Filmpodium Zurich Programmheft 1. Jan. – 15. Feb. 2017 // programme issue Jan - Feb 2017

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1. Januar –15. Februar 2017

14. Stummfilmfestival China Independent 2017


I’m ready for my close-up.

Ganz nah dran:. Das Filmpodium bloggt, teilt, twittert.

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2017 JANAUR


01 Editorial

Das Festival der Festivals Das Filmpodium ist eigentlich ein ganzjähriges Filmfestival: Filme aus aller Welt werden, zu Reihen und Retrospektiven gebündelt, ins Programm gesetzt, Filmschaffende kommen zu Besuch, es gibt ergänzende Diskussionen und Referate. Dennoch herrscht auch bei uns Ausnahmezustand, wenn «richtige» Festivals stattfinden. So bescherte im September das bei uns eingemietete Zurich Film Festival dem Filmpodium eine Portion Glamour sowie ein deutlich jüngeres Publikum als üblich. Im November dann sorgte das 3rd Arab Film Festival Zurich für eine ganz eigene Stimmung, denn sowohl das Programm als auch die Film-Gäste und das Publikum waren von den aktuellen Verwerfungen in der arabischen Welt geprägt. Die arabischen Filmschaffenden, die nach Zürich kommen konnten (was oft komplizierte Visa-Gesuche und eine Odyssee durch mehrere Länder bedeutete), genossen die paar Tage Auszeit und die Gelegenheit, sich untereinander und mit dem Publikum auszutauschen. Der Iraker Raad Mushatat und der Syrer Mohamad Abdulaziz erzählten, wenn sie am Morgen ihr Haus verliessen, wüssten sie nie, ob sie am Abend wieder heil zurückkehren würden; Dreharbeiten unter solchen Umständen sind ein Tanz am Abgrund. Abdulaziz bewegt sich zudem auf einem politischen Minenfeld, will er trotz staatlicher Zensur Filme machen, die der Realität in Syrien gerecht werden. Die jemenitische Filmemacherin Khadija Al-Salami wiederum war nur in Zürich, weil sie wegen der kriegsbedingten Schliessung des Flughafens von Sanaa nicht hatte in ihre Heimat reisen können, um dort ein neues Projekt anzupacken. Bevor er a cappella ein selbstkomponiertes Lied vortrug, erklärte der junge syrischstämmige Schauspieler Fadi Rifaai, sein Film From A to B nutze bewusst das Comedy-Genre des Roadtrip-Movie, um ein internationales Publikum für heikle Themen des Nahen Ostens zu gewinnen. Ob der 87-jährige Algerier Mohammed Lakhdar-Hamina seinen Wunsch, noch einen richtigen Western zu drehen, verwirklichen kann, wird sich weisen. Das Publikum des 3rd Arab Film Festival Zurich war beeindruckt von den Gästen und staunte immer wieder über die Kühnheit, aber auch über die Zugänglichkeit und den hohen Unterhaltungswert ihrer Filme. Die präsentierten Werke ebenso wie das Festival als Ganzes erreichten das gesetzte Ziel, nämlich den Araberinnen und Arabern, die wir in den Medien vornehmlich als kollektive Opfer und Täter von Konflikten antreffen, ein individuelles, menschliches Gesicht zu verleihen. PS: Das nächste Festival folgt sogleich und gilt dem Stummfilm. Michel Bodmer Titelbild: Charles Chaplin und Merna Kennedy in The Circus (1927)


02 INHALT

Stummfilmfestival 2017

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Das 14. Stummfilmfestival erreicht die Jahre 1917 und 1927. Stars wie Charles Chaplin, Mary Pickford und Laurel & Hardy kommen mit und ohne Slapstickkomik und Tortenschlachten zur Geltung. 1927 beschert Filme grosser Regisseure wie Frank Borzage, René Clair und Boris Barnet. Als Special Events stehen auch die Fairbanks-Komödie When the Clouds Roll By und Shooting Stars von Anthony Asquith auf dem Programm. Live begleitet werden diese Werke von unseren beliebten lokalen und internationalen Stummfilmmusikern und -musikerinnen. 1927 bringt auch den ersten Tonfilm der Filmgeschichte, Alan Croslands The Jazz Singer; ergänzend zeigen wir «Stummfilme» der Neuzeit, von Mel Brooks’ Silent Movie bis zu Michel Hazanavicius’ The Artist. Bild: The Kid Brother

China Independent 2017

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Parallel zur gleichzeitig stattfindenden Ausstellung «Hinter jedem Berg steht noch ein Berg» im Helmhaus nehmen wir das Konzept unserer Reihe «China Independent» aus dem Jahr 2013 wieder auf. Für chinesische Filmemacherinnen wie Yang Mingming oder Zhu Shengze und Filmemacher wie Zhu Rikun, Ju Anqi und Wang Bing, die unabhängig von staatlichen Vorschriften ihre Heimat und die aktuelle Situation ihrer Landsleute reflektieren wollen, bleibt es schwierig. In China selbst bleiben ihre – zumeist dokumentarischen – Werke ungesehen, während sie im Westen an allen wichtigen Festivals präsent sind. Mal mit einfachsten Mitteln gemachtes, rohes und freches Filmschaffen, mal mit hohem künstlerischen Anspruch realisiertes «Kino von unten». Bild: China Concerto


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Yojimbo und seine Remakes

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In einer Welt ohne Recht und Ordnung provoziert ein skrupelloser Protagonist, der sich den verfeindeten Parteien andient, eine Eskalation des Konflikts bis zum läuternden Showdown. Kurosawas Yojimbo stand vier Remakes aus Italien, Hollywood und Japan Pate. Bild: Yojimbo

Filmpodium für Kinder: Unsere Erde

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Wir gehen auf eine Reise rund um den Erdball. Basierend auf der BBCSerie «Planet Erde», entfalten die atem­beraubenden Aufnahmen dieser Kinoversion auf der Leinwand ihre Wirkung. Das tagtägliche Leben und Überleben verdichtet sich zu einem eindrücklichen Porträt unserer Erde. Bild: Unsere Erde

Reedition: Sur

38 Einzelvorstellungen

Nach seinem Exil in Paris realisierte der argentinische Regisseur Fernando E. Solanas 1987/88 Sur. Seine Schilderung einer Rückkehr in ein «normales» Leben nach der Diktatur ist Vergangenheitsbewältigung und Zukunftshoffnung zugleich.

Sélection Lumière: Winter’s Bone

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05 Stummfilmfestival 2017

Welche Bilder, welche Klänge! Der Jahresauftakt zur Filmgeschichtsreihe «Das erste Jahrhundert des Films» – diesmal mit Werken von 1917 und 1927 – weitet sich erneut zum nunmehr traditionellen Stummfilmfestival. Es bietet auch in seiner 14. Ausgabe mit kanonisierten Klassikern und überraschenden Wiederentdeckungen einen lebendigen Einblick in das breite Spektrum des Filmschaffens ohne synchronen Ton. Dessen «Fehlen» wird durch musikalische Live-Begleitungen mehr als kompensiert; es gibt Anlass zu Events mit hiesigen und internationalen Spitzenvertretern der Stummfilmmusik. Kaum hatte sich der Filmjournalist Jay Weissberg im Herbst 2015 über seine ­Ernennung zum Direktor der Giornate del cinema muto gefreut, kam die kalte Dusche: Der langjährige Stummfilmfan sah sich damit konfrontiert, dass das traditionsreiche und renommierte Festival im norditalienischen Pordenone von der internationalen Filmszene als «Nischenfilm»-Anlass etikettiert wurde – getreu dem filmwirtschaftlichen Motto: Nur der neuste Film zählt. In Weissberg haben die Verfechter des Stummfilms einen energischen neuen Mitstreiter gewonnen. Filme ohne integrierte Tonspur, das kann man nicht oft genug unterstreichen, sind vollwertige Filme, deren bildstarke Narration vielem überlegen ist, was später entstand, und sie umfassen das volle Spektrum des Filmschaffens, von kurz bis lang, von heiter bis tragisch, von trivialen bis zu tiefgründigen Stoffen und von banaler Machart bis zu hoher Kunst. 2017 stellt das Zürcher Stummfilmfestival – wie gewohnt zugleich Jahresauftakt zur permanenten Filmgeschichtsreihe «Das erste Jahrhundert des Films» – die Jahre 1917 und 1927 ins Zentrum, u. a. mit Klassikern wie ­Seventh Heaven von Frank Borzage und Wings von William A. Wellman. Da 1927 auch das Jahr des bahnbrechenden Erfolgs des ersten (Beinahe-)Tonfilms The Jazz Singer ist, lag es nahe, auch diesen Übergang zu thematisieren. Neben dem legendären, ursprünglich mit Schallplatten vertonten Film von Alan Crosland stehen der tschechisch-deutsche Stummfilm So ist das Leben (Takový je život, 1930), der das Pech hatte, erst herauszukommen, als der Tonfilm gerade zum Standard wurde, und der stumm gedrehte ethnografische Film The Silent Enemy (1930), dem man für die Premiere kurzerhand einen gesprochenen Prolog hinzufügte. >

Ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft: Seventh Heaven von Frank Borzage

<

Legendärer früher Samurai-Film: A Diary of Chuji’s Travels von Daisuke Ito


06 Klassiker und Wiederentdeckungen Die Höhepunkte des Festivals sind jedoch wiederum die musikalischen LiveVertonungen von Stummfilmklassikern und kürzlich wiederentdeckten oder neu restaurierten Raritäten. So erlaubt gleich der Festivalstart, einen in der Filmgeschichtsschreibung vielfach erwähnten, aber kaum je gezeigten deutschen expressionistischen (oder zumindest teilweise expressionistischen) Film zu entdecken, den das Münchner Filmmuseum rekonstruiert hat: Algol. Tragödie der Macht (1920). Man darf in ihm so etwas wie den «missing link» zwischen den berühmten Klassikern Caligari und Metropolis sehen. Zwei britische Wiederentdeckungen bereichern unser Bild vom Film der 1920er Jahre auf ganz unterschiedliche Weise: Shooting Stars (1928) ist nicht nur der Erstling eines der später wichtigsten britischen Filmemacher, Anthony Asquith, er bietet uns als Film aus dem Filmmilieu zudem amüsante Einblicke in die damalige Drehpraxis. The Rat (1925), ein Werk von Alfred Hitchcocks Lehrmeister Graham Cutts, erlaubt es abzuschätzen, an welche Tradition der junge Hitchcock anknüpfen konnte. Der vom National Film Center Tokyo restaurierte A Diary of Chuji’s Travels (Chuji Tabinikki) leistet Entsprechendes für den Samurai-Film: Nicht erst Akira Kurosawa hat dieses Genre seiner kriegerisch-heroischen Verklärung entkleidet und eine unheldisch-menschliche Samurai-Figur geschaffen! Selbst im am ehesten bekannten Bereich des stummen Films, der Slapstick-Komödie, gibt es noch Entdeckungen. Die titelgebende Battle of the Century galt zwar unbestritten als die grösste und umwerfendste aller Tortenschlachten – doch hat sich nun herausgestellt: Das war nur der halbe Film! Auch Chaplins The Cure wurde immer wieder gezeigt, selbst in KinderfilmMatineen, aber jetzt liegt er in restaurierter, vervollständigter Fassung vor, und siehe: Er ist keineswegs so harmlos-«jugendfrei», wie man dachte. Und der Starkomiker Harold Lloyd zeigt in The Kid Brother, dass er durchaus nicht nur als linkischer Städter zu überzeugen vermag. Auch an leiseren Komödientönen herrscht im Festivalprogramm kein Mangel: So kann man Douglas Fairbanks, eher als Held akrobatischer Actionfilme bekannt, in When the Clouds Roll By (1919) in jenem komödiantischen Register erleben, in dem er zum Star wurde. René Clair schafft es in Un chapeau de paille d’Italie, den Dialogwitz der zugrunde liegenden Boulevardkomödie in ein Feuerwerk witziger Bildeinfälle zu verwandeln. Ähnlich frei geht Boris Barnet mit einem ihm aufgetragenen Pflichtstoff um: Was ein Werbefilm für die sowjetische Staatslotterie hätte werden sollen, wurde unter seinen Händen zu einem mal subtil-komischen, mal satirischen Zeitbild: Das Mädchen mit der Hutschachtel. Lebendige Musik Musikalisches Feuer hauchen diesen Filmen einmal mehr die «Hauspianisten» des Filmpodiums ein: Martin Christ (Ligerz), André Desponds und


