteuil (Pierre), Marie-Josée Croze (Mathilde), Florence Loiret-Caille (Chloé), Christiane Millet (Suzanne Houdard), Geneviève Mnich (Geneviève, die Sekretärin), Winston Ong (Monsieur Xing), Olivia Ross (Christine), Antonin Chalon (Adrien), Ysée Dumay Duteil (Lucie).

LA FILLE DU PUISATIER Frankreich 2011 Als Südfranzose fühlt sich Daniel Auteuil Marcel Pagnol seit Jean de Florette eng verbunden und hat sich für seine erste Regiearbeit ein Remake des Pagnol-Klassikers von 1940 vorgenommen: die Geschichte der Tochter des Brunnenbauers, die vom Kampfpiloten Jacques nach kurzer Romanze schwanger wird und um deren (und seine eigene) Ehre ihr Vater kämpft. «Auteuils erster Film als Regisseur ist in Nostalgie und aufrichtige Liebe getaucht. So kommt es, dass – auch wenn Sitten und Sprache der Figuren nicht mehr zeitgemäss (aber glücklicherweise nicht anachronistisch!) sind – man sich vom Übernatürlichen bezaubern lässt, das die für einen heutigen Geist nicht vorstellbaren Situationen verströmen. (…) Das macht dieses im heutigen Kino ungewöhnliche Universum unvorhersehbar, und man kann sich – angenehm – von den Entscheidungen überraschen lassen, die die Figuren fällen: Sie sind Zwängen unterworfen, die wir heute nicht kennen oder nicht mehr anwenden. So umgehen sie manches Klischee und bewahren der Geschichte ihre Frische.» (Karl Filion, www.cinoche.com, 2.2.2012) 107 Min / Farbe / 35 mm / F // REGIE Daniel Auteuil // DREHBUCH Daniel Auteuil, nach dem Film von Marcel Pagnol // KAMERA Jean-François Robin // MUSIK Alexandre Desplat // SCHNITT Joëlle Hache // MIT Daniel Auteuil (Pascal Amoretti), Kad Merad (Félipe Rambert), Sabine Azéma (Mme Mazel), Astrid Bergès-Frisbey (Patricia Amoretti), Jean-Pierre Darroussin (M. Mazel), Nicolas Duvauchelle (Jacques Mazel), Emilie Cazenave (Amanda), Marie-Anne Chazel (Nathalie), Chloé Malarde (Marie), Coline Bosso (Isabelle).


31 Das erste Jahrhundert des Films: 1963 & 1973

Die transatlantische Hochzeit der Autoren 1963 stand das europäische Autorenkino im Zenit und brachte Meisterwerke wie Lindsay Andersons sozialkritische Studie This Sporting Life, Ingmar Bergmans bohrende Existenzparabel Das Schweigen, Federico Fellinis lustvolle Midlife-Crisis-Fantasmagorie Otto e mezzo oder ­Jean-Luc Godards Filmbusiness-Selbstreflexion Le mépris hervor. Zehn Jahre später legten René Laloux mit La planète sauvage einen Meilenstein des europäischen Animationsfilms und Claude Goretta mit L’invitation einen der wenigen neueren Schweizer Filme von Weltformat vor. Doch auch das krisengeschüttelte Hollywood hatte die Wende zum Autorenkino nachvollzogen und produzierte mit Mean Streets das erste grosse Scorsese-Opus und mit Terrence Malicks Debüt Badlands den poetischsten Juvenile-Outlaws-Film aller Zeiten.

> The Exorcist..


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Das erste Jahrhundert des Films: 1963 & 1973.

THIS SPORTING LIFE GB 1963 Der Aufstieg eines britischen Bergarbeiters zum gefeierten Rugbyspieler: Frank Machin erkauft sich diesen Erfolg mit grosser Härte gegen sich und andere und rücksichtslosem Ehrgeiz. Sein Verhältnis mit seiner fragilen, in sich gekehrten Zimmerwirtin dokumentiert seine fortschreitende Liebesunfähigkeit – auch als sie stirbt, ist er nicht in der Lage, seine wahren Gefühle zu zeigen. Das Spielfilmdebüt von Lindsay Anderson, diesem radikalen Kritiker, engagierten Dokumentaristen und Bühnenregisseur, «ist wohl Andersons bester Film, sicherlich aber der beste von Richard Harris. Seine Darstellung als Frank Machin, diesem wild getriebenen jungen Mann im England der frühen sechziger Jahre, der es als Profi in die Rugby League schaffen will, ist derjenigen von Marlon Brando in A Streetcar Named Desire ebenbürtig. (...) Scharfsinnig antizipiert This Sporting Life das moderne England: ein harter, aber packender und letztlich beglückender Film.» (Peter Bradshaw, The Guardian, 5.6.2009) Machin, der «working class hero», ist «ein Mann, der auf Testosteron und unverschnittenem Klassenhass marschiert, nicht zu stoppen, nicht zu brechen. Rugby gibt seiner Wut hier eine Richtung und einen Zweck – ob auch einen Sinn und ein Ziel, das ist fraglich. In all seiner linkischen

Hybris und Dünnhäutigkeit ist Machin eine der wunderbarsten Gestalten des ‹Free Cinema›: stolz und ungebändigt, tragisch in seiner Ungeschlachtheit, doch strahlend wie ein junger Gott, wenn er über den Rasen rennt, die gegnerischen Reihen durchpflügt, herrlich auch noch im dicksten Matsch.» (Rui Hortênsio da Silva e Costa, Österreich. Filmmuseum Wien, Feb. 2013) 134 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE Lindsay Anderson // DREHBUCH David Storey, nach seinem Roman // KAMERA Denys Coop // MUSIK Roberto Gerhard // SCHNITT Peter Taylor // MIT Richard Harris (Frank Machin), Rachel Roberts (Mrs. Hammond), Alan Badel (Weaver), William Hartnell (Johnson), Colin Blakely (Maurice Braithwaite), Vanda Godsell (Mrs. Weaver), Anne Cunningham (Judith), Jack Watson (Len Miller), Arthur Lowe (Slomer), Harry Markham (Wade).


Das erste Jahrhundert des Films: 1963 & 1973.

THE BIRDS USA 1963 Melanie Daniels, eine blasierte Verlegertochter, reist nach Bodega Bay, um Mitch zu besuchen, einen smarten Anwalt, den sie in einer Zoohandlung kennengelernt hat. In ihrem Gepäck befindet sich ein Käfig mit zwei «Love Birds», die Melanie Mitchs kleiner Schwester mitbringen will. Als Melanie mit einem Boot zu Mitchs Haus übersetzt, wird sie von einer Möwe attackiert. Bald häufen sich die Übergriffe von Vögeln auf Menschen und werden immer brutaler. Alfred Hitchcocks legendärer Ausflug ins Übernatürliche oder zumindest Unerklärliche: «Der Tod kommt aus heiterem Himmel – die Bedrohung aus der Szene mit dem Sprühflugzeug in North by Northwest nimmt hier apokalyptische Ausmasse an. The Birds ist ‹Hitchcock at his best›. Voller versteckter Hinweise darauf, wie sich die Menschen gegenseitig einsperren, heftig, freudianisch und vor allem ein grosses filmisches Vergnügen. Amateurpsychologen, die Hitchcocks gewundenen Beziehungen zu seinen Hauptdarstellerinnen nachgehen, finden hier reichlich Futter.» (Tom Milne, Time Out Film Guide) The Birds ist ein weiteres Beispiel für Hitchcocks technische Experimente, die die Filmästhetik immer wieder aufs Neue beeinflussten. «Der Film enthält eine ungewöhnlich grosse Anzahl an Einstellungen und kopiert bei den Vogelattacken