07 ­ lexander Schiwow (Zürich). Dazu kommt als prominenter Zürcher Gast A Bruno Spoerri. Sie treten auf neben und zum Teil mit internationalen Koryphäen der Stummfilmmusik. Viele davon sind als regelmässige Gäste hier schon bestens bekannt, wie die niederländische Pianistin Maud Nelissen, ihre Kollegen Stephen Horne (London) und Gabriel Thibaudeau (Montréal), der Pianist und Violinist Günter A. Buchwald und der Schlagzeuger Frank ­Bockius (beide Freiburg i. Br.). Erstmals in Zürich auftreten wird Richard Siedhoff (Weimar) – die Kunst der einfühlsamen Stummfilmbegleitung stirbt nicht aus, sondern lebt in jüngeren Musikern weiter. Als Kontrast zu diesen künstlerischen Dialogen zwischen alten Filmen und heutigen Musikern stehen wieder zwei Filme mit zeitgenössischer Originalmusik auf dem Programm: Nachdem vor zwei Jahren Edmund Meisels kongeniale Komposition zum Panzerkreuzer Potemkin zu hören war, erklingen diesmal zwei weitere seiner Originalmusiken: jene zu Sergej Eisensteins Oktober und zu Walter Ruttmanns Berlin, die Sinfonie der Grossstadt. Und zu The Circus wird Chaplins eigene, viel später eingespielte Musik erklingen. Pamela Hutchinson berichtete in der Zeitschrift «Sight & Sound» kürzlich, dass auch einige bekannte heutige Regisseure die Qualitäten des «sprachlosen» Films zu schätzen wissen. Gus Van Sant habe ebenso eine stumme Version seines Dramas Restless angefertigt wie George Miller von Mad Max: Fury Road, und Steven Soderbergh habe denselben Versuch mit dem bekannten Raiders of the Lost Ark seines Kollegen Steven Spielberg unternommen. «It is interesting», schreibt sie, «that the silent mode is a standard by which sound filmmakers judge each other’s work.» So war es naheliegend, das Programm des – mit The Jazz Singer ohnehin grenzsprengenden – Stummfilmfestivals in diesem Jahr anzureichern mit Beispielen aus neuerer Zeit, in denen innovative Regisseure sich von den grossen alten Vorbildern inspirieren liessen zu «stummen» oder zumindest weitgehend auf Sprache verzichtenden Filmen. Martin Girod Das erste Jahrhundert des Films In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 ­wegweisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. ­Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, d. h. im Jahr 2017 sind Filme von 1917, 1927, 1937 usw. zu sehen. Weitere wichtige Filme von 1917

Weitere wichtige Filme von 1927

Le Coupable André Antoine, Frankreich Easy Street Charles Chaplin, USA The Immigrant Charles Chaplin, USA Judex Louis Feuillade, Frankreich (Serial; 1916/1917) Straight Shooting John Ford, USA Terje Vigen Victor Sjöström, Schweden Thomas Graals bästa film (Thomas Graals bester Film) Mauritz Stiller, Schweden

It Clarence G. Badger, USA Hindle Wakes Maurice Elvey, GB Napoléon Abel Gance, Frankreich Metropolis Fritz Lang, Deutschland Sunrise Friedrich Wilhelm Murnau, USA Konez Sankt-Peterbruga (Das Ende von St. Petersburg) Wsewolod Pudowkin, UdSSR Weitere Titel s. Website!


> The Cure.

> When the Clouds Roll By.

> Oktober.

> Berlin, die Sinfonie der Grossstadt.

> The Rat.

> The Poor Little Rich Girl.


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Stummfilmfestival 2017.

THE CURE USA 1917

The Cure 23 Min / sw / DCP / stumm, engl. Zw’titel // DREHBUCH UND REGIE Charles Chaplin // KAMERA Roland H. Totheroh, ­William C. Foster // MIT Charles Chaplin (trinkfreudiger Kur-

Wie viele frühe Chaplin-Kurzfilme wurde The Cure oft in gekürzten Versionen und im Rahmen von Kinderprogrammen eingesetzt. Als der Film 2013 restauriert vorlag, konnte man mit Staunen feststellen, dass Chaplins Film keineswegs «jugendgeeignet» ist: Von reichlichem Alkoholgenuss bis zu jenem männlichen Gockelverhalten, das heute als «sexual harassment» gilt, reicht die Skala der vorgeführten Vergnügen in einem Kurhaus. «Der vielstimmigste und für viele der witzigste von Chaplins Filmen für Mutual, bei denen er als Regisseur und Schauspieler mitwirkte. (…) Sieht man den Film heute, ist man einerseits ­beeindruckt vom Rhythmus, von den einander jagenden, raffinierten komischen Nummern und der perfekt darauf abgestimmten Besetzung. ­Andererseits wissen wir, dass diese perfekte Besetzung und einige der Anfangsgags nicht das Produkt spontanen Instinkts waren, sondern vielfachen Ausprobierens und Variierens.» (Katalog Il cinema ritrovato, Bologna 2013)

gast), Edna Purviance (Kurgast), Albert Austin (Kurpfleger), Henry Bergman (Masseur), Eric Campbell (Herr mit Gichtfuss), Leota Bryan (Pflegerin), Frank J. Coleman (Besitzer), James T. Kelley (uralter Page), John Rand (Kurpfleger/Masseur), Tom Wood (Patient).

The Poor Little Rich Girl 80 Min / sw / 35 mm / stumm, engl. Zw’titel // REGIE Maurice Tourneur // DREHBUCH Frances Marion, nach dem Theaterstück von Eleanor Gates // KAMERA John van den Broek, ­Lucien Andriot // MIT Mary Pickford (Gwendolyn), Madlaine Traverse (ihre Mutter), Charles Wellesley (ihr Vater), Gladys Fairbanks (Jane), Frank McGlynn (der Klempner), Marcia Harris (Miss Royale), Charles Craig (Thomas), Herbert Prior (der Doktor), George Gernon (Johnny Blake). SA, 7. JAN. | 18.15 UHR LIVE-BEGLEITUNG: GABRIEL THIBAUDEAU, MONTRÉAL

WHEN THE CLOUDS ROLL BY USA 1919

THE POOR LITTLE RICH GIRL USA 1917 Mary Pickford, liebevoll «America’s Sweetheart» genannt, gehörte zu den ersten Topstars von Hollywood. Sie heiratete 1919 Douglas Fairbanks und gründete zusammen mit ihm, Charles Chaplin und D. W.  Griffith zwecks grösserer Selbstbestimmung die Produktionsfirma United Artists. «Ein merkwürdig passender Titel für einen Mary-Pickford-Film. ‹Arm› war sie nur in dem Sinn, dass sie so sehr auf einen Rollentypus festgelegt wurde, dass sie noch als 25-jährige Frau die Rolle eines kleinen Mädchens von elf Jahren zu spielen hatte. ‹Reich› war dagegen absolut real bei 10 000 Dollar Wochengage. (…) Obwohl Mary Pickford noch heute als Inbegriff einer Hollywood-Aufsteigerin gilt, haben nur ganz wenige Leute einen ihrer Filme gesehen. Jetzt, da einige der Filme restauriert werden, können wir selbst beurteilen, weshalb sie damals beim Publikum so beliebt war. (…) Ihre ‹Kleinmädchen›-Rollen waren recht modern, sie zeigten genau jene Eigenschaften, die wir an den Heldinnen heutiger Kinderbücher schätzen: Selbstvertrauen, verbunden mit couragiertem Eintreten für andere. (...). In diesem Film spielt sie ein einsames Mädchen, um das sich die reichen Eltern nicht kümmern, weil sie zu sehr mit Geschäft oder Wohl­tätigkeit beschäftigt sind.» (Bryony Dixon: 100 Silent Films, London 2011)

Diese Geschichte eines krankhaft abergläubischen Angestellten, der ahnungslos zum Versuchskaninchen eines von psychiatrischen Theorien besessenen Nachbarn wird, machte den traditionellen wie den modernen Wahn zum Objekt bissiger Pointen. Es dürfte nicht nur die erste amerikanische Satire auf die Psychiatrie gewesen sein, auch die visuellen Einfälle waren höchst innovativ; einige lassen an Keaton denken, weil dieser sie später aufgegriffen und weiterentwickelt hat, andere begeisterten die französischen Surrealisten. «Diese zauberhafte Komödie war Fairbanks’ letzte, bevor er begann, epische Kostümfilme zu drehen. (…) Fleming war vier Jahre Kameramann bei Fine Arts gewesen; als ihm Fairbanks die erste Gelegenheit bot, Regie zu führen, gab er sein Bestes, und siehe, das Resultat ist eine wahre Freude.» (Kevin Brownlow, Katalog Giornate del cinema muto 2015) «When the Clouds Roll By vereint die besten Elemente von Fairbanks’ frühen Filmen zu einem bizarren Meisterwerk surrealen Humors und visueller Gags.» (Programm Bonner Sommerkino 2016) 85 Min / tinted / DCP / Stummfilm, engl. Zw’titel // REGIE Victor Fleming // DREHBUCH Tom J. Geraghty, nach einer Story von Douglas Fairbanks // KAMERA Harry Thorpe, William C. McGann // MIT Douglas Fairbanks (Daniel Boone Brown), Kathleen Clifford (Lucette Bancroft), Frank Campeau (Mark


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Stummfilmfestival 2017. Drake), Ralph Lewis (Curtis Brown), Herbert Grimwood (Dr. Ulrich Metz), Daisy Robinson (Bobbie De Vere), Albert MacQuarrie (Hobson), Victor Fleming (Passant im Park). DI, 17. JAN. | 20.45 UHR LIVE-BEGLEITUNG: STEPHEN HORNE, LONDON

ALGOL. TRAGÖDIE DER MACHT Deutschland 1920 «Rekonstruktion eines deutschen Stummfilmklassikers, der expressionistische Dekors verwendet und Handlungselemente von Metropolis vorwegnimmt. Die fantastische Geschichte um einen Grubenarbeiter, der durch Ausnutzung von alternativen Energiequellen ein Kraftwerk baut, das die ganze Welt mit Strom versorgt und von ihm abhängig macht, weist durchaus aktuelle Bezüge auf. Die neue Farbfassung lässt die visuellen Qualitäten des Films wieder zur Geltung kommen.» (Bonner Sommerkino 2011) «Als Versuch, Genres und Stile zu vermischen, geht ein rarer Film namens Algol am weitesten; er ist zugleich der merkwürdigste unter den dem Expressionismus nahestehenden Filmen. (…) Als Fabel über die Macht und das Maschinenzeitalter ist Algol auch eine märchenhafte Legende mit Science-Fiction-Zügen. (…) Schon die ersten Sequenzen stellen die Arbeiterschaft und das ­Bürgertum einander gegenüber und zeigen abwechselnd fantastische Elemente und dokumentarische Aufnahmen.» (Francis Courtade: Cinéma expressionniste, Paris 1984)

Graham Cutts ist in die Filmgeschichte vor allem als Lehrmeister von Alfred Hitchcock eingegangen. Wie viel Cutts zu bieten hatte, lässt sich an diesem Film ablesen, den er ohne seinen gewohnten Assistenten drehte, als dieser gerade in München seinen Regieerstling The Pleasure Garden realisierte. «Dem visuellen Schwung und der Belebtheit von The Rat nach zu urteilen, kam Cutts gut ohne Hitchcock aus. (…) Kamerafahrten verleihen den Szenen im ‹White Coffin› Lebendigkeit und Fluss. Der Nachtclub in Montmartre ist ein Schauplatz, der sich mit seinen sargförmigen Öffnungen, seiner verschachtelten Bauweise und der ungehobelten Kundschaft sogleich in das Gedächtnis einbrennt. Bei dieser filmischen Parade der Genüsse spielt die Besetzung eine wesentliche Rolle. Das Profil voran, mit grosszügigem Make-up um Lippen und Augen, verströmt Novello in dieser Rolle (...) aussergewöhnliches Charisma. Mae Marshs Darbietung ist einnehmend emotional, aber kurz; viel mehr Platz wird der von Isabel Jeans dekorativ dargestellten Aristokratin Zélie eingeräumt, die sich unters gemeine Volk mischt. Im damaligen britischen Kino konnte es niemand mit Jeans aufnehmen, wenn es darum ging, elegant den Arm auszustrecken oder sich inmitten von Kissen und Perlen lasziv auf dem Sofa zu räkeln. In solchen Momenten zeigt Cutts einen Zug, den er Hitchcock vererbte: Er machte Kamera und ­Zuschauer zu Voyeuren.» (Geoff Brown, Katalog Giornate del cinema muto, Pordenone 2015) 78 Min / tinted / 35 mm / Stummfilm, engl. Zw’titel // REGIE

99 Min / tinted / DCP / Stummfilm, dt. Zw’titel // REGIE Hans

Graham Cutts // DREHBUCH Graham Cutts, nach einem

Werckmeister // DREHBUCH Hans Brennert, Fridel Koehne

Theaterstück­von Ivor Novello, Constance Collier // KAMERA

// KAMERA Axel Graatkjær, Herrmann Kricheldorff // MIT

Hal Young // MIT Ivor Novello (Pierre Boucheron, «the Rat»),

Emil Jannings (Robert Herne), Hanna Ralph (Maria Obal),

Mae Marsh (Odile), Isabel Jeans (Zélie de Chaumet), James

Käte Haack (Magda Herne), Gertrud Welcker (Leonore Nis-

Lindsay (Inspecteur Caillard), Marie Ault (Mère Colline), ­Kulie

sen), Hans Adalbert Schlettow (Peter Hell/dessen Sohn),

Suedo (Mou-Mou), Robert Scholz (Hermann Stetz), the Tiller

John Gottowt (Algol), Erna Morena (Yella Ward).

Girls (Folies-Bergère-Tänzerinnen).

DO, 5. JAN. | 20.45 UHR

MI, 18. JAN. | 18.15 UHR

LIVE-BEGLEITUNG: GÜNTHER A. BUCHWALD UND FRANK

LIVE-BEGLEITUNG: STEPHEN HORNE, LONDON

BOCKIUS, FREIBURG  I.  BR.

THE CIRCUS THE RAT GB 1925 Zélie de Chaumet tummelt sich gerne im Nachtleben von Paris und verliebt sich in Pierre Boucheron, «die Ratte». Pierre aber hat eine gutherzige Freundin, Odile, und widersteht zunächst Zélies Verführungskünsten. Als er endlich nachgibt, muss er feststellen, dass Odile das Opfer eines Wüstlings zu werden droht.

USA 1927 «Von Polizisten gehetzt, rennt Charlie in ein Zirkuszelt, platzt mitten in die laufende Vorstellung und bringt das Publikum unfreiwillig zum Lachen. Daraufhin möchte der Zirkusdirektor Charlie als Clown engagieren – doch Charlie kann nicht auf Befehl lustig sein und wird darum nur als Requisiteur angestellt. Durch die Missgeschicke, die ihm passieren, wird er aber zur Hauptattraktion des Zirkus, ohne selbst etwas davon zu ahnen.


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Stummfilmfestival 2017. Dann verliebt er sich auch noch in die Kunstreiterin, die Stieftochter des Direktors, die aber ein Auge auf den Hochseiltänzer geworfen hat … Mit The Circus, seinem letzten Stummfilm, gewann Chaplin seinen ersten Academy Award.» (Programmheft Filmpodium, Juli/September 2014) «Die Story dieses Films entwickelte Chaplin aus der Situation des Tramps auf dem Seil, eine Slapstickszene, die ihn faszinierte, weil der Tramp darin in einer ausweglosen Lage ist. An die Stelle des ursprünglich ins Auge gefassten Varietémilieus trat der Zirkus, und das gab Chaplin Gelegenheit, noch eine ähnliche Szene zu kreieren: der Tramp im Löwenkäfig. The Circus wird von solchen Slapstickszenen beherrscht, die gegenüber der Handlung ein starkes Eigenleben haben. Sie sind jedoch alle (wie in The Gold Rush) aus den Ängsten und Nöten des Tramps entwickelt. Spiegelkabinett und Panoptikum sind Fluchtsituationen, in die der Tramp als unschuldig Verfolgter gerät, und auch sein erster Auftritt im Zirkus ist unfreiwillig. Der Erfolg der ungeplanten ‹Nummer› führt zum Engagement als Clown, doch zeigt sich rasch, dass der Tramp nicht bewusst komisch sein kann. Die Zirkusproben werden zu ­einer Lektion Chaplins in Sachen Komik, der im Medium Film über sich selbst und seine Figur reflektiert und den Ursachen seiner komischen Wirkung nachspürt. Nur das Ungeplante, Überraschende erweist sich als komisch, während das fest verabredete, nach Regeln ablaufende Spiel steril bleibt.» (Helmut G. Asper, in: Metzler Film Lexikon) 72 Min / sw / DCP / Stummfilm mit Musik, d. Zw’titel // DREHBUCH, REGIE UND MUSIK Charles Chaplin // KAMERA ­Roland Totheroh // MIT Charles Chaplin (Tramp), Merna Kennedy (Kunstreiterin), Henry Bergman (alter Clown), Harry Crocker (Rex, der Seiltänzer), Allan Garcia (Zirkusdirektor), George Davis (Zauberer), Steve Murphy (Taschendieb).

SEVENTH HEAVEN USA 1927 Diane, deren trunksüchtige Schwester sie umbringen will, wird zufällig von Chico gerettet. Der Pariser Kanalisationsarbeiter wohnt im Dachstock, «nahe bei den Sternen». Diane bleibt bei ihm. Im August 1914 muss Chico in den Krieg ziehen. Bei ihrer Trennung versprechen sich die Liebenden, jeden Tag um elf aneinander zu denken und sich so nahe zu sein … Der berühmteste Stummfilm Frank Borzages trug ihm den ersten Regie-Oscar ein – und die Bewunderung der Surrealisten. Janet Gaynor und Charles Farrell wurden durch ihre Rollen für Jahre zum Inbegriff des romantischen Liebespaars im Hollywoodfilm.

«Borzage, einst Cowboy-Darsteller bei Thomas Ince, lernte das Regiehandwerk als Assistent bei Griffith. Er ist unzweifelhaft der grösste FilmPoet der Liebespaare. (…) Borzage glaubt an die Amour fou, er vertraut denen, die sich lieben. (...) Seine bewundernswerten Liebenden blicken voll Hoffnung in die Zukunft, sie kämpfen an gegen ihre Lebensbedingungen, leiden wie wir alle, aber unbeirrbar in ihrer Liebe sind sie glücklich.» (Ado Kyrou: Amour-Érotisme & Cinéma, Paris 1966) 120 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, engl. Zw’titel // REGIE Frank Borzage // DREHBUCH Benjamin Glazer, nach dem Theaterstück von Austin Strong // KAMERA Ernest Palmer // MUSIK William Perry // SCHNITT Barney Wolf // MIT Janet Gaynor (Diane), Charles Farrell (Chico), Emile Chautard (Chevillon), Ben Bard (Col. Brissac), David Butler (Gobin), ­Albert Gran (Papa Boule), Gladys Brockwell (Nana). SO, 8. JAN. | 20.45 UHR LIVE-BEGLEITUNG: GABRIEL THIBAUDEAU, MONTRÉAL

THE BATTLE OF THE CENTURY USA 1927 «Die wohl grösste Tortenschlacht der Filmgeschichte, an der ein ganzes Stadtviertel beteiligt ist und für die rund 3000 ‹Torten› bereitgestellt werden mussten. (…) Die Tortenschlacht ist mit bewundernswerter Präzision gestaltet. Sie erschöpft sich nicht in der Kumulierung eines nicht eben neuartigen Effekts; jeder Treffer hat seinen besonderen komischen Akzent.» (Reclams Filmlexikon) «Es ist eine Ironie der Filmgeschichte, dass trotz der Berühmtheit dieses Films bis 2015 so gut wie niemand, der noch am Leben ist, ihn in seiner vollen Länge gesehen haben konnte. Bisher kannten wir nicht mehr als zwölf Minuten von ursprünglich zwei Filmrollen. (…) Mit der Restaurierung des Films kann die Welt The Battle of the Century endlich komplett sehen … oder beinahe komplett: Ein kurzes Stück am Ende der ersten Rolle fehlt noch immer und wird durch erhaltene Standbilder ersetzt. Dieser Slapstick-Klassiker war erst der zweite Film der offiziellen Laurelund-Hardy-Partnerschaft und zeigt ihre Beziehung in der zaghaften Anfangsphase.» (Jon Mirsalis/Serge Bromberg, Katalog Giornate del cinema muto, Pordenone 2015)

THE KID BROTHER USA 1927 Harold Lloyd war zu seiner Zeit in den USA mindestens so beliebt wie seine heute berühmteren Kollegen Chaplin und Keaton; The Kid Brother war


> Wings.

> The Battle of the Century.

> The Silent Enemy.

> The Jazz Singer.

> Das Mädchen mit der Hutschachtel.

> Shooting Stars.


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Stummfilmfestival 2017. einer der erfolgreichsten Filme des Jahres 1927. Das dürfte nicht zuletzt daran gelegen haben, dass Harold Lloyds Figur in ihrer stets hart geprüften, aber nie erlahmenden Anpassungsbereitschaft den unverwüstlichen Erfolgsglauben der US-Gesellschaft verkörperte. «Der kleine und verachtete Bruder in einer bärenstarken Sheriffsfamilie bringt aus Liebe und gekränktem Familienstolz zwei Banditen zur Strecke. (…) Lloyds bestkonstruierter und ausgefeiltester Film (…); die liebevolle Rekonstruktion ländlicher Details und gelegentliche Sequenzen von intensiver Poesie erinnern stark an die bukolischen Szenen von Griffiths Way Down East.» (Buchers Enzyklopädie des Films) «The Kid Brother gehört zu den makellosen Meisterwerken der Filmgeschichte. (…) Die Wiederentdeckung dieses Films und seine Einordnung neben Werken wie Chaplins The Gold Rush und Keatons The General sind so überfällig wie unvermeidlich.» (Wolfram Tichy: Harold Lloyd, Luzern/Frankfurt a. M. 1979)

scher› Regiehandschrift und Hollywood-Tempo und dichten schauspielerischen Leistungen, die den gradlinigen Handlungsbogen von Liebe, Pflicht und Kameradschaft zusammenhalten.» (Time Out Film Guide) «Wings fing die Aviatikbegeisterung auf ihrem Höhepunkt ein – Lindbergh war im Mai 1927 über den Atlantik geflogen. Wellman verlieh den Flugszenen eine epische Grösse – er weigerte sich, sie im sicheren Studio nachzustellen, und schickte seine Schauspieler unter der Obhut von erfahrenen Piloten in die Höhe. (…) Wings wird mit zunehmendem Alter immer besser. (…) Wellman lässt seine Kamera mit berauschender Hemmungs­ losigkeit über das riesige Schlachtfeld wirbeln. Sogar nach heutigen Standards wirkt seine Ins­ zenierung bemerkenswert wagemutig.» (Kevin Brownlow, Katalog Giornate del cinema muto, Pordenone 2010) Wings wurde bei der ersten Oscarverleihung als bester Film ausgezeichnet. 144 Min / tinted / DCP / Stummfilm, engl. Zw’titel // REGIE Wil-

The Battle of the Century

liam A. Wellman // DREHBUCH Hope Loring, Louis D. Lighton,

18 Min / sw / DCP / Stummfilm, engl. Zw’titel // REGIE Clyde

nach einer Story von John Monk Saunders // ­KAMERA Harry

Bruckman, Leo McCarey (Supervision) // DREHBUCH Hal

Perry // SCHNITT E. Lloyd Sheldon, Merrill White // MIT Clara

Roach // KAMERA George Stevens // SCHNITT Richard

Bow (Mary Preston), Charles Rogers (Jack Powell), Richard

­Currier // MIT Stan Laurel (Canvasback Clump), Oliver Hardy

Arlen (David Armstrong), Jobyna Ralston (Sylvia Lewis), Gary

(sein Manager), Sam Lufkin (Schiedsrichter), Noah Young

Cooper (Cadet White), Arlette Marchal (Celeste), Richard

(Thunderclap Callahan), Charlie Hall (Konfiserie-Bote),

Tucker (Air Commander), Roscoe Karns (Lt. Cameron), ­

George K. French (Zahnarzt), Dick Sutherland (sein Patient).

George I­ rving (Mr. Powell), Hedda Hopper (Mrs. Powell).