mehrere Negative aufeinander, wobei neben Zeichentrick auch mechanische und echte Vögel verwendet wurden. Der von Bernard Herrmann überwachte elektronische Soundtrack, voll von enervierendem Gekreische und Flügelschlagen, ersetzt die musikalische Komposition und verleiht dem Film einen ganz eigenen Rhythmus der Bedrohung.» (Johann N. Schmidt, Reclam Filmklassiker) «Ich bin überzeugt, das Kino ist erfunden worden, damit Filme wie The Birds gedreht werden. Ganz alltägliche Vögel, Spatzen, Möwen, Krähen greifen ganz alltägliche Menschen an. Das ist ein Künstlertraum. (…) Hitchcock ist der Meinung, dass The Birds sein wichtigster Film sei, und das ist in gewisser Hinsicht auch meine Meinung.» (François Truffaut, Les films de ma vie, Flammarion 1975) 119 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE Alfred Hitchcock // DREHBUCH Evan Hunter, nach der Kurzgeschichte von Daphne Du Maurier // KAMERA Robert Burks // MUSIK Bernard Herrmann // SCHNITT George Tomasini // MIT Tippi Hedren (Melanie Daniels), Rod Taylor (Mitch Brenner), Jessica Tandy (Lydia Brenner), Suzanne Pleshette (Annie Hayworth), Veronica Cartwright (Cathy Brenner), Charles McGraw (Sebastian Sholes, Fischer im Diner), Ethel Griffies (Mrs. Bundy, die Ornithologin), Ruth McDevitt (Mrs. MacGruder, Verkäuferin in der Tierhandlung), Lonny Chapman (Deke Carter, Koch des Diners), Malcolm Atterbury (Dep. Al Malone), Alfred Hitchcock (Mann mit zwei weissen Terriern).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1963 & 1973.

LE MÉPRIS Frankreich/Italien 1963 Die junge Camille empfindet für ihren Ehemann Paul zunehmend Verachtung, als dieser sich, von Geldsorgen getrieben, einem amerikanischen Produzenten als Script-Doctor andient und Fritz Langs Odyssee-Film erfolgsträchtig umschreiben soll. Ja, auch sie findet das Geld nützlich; nein, sie denkt nicht, dass er sich und seine kreativen Ideen verkauft; stets aber ist diese Verachtung da, die sie ihm nicht zu erklären vermag. «Rund um diese Ungereimtheit strickt JeanLuc Godard subtile Parallelen zu Homers Penelope-Geschichte, zu den Statuen Minervas und Neptuns, die über die moderne Tragödie nachgrübeln. Paradoxerweise erscheinen die Räume der Wohnung in Rom luftig, während die Landschaft Capris beengend wirkt. Als Zugabe tischt uns Godard reihenweise filmische Spässe auf, kombiniert mit einer Vielzahl von Zitaten und Anspielungen, Doppelungen und Brechungen. Raoul Coutards Cinemascope-Kamera fängt all das mit prächtigen Bildern ein und erzeugt eine schwerelose, tranceartige Gesamtstimmung – ein blendendes Märchen.» (Tom Milne, Time Out Film Guide) «Godard, von David Bordwell zum ‹Super-Autor› ernannt, nahm eine Haltung an, die bewusst im Widerspruch zu der professionellen und wirtschaftlichen Dimension des Filmemachens

stand. Dies hielt ihn aber nicht davon ab, mit Le mépris ein internationales Projekt mit grossem Budget unter der Leitung des Amerikaners Joe E. Levine, des Italieners Carlo Ponti und des Franzosen Georges de Beauregard zu drehen. (...) Trotzdem gelang Godard ein sehr persönlicher Film. Dies bedeutet nicht nur, dass die Kluft zwischen Paul und Camille auf der Leinwand die OffScreen-Probleme in Godards und Anna Karinas Ehe widerspiegelt, sondern auch, dass sich Le mépris problemlos in das Godardsche Werk einfügt. (...) Als Bardot in Le mépris spielte, war sie die Sexgöttin des europäischen Kinos schlechthin. Einer der Grundsätze des Nouvelle-VagueFilms war seine Ablehnung starker, etablierter Stars. Le mépris kann somit als Versuch, Bardots Macht und Charisma zu zähmen, verstanden werden, obwohl der Film sie zur gleichen Zeit in den Mittelpunkt des Spektakels versetzte.» (Ginette Vincendeau, DVD-Booklet Studiocanal) 103 Min / Farbe / Digital HD / F/d // REGIE Jean-Luc Godard // DREHBUCH Jean-Luc Godard, nach dem Roman von Alberto Moravia // KAMERA Raoul Coutard // MUSIK Georges Delerue // SCHNITT Agnès Guillemot, Lila Lakshmanan // MIT Brigitte Bardot (Camille Javal), Michel Piccoli (Paul Javal, der Schriftsteller), Jack Palance (Jeremy Prokosch, der Produzent), Giorgia Moll (Francesca Vanini), Fritz Lang (Regisseur), Jean-Luc Godard (Langs Regieassistent / Erzähler), Raoul Coutard (Kameramann), Linda Veras (Sirene).


Das erste Jahrhundert des Films: 1963 & 1973.

OTTO E MEZZO Italien/Frankreich 1963 Regisseur Guido Anselmi steckt sowohl privat als auch künstlerisch in einer Krise. Genervt von Produzenten, Ehefrau und Geliebter, sucht er verzweifelt nach Inspiration für seinen neuen Film. Als er seine Kindheit, sein Verhältnis zum weiblichen Geschlecht und zur Kunst und die Missstände in der Filmbranche reflektiert, kommen seine Ängste und verdrängten Komplexe ans Licht – Traum und Realität beginnen zu verschwimmen ... «Otto e mezzo ist der beste Film über das Filmemachen, der je gemacht wurde. Er wird aus der Perspektive des Regisseurs erzählt, aus der seines Helden Guido, der offensichtlich Fellini repräsentieren soll. (...) Alle Bilder, die realen, erinnerten und geträumten, kommen in einem der straffsten strukturierten Filme Fellinis zusammen. Das Drehbuch ist in seinem Aufbau äusserst genau – und trotzdem, weil der Film von einem Regisseur handelt, der keine Idee hat, was er als nächstes tun soll, wird Otto e mezzo selbst oft als das ‹Herumfuchteln› eines Regisseurs ohne Plan verstanden. (...) Otto e mezzo ist kein Film über einen Filmemacher ohne Ideen – es ist ein Film, der bis zum Bersten gefüllt ist mit Inspiration. Guido ist ausserstande, einen Film zu machen, doch Fellini schafft es offenbar. (...) Ich habe Otto e mezzo wieder und wieder gesehen, mit jedem Mal

wird meine Bewunderung grösser: Dieser Film schafft das fast Unmögliche: Fellini ist ein Zauberer, der seine Tricks diskutiert, enthüllt, erklärt und dekonstruiert, während er uns gleichzeitig mit ihnen austrickst. Er behauptet, dass er nicht wisse, was er wolle oder wie er das erreichen könne – doch beweist dieses Meisterwerk, dass er das sehr genau weiss und sich an seinem Wissen erfreut.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 28.5.2000) 138 Min / sw / 35 mm / I/d/f // REGIE Federico Fellini // DREHBUCH Federico Fellini, Ennio Flaiano, Tullio Pinelli, Brunello Rondi, nach einer Story von Federico Fellini, Ennio Flaiano // KAMERA Gianni di Venanzo // MUSIK Nino Rota // SCHNITT Leo Cattozzo // MIT Marcello Mastroianni (Guido Anselmi), Claudia Cardinale (Claudia), Anouk Aimée (Luisa, Guidos Frau), Sandra Milo (Carla), Barbara Steele (Gloria Morin), Rossella Falk (Rossella), Jean Rougeul (Daumier), Caterina Boratto (die schöne Fremde), Madeleine Lebeau (die französische Schauspielerin), Eddra Gale (Saraghina), Guido Alberti (Produzent Pace), Annie Gorassini (Paces Freundin).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1963 & 1973.