The Kid Brother

SA, 14. JAN. | 17.45 UHR

93 Min / tinted / 35 mm / Stummfilm, engl. Zw’titel // REGIE

LIVE-BEGLEITUNG: RICHARD SIEDHOFF, WEIMAR

Ted Wilde, Lewis Milestone // DREHBUCH John Grey, Lex Neal, Howard Green, nach einer Story von John Grey, Tom Crizer, Ted Wilde // KAMERA Walter Lundin // MIT Harold

OKTOBER (Oktjabr)

Lloyd (Harold Hickory), Jobyna Ralston (Mary Powers),

UdSSR 1927

­Walter James (Sheriff Jim Hickory), Leo Willis (Leo Hickory), Olin Francis (Olin Hickory), Constantine Romanoff (Sandoni, der Dieb), Eddie Boland («Flash» Farrell). 35mm preservation print courtesy of the UCLA Film & Television Archive FR, 13. JAN. | 20.45 UHR LIVE-BEGLEITUNG: RICHARD SIEDHOFF, WEIMAR

WINGS USA 1927 «Eine spektakuläre Reverenz an die amerikanischen Piloten des Ersten Weltkriegs, basierend auf Wellmans und John Monk Saunders’ eigenen Erfahrungen mit dem Lafayette Flying Corps. Der Film zeichnet sich aus durch unvergleichliche Luftaufnahmen, logistisch detaillierte Gefechtsszenen, eine einzigartige Mischung aus ‹europäi-

«Eine Darstellung der revolutionären Ereignisse des Jahres 1917 in Russland. Die Handlung umspannt die acht Monate vom Scheitern der ‹Provisorischen Regierung› bis zum Sturm auf das Winterpalais. Ursprünglich zum zehnten Jahrestag der Revolution geplant, verzögerte sich die Fertigstellung von Oktober, u. a. weil Eisenstein auf höhere Weisung den inzwischen geächteten Trotzki nachträglich aus dem Film entfernen musste.» (Programmheft Filmpodium, Februar 1998) «Das zwischen scharfer Polemik und wuchtigem Pathos schwankende Werk fasziniert durch seine intellektuelle Konzeption, durch die authentische Wirkung der aufwendig nachgestellten historischen Szenen und durch die suggestive Ausdruckskraft seiner Bildmontagen.» (Lexikon des int. Films) Nachdem Eisenstein die erste Fassung von Oktober überarbeitet hatte, schrieb Edmund Meisel eine Orchesterpartitur für die Berliner Premi-


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Stummfilmfestival 2017. ere. Sie wurde schlecht aufgenommen, galt danach jahrzehntelang als verschollen und konnte erst kürzlich rekonstruiert werden. Zur Aufführung gelangt eine Einspielung dieser Originalmusik (Orchestrierung: Bernd Thewes; Dirigent: Frank Strobel). «Die lange nicht zugängliche Musik ist die Wiederentdeckung einer der interessantesten Partituren der Filmgeschichte überhaupt. Ihr überwiegend marschartiger Charakter kann leicht über den filigranen Aufbau und die bestechend, teils leitmotivisch aufgebaute Struktur hinwegtäuschen.» (Richard Siedhoff)

rei arbeitet, hat das Genre nachhaltig beeinflusst. Kennt man Chuji Tabinikki, sieht man Akira Kurosawas berühmte Sieben Samurai mit neuen Augen. 111 Min / tinted / 35 mm / Stummfilm, jap. + engl. Zw’Titel // DREHBUCH UND REGIE Daisuke Ito // KAMERA Rokuzo ­Watarei (Teil II), Hiromitsu Karasawa (Teil III) // MIT Denjiro Okochi (Chuji Kunisada), Hideo Nakamura (Kantaro), Seinosuke Sakamoto (Mitsuki no Bunzo), Naoe Fushimi (Oshina), Ranko Sawa (Okume), Motoharu Isokawa (Besitzer der SakeBrauerei), Kichiji Nakamura (Kabe Yaesemon). SO, 22. JAN. | 18.15 UHR LIVE-BEGLEITUNG: MARTIN CHRIST, LIGERZ

102 Min / sw / DCP / Stummfilm mit Musik, russ. + dt. Zw’Titel

EINFÜHRUNG: MARIANN LEWINSKY STRÄULI

// REGIE Sergej M. Eisenstein // DREHBUCH Sergej M. Eisen-

A collection of National Film Center, The National Museum of

stein, Grigori Alexandrow // KAMERA Eduard Tisse, Wladimir

­Modern Art, Tokyo

Popow, Wladimir Nilsen // MUSIK Edmund Meisel // SCHNITT Sergej M. Eisenstein // MIT Wassili N. Nikandrow (Lenin), ­Nikolai Popow (Kerenski), Boris Liwanow (Te­­reschtschenko), Eduard Tisse (ein deutscher Soldat).

A DIARY OF CHUJI’S TRAVELS (Chuji Tabinikki) Japan 1927

«Daisuke Ito (1898–1981) trug entscheidend dazu bei, dem Genre der Jidai-geki (Historienfilme) zu stilistischer Raffinesse und politischem Bewusstsein von bisher unbekanntem Ausmass zu verhelfen. Der von den japanischen Kritikern und Filmliebhabern oftmals als ‹Vater des Jidai-geki› bezeichnete Ito war der überaus produktive Regisseur von nahezu hundert Jidai-geki-Filmen, von denen einige zu den besten japanischen Filmen gezählt werden. (…) Diese Werke verbanden zeitgenössische Erzählweisen mit historischem Rahmen, oftmals politisch aufgeladen, dennoch den sozialen Problemen der eigenen Zeit verpflichtet, nur notdürftig verschleiert durch die ‹sichere› Ansiedlung in der Vergangenheit. (…) 1927/1928 erschuf Ito im dreiteiligen Chuji Tabi­nikki seine berühmte Neuerzählung der Geschichte des Spielers und Gesetzlosen Chuji Kunisada (1810–1850). (…) Der erste Teil ist nicht überliefert. Eine Episode des zweiten Teils und etwa die Hälfte des dritten Teils konnten allerdings samt einer verkürzten Version des gewaltigen Finales restauriert werden.» (Johan Nordström, Katalog Giornate del cinema muto, Pordenone 2015) Obwohl der Film nur als Torso erhalten ist, erlaubt es die Restaurierung, der Handlung problemlos zu folgen; eine Einführung durch Ma­riann Lewinsky Sträuli soll den Einstieg zusätzlich erleichtern. Itos Film mit seiner einfallsreich-bildkräftigen Inszenierung und seiner unheroischen Darstellung eines Samurais, der zum Outlaw wird und schliesslich als Buchhalter (!) in einer Braue-

BERLIN, DIE SINFONIE DER GROSSSTADT Deutschland 1927 «Ruttmanns Film ist keine Sammlung fotografischer Aufnahmen Berlins. Diese grosse Stadt ist als Schauplatz eines unendlich differenzierten Lebens erfühlt, das in seiner Gesamtheit dieses berauschende, überwältigende Gefühl ‹Weltstadt› ergibt. Dieses Gefühl zu einem mächtigen Akkord anschwellen zu lassen, ist die ästhetische Aufgabe dieses Films, der sich nicht mit Unrecht als ‹Symphonie› bezeichnet. Denn sein Aufbau ist durchaus kompositorisch gedacht – Akkorde, Dämpfungen, Prestissimos, Adagios wie in der Musik. Die Menschen sind in einer Nähe belauscht, wie es noch kein Film vermocht hat.» (Rudolf Kurtz, Lichtbildbühne, 24.9.1927) «Neben Das Cabinet des Dr. Caligari oder Metropolis lässt sich wohl bei keinem deutschen Film der zwanziger Jahre ein derartig vielfältiger und deutlicher Einfluss auf die Produktionen der Folgezeit nachweisen wie bei Ruttmanns Berlin. Der Film ist Kristallisations- und gleichzeitig Ausgangspunkt mehrerer Traditionslinien.» (Helmut Korte, in: Fischer Filmgeschichte, Bd. 2, Frankfurt/Main 1991) Von Edmund Meisels legendärer Filmmusik hat sich nur ein Klavierauszug erhalten. Im Herbst 2007 wurde die rekonstruierte Musik erstmals wieder in der Originalbesetzung mit 75 Musikern aufgeführt. Der Film wurde umkopiert und vom Filmmuseum München digital überarbeitet.


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Stummfilmfestival 2017. 65 Min / sw / DCP / Stummfilm mit Musik, dt. Zw’titel // R ­ EGIE Walter Ruttmann // DREHBUCH Walter Ruttmann, Karl Freund, Carl Mayer, nach einer Idee von Carl Mayer // KAMERA Reimar Kuntze, Robert Baberske, László Schäffer // MUSIK Edmund Meisel (Neueinspielung 2007) // SCHNITT Walter Ruttmann.

DAS MÄDCHEN MIT DER HUTSCHACHTEL (Djewuschka s korobkoi) UdSSR 1927

«Natascha wohnt bei ihrem Grossvater auf dem Lande und fertigt Hüte an; von Zeit zu Zeit bringt sie diese zum Verkauf in die Stadt zu Madame Irenes Hutsalon. Bei dieser bewohnt Natascha offiziell auch ein Zimmer. Um dem Studenten Ilja aus der Wohnungsnot zu helfen, geht sie eine Scheinehe mit ihm ein.» (Filmpodium, April 2001) Barnets erster Film in alleiniger Regieverantwortung orientiert sich an einem bewährten Grundmuster – aus Abneigung auf den ersten Blick entwickelt sich eine Liebesbeziehung –, er lässt sich vom amerikanischen Slapstick inspirieren und erzählt dabei eine Alltagsgeschichte aus der sowjetrussischen Gegenwart. Noch baut sie Barnet weitgehend als eine Abfolge in sich geschlossener Nummern von subtiler Komik auf, an der filmisch vor allem der gelegentlich verblüffende Blickwinkel der Kamera überzeugt, etwa wenn links und rechts vom Kopf der Heldin plötzlich weitere Köpfe auftauchen und so die hinter ihr anstehende und ungeduldig wartende Menschenschlange gegenwärtig wird. 93 Min / sw / DCP / Stummfilm, russ. + engl. Zw’titel // REGIE Boris Barnet // DREHBUCH Valentin Turkin, Wadim Scherschenjewitsch // KAMERA Boris Franzisson, B. Filschin // MIT Anna Sten (Natascha), Iwan Kowal-Samborski (Ilja ­Snegirew), Wladimir Fogel (Bahnhofsangestellter), Serafima Birman (Frau Irene), Pawel Pol (Nikolai Matwejitsch, ihr Mann), Jelena Miljutina (Marfuschka, ihr Dienstmädchen), W. Michailow (Nataschas Grossvater). MO, 30. JAN. | 20.45 UHR LIVE-BEGLEITUNG: MAUD NELISSEN, DOORN/NL

UN CHAPEAU DE PAILLE D’ITALIE Frankreich 1927 «Spritzige Verwechslungskomödie mit hohem Tempo: Ein Pferd verspeist den Hut einer verheirateten Dame, die gerade mit einem anderen Mann zärtlich ist. Das führt zu zahlreichen Missverständnissen.» (Heyne Film Lexikon) Der 29-jährige René Clair war anfänglich wenig begeistert von der Idee, das 1851 uraufge-

führte Boulevardstück für den Film umzusetzen. Er fand die Lösung, indem er die Handlung ins Geburtsjahr des Cinématographe, 1895, verpflanzte. Damit war er einer der Ersten, der den optischen Reiz der Belle Époque und ihrer Kostüme für eine ironische Verfremdung zu nutzen verstand. «Der Film, Clairs erster grosser Publikumserfolg, hat den Dialogwitz seiner Bühnenvorlage geschickt in optische Gags übersetzt. Den roten Faden der Handlung liefert weniger die Dramaturgie als vielmehr die Bewegung – eine ständige Verfolgungsjagd. (…) Clair gestaltet das mit dem Einfallsreichtum eines Choreografen und fand in dem allgemeinen Getümmel noch die Zeit, in den skurrilen Randfiguren Vertreter des Bürgertums zu ironisieren.» (Reclams Filmführer) 102 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, frz. Zw’titel // REGIE René Clair // DREHBUCH René Clair, nach der Komödie von Eugène Labiche, Marc Michel // KAMERA Maurice Desfassiaux, Nicolas Roudakoff // MIT Albert Préjean (Fadinard), Olga Tschechowa (Anaïs Beauperthuis), Jim Gérald (Beauperthuis), Paul Ollivier (Vésinet), Marisa Maïa (Hélène, die Braut), Yvonneck (Nonancourt), Pré fils (Bobin), Alex Allin (Félix), Alice Tissot (eine Cousine), Alexis Bondireff (ein Cousin), Henri Volbert (der Bürgermeister), Vital Geymond (Lt. Tavernier). DI, 31. JAN. | 18.15 UHR LIVE-BEGLEITUNG: MAUD NELISSEN, DOORN/NL