TONY LEUNG ZHANG ZIYI

Once upon a time in the East...

Ein Film von

WONG KAR WAI

«Martial-Arts-Starchoreograph Yuen Woo-Ping (‹The Matrix›) und das grandiose Darstellerpaar Tony Leung und Zhang Ziyi ziehen alle Register ihres Könnens – mitreissend!» cineman.ch

DAS SCHWEIGEN (Tystnaden) Schweden 1963 Anna, ihr Sohn Johan und ihre ältere Schwester, die schwer lungenkranke Ester, müssen ihre Heimreise nach Schweden unterbrechen, weil Ester in der brütenden Hitze des Zuges zusammenbricht. Sie beziehen in einem alten Grandhotel Quartier – dort kommt es zwischen den Schwes­ tern zu einer erbitterten Auseinandersetzung. «Zwei Schwestern und ein Junge stranden in einer mächtigen, kriegerischen Stadt mit einer unbegreiflichen Sprache»: So beschrieb Ingmar Bergman den narrativen Kern seines umstrittensten Films: «Eine nur 118 Sekunden dauernde Sexszene, die für damalige Verhältnisse von unerhörter Freizügigkeit war, reichte aus, um seinen Film, den dritten Teil seiner so genannten Glaubenstrilogie (nach Wie in einem Spiegel und Licht im Winter), zu einem der erfolgreichsten Filme der sechziger Jahre zu machen. Dabei hatte Bergman ein kleines, von privaten und sehr persönlichen Erinnerungen geprägtes Melodrama im Kopf, als er mit dem Schreiben des Drehbuchs begann – das Bild seines früh verstorbenen, strengen Vaters und eine Reise durch das bedrohliche Berlin der Vorkriegszeit und eine durch das zerstörte, menschenleere und nur von Panzern bevölkerte Hamburg. Die Kälte, die er im Vor- und Nachkriegsdeutschland verspürt hatte, übertrug er in Das Schweigen auf die fiktive Stadt Timoka. (…) In bedrückenden, eindringlichen Bildern hat Bergman sein zunehmend frostigeres Melodram fotografiert, deren abgrundtief verzweifelte Gefühlswelt auch heute noch verstört. Der Kirche galt Bergmans Werk als verzweifelter Ausdruck einer gottlosen Welt, erinnert sich doch Ester in einer Szene an den verstorbenen, 200 Kilo schweren ­Vater, dessen Autorität zu einem leblosen Fleischberg zusammenschmolz. In diesem Vaterbild sahen die Kleriker ein Symbol Bergmans für einen sterbenden Gott, der die Menschen verlassen hat. Diese einseitige Interpretation schadete dem Film nicht – im Gegenteil: Sein vermeintlich ausschliesslich theologischer Gehalt rettete ihn vor der schwedischen Zensur, zumal auch der damals amtierende Oberzensor zum Vorteil des kommerziellen Erfolges des Films sich während der Freigabeentscheidung gerade im Urlaub befand.» (Martin Rosefeldt, Arte, 6.5.2005) 95 Min / sw / 35 mm / Schwed/d/f // DREHBUCH UND REGIE Ingmar Bergman // KAMERA Sven Nykvist // MUSIK Ivan Renliden // SCHNITT Ulla Ryghe // MIT Ingrid Thulin (Ester), Gunnel Lindblom (Anna), Jörgen Lindström (Johan), Håkan Jahnberg (Etagenkellner), Birger Malmsten (Barkellner), die

www.filmcoopi.ch

AB 11. JULI IM KINO

«Eduardini» (Artistentruppe), Eduardo Gutiérrez (ArtistenImpressario), Leif Forstenberg (Mann im Cabaret).


Das erste Jahrhundert des Films: 1963 & 1973.

HIGH AND LOW (Tengoku to jigoku)

LA PLANÈTE SAUVAGE

Japan 1963

Frankreich/CSSR 1973

Ein Entführer verwechselt den Sohn eines Schuhfabrikanten mit demjenigen des Chauffeurs. Während die Polizei den Kidnapper jagt, muss sich der Fabrikant, der im Verwaltungsrat eben um die Kontrolle über die Firma kämpft, zur Entscheidung durchringen, ob er für das Kind des Chauffeurs seine wirtschaftliche Existenz aufs Spiel setzt. Eine Reflexion über soziales Bewusstsein und moralische Dilemmas im Gewand eines Thrillers – und der mitreissendste von Kurosawas «Gegenwartsfilmen» überhaupt. Der japanische Originaltitel Himmel und Hölle spielt auf die geografisch-sozialen Gegensätze der Stadt Yokohama an, wo der «Himmel» der Reichen hoch über der «Hölle» der Armen, den Slums und Vergnügungsvierteln, liegt. (afu) «Im Erzählgestus weist der Film die virtuose Handwerklichkeit eines Regisseurs auf, der sich mit Fortune an allen Genres erprobt und dabei stets das Ziel verfolgt, die Klischees zu unterminieren: Breitwandbilder in Schwarzweiss voll brutaler Dynamik, grellfarbige Inserts, minutenlange Einstellungen, Parallelmontagen, Kontrast von Statik und Hektik, die visuelle Tour de Force einer von neun Kameras zugleich gefilmten Geldübergabe im rasenden Zug.» (Harry Tomicek, Österreich. Filmmuseum Wien, Dez. 2005)

«La planète sauvage war eine französisch-tschechische Koproduktion. Die Handlung dreht sich um die Erniedrigung der Oms, menschenähnlicher Kreaturen, die auf einem futuristischen Planeten von der vorherrschenden Riesenspezies der Draggs als Haus- und Lasttiere gehalten werden. Dieser Zustand wird in Frage gestellt, als ­einer der Oms versehentlich in den Genuss von Bildung kommt, worauf er seine Artgenossen dazu aufwiegelt, die Gleichstellung mit den Draggs zu verlangen. Basierend auf einem Roman von ­Stefen Wuls, gewann La planète sauvage 1973 den grossen Preis des Filmfestivals Cannes.» (www.mrqe.com) «So etwas wie eine Offenbarung für alle, die glauben, dass Animation bestenfalls so weit wie Fritz the Cat gehen könne: Der für die Grafik des Films zuständige Roland Topor erschuf hier eine Welt, die an zwei der grössten Künstler des Phantastischen, Hieronymus Bosch und Odilon Redon, erinnert. Er entwirft eine bedrohliche Landschaft voller gebärmutterartiger Durchlässe, darmähnlicher Pflanzen, seltsamer phallischer und vaginaler Formen und aussergewöhnlicher posthistorischer Monster.» (Chris Petit, Time Out Film Guide) «Der Film stellt in mehrfacher Hinsicht einen Meilenstein dar und setzte Massstäbe im Bereich der animierten Science-fiction für Erwachsene. Er schuf einen spezifisch europäischen Anima­ tionsstil, der sich von der Ästhetik Walt Disneys genauso radikal abhebt wie von jener des japanischen Meisters Hayao Miyazaki. Für Fans dieser beiden Monolithen dürfte La planète sauvage entweder eine atemberaubende und somit würdige Abkehr von der Trickfilmnorm oder eine unglückliche, unnötig experimentelle Abweichung darstellen. Nach meinem Ermessen trifft auf René Laloux’ Meisterwerk eindeutig ersteres zu. Es weist Parallelen zu ‹Gullivers Reisen› und zu Planet of the Apes auf und ist überreich an radikalen politischen und historischen Allegorien. » (Chris Justice, Senses of Cinema, April 2005)