EL NEGRO QUE TENÍA EL ALMA BLANCA Spanien 1927 Eine junge «weisse» Tänzerin wird von einem erfolgreichen «schwarzen» Tanzstar zur Partnerin erkoren und zum Star gemacht. Er verliebt sich in sie, doch sie wird, obwohl sie ihm dankbar ist und ihn schätzt, von seiner schwarzen Haut abgestossen. Die Botschaft des Films ist anti-rassistisch: Der Wert eines Menschen hängt nicht von seiner Hautfarbe ab. Doch gerade seine gutgemeinte Haltung ist zeitbedingt und wirkt für heutige Begriffe schon wieder rassistisch. Der Vergleich mit Alan Croslands etwa gleichzeitig entstandenem The Jazz Singer ist jedenfalls aufschlussreich. (meg) «Was für ein seltsamer Film! (…) Einige werden darin eine politisch sehr unkorrekte Botschaft erkennen – aber tauchen wir ein in die zwanziger Jahre und erleben wir vorurteilslos diese einzigartige Liebesgeschichte. Und entdecken wir zum Schluss eine unvergessliche Traumszene, realisiert vom katalanischen Pionier Segundo de Chomón.» (cinema.arte.tv) «Im Jahr 1927 ruft Le danseur de jazz (El negro que tenía el alma blanca) nach dem Tonfilm, weil


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Stummfilmfestival 2017. der Tanz darin die Hauptattraktion bildet; aber der Film von Benito Perojo hat seinen französischen Titel nur zu Werbezwecken in Anlehnung an den Jazz Singer erhalten (…). Die unbestreitbarste Qualität des Schauspiels liegt in der Eleganz von Raymond de Sarka, der den unglückseligen Afrikaner mit einer Anmut und Nüchternheit verkörpert, die die Vergrämung und die Ohnmachtsanfälle seiner Liebsten unentschuldbar machen.» (Alain Masson, Positif, Sept. 2016)

103 Min / sw / DCP / Stummfilm, engl. Zw’titel // REGIE A. V. Bramble, Anthony Asquith (ungenannt) // DREHBUCH John Orton, Anthony Asquith (ungenannt), nach einer Story von ­Anthony Asquith // KAMERA Stanley Rodwell, Henry Harris // MIT Annette Benson (Mae Feather), Brian Aherne (Julian Gordon), Donald Calthrop (Andy Wilkes), Chili Bouchier ­(Winnie), Wally Patch (der Requisiteur), David Brooks (Turner), Ella Daincourt (Asphodel Smythe), Tubby Philips (Fatty). MI, 8. FEB. | 20.45 UHR LIVE-BEGLEITUNG: BRUNO SPOERRI, ZÜRICH, UND

88 Min / tinted / DCP / Stummfilm, frz. Zw’titel // REGIE B ­ enito

GÜNTER­A. BUCHWALD, FREIBURG I. BR

Perojo // DREHBUCH Alberto Perojo, nach einem Roman von Albert Insúa // KAMERA Georges Asselin, Segundo de Chomón (Special Effects) // MIT Raymond de Sarka (Pedro/ Peter Wald), Conchita Piquer (Emma), Andrews Engelmann (Rolovitch, Walds Diener), Marguerite de Morlay (Marquise de Arencibia), Joaquín Carrasco (Mucio Cortadell). SO, 5. FEB. | 20.45 UHR LIVE-BEGLEITUNG: ANDRÉ DESPONDS, ZÜRICH

SHOOTING STARS GB 1928 Eine witzige und in der (Selbst-)Darstellung der Filmindustrie erhellende Wiederentdeckung, die das British Film Institute 2015 restauriert hat. «Der Historiker Luke McKernan hat es elegant formuliert: ‹Bis zu Peeping Tom (1960), über dreissig Jahre später, wendete kein britischer Film mehr die eigene Kamera so bewusst und so effektvoll gegen sich selbst. Es ist der Film eines jungen Mannes, der erste Versuch von jemandem, der für den neuen kreativen Geist des britischen Films steht.› Anthony Asquith war dieser junge Mann, der zielstrebig die Spitze ansteuerte. Seine Originalgeschichte eines Dreiecksverhältnisses, angesiedelt in einem britischen Filmstudio, ist ein ironischer Kommentar auf die Oberflächlichkeit des Ruhms und eine Liebes­erklärung an das Filmemachen. Der Film zeigt jeden Aspekt des Filmbusiness, vom Aufnahmestudio bis zur Medienmaschinerie, und wird verzahnt mit zwei grossartigen kinematischen ‹Tricks› für die Anfangs- und Schlussszenen. (Obgleich als Regisseur der bewährte A.  V. Bramble ausgewiesen wurde,) war das Asquiths Projekt. Er hatte bei seinem Besuch in Hollywood von den Besten gelernt und Chaplin, Lubitsch und Clarence Brown bei der Arbeit beobachtet. Er hatte die neuesten Entwicklungen der Studiobeleuchtung und des Setdesigns studiert und sein Skript war hieb- und stichfest. Das Risiko wurde belohnt, der Film war ein grosser Erfolg und Asquiths Karriere war lanciert.» (Bryony Dixon, Katalog Il cinema ritrovato, Bologna 2016)

SO IST DAS LEBEN (Takový je život) ČSR/Deutschland 1930 «Das Schicksal einer Prager Waschfrau, die vergeblich versucht, den durch die Trunksucht des Mannes drohenden Zusammenbruch der Familie zu verhindern. Der in der Tschechoslowakei von Carl Junghans, dem ehemaligen Berliner Filmkritiker, inszenierte Film ist ein berühmtes Werk der ausgehenden Stummfilmzeit, das Zusammenhänge zwischen individuellem Verhalten und sozialer Situation einsehbar macht; präzise im Detail, meisterhaft in der Montage.» (Lexikon des int. Films) «Restaurierte Originalfassung von Carl Junghans’ Meisterwerk des realistischen Films, das an Originalschauplätzen in Prag gedreht wurde. (…) Ohne klassenkämpferisches Pathos beschreibt der Film in beeindruckenden Bildern und Szenen die Realitäten seiner Zeit.» (Programm Bonner Sommerkino 2016) «Hier ist das Ziel der Filmkunst erreicht, deren Sinn ja darin besteht, das Wort durch die Gebärde zu ersetzen und die epische Beschreibung in die bildliche Zustandsbeschreibung umzuformen. Junghans ist weder ein politischer Pamphletist noch ein Reporter. Er ist ein Dichter, kein anklägerischer, sondern ein gestaltender Dichter. Aber Dinge, die man gestaltet, klagen stärker an.» (Heinz Pohl, Vossische Zeitung, Berlin, 26.3.1930) So ist das Leben gehört zu jenen Filmen, die Rainer Werner Fassbinder für den ganzen Stab von Berlin Alexanderplatz zur «Pflichtlektüre» erklärt hatte. 75 Min / sw / DCP / Stummfilm, tschech. + engl. Zw’titel // DREHBUCH UND REGIE Carl Junghans // Carl Junghans // KAMERA László Schäffer // MIT Vera Baranowskaja (die Wäscherin), Theodor Pištěk (ihr Mann), Máňa Ženíšková (die Tochter), Wolfgang Zilzer (ihr Freund), Valeska Gert (die Kellnerin), Jindřich Plachta (der Schneider), Edith Lederer (seine Frau), Eman Fiala (der Pianist), Uli Tridenskaja (Nachbarin). Di, 10. JAN. | 18.15 UHR LIVE-BEGLEITUNG: ALEXANDER SCHIWOW, ZÜRICH


Stummfilmfestival 2017: Frühe Tonfilme.

THE JAZZ SINGER USA 1927 Auch wenn es vorher schon Versuche gab, den Schallplattenton mit der Filmvorführung zu synchronisieren, gilt The Jazz Singer gemeinhin als jener Titel, mit dem der gesprochene und gesungene Ton in die Filmgeschichte Einzug hielt und die Ablösung des Stummfilms begann. Es ist die Geschichte eines Vater-Sohn-Konflikts und Kultur-Clashs: Aus einer jüdischen Kantorsfamilie bricht der Sohn aus und macht als Sänger im Unterhaltungstheater Karriere. «The Jazz Singer mit dem bekannten VarietéStar Al Jolson war eigentlich ein Stummfilm mit einigen vertonten Einschüben. Diese hybride Form, in der zwei technologische Epochen auf­ einandertreffen, passt gut zu dem melodrama­ tischen Thema des Films. Ein Generationen­konflikt findet seinen Ausdruck in dem Aufeinanderprallen zweier musikalischer Traditionen, die sich gegenseitig ausschliessen: religiöse Lieder und profaner Jazz.» (Karel Dibbets) «Der kommerzielle Erfolg war hauptsächlich auf den Hauptdarsteller zurückzuführen, den beliebten weissen Bühnenschauspieler Al Jolson, der für seine sogenannten Blackface-‹NegerImitationen› berühmt war. (…) Jolsons BlackfaceFigur taucht in Schlüsselszenen der Filmhandlung auf, hat aber eher die Funktion eines Clowns im Zirkus als die einer Negerkarikatur im Sinn der traditionellen Minstrel.» (Jim Pines; beide Z ­ itate in: Geoffrey Nowell-Smith (Hg.): Geschichte des internationalen Films, Stuttgart/Weimar 1998)

von diesen Filmen beeindruckt: «Chang brachte mich auf die Idee, auf dieselbe Weise einen Film über Indianer zu drehen. Es war nur zu offensichtlich, dass die Indianer durch die Krankheiten des weissen Mannes so schnell wegstarben, dass wir keine Zeit zu verlieren hatten, wenn die Geschichte ihres endlosen Überlebenskampfs gegen das Verhungern jemals auf Film festgehalten werden sollte.» Der Film wurde stumm gedreht im Rahmen einer längeren Expedition des New Yorker Museum of Natural History in der Temagami Forest Reserve im Norden Ontarios. Als die Filmemacher zurückkehrten, hatte der Tonfilm seinen Siegeszug angetreten. Man stellte dem Film rasch noch eine gesprochene Einleitungssequenz voran und versah ihn mit einigen Geräuscheffekten, doch auch als teilweiser Tonfilm kam er zu spät und floppte. «Es ist schwer zu sagen, ob The Silent Enemy sein Ziel der ethnografischen Genauigkeit erfüllt, aber es ist einfach zu sehen, dass er sein cineastisches Ziel erreicht, ein schöner und aufregender Film zu sein. (…) Wir sollten es vermeiden, auf den Film als authentisches anthropologisches Dokument zu reagieren. Trotzdem sollten wir ihn als ausserordentlich beeindruckenden und aufregenden Film sehen. Die Filmemacher, die Besetzung und die Crew waren unmissverständlich in ihrer Absicht und ihrem Engagement, das Erbe edler untergehender Völker zu ehren und die damit verbundenen Herausforderungen zu meistern.» (Benjamin Schrom, Katalog San Francisco Silent Film Festival 2008) 83 Min / tinted / DCP / Stummfilm mit einer Tonsequenz und Musik, engl. + frz. Zw’titel // REGIE H. P. Carver // DREHBUCH

96 Min / sw / Digital HD / E/e // REGIE Alan Crosland // DREH-

Richard Carver, nach einer Story von W. Douglas Burden //

BUCH Alfred A. Cohn, Jack Jarmuth, nach einem Theater-

KAMERA Marcel Le Picard // MUSIK Siegfried Friedrich (2012)

stück von Samson Raphaelson // KAMERA Hal Mohr // MU-

// MIT Chief Yellow Robe (Chetoga, Stammesführer), Chief

SIK Louis Silvers // SCHNITT Harold McCord // MIT Al Jolson

Buffalo Child Long Lance (Baluk, mächtiger Jäger), Paul Be-

(Jakie Rabinowitz/Jack Robin), May McAvoy (Mary Dale), War-

noit Akawanush (Dagwan, Medizinmann), Molly Nelson Spot-

ner Oland (Cantor Rabinowitz), Eugenie Besserer (Sara Rabi-

ted Elk (Neewa, Chetogas Tochter), George McDougall

nowitz), Bobby Gordon (Jakie im Alter von dreizehn Jahren),

(Cheeka, Chetogas Sohn).

Otto Lederer (Moishe Yudelson), Cantor Josef Rosenblatt (er selber), Richard Tucker (Harry Lee), Nat Carr (Levi), Wil-

MO, 6. FEB. | 18.15 UHR

liam Demarest (Buster Billings), Anders Randolf (Dillings).

mit einer Einführung von Liz Sutter; zweite Vorstellung s. Programmübersicht.

THE SILENT ENEMY USA 1930 Wie Robert Flahertys Nanook of the North und ­Moana, wie Grass und Chang von Merian C. Cooper und Ernest B. Schoedsack gehört The Silent Enemy zu jenem Filmgenre, das man damals «ethnographic» nannte: pseudo-dokumentarische Inszenierungen an authentischen Schauplätzen mit (mehr oder weniger) echten Laiendarstellern aus «fremden» Völkern. H. P. Carver war

Filmauswahl und Kurztexte, wenn nicht anders vermerkt: Martin Girod (meg).