143 Min / sw und Farbe / 35 mm / Jap/d/f // REGIE Akira Kurosawa // DREHBUCH Ryuzo Kikushima, Hideo Oguni, Akira Kurosawa, nach dem Roman «King's Ransom» von Ed McBain // KAMERA Asakazu Nakai // MUSIK Masaru Sato // SCHNITT Akira Kurosawa // MIT Toshiro Mifune (Kingo Gondo), Tatsuya Nakadai (Insp. Tokura), Kyoko Kagawa (Reiko Gondo), Tsutomu Yamazaki (Ginjiro Takeuchi, der Entführer), Yutaka Sada (Aoki, der Chauffeur), Takashi Shimura (Direktor), Tatsuya Mihashi (Kawanishi, Gondos Sekretärin), Isao Kimura (Det. Arai), Kenjiro Ishiyama (Det. «Bos'n» Taguchi).

72 Min / Farbe / Digital HD / F/e // REGIE René Laloux // DREHBUCH Roland Topor, René Laloux, nach einem Roman von Stefan Wul // KAMERA Lubomir Rejthar, Boris Baromykin // MUSIK Alain Goraguer // SCHNITT Hélène Arnal, Marta Látalová.

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Das erste Jahrhundert des Films: 1963 & 1973.

L'INVITATION Schweiz/Frankreich 1973 Claude Goretta, der im London des «Free Cinema» mit Alain Tanner den Kurzfilm Nice Time (1957) drehte, begann seine Laufbahn beim Westschweizer Fernsehen. Zusammen mit Tanner, Michel Soutter, Jean-Louis Roy und Jean-Jacques Lagrange gründete er die «Groupe 5». «Auf der Suche nach einer neuen Filmsprache begründeten sie mit Werken wie Charles mort ou vif, La salamandre oder L'invitation den Neuen Schweizer Film. (…) Die Party, die der zu einer Erbschaft gekommene Angestellte für seine Bürobelegschaft schmeisst und die in der Sommernachmittagshitze weinselig aus dem Ruder läuft – sie bleibt ein gültiges, himmeltraurig komisches, scharfsinniges Psychogramm kleiner Leute. Ihnen gehört Gorettas Herz, ihrer drohenden ‹folie› im gesellschaftlich normierten Alltag hat er fein nachgespürt. (…) In seinem früheren Spielfilm-Œuvre ist Goretta Ethnologe und Psychograf, verpflichtet einer im Dokumentarischen gründenden Narration. Menschen zugewandt, die ‹kein Rendez-vous mit der Geschichte› haben und dennoch von der Geschichte bestimmt

sind. Menschen, die ‹eine reichere Sensibilität haben als ihre Möglichkeiten, diese zu äussern›. So lange und so teilnahmsvoll schaut der Filmemacher auf seine Figuren, bis das Bild an der Oberfläche zu zittern beginnt, zu flirren, einzureissen, kurz und leise zu explodieren, um dann vielleicht wieder sich zu schliessen und zu erstarren. Viele Filme von Goretta sind langsam pendelnde Suchbewegungen an den Bruchstellen der menschlichen Existenz, dort, wo unser alltägliches Maskenspiel einbricht und wir unsere Blösse nicht mehr verbergen können, die Hüllen fallen.» (Martin Walder, Stadtkino Basel, Mai/ Juni 2013) 100 Min / Farbe / Digital HD / F/d // REGIE Claude Goretta // DREHBUCH Michel Viala, Claude Goretta, basierend auf einem Theaterstück von Michel Viala // KAMERA Jean Zeller // MUSIK Patrick Moraz // SCHNITT Joële Van Effenterre // MIT Michel Robin (Rémy Placet), Jean-Luc Bideau (Maurice Dutoit), Jean Champion (Alfred Lamel), François Simon (Emile), Pierre Collet (Pierre Collard), Corinne Coderey (Simone Char), Rosine Rochette (Hélène Jacquet), Jacques Rispal (René Mermet), Neige Dolski (Emma Debonveau), Cécile Vassort (Aline Thévoz), Roger Jendly (Dieb).


Das erste Jahrhundert des Films: 1963 & 1973.

TOUKI BOUKI Senegal 1973 Kuhhirt Mory und seine Freundin Anta, eine Studentin, träumen davon, Dakar zu verlassen, um nach Paris aufzubrechen. Natürlich fehlt es an Geld für die Schiffspassage und auch die trickreich entwendete Kiste mit den vermeintlichen Gesamteinnahmen für die Errichtung eines Denkmals zu Ehren von Charles de Gaulle führt nicht ans Ziel. Deshalb müssen die beiden zunächst einen Playboy ausnehmen, ehe sie sich die Schiffstickets leisten können. «Touki Bouki, Djibril Diop Mambétys SpielfilmDebüt von 1973, inszeniert den Verlust der Unschuld als Initiationsritual, als tollkühnen Amoklauf zwischen Trance und Dürre, Gewalt und Magie, Archaik und Moderne. Easy Rider und À bout de souffle verblassen zu Stillleben dagegen. Touki Bouki schildert eine Reise, die nie angetreten wird.» (Christiane Peitz, Die Zeit, 14.6.1996) «Ein mitreissender, vielschichtiger, aus allen Nähten platzender Entwurf zur Faszination des schwarzen Kontinents für die Versprechungen der westlichen Welt. Das schlägt sich auch im

wirbelnden Stil des Autodidakten Mambéty nieder: Touki Bouki, Wolof für ‹Die Reise der Hyäne›, kombiniert Noir und Nouvelle Vague, Komödie und Sozialkritik, ist ein Gegenpol zum grossflächigen Ausverkauf im zeitgleichen Blaxploitation-Kino: Die Bilanz mag bitter sein, die Inszenierung aber sagt ‹anything goes›.» (Österreich. Filmmuseum Wien, Sept. 2004) Touki Bouki wurde 1973 in Cannes mit grosser Begeisterung aufgenommen und mit dem Prix de la critique internationale ausgezeichnet. 85 Min / Farbe / 35 mm / OV/d/f // DREHBUCH UND REGIE Djibril Diop Mambéty // KAMERA Georges Bracher, Pap Samba Sow // MUSIK Josephine Baker, Mado Robin, Aminata Fall // SCHNITT Siro Asteni // MIT Magaye Niang (Mory), Mareme Niang (Anta), Aminata Fall (Tante Oumy), Ousseynou Diop (Charlie), Josephine Baker (Stimme).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1963 & 1973.

MEAN STREETS USA 1973 Nach Who's That Knocking at My Door? Scorseses zweiter Versuch und erster grosser Wurf über die Neighbourhood und die Buddies seiner Jugend, die testosteron- und adrenalingesteuerten Secondos von Little Italy, die fiebrig, komisch und tragisch schwanken zwischen einer kleinbürgerlichen Existenz und den Verlockungen des Gangstertums. Was im Erstling erst angedeutet und teilweise noch krakelig gezeichnet war, wird hier schon souverän entwickelt, hat aber noch immer die Prägnanz der aggressiv knappen Skizze und wird durch Rockmusik zum geballten Energiepaket hochgepeitscht. Harvey Keitel als der halbseriöse Charlie und Robert De Niro als der verrückte Johnny Boy finden den Regisseur, dessen Gefühl für Rhythmus und Struktur, Spontanität und dunklen Humor magisch zum ihrigen passt, und spielen die Rollen, die sie zu Weltruhm katapultieren. (afu) «Mean Streets erzählt vom Amerikanischen Traum. Jeder denkt, er kann schnell reich werden, wenn nicht mit legalen Mitteln, dann eben mit illegalen. (…) In der Vorstellung dieser Jungs heisst Geld machen, vielleicht eine oder zwei Millionen, es zu stehlen, es aus jemandem rauszu-

prügeln, ihn darum betrügen. Das ist viel schöner und besser als es tatsächlich zu verdienen. (…) Mean Streets war ein Versuch, mich und meine alten Freunde auf die Leinwand zu bringen, zu zeigen, wie wir lebten, was das Leben in Little Italy bedeutete. Es war eigentlich ein anthropologisches und soziologisches Traktat. Charlie benutzt andere Leute und denkt, er helfe ihnen damit. Indem er das glaubt, ruiniert er nicht nur sie, sondern auch sich selbst. Wenn er mit Johnny kämpft, tut er so, als täte er es für die anderen. Aber es ist Eitelkeit – gemäss der Bibel die erste Sünde.» (Martin Scorsese, Scorsese on Scorsese, Faber and Faber 1989) 112 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Martin Scorsese // DREHBUCH Martin Scorsese, Mardik Martin, nach einer Idee von Martin Scorsese // KAMERA Kent L. Wakeford // MUSIK Rolling Stones, Eric Clapton, The Shirelles u. a. // SCHNITT Sidney Levin // MIT Harvey Keitel (Charlie), Robert De Niro (Johnny Boy), David Proval (Tony), Amy Robinson (Teresa), Richard Romanus (Michael), Cesare Danova (Giovanni), Victor Argo (Mario), Robert Carradine (Schütze in Bar), David Carradine (Opfer in Bar), Jeannie Bell (Diane), D'Mitch Davis (Polizist), Martin Scorsese (Jimmy Shorts).


Das erste Jahrhundert des Films: 1963 & 1973.

BADLANDS USA 1973 Die 15-jährige Holly wächst nach dem Tod ihrer Mutter bei ihrem despotischen Vater in der tiefsten amerikanischen Provinz der späten fünfziger Jahre auf. Dort lernt sie den attraktiven, zehn Jahre älteren James-Dean-Imitator Kit kennen, der sich als Aushilfsmüllmann über Wasser hält. Zwischen den beiden entbrennt eine romantische Liebe, die dem Vater ein Dorn im Auge ist. Beim Versuch, heimlich durchzubrennen, erschiesst Kit Hollys Vater – damit beginnt für das Paar ein Amoklauf quer durch die USA. Mit seinem Debüt Badlands, diesem eigentümlich märchenhaften, bildmächtigen AntiheldenRoadmovie, errang Terrence Malick bei Kritikern und Filmfans Kultstatus. Malicks Protagonisten sind Verlorene, seine Filme wie Landschaftsmalereien: poetisch, dramatisch und mysteriös. In Badlands kommentiert – und dies ist kennzeichnend für ihn – eine Off-Erzählstimme die Ereignisse: Hollys nasale Stimme, die in ihrer Naivität und erschreckenden Beiläufigkeit nie wirklich zu den Bildern passen will. (th) «Badlands gilt als eines der eindrucksvollsten Debüts der US-Filmgeschichte. Selten beharrt ein Filmemacher von Beginn an so eigensinnig

auf seine Weltsicht und gibt mit seinem ersten Werk ästhetische Vorlieben zu erkennen, die ihn eine ganze Karriere lang beschäftigen werden. (…) Badlands ist ein Film, den man zugleich in und ausserhalb seiner Zeit situieren muss: Wiewohl unabhängig produziert, gehört er zu jener kurzlebigen Reihe der sich ihrer neuen, künstlerischen Form bewussten New-Hollywood-Filme, inhaltlich und filmhistorisch verweist er aber auch zurück auf die 1950er und 60er Jahre. (…) Badlands, der als Abschlussfilm des New York Film Festivals von 1973 seine Weltpremiere erlebte und dabei selbst Martin Scorseses Mean Streets überstrahlte, ist über all die Jahre jener Film Malicks geblieben, der bei der Kritik die grösste Zustimmung fand.» (Dominik Kamazalzadeh/Michael Pekler, Terrence Malick, Schüren 2013) 94 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE Terrence Malick // KAMERA Tak Fujimoto, Brian Probyn, Stevan Larner // MUSIK George Aliceson Tipton, Carl Orff, Erik Satie // SCHNITT Robert Estrin // MIT Sissy Spacek (Holly Sargis), Martin Sheen (Kit Carruthers), Warren Oates (Hollys Vater), Ramon Bieri (Cato), Alan Vint (Deputy), Gary Littlejohn (Sheriff), John Carter (reicher Mann), Bryan Montgomery (Junge), Gail Threlkeld (Mädchen), Charles Fitzpatrick (Angestellter), Howard Ragsdale (Chef), Terrence Malick (Kaufmann).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1963 & 1973.

THE EXORCIST USA 1973 Die geschiedene Filmschauspielerin Chris Mac­ Neil dreht in Washington und hat ihre 12-jährige Tochter Regan dabei. Eines Tages beginnt sich ihre Tochter äusserst seltsam zu benehmen: Sie reagiert überaktiv, flucht und wird aggressiv, als die Ärzte sie untersuchen. Nachts wird das Mädchen in ihrem Bett von unsichtbaren Kräften herumgerüttelt. Da die Mediziner unfähig sind, dem Phänomen beizukommen, wendet sich Regans Mutter in ihrer Verzweiflung an einen Priester. Dieser stellt sofort fest, dass das Mädchen vom Teufel besessen ist. Nun liegt die einzige Hoffnung darin, einen Exorzisten beizuziehen, der dem Mädchen den Teufel austreiben soll. «Als The Exorcist 1973 in die Kinos kam, ging gerade ein Krieg zu Ende: Vietnam. 1973, das war auch der Anfang vom Ende von Nixons Präsidentschaft durch den Watergate-Skandal. Die USA befanden sich im Chaos. (…) Der Film wurde zur Kinosensation. Was heute Gefahr läuft, wie ein eher konventioneller Horrorfilm zu wirken, war damals ein Ereignis (…). Er wurde zum damals

z­ weiterfolgreichsten Film nach The Godfather und für zehn Oscars nominiert (er gewann zwei: für den besten Ton und für das beste Drehbuch), obwohl reihenweise Zuschauer vor Ekel und Empörung die Säle verliessen. Viele Zuschauer gingen nicht wegen der Horrorszenen – wenn der Teufel mit tiefer Stimme aus Regan herausgrunzt, oder sich ihr Kopf um die eigene Achse dreht – sondern wegen der strapaziösen medizinischen Untersuchungen, denen das Mädchen unterzogen wird (…). Diese Szenen gehörten zu den verstörendsten und ‹anstössigsten› des Films.» (René Wildangel, www.filmzentrale.com) 122 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE William Friedkin // DREHBUCH William Peter Blatty, nach seinem Roman // KAMERA Owen Roizman // MUSIK Jack Nitzsche, Mike Oldfield, Anton Webern u. a. // SCHNITT Norman Gay, Evan Lottman // MIT Linda Blair (Regan MacNeil), Ellen Burstyn (Chris Mac­ Neil), Max von Sydow (Pater Lancaster Merrin), Lee J. Cobb (Lt. William Kinderman), Kitty Winn (Sharon Spencer), Jack MacGowran (Burke Dennings), Jason Miller (Pater Damian Karras), William O'Malley (Pater Dyer), Barton Heyman (Dr. Klein), Peter Masterson (Dr. Barringer), Rudolf Schündler (Karl, der Hausdiener).