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Stummfilmfestival 2017: IOIC.

EL TREN FANTASMA Mexiko 1927 Bereits lange vor dem Goldenen Zeitalter des mexi­ kanischen Films (1936–57), in dem Mexiko nicht zuletzt aufgrund seiner anfänglichen Neutralität im Weltkriegsgeschehen und dann aufgrund der Unterstützung der Koalition gegen die Achsenmächte in die Weltliga der Kinonationen aufstieg, gab es eine florierende Filmindustrie. Neben der Auseinandersetzung mit der allgegenwärtigen Mexikanischen Revolution entstand ab 1917 eine rege Produktion von Spielfilmen, von denen sich nicht wenige kritisch mit der Figur des mexikanischen Banditen auseinandersetzten, wie der Hollywood-Film sie etabliert hatte. So zum Beispiel in El automóvil gris von Enrique Rosas aus dem Jahre 1919, eine der herausragenden Produktionen der Stummfilmzeit. Eine weitere illustre Persönlichkeit stellt der Regisseur Gabriel García Moreno dar. Auch in seinem Spielfilm El tren fantasma steht die Auseinandersetzung mit Banditen im Zentrum der Handlung. So wird der Ingenieur Adolfo Mariel damit beauftragt, eine Serie von Raubüberfällen und anderen mysteriösen Unfällen entlang der Eisenbahnlinie El Ferrocarril Mexicano zu untersuchen. Dabei verliebt er sich in Elena, die schöne Tochter des Stationsleiters. Um sie zu erobern, muss er sich aber erst einmal gegen den Banditenführer Paco Mendoza durchsetzen … (IOIC)

> El tren fantasma.

Gezeigt wird der Film mit einer neuen Komposition von Thomas Goralski für Viola, Kontrabass, Klavier und Chor. An der Uraufführung werden ­Filomena Felley (Viola), Stefanie Kunckler (Kon­ trabass), Thomas Goralski (Flügel) und die Singfrauen Männedorf unter der Leitung von Dela Hüttner den Geisterzug zum Klingen bringen. DO, 26. JAN. | 20.45 UHR LIVE-BEGLEITUNG MIT EINER KOMPOSITION VON THOMAS GORALSKI (URAUFFÜHRUNG) FILOMENA FELLEY (VIOLA) STEFANIE KUNCKLER (KONTRABASS) THOMAS GORALSKI (FLÜGEL) SINGFRAUEN MÄNNEDORF UNTER DER LEITUNG VON DELA HÜTTNER. 71 Min / DCP / Stummfilm, span. + engl. Zw’titel // DREHBUCH UND REGIE Gabriel García Moreno // KAMERA Manuel Carrillo // MIT Carlos Villatoro (Ingenieur Adolfo Mariel), Clara Ibáñez (Elena del Bosque), Manuel de los Ríos (Paco Mendoza/El Rubí), Vecino Orizaba (Tomás del Bosque), Rafael Araiza (Bocachula), Angelita Ibáñez (Carmela), Guillermo Pacheco (El chango), Sr. Carrera (Kassierer), Carlos Sánchez Alducín (Bandit), Manuel Oropeza (Bandit), Enrique Rivadeneyra (Bandit), Neto Rodríguez Pasquel (Bandit), Sr. Sánchez Tello (Bandit).

In Zusammenarbeit mit IOIC, Institut für incohärente ­Cinematographie, http://ioic.ch Mit freundlicher Unterstützung des Migros-Kulturprozents.


Stummfilmfestival 2017: Moderne Stummfilme. ­Furio Scarpelli, Ettore Scola, nach einer Bühneninszenierung

SILENT MOVIE USA 1976 «Die immer wieder misslingenden Versuche eines heruntergekommenen Regisseurs, ein halbes Jahrhundert nach Einführung des Tonfilms einen Stummfilm zu drehen. Eine Komödie, die Satire auf und zugleich Hommage an die Slapstick-Kunst Hollywoods ist. Ein unbeschwertes Vergnügen, das selbst als Stummfilm dargeboten wird, dessen einziger Satz ausgerechnet der Pantomime Marcel Marceau spricht.» (Lexikon des int. Films) «Eigentlich ist Silent Movie gar nicht stumm. Er wird von einem sehr belebten Soundtrack begleitet, voller Musik und übertriebener Geräusche (...). Das einzige fehlende Element ist der gesprochene Dialog. Die Zwischentitel, die oftmals einen vornehmen Ton anschlagen, als wollten sie uns vor der plumpen Realität des wirklichen Gesprächs verschonen, gehören zu den lustigsten Elementen des Films.» (Vincent Canby, The New York Times, 1.7.1976) 87 Min / Farbe / Digital HD / ohne Dialog // REGIE Mel Brooks // DREHBUCH Mel Brooks, Ron Clark, Rudy De Luca, Barry Levinson // KAMERA Paul Lohmann // MUSIK John Morris // SCHNITT Stanford C. Allen, John C. Howard // MIT Mel Brooks (Mel Funn), Marty Feldman (Marty Eggs), Dom DeLuise (Dom Bell), Harold Gould (Engulf), Sid Caesar (Studiochef), Ron Carey (Devour), Bernadette Peters (Vilma Kaplan).

des Théâtre du Campagnol und einer Idee von Jean-Claude Penchenat // KAMERA Ricardo Aronovich // MUSIK Vladimir Cosma // SCHNITT Raimondo Crociani // MIT Ensemble des Théâtre du Campagnol in jeweils mehreren Rollen.

SIDEWALK STORIES USA 1989 «Die Geschichte eines Strassenmalers, der ein Findelkind durchbringen muss und dabei ganz neue Fähigkeiten an sich entdeckt. Das alles wird erzählt als ‹Film ohne Worte›, nur von einem Musiksoundtrack begleitet. Ein humorvoller und warmer Film in der Tradition fast vergessener Stummfilmgrotesken und Melodramen.» (Lexikon des int. Films) «Der Film nimmt die Tradition eines Buster Keaton auf, eines Charlie Chaplin, das Enga­ gement der neorealistischen Ladri di biciclette, das Selbstverständnis der ersten Filme von Spike Lee, und dennoch ist er unbefrachtet von den Ansprüchen der Filmgeschichte und sozialer ­ ­Repräsentanz. (…) An die Stelle der Dialoge ist die Musik getreten. Sie spielt ihre Rolle, die ­Darsteller begleitend, kommentierend und auch ironisierend, so vorzüglich, dass Körpersprache, Pantomimik und Gestik in diesem dialoglosen Schwarzweiss-Film viel mehr mitteilen können, als das Wort es vermöchte.» (Dietrich Kuhlbrodt, epd Film, März 1990) 97 Min / sw / DCP / ohne Dialog // DREHBUCH UND REGIE

LE BAL Italien/Frankreich/Algerien 1983 «Le bal, so bemerkt Ettore Scola zu seinem Film, beschreibe drei Themenkreise: die Zeit, die Einsamkeit und die Geschichte. Ein nicht geringer Anspruch, wenn man bedenkt, dass der Film völlig auf das gesprochene Wort verzichtet und stattdessen einzig auf die Ausdruckskraft von Musik und Tanz setzt. (…) Schauplatz ist ein Pariser Tanzcafé, in das (...) nacheinander neun Frauen eintreten: kokette, verklemmte, affektierte oder verschüchterte Damen, die sich, nachdem sie an der voyeurhaft platzierten Kamera vorbeidefiliert sind, einzeln an den Tischen um die Tanzfläche verteilen. Ihnen folgt eine Männerriege von Machos, schmalbrüstigen Intellektuellen. (…) Je näher man sich zu kommen sucht, umso mehr wird sich jeder seiner Isoliertheit bewusst. Am Ende verlassen alle das Café so, wie sie gekommen sind: allein.» (Raimund Gerz, epd Film, März 1984) 110 Min / Farbe / Digital HD / ohne Dialog // REGIE Ettore Scola // DREHBUCH Ruggero Maccari, Jean-Claude Penchenat,

Charles Lane // KAMERA Bill Dill // MUSIK Marc Marder // SCHNITT Anne Stein, Charles Lane // MIT Charles Lane (Künstler), Nicole Alysia (Kind), Sandye Wilson (junge Frau), Trula Hoosier (Mutter), Darnell Williams (Vater).

JUHA Finnland 1999 «Wie zwei unschuldige Kinder im ländlichen Paradies lieben sich der ältere, gehbehinderte Juha und die junge Marja. Bescheiden und zufrieden leben sie in ihrer bäuerlichen Welt. Eines Tages taucht Shemeikka mit seinem Sportwagen auf, der Marja verführt (...). Sie verlässt Juha und geht mit Shemeikka in die Stadt. Dort erweist dieser sich als Zuhälter, der Marja zur Prostitu­tion zwingen will. (…) Schliesslich macht sich Juha nach längerer Zeit der Einsamkeit auf, um sich an Shemeikka zu rächen. (…) Als Stummfilm in Schwarzweiss hat Kaurismäki dieses einfache Melodram inszeniert. Voller Anspielungen und Zitate aus der Film­ geschichte wird auf die Kraft der Bilder vertraut. Unterstützt durch die Musik sucht der Film sein

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> Silent Movie.

> Juha.

> Sidewalk Stories.

> Le bal.

> Blancanieves.


Stummfilmfestival 2017: Moderne Stummfilme. eigenes Geheimnis zu wahren: das Sehen des ­Bekannten auf fremde Weise. (…) Juha unterbricht das gewohnte Hörbild und konzentriert die Wahrnehmung allein auf die Sprache der Bilder.» (epd Film, Mai 1999) 85 Min / sw / DCP / ohne Dialog // REGIE Aki Kaurismäki // DREHBUCH Aki Kaurismäki, nach dem Roman von Juhani Aho // KAMERA Timo Salminen // MUSIK Anssi Tikanmäki // SCHNITT Aki Kaurismäki // MIT Sakari Kuosmanen (Juha), Kati Outinen (Marja), André Wilms (Shemeikka), Elina Salo (seine Schwester), Outi Mäenpää (Shemeikkas Frau).

Verspieltheit hin zur expressiv verdüsterten Welt Fritz Langs oder Friedrich Wilhelm Murnaus ­gespannt ist, wie stimmig und unangestrengt alle Film- und Musikzitate diesen Stummfilm aus dem Jahr 2011 umarmen anstatt erdrücken: Es ist ein regressives, niemals aber dümmliches ­Kinoglück. Der stumme Film ist hier nicht einfach ein anachronistischer Gag, sondern wird wieder zu einer irritierend gegenwärtigen Ausdrucksform, in der beredter und ergreifender erzählt wird als im Gros der Tonfilme unserer Zeit.» (Cosima Lutz, Die Welt, 25.1.2012)

HUKKLE

114 Min / sw / DCP / ohne Dialog // DREHBUCH UND REGIE

Ungarn 2002

Michel Hazanavicius // KAMERA Guillaume Schiffman // MUSIK Ludovic Bource // SCHNITT Anne-Sophie Bion, Michel

«Hukkle (was so viel wie Schluckauf bedeutet) ist ein Film ohne Dialog, der dokumentarische und fiktionale Aufnahmen nahtlos zu einer lustig-verstörenden ländlichen Parabel kombiniert (…). Ein älterer Mann mit offenbar unheilbarem Schluckauf verlässt sein Häuschen in einem idyllischen Dorf, um am Strassenrand zu sitzen und das vorbeiziehende Leben zu beobachten. ‹Leben› bedeutet hier nicht nur Miniaturen anderer Dorf­ bewohner und ihrer Angelegenheiten, sondern Nahaufnahmen der lokalen Fauna und Flora (…), orchestriert als – so Pálfi – ‹filmische GeräuschSymphonie›.» (Time Out Film Guide) «Die ersten Einstellungen kündigen Hukkle als Film an, der ungeachtet der Konventionen ­seinem eigenen Weg zum eigenen Ziel folgt. (…) Der Film ist beinahe komplett ohne Dialog ­erzählt, wimmelt aber von Geräuschen; wir verbringen beobachtende, beschauliche Stunden in einem ungarischen Dorf, wo nicht viel zu passieren scheint – wäre da nicht ein verdächtiger Todesfall.» (Roger Ebert, rogerebert.com) 75 Min / Farbe / 35 mm / ohne Dialog // DREHBUCH UND ­REGIE György Pálfi // KAMERA Gergely Pohárnok // MUSIK Balázs Barna, Samu Gryllus // SCHNITT Gábor Marinkás // MIT Ferenc Bandi (alter Mann), Józsefné Rácz (Bába), József Forkas (Rendőr), Ferenc Nagy (Méhész), Mihályné Király (Grossmutter), Mihály Király (Grossvater).

THE ARTIST Frankreich/USA/Belgien 2011

Hazanavicius // MIT Jean Dujardin (George Valentin), Bérénice Bejo (Peppy Miller), John Goodman (Al Zimmer), James Cromwell (Clifton), Penelope Ann Miller (Doris), Missi Pyle (Constance), Beth Grant (Peppys Dienstmädchen).

BLANCANIEVES Spanien/Belgien/Frankreich 2012 «Ein moderner Stummfilm, der sich an die Erzählformen der Frühzeit des Films hält, zugleich jedoch auch mit modernen Schnittmontagen und grandioser musikalischer Untermalung arbeitet. Im Spanien der 1920er Jahre ist Antonio Villalta der grösste lebende Matador. Ein Unfall fesselt ihn an den Rollstuhl und seine Frau stirbt bei der Geburt der Tochter Carmen. (...) Carmen verbringt ihre ersten Jahre bei ihrer Grossmutter, da der Vater ihren Anblick nicht ertragen kann. Als die Grossmutter stirbt, kommt Carmen ins Haus ihres Vaters, wo ihre Stiefmutter sie spüren lässt, dass sie unerwünscht ist.» (Peter Osteried, kinozeit.de) «Blancanieves schöpft die Stärken des Stumm­films aus, wie etwa seine Leichtigkeit im Umgang mit dem Fantastischen. Das ist in mehrfacher Hinsicht so aufregend wie die grössten tradi­tionellen Stummfilm-Meisterwerke von Dreyer, Pabst oder Murnau.» (Roger Ebert, roger­ebert.com) 105 Min / sw / DCP / ohne Dialog // REGIE Pablo Berger // DREHBUCH Pablo Berger, nach dem Märchen «Schneewittchen» der Brüder Grimm // KAMERA Kiko de la Rica // M ­ USIK Alfonso de Vilallonga // SCHNITT Fernando Franco // MIT Ma-

«Auf unwiderstehliche Weise erzählt Hazanavi­ cius die Geschichte des fiktiven Stummfilmstars George Valentin, der den Anschluss an die neue Zeit verliert, während ein neuer Star am neuen Tonfilmhimmel erscheint. (...) Wie geschmeidig Bildeinfälle, Schauspielstil und die überragende Musik von Ludovic Bource ineinandergreifen, wie dabei der Bogen von der luftigsten, illustrativen

carena García (Carmen, Blancanieves), Daniel Giménez Cacho (Antonio Villalta), Maribel Verdú (Encarna), Sofía Oria (Carmencita), Sergio Dorado (Rafita), Emilio Gavira (­ Jesusín), Ramón Barea (Don Martín), Alberto Martínez ­(Josefa), Jinson Añazco (Juanín). Allfällige Zwischentitel der modernen Filme sind deutsch untertitelt.

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23 China Independent 2017

Unsichtbar und sehenswert Bereits 2013 haben wir unter dem Titel «China Independent» unab­ hängiges Filmschaffen aus China präsentiert. Aus Anlass der Ausstellung «Hinter jedem Berg steht noch ein Berg» im Helmhaus Zürich ­nehmen wir den Faden wieder auf und zeigen neueste Werke von chinesischen Filmemacherinnen und -machern, die unbeirrt von den Vorschriften der Partei ihre Filme drehen: ein mit einfachen Mitteln gemachtes, rohes, freches und zum Teil mit hohem künstlerischem Anspruch realisiertes «Kino von unten». Im Zuge der gewalttätigen Niederschlagung der Tienanmen-Bewegung von 1989 entstand bei vielen Kunstschaffenden der Wunsch, ihre Geschichte(n) selbst zu erzählen und nicht länger der staatlichen Propaganda zu überlassen. Damit nahm die «neue Dokumentarfilmbewegung» ihren Anfang. Spielfilme wurden und werden weniger oft realisiert. So umfasst die diesjährige Auswahl der Werke nur ein fiktionales Werk: die fröhlich freche Melo-Rom-Com-­ Satire Female Directors der jungen Pekinger Filmemacherin Yang Mingming. Wenn sie erzählt, wie sie zum Filmen gekommen ist, beschreibt sie damit auch ihren direkten, frischen Stil: «Mit 16 Jahren bekam ich eine DV-Kamera und begriff sofort, dass dieses Spielzeug interessanter ist als hübsche Männer.» Waren es anfangs die billigen und einfach zu handhabenden, neuen digitalen Produktionsmittel – allen voran die Mini-DV-Kamera, ein Touristenvideoformat, das den rohen, direkten Look und Stil ausmachte –, so wird heute meist mit professionellen Kameras, immer aber in HD-Qualität gedreht. Der kleine, selbstfinanzierte Film weicht zunehmend Koproduktionen mit ausländischer Unterstützung. Nicht wenige Protagonisten der Indie-Filmszene verlassen ihre Heimat und arbeiten vom Ausland aus. Filmfestivals treiben diese Entwicklung voran. Denn hier finden diese Filme ihr Publikum, erfahren Zuspruch der Kritik und gewinnen Preise. In China dagegen ist und bleibt der Independentfilm unsichtbar. Unberechenbare Zensur «Independent» bezeichnet in China nicht nur kleine, ausserhalb der grossen Studios realisierte Produktionen, sondern gänzlich unabhängige Werke, die ohne jegliche staatliche Einmischung entstanden sind. In China müssen alle >

Ein Willkommen (huan ying) wird bedrohlich in Welcome

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Fichen auf Chinesisch: The Dossier


24 Filmproduktionen bereits in den verschiedenen Entwicklungsphasen jeweils den Behörden vorgelegt und bewilligt werden. Auf diesen sogenannten Drachenstempel verzichten aber die meisten Indie-Filmer bewusst, da eine Bewilligung immer mit inhaltlichen Auflagen einhergeht. Doch die chinesische Zensur ist unberechenbar. Oft bleiben Gründe für eine Ablehnung im Dunkeln, selbst bis zur Endfassung bewilligte Filme können ohne Vorwarnung verboten werden. Nicht bewilligtes Filmemachen an sich ist aber nicht verboten. Doch ohne den Drachenstempel des Filmbüros bleibt der Produktion der Zugang zu jeglicher Auswertung im Inland verwehrt: keine offiziellen Kinovorstellungen, kein DVD-Release, kein Fernsehen. Kurz: Der China Independent Film findet offiziell nur ausserhalb Chinas statt. Näher als an Festivals auf Taiwan oder in Hongkong kommen die unabhängigen Filme nicht an ihre Heimat heran. Seit rund zehn Jahren versucht sich die Szene selbst zu helfen. Verschiedene Festivals wurden gegründet, um die Filme einem interessierten Publikum zu präsentieren und sich auszutauschen. Diese Independent-Plattformen hatten von Anfang an mit Schikanen der Behörden zu kämpfen, schafften es jedoch immer wieder, auf die eine oder andere Art ihre Programme durchzuführen. Aber es wurde zunehmend schwieriger. Das China Independent Film Festival in Nanjing (CIFF) und das zweijährliche Yunfest in Yunnan gibt es faktisch nicht mehr. Die ersten, um 2006 gegründeten Festivals, DOChina und Beijing Independent Film Festival (BIFF), wurden 2011 zusammengelegt, als im Zuge der Verhaftung Ai Weiweis die behördlichen Restriktionen zunahmen. 2014 musste das BIFF seine Tore endgültig schlies­sen, und auch die Zukunft des renommierten Li Xianting Film Fund, der das Festival ausrichtete, ist ungewiss. Von der BIFF-Schliessung legt die Doku-Kompilation A Filmless Festival eindrücklich Zeugnis ab. Im Anschluss an die Filmvorführung spricht Li Zhenhua, der Ko-Kurator der Helmhaus-Ausstellung, mit Zhu Rikun, dem ehemaligen Direktor des BIFF. China zu Gast Zhu Rikun war bereits 2013 bei uns zu Gast. Unterdessen hat auch er sich aufs Filmemachen verlegt. Im Filmpodium sind zwei seiner Werke zu ­sehen: The Dossier, ein Porträt der tibetischen Schriftstellerin und Bloggerin Tsering Woeser, und Welcome, ein Unmaking-of und im wahrsten Sinn des Wortes schwarzer Film über das Auslöschen eines Films noch während der Dreharbeiten. Ganz besonders freuen wir uns, dass der Künstler Ju Anqi nach Zürich kommt. Wir zeigen seinen Erstling von 2000, Starker Wind in Beijing, zusammen mit seinem neusten Kurzfilm Big Character. Ausserdem ist sein dokumentarisches Roadmovie Poet on a Business Trip zu sehen, das zurzeit erfolgreich an diversen Festivals läuft: Es erzählt von der Reise eines Dichters durchs


25 Land der Uiguren, witzig, krud und geprägt von einer gewissen Nostal­gie. Denn gedreht hat Ju den Film bereits 2002, fertiggestellt aber erst jetzt. Warum, wird er uns selbst erzählen. Wir setzen Sie ins Bild Insgesamt haben wir uns bemüht, die Vielfalt des unabhängigen chinesischen Filmschaffens zu repräsentieren. Wir zeigen Werke von etablierten Filmemachern und Newcomerinnen, lange und kurze, einfache und künstlerisch gestaltete, herausfordernde und leichter zugängliche Filme. Gleich drei Filme von Wang Bing, dem zurzeit wohl bekanntesten chinesischen Dokumentarfilmer, sind erstmals in Zürich zu sehen. Three Sisters und ’Til Madness Do Us Part haben an internationalen Festival zahlreiche Preise gewonnen; sein neuster Film Ta’ang feierte 2016 an der Berlinale Premiere. Diesem arrivierten Meister gegenüber steht die junge Filmemacherin Zhu Shengze, die erst zwei Filme realisiert hat, aber ebenfalls grosse Erfolge feiert. Out of Focus und Another Year sind deutlich miteinander verknüpfte Werke. Letzterer gewann u. a. an den Visions du Réel in Nyon den Hauptpreis. Zu guter Letzt sei noch auf den «Exoten» in dieser Reihe hingewiesen. Der US-Amerikaner J. P. Sniadecki dreht für das Harvard Sensory Ethnography Lab. Er zeichnet verantwortlich für die künstlerische Intervention Yumen, die Begehung einer ehemals reichen Geisterstadt, und The Iron Ministry, eine einzige, nie endende Zugfahrt durch China. Es ist keine Fahrt durch den Raum, sondern durch Zeiten; wir begegnen einem bunten Gemisch von Zugbegleitern und Passagieren, darunter der Schriftstellerin Tsering Woeser, die auf dem Weg nach Tibet über den Zusammenhang von Eisenbahnlinien und Macht nachdenkt. Damit Sie sich von den Filmschaffenden und ihren Werken ein Bild machen können, haben wir die Fotogalerie auf der Filmpodium-Website wo immer möglich um Trailer und Interviews ergänzt. Zudem finden sich in den Filmtexten Links zu weiterführenden Informationen. Dieses «China-Independent-Kompendium» soll bei Bedarf laufend ergänzt werden. Primo Mazzoni

Die Filmreihe ist in Zusammenarbeit mit dem Helmhaus Zürich entstanden und verbindet sich thematisch mit der Ausstellung «Hinter jedem Berg steht noch ein Berg – Eine Be­ gegnung von Gegenwartskunst aus China und der Schweiz» (bis 5. Februar 2017). Die Künstler Hu Jieming und Tian Xiaolei etwa animieren im Helmhaus filmisch-installativ Geschichte oder entwerfen Zukunft. Weitere Informationen zur Ausstellung finden Sie unter www.helmhaus.org.


> Another Year.

> Dragon Boat.

> Poet on a Business Trip.

> Female Directors.

> The Iron Ministry.

> Per Song.


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China Independent 2017. Die Filme sind alphabetisch geordnet.

A FILMLESS FESTIVAL

(Meiyou dianying de dianyingjie) China 2015 In Songzhuang, einem Vorort von Beijing, dem grössten Künstlerdorf Chinas, in den Räumen des Li Xianting Film Fund. Einen Tag, bevor das 11. Beijing Independent Film Festival 2014 seine Tore öffnet, verbieten die Behörden die Durchführung. Die Polizei konfisziert über 1000 DVDs aus der Sammlung des Film Fund und beschlagnahmt alle Computer. Um sicherzugehen, dass die Anordnungen eingehalten werden, drehen die ­ Behörden das Wasser und den Strom ab. Was folgt, sind Protestkundgebungen und Diskussionen über die Situation der Künstler in China. Die Aufnahmen dieser Dokumentation stammen von Festivalbesuchern, Künstlern, Mitarbeitern und Journalisten. Produziert von einem Kollektiv, gesammelt und editiert von Wang Wo. (pm) WANG Wo, geboren 1967 in Beijing. Der Künstler und Experimentalfilmer gehört zur Huangniutian-Film-Gruppe, die in ihrem Manifest von 2007 «jegliche Zensur in unseren Filmen» ablehnt. Zhu Rikun (mit The Dossier und Welcome in der Reihe vertreten) ist ebenfalls Mitglied dieser Gruppe. 80 Min / Farbe / Digital HD / Chin/e // DREHBUCH, REGIE UND SCHNITT Wang Wo // KAMERA Kollektiv.