«Das erste Jahrhundert des Films» In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 wegweisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, d.h. im Jahr 2013 sind Filme von 1913, 1923, 1933 usw. zu sehen, im Jahr 2014 dann Filme von 1914, 1924, 1934 usw.

Weitere wichtige Filme von 1963

Weitere wichtige Filme von 1973

Billy Liar John Schlesinger, GB

American Graffiti George Lucas, USA

Charade Stanley Donen, USA

Ana y los lobos Carlos Saura, Spanien

Cleopatra Joseph L. Mankiewicz, USA

Angst essen Seele auf R. W. Fassbinder, BRD

From Russia with Love Terence Young, GB

Don't Look Now Nicolas Roeg, GB

Il gattopardo Luchino Visconti, I

El espíritu de la colmena Victor Erice, Spanien

I mostri Dino Risi, I

Enter the Dragon Robert Clouse, Hongkong

Le feu follet Louis Malle, F

Film d'amore e d'anarchia Lina Wertmüller, I

Le mani sulla città Francesco Rosi, I

Holy Mountain Alejandro Jodorowsky, GB

Lord of the Flies Peter Brook, GB

La grande bouffe Marco Ferreri, I

Muriel ou le temps d'un retour Alain Resnais, F

La maman et la putain Jean Eustache, F

Shock Corridor Samuel Fuller, USA

La nuit américaine François Truffaut, F

The Great Escape John Sturges, USA

Le retour d'Afrique Alain Tanner, CH

The Haunting Robert Wise, GB

Pat Garrett and Billy the Kid Sam Peckinpah, USA

The Insect Woman Shohei Imamura, Japan

Scarecrow Jerry Schatzberg, USA

The Pink Panther Blake Edwards, USA

Sleeper Woody Allen, USA

The Servant Joseph Losey, GB

Szenen einer Ehe Ingmar Bergman, Schweden

Tom Jones Tony Richardson, GB

The Long Goodbye Robert Altman, USA

Vidas secas Nelson Pereira dos Santos, Brasilien

The Sting George Roy Hill, USA


43 EINZELVORSTELLUNGEN

THOMAS MANN UND RICHARD WAGNER

PORTRÄT DES KÜNSTLERS ALS ALTER MANN Zur Ausstellung «Wollust des Untergangs.

ner Verzweiflung›. Death in Venice setzt fort,

‹Der Tod in Venedig›, Thomas Mann und

was schon als eines der Themen in Il Gatto-

Richard Wagner» im Museum Strauhof zei­

pardo und in Lo straniero entwickelt worden

gen wir Death in Venice, Luchino Viscontis

war: die (durchaus auch autobiografische)

epochale Verfilmung von Thomas Manns

Erfahrung des Alterns, des Vergehens, des

Novelle, die vor dem Hintergrund des Fin

Verfalls, des nahenden Todes. Was dieses

de Siècle seine grossen Themen vereinigt:

‹Porträt des Künstlers als alter Mann› von

Künstlerleben, griechische Mythologie und

den früheren Filmen unterscheidet (...), ist

Homoerotik.

die Radikalität, mit der Visconti den physischen Verfall in den Mittelpunkt stellt und

Venedig war von jeher aufgrund seiner

ihn mit zahlreichen Metaphern der Voraus-

glanzvollen Geschichte und der einzigar-

deutung und der Parallelität einkreist.»

tigen Lagunenlage Anziehungspunkt und

(Wolfram Schütte, in: Luchino Visconti,

Inspiration für Künstler. Thomas Manns

Hanser 1975)

Novelle «Der Tod in Venedig», publiziert 1912, hat die emotionale Aufladung dieser Stadt massgeblich beeinflusst, wie auch Viscontis Film seit über 40 Jahren prägend ist für das Bild, das wir uns von dieser Stadt an der Schwelle zum 20. Jahrhundert ma-

DEATH IN VENICE / Italien/Frankreich 1971 134 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Luchino Visconti // DREHBUCH Luchino Visconti, Nicola Badalucco, nach der Novelle von Thomas Mann // KAMERA Pasquale de Santis // MUSIK Gustav Mahler (3. und 5. Sinfonie) // SCHNITT Ruggero Mastroianni // MIT Dirk Bogarde (Gustav von Aschenbach), Björn Andresen (Tadzio), Silvana Mangano (Tadzios

chen. Im Mittelpunkt von Novelle und Film

Mutter), Romolo Valli (Direktor des «Hôtel des Bains»), Nora

steht ein alternder Künstler, der zur Erho-

Berenson (Aschenbachs Frau), Franco Fabrizi (Coiffeur), Ca-

lung nach Venedig kommt, wo er sich immer stärker von einem schönen Jüngling faszinieren lässt. Aus dem preussisch-strengen Schriftsteller Aschenbach wurde bei Visconti ein Komponist, der an Gustav Mahler erinnert, und auch an anderen Stellen hat er die Novelle «entscheidend verändert. (...) Solche Verkürzungen und Ergänzungen (...) haben die literarische Vorlage einerseits trivialisiert und ihrer Dialektik beraubt, andererseits eine eigene erzählerische Mythologie entwickelt. ‹Was mich an der Geschichte interessiert›, soll Visconti geäussert haben, ‹ist das menschliche Drama eines Künstlers, die Geschichte seiner Einsamkeit und sei-

Ricci (Tadzios Gouvernante), Mark Burns (Alfred), Marisa role André (Esmeralda), Sergio Garfagnoli (Jaschu). Die Ausstellung «Wollust des Untergangs» im Museum Strau­ hof läuft noch bis zum 8. Sept. Details s. www.strauhof.ch


44 Premiere: «Schlafkrankheit» von Ulrich Köhler

Fremd in der Fremde Schlafkrankheit erzählt von Menschen, die zwischen zwei Welten leben und nicht mehr wissen, wo sie hingehören. Ulrich Köhlers Film – 2012 in Berlin mit dem Silbernen Bären für die Beste Regie ausgezeichnet – zeigt die tranceartige Suche eines deutschen Arztes, dem nach 20 Jahren Entwicklungsarbeit in Afrika die «Heimat» abhanden gekommen ist. Eigentlich wollen Ebbo und Vera demnächst zurück nach Deutschland, wo ihre Teenager-Tochter seit zwei Jahren im Internat ist. Als sie Helen am Flughafen von Yaoundé abholen, sollen die gemeinsamen Ferien auch der Abschied von Kamerun sein. Hier leitet Ebbo ein Projekt zur Bekämpfung der Schlafkrankheit, die letzte Station nach fast zwanzig Jahren Arbeit in verschiedenen Entwicklungsprojekten in Afrika. Doch Ebbo findet keinen Zugang mehr zu seiner Tochter; die Internatsschülerin ist ihm fremd geworden. Während Vera sich nach einem Leben in Deutschland sehnt, hält ihn nicht nur die Schönheit der Natur in Kamerun zurück, sondern auch die Angst, sich zuhause in einer «Heimat», zu der er keinen Bezug mehr hat, neu definieren zu müssen. Er führt seinen Nachfolger ein, bleibt dafür ein paar Wochen länger in Kamerun – und verpasst schliesslich den Absprung. Drei Jahre später reist Alex Nzila, ein junger Arzt aus Paris, dessen Grossvater aus dem Kongo nach Frankreich gekommen war, nach Yaoundé. Im Auftrag der WHO soll er das Schlafkrankheitsprojekt von Ebbo evaluieren. Doch schon nach kurzer Zeit ist er von der Aufgabe total überfordert: Ebbo entzieht sich ihm phantomartig, gleichzeitig wird Alex zunehmend klar, dass der Tropenarzt die Untersuchung selber angefordert hat, um den Entscheid für seine Rückkehr nach Europa zu delegieren, weil ihm die Kraft dazu fehlt. Heimat: Sehnsucht und Flucht Ulrich Köhler, der als Sohn von Entwicklungshelfern einen Teil seiner Kindheit im damaligen Zaire verbracht hat und das Leben zwischen zwei Welten aus eigener Erfahrung kennt, erzählt die Geschichte eines Mannes, der seine Rolle nicht mehr findet. Ebbos Projekt zur Bekämpfung der Schlafkrankheit ist so erfolgreich, dass es ihn vor Ort eigentlich nicht mehr braucht, wo ihn die Verwandten seiner jetzigen afrikanischen Frau hauptsächlich als Dienstleister und Financier behandeln. Auch dem touristischen Grossprojekt, für das ihn sein französischer Freund Gaspard als Partner gewinnen will, steht er skeptisch gegenüber, und dennoch kann er sich nicht zur Rückkehr nach Deutschland entschliessen.


45 Ähnlich orientierungslos ist Alex: Sein Misstrauen gegenüber dem Taxifahrer und dem Strassenhändler bei der Ankunft am Flughafen könnte nicht grösser sein, wenn er ein weisser Franzose wäre. Die primitiven Verhältnisse auf dem Land stressen ihn. Als er im abgelegenen Spital notfallmässig einen Kaiserschnitt vornehmen soll, muss er sich per Handy Anweisungen aus Paris geben lassen, um gleich nach dem ersten Schnitt in Ohnmacht zu fallen. Da passt es hervorragend, dass er sich als Schwarzer vom Weissen Ebbo sagen lassen muss, er solle seine Homosexualität in Kamerun besser nicht an die grosse Glocke hängen … Köhler gelingt mit seinem Film nicht nur das intime Porträt eines Europäers, der als Idealist auszog und wurzellos geworden ist, sondern er spricht mit grosser Beiläufigkeit und ohne belehrenden Ton auch postkoloniale Themen jenseits individueller Befindlichkeiten an: Erwartungen und Vorurteile gegenüber «Rassen» und Kulturen, Sinn und Unsinn von Entwicklungshilfe und die daraus entstehenden Abhängigkeiten, die Sehnsucht nach der «Fremde» und die Flucht vor der «Heimat». Gleichzeitig vermittelt er über seine Bildsprache den emotionalen Schwebezustand, in dem sich Ebbo inmitten des üppigen Grüns, der wuchernden kamerunischen Natur verliert – bis dieser schliesslich ganz darin verschwindet. Corinne Siegrist-Oboussier

SCHLAFKRANKHEIT / Deutschland/Frankreich/Niederlande 2011 91 Min / Farbe / DCP / F/d // DREHBUCH UND REGIE Ulrich Köhler // KAMERA Patrick Orth // SCHNITT Eva Könnemann, ­Katharina Wartena // MIT Pierre Bokma (Ebbo Velten), Jean-Christophe Folly (Alex Nzila), Jenny Schily (Vera Velten), Hippolyte Girardot (Gaspard Signac), Maria Elise Miller (Helen Velten), Sava Lolov (Elia Todorov), Francis Noukiatchom (Dr. Monese), Ali Mvondo Roland (Ruhemba), Isacar Yinkou (Joseph).


46 Premiere: «Le thé ou l'électricité» von Jérôme Le Maire

Der Strom und sein Preis Dem Belgier Jérôme Le Maire ist mit seinem Dokumentarfilm über die Elektrifizierung eines abgelegenen marokkanischen Dorfes eine wunderbare Parabel über die Mühsal und die Dynamik des zivilisatorischen Fortschritts gelungen. Irgendwo im Hohen Atlas liegt auf 2600 Metern über Meer das Dörfchen Ifri: zwei Dutzend einfachster Steinhäuser an die steilen Hänge geklebt, die nächste Stadt Stunden entfernt, selbst der nächstgelegene Marktplatz ist nur auf Trampelpfaden durch unwegsame Geröllhalden erreichbar. Es liegt auf der Hand, was die Elektrizität den Bewohnern dieses archaischen Bauerndorfes bringen würde – endlich Licht in den Küchen und Ställen, Kühlschränke für die Frauen und Fernseher für die Kinder an langen Winterabenden, wenn der Schnee das Dorf komplett von der Umwelt abschneidet. Doch die Planer der örtlichen Netzbetreibergesellschaft stossen gar nicht auf einhellige Begeisterung, als sie mit derlei frohen Botschaften ins Dorf kommen. Zu oft schon sind den Dorfbewohnern leere Versprechungen gemacht worden; viel wichtiger finden die meisten der Wort führenden Männer, dass endlich eine Strasse zum Dorf gebaut würde. Die Nahrungsmittel müssten dann nicht mehr auf Maultier- und Menschenrücken herbeigeschleppt werden, Kranke könnte man ins Spital fahren, und vielleicht fände sich endlich ein Lehrer zur Unterrichtung der Dorfkinder. In ruhigen, souverän fotografierten und flüssig montierten Szenen steigt der belgische Regisseur Jérôme Le Maire mitten in das Thema seines Films ein, einige wenige prägnante Impressionen verdeutlichen umgehend, wie existenziell die von den Bewohnern aufgeworfenen Fragen für das Dorf sind. «Wir gehören Gott und werden zu ihm zurückkehren», ruft etwa der Muezzin in die frostige Landschaft hinaus. Abermals ist ein Kind gestorben, es ist der fünfte Todesfall in diesem Winter. Über eine Strasse wäre für den einen oder andern der Kranken gewiss ein Arzt erreichbar gewesen. Dann ist der Frühling da, man schert den Kindern die Köpfe und kontrolliert sie fröhlich auf Läuse. Unten im Tal liegen tatsächlich gewaltige Kabelrollen bereit. Jetzt erfahren wir in eindringlichen Bildern, welche Plackerei sich hinter dem Pauschalbegriff «Elektrifizierung» versteckt: Jeder Gittermast muss in Teile zerlegt, auf Lasttiere geschnallt und in stundenlangen Märschen herbeigebuckelt werden; unterwegs fällt bisweilen die halbe Ladung hinunter und liegt schliesslich wie ein ausgeleerter Meccano-Bausatz über die weite Landschaft verstreut.


47

LE THÉ OU L'ÉLECTRICITÉ / Belgien/Frankreich 2012 93 Min / Farbe / Digital HD / Arab/F/d // DREHBUCH UND REGIE Jérôme Le Maire // KAMERA Jérôme Colin, Jérôme Le Maire // MUSIK Christian Martin // SCHNITT Matyas Veress.