ANOTHER YEAR (You yi nian) China 2016 Für ihren zweiten Film wählt Zhu Shengze dieselbe Familie wie in Out of Focus (siehe S. 29) zu ihren Protagonisten und führt so gewissermassen ihr Porträt fort. Trotzdem ist Another Year ein ganz anderer Film geworden. «Dreizehn Abendessen einer chinesischen Wanderarbeiterfamilie im Zeitraum von vierzehn Monaten. Der Film zeigt eine Reihe von zufällig gewählten Ereignissen. Freude, Frustration und den Kampf ums Überleben. Die Mahlzeiten spielen sich in Echtzeit in dreizehn statischen, langen Aufnahmen ab. Jede Einstellung fängt mit lebhaften Details die wahren Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern ein. Mit den Jahres­ zeiten ändern sich auch die Umstände. (...) Mit der Untersuchung des Lebens von Wanderarbeitern, die ihre ländliche Heimat verlassen haben, um in der Stadt ein besseres Leben zu finden, lässt der Film eine eindringliche und bewegende Meditation über den chinesischen Wirtschaftsboom und die

massive Verstädterung des Landes entstehen.» (Giona A. Nazzaro, Visions du Réel 2016) ZHU Shengze, geboren 1987 in China. Ausbildung in Wuhan und den USA zur Fotografin. Sie lebt und arbeitet in Chicago (USA). Sie und ihr Partner Yang Zhengfan kümmern sich gegenseitig um die Produktion und führen jeweils die Kamera bei den Filmprojekten des andern. Out of Focus und Another Year sind Zhus erster und zweiter Langfilm. Mehr: burnthefilm.org 181 Min / Farbe / DCP / Chin/e // DREHBUCH, REGIE UND SCHNITT Zhu Shengze // KAMERA Zhengfan Yang.

BIG CHARACTER China 2015 «Mit Hilfe von Google Maps kann man aus zehn Meilen Höhe auf ein Niemandsland im östlichen Xinjiang schauen und dreissig riesige chinesische Schriftzeichen und ein Ausrufezeichen sehen, die sich durch die öde Wüste Gobi winden. Jedes Zeichen hat die Grösse eines Fussballfeldes und zusammen bilden sie Slogans aus der Kulturrevolution, gebaut aus Schotter. An dieser Stelle wurde 1968 ein geheimer Militärflughafen gebaut, und diese riesigen Zeichen dienten als Navigationsmarkierungen. Die Kamera geht ihren Weg durch die Zeichen, und dort in der utopischen Halluzination der Steinhaufen erscheint die Flutwelle der Revolution, die im Jahr 1968 über die Welt fegte. Einige Wellen fingen gerade an, während andere ausgelöscht wurden ...» (Ju Anqi, JuAnqi.com) Big Character wird zusammen mit Starker Wind in Beijing gezeigt (siehe S. 31). Ebenfalls zeigen wir Ju Anqis fünften Langfilm Poet on a Business Trip. Mehr über Ju Anqi lesen Sie in der Veranstaltungs-Box auf S. 29 und auf en.juanqi.com. 17 Min / Farbe / Digital HD / OV/e // DREHBUCH UND REGIE Ju Anqi // KAMERA Shi Xiaoshi, Pan Junyang, Zhao Wei // ­MUSIK Cui Yao // SCHNITT Wang Kang.

CHINA CONCERTO China/USA 2012 Ein filmisches Essay über Bilder, Repräsentationen und Darstellungen der zeitgenössischen Spektakel Chinas. Gedreht in Chongqing in den Jahren 2010 und 2011, auf dem Höhepunkt der sogenannten Roten Kampagne des damaligen Handelsministers Bo Xilai, der wenig später im grössten politischen Skandal seit 1989 seine Karriere beenden sollte. Wang Bo dekonstruiert


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China Independent 2017. Staatspropaganda, indem er eine (fiktionale) Reisende, vermutlich aus dem Westen (sie berichtet auf Englisch) in direkter Anlehnung an Chris Markers Sans Soleil in Briefform ihre Beobachtungen aufschreiben lässt. (pm) China Concerto wird zusammen mit Female Directors gezeigt. WANG Bo, geboren 1982 in Chongqing. Er ist Künstler und Filmemacher. Wang lebt und arbeitet in New York. Mehr: bo-wang.net/CC.html 50 Min / Farbe / Digital HD / E/Chin/chin/e // DREHBUCH, REGIE UND SCHNITT Wang Bo // KAMERA Wang Bo, Zhang Simin.

DRAGON BOAT (Longchuan) China 2010 «Gedreht über einen Zeitraum von zehn Jahren, erzählt Dragon Boat die Geschichte von Lianxi, einem ehemals traditionellen Bauern- und Fischerdorf auf einer Insel im Pearl-River-Delta. Das jährliche Drachenboot-Rennen war einst ein wichtiges Ereignis für die Dorfbewohner, aber wegen des Baus des neuen Campus der Guang­ zhou-Universität im Jahr 2003 wurden sie gezwungen umzusiedeln. Heute ist die Insel eine Mini-Stadt, und Lianxi wurde in ein VolkskulturResort verwandelt. Die umgesiedelten Dorfbewohner kehren jedes Jahr zurück, um ihre Tradition des Drachenboot-Rennens fortzusetzen.» (Yunfest, 2011) «Mit Dragon Boat hat Cao Dan ein hochwirksames Mittel gefunden, um das Schicksal alter Traditionen angesichts der unaufhaltsamen Modernisierung Chinas zu untersuchen, zudem ist es eine sehr persönliche Geschichte, die über den menschlichen Preis dieser Entwicklung nachdenkt. (...) Als Dokumentarfilm bleibt Dragon Boat stets zugänglich und offen statt eindeutig politisch (...) und ergeht sich nie in offensichtlichem und allzu simplem Schimpfen über die Übeltaten der Regierung. (James Mudge, BeyondHollywood.com, 8.6.2012) CAO Dan, geboren 1972 in Guangzhou, wo sie auch Kunst studierte. Seit 1998 lebt und arbeitet sie abwechselnd in China und Frankreich als Filmemacherin, Designerin und Malerin. Ausserdem ist sie Executive Publisher beim chinesisch-englischen Kunstmagazin «Leap» und der chinesischen Ausgabe des «Art Newspaper». Ihre jüngere Schwester ist die bekannte Künstlerin Cao Fei. 85 Min / Farbe / Digital SD / Chin/chin/e // DREHBUCH, ­REGIE, KAMERA UND SCHNITT Cao Dan.

THE DOSSIER (Dang an) China 2014 «Dieser Film illustriert die Wichtigkeit der tibetanischen Schriftstellerin Tsering Woeser (...). Sie ist Autorin und Bloggerin, die unter anderem die Selbstverbrennungen von Tibetern aufzeichnet. (...) Der Hauptstrang von The Dossier ist die schrittweise Analyse von Tserings Fiche, die die chinesischen Behörden über sie angelegt haben. Sie beginnt mit Tserings Einschulung und führt zu ihrer Entlassung, ihrer Einstufung als ‹politischer Problemfall› durch den Staat und ihrem Hausarrest. Zhu Rikun teilt seinen Film in zwei Hälften. Im ersten Teil sehen wir Tsering Woeser, wie sie vor einem dunklen Hintergrund das schwerfällige offizielle Dossier ungekürzt laut vorliest. Dazwischen schneidet Zhu ein Interview mit der Autorin. (...) Der zweite Teil ‹bringt die Sache ins Rollen›: Zhu reist zusammen mit Tsering und ihrem Mann Wang Lixiong nach Tibet, verfolgt von einer Kolonne von Sicherheitsbeamten der Regierung. Dieser Wechsel von Drinnen nach Draussen ist der wohl gewagteste formale Aspekt – uns Zuschauer für eine Ewigkeit im selben Raum mit ­Tsering einzusperren ist eine Metapher für ihren Hausarrest. Diese Gefangenschaft endet abrupt, die Freiheit, die die plötzlich aufgehende Aussenwelt vermittelt, sagt mehr als Worte.» (Mark Peranson, Int. Filmfestival Locarno, 2014) ZHU Rikun, geboren 1976 in der Provinz ­Guangdong. Nach einem Wirtschaftsstudium verlegt sich Zhu auf Produktion und Verleih von chinesischen Independentfilmen (Fanhall Studio). Er gründet das DOChina Film Festival, das 2006 mit dem Beijing Independent Film Festival zusammengelegt wird und dessen künstlerischer Leiter er bis 2011 ist. Seit 2013 ist er als Filmemacher tätig. The Dossier ist sein erster Langfilm, Welcome (ebenfalls im Programm) sein dritter und bisher neuster Film. 128 Min / Farbe / DCP / Chin/Tibet/e // DREHBUCH UND ­REGIE Zhu Rikun // KAMERA Zhu Rikun, Wang Wo // SCHNITT Xu Xin // MIT Tsering Woeser, Wang Lixiong.

FEMALE DIRECTORS (Nü daoyan) China 2012 «Im Zentrum stehen zwei wunderbare junge Frauen. Kunstschulabgängerinnen mit einem exquisit profanen Wortschatz und überragendem Selbstvertrauen. Sie reden über Sex, Kino und Macht, während sie gleichzeitig versuchen, zusammen ihren ersten Film zu realisieren, indem sie sich die gemeinsame Kamera gegenseitig zu-


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China Independent 2017. werfen. Beide scheinen ein Auge auf denselben Typen geworfen zu haben, den sie vielsagend (?) Mr. Short nennen. Obwohl wir ihn nie zu sehen bekommen, sorgt die Ménage-à-trois für hervorragende Dialoge, erhöhte Emotionen und wachsende Spannungen in der Freundschaft und der Karriere der beiden Frauen. Yang Mingmings schnell und hervorragend geschnittenes Filmdebüt ist urkomisch, verspielt und bewegend. Ist das Dokumentation oder Fiktion oder gar etwas Neues, das die Gesetze beider Arten fröhlich über Bord wirft?» (Tromsø Int. Film Festival, 2016) Female Directors wird zusammen mit China Concerto gezeigt. YANG Mingming, geboren 1987 in Beijing, wo sie eine Ausbildung in Theaterregie absolvierte und heute als Filmemacherin arbeitet. 43 Min / Farbe / Digital HD / Chin/e // DREHBUCH, REGIE UND SCHNITT Yang Mingming // KAMERA Yang Mingming, Guo Yue // MIT Yang Mingming (Ah Ming), Guo Yue (Yueyue).

THE IRON MINISTRY

«Sniadecki, geschult in der Dokumentarfilmklasse des Harvard Sensory Ethnography Lab, hat lange in China gelebt, das Land kreuz und quer mit der Bahn bereist und die Ernte dieser ethnografischen Streifzüge zu einem vielschichtigen und abwechslungsreichen Film verdichtet. Der ganze Kosmos dieses noch immer geheimnisvollen und manchmal unverständlichen Teils der Welt entfaltet sich hier am Beispiel aller nur vorstellbaren Ausprägungen von Menschen, ihren Mühen und Geschichten, ihren Hoffnungen und Erwartungen, dazwischen die schweren Gepäckstücke, kleine Kinder, strenge Bahnbeamte und herumfliegende Hühner. Und draussen das riesige, weite, fremde Land.» (Viennale 2014) J. P. Sniadecki, geboren 1979 in Michigan, USA. Er hat bis heute über eine Dekade lang Filme in und über China realisiert. Das Filmpodium zeigte 2013 in «China Independent» seinen People’s Park (Ko-Regie: Libbie D. Cohn). Yumen (ebenfalls im Programm) und The Iron Ministry sind die beiden darauffolgenden Filme. 83 Min / Farbe / DCP / Chin/e // DREHBUCH, REGIE, KAMERA UND SCHNITT J. P. Sniadecki // SOUNDDESIGN Ernst Karel.

China/USA 2014 «The Iron Ministry, der während drei Jahren unterwegs in Chinas Eisenbahnen gefilmt wurde, zeichnet das gewaltige Innere und dichte Gewebe eines Landes in Bewegung