Solange das Wetter es zulässt, treiben die Männer nun auch den Bau der Strasse zum Dorf wieder voran – ein Kilometer ist es in drei Monaten. Wir sehen mit den Dorfkindern, wie die Sprengungen allmählich näher kommen, doch den bauenden Bauern steht die Frustration in die Gesichter geschrieben: Schon wieder wird’s Winter, und wieder muss der Muezzin Allah anrufen, doch im nachfolgenden Frühling kommt die Leitung in Sichtweite. Die Erwartungen wachsen. Will einer nur die Haupträume seines Hauses beleuchten oder sich vielleicht doch etwas Luxus gönnen? Man diskutiert und beugt sich besorgt über die Taschenrechner der Leute vom Elektrizitätswerk, die den Preis des Fortschritts in Dirham anzeigen. Als das Werk schliesslich mit allen bürokratischen Umtrieben bewältigt ist und sich das halbe Dorf vor der ersten Fernsehsendung via Satellitenschüssel versammelt, bringt Le Maire die Zwiespältigkeit dieses grossen kleinen Schritts subtil auf den Punkt. Vor kurzem noch sass man abends um das Herdfeuer, plauderte und entzifferte im Flackerlicht allenfalls mühsam ein Schulbuch. Jetzt gucken alle in Parallelhypnose auf den Bildschirm, gebannt von der Werbung für Konsumgüter. Die Leute von Ifri haben gerade etwas Grosses gewonnen. Die Verlustrechnung wird ihnen erst später präsentiert werden. Andreas Furler


48 SÉLECTION LUMIÈRE

SIZILIANISCHE

WINDFAHNE

EINZELVORSTELLUNGEN DO, 11. JULI | 18.15 UHR / u. a.

In Mimì metallurgico ferito nell'onore begeht

müller ist aber unverwechselbar (...). Die

ein Arbeiter dreimaligen Verrat an den ei­

Wertmüller will in der populären Form der

genen politischen Ideen und wird vom ein­

Komödientradition recht genau über den

stigen Rebellen zum Handlanger der Mafia.

falschen Fortschritt sprechen, über den

Lina Wertmüllers lustvoll groteske Komö­

harten Kern soziokultureller Vorurteile in

die erzählt von lächerlichem Männlich­

der Tiefenpsychologie Süditaliens. (...)

keitswahn und verlorenen Idealen.

Zum Gelingen des Films haben sicherlich auch die Schauspieler beigetragen. Die

Wegen seiner kommunistischen Ideen und

Melato war vor Mimì metallurgico ferito

der Weigerung, einen lokalen Mafioso zu

nell’onore eine berühmte Unbekannte, die

wählen, verliert der Sizilianer Mimì seine

nur Theater spielte; Giannini führte in die-

Arbeit, muss seine Frau Rosalia verlassen

ser zweiten Bewährungsprobe seiner Kar-

und findet in Turin mit Hilfe eines nörd-

riere nach Dramma della gelosia eine Viel-

lichen Ablegers der Mafia eine Stelle bei

falt an einfallsreichen Grimassen und

Fiat. Auf der Strasse lernt er die schöne

Gebärden vor, wie sie nur ein grosser

Trotzkistin Fiorella kennen, gewinnt deren

Schmierenkomödiant beherrscht. Seine

Liebe und zeugt mit ihr einen Sohn. Doch

Mimik verleiht dem Mimì tausend Gesichter

schliesslich zwingt ihn der Pakt mit der Ma-

(...). Mimì lebt durch Giannini; er ist keine

fia in die Heimat zurück, wo er zwischen die

Figur, die von einem Schauspieler darge-

Fronten von zwei Frauen sowie zwischen

stellt wird.» (Giovanni Spagnoletti, in: Lina

Mafia und ehemaligen Freunden gerät und

Wertmüller, Hanser 1988)

ausserdem um jeden Preis Rosalias Seitensprung rächen muss.

H Einführung am 11. Juli: Martin Walder

«Mit Mimì metallurgico ferito nell’onore endet die Phase der Experimente mit dem Medium Film, und Lina Wertmüller wird eine Autorin mit einem klar erkennbaren, unverwechselbaren Stil und einer Welt eigener Erzählungen, die sich um Sex und Politik drehen. (...) Die wichtigsten filmhistorischen Bezugspunkte des Werks sind leicht erkennbar: eine bestimmte melodramatische Tradition im volkstümlichen italienischen Kino à la Raffaele Matarazzo (...), die beiden gelungenen Komödien über das ‹Ehrendelikt› von Pietro Germi Divorzio

MIMÌ METALLURGICO FERITO NELL'ONORE / Italien 1972 121 Min / Farbe / DCP / I/d // DREHBUCH UND REGIE Lina Wertmüller // KAMERA Dario Di Palma // MUSIK Piero Piccioni // SCHNITT Franco Fraticelli // MIT Giancarlo Giannini (Carmelo Mardocheo, «Mimi»), Mariangela Melato (Fiore),

all’italiana (1962) und Sedotta e abbandonata

Elena Fiore (Signore Amalia Finocchiaro), Agostina Belli

(1963) sowie das Dramma della gelosia von

(Rosalia), Luigi Diberti (Pippino), Turi Ferro (Tricarico), Tuc-

Ettore Scola (1970). Der Cocktail der Wert-

cio Musumeci (Pasquale).


49 IMPRESSUM

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS

in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Andreas Furler (afu), Corinne Siegrist-Oboussier (cs) ASSISTENZ Tanja Hanhart (th), Primo Mazzoni (pm) // SEKRETARIAT Claudia Brändle BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 212 13 77 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 211 66 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: Cinélibre, Bern; Cineworx, Basel; Eléfilm, Paris; Europe's Finest, Köln; Frenetic Films, Zürich; Intramovies, Rom; JMH Distribution, Neuenburg; Jupiter Communications, Paris; Österreichisches Filmmuseum, Wien; Park Circus, Glasgow; Pathé Films, Zürich; Pathé Distribution, Paris; Svensk Filmindustri, Stockholm; Tamasa Distribution, Paris; TF1 International, Boulogne; Trigon-Film, Ennetbaden; Universal Pictures International, Zürich; Warner Bros. (Transatlantic) Inc., Zürich; Kino Xenix, Zürich. DATABASE PUBLISHING BitBee Solutions GmbH, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS & Partner AG, Zürich // KORREKTORAT N. Haueter, D.Kohn // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 7000 ABONNEMENTE Filmpodium-Generalabonnement : SFr. 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halbtaxabonnement: SFr. 80.– / U25: SFr. 40.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Abonnement Programmheft: SFr. 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

PAUSE SAISONm

vo ber . Septem

1. bis 25

VORSCHAU

mber bis 26. Septe er: 6. Oktob ektiven Retrosp des ZFF

George Cukor

Die goldene Zeit des französischen Films

Er hatte eine der längsten Regiekarrieren

Fred van der Kooij, Dozenten-Trademark

im klassischen Hollywood und drehte zwi-

des Filmpodiums, will diesen Herbst seine

schen 1930 und 1981 über sechzig Filme,

These belegen, dass das französische Kino

darunter legendäre Titel wie The Philadel-

niemals bessere Filme hervorgebracht hat

phia Story, Gaslight und A Star Is Born. Das

als in den zwanziger und frühen dreissiger

Filmfestival von Locarno ehrt George Cukor

Jahren. Wie stets führt van der Kooij seinen

diesen August mit einer umfassenden

ästhetischen Gottesbeweis in fünf Schritten,

Werkschau, die wir auszugsweise überneh-

denen jeweils ein Film folgt. Verklungene

men.

Namen wie Jean Epstein, Man Ray und Julien Duvivier beginnen wieder zu klingen.

Hinweis Zurich Film Festival Wegen unvereinbaren Planungsterminen wird das ZFF dieses Jahr die Retrospektiven in Eigenregie als Gast im Film­ podium durchführen; daher gelten betr. Ticketing die Richtlinien des ZFF, und unsere Abonnemente sind nicht gültig. Dafür erhalten alle Filmpodium-Abonnentinnen und -Abonnenten die ZFF-Karte, die zu reduziertem Eintritt in alle ­Festivalsektionen berechtigt, für SFr. 24.– statt SFr. 29.–.


JULY 11 DespicableMe2.ch


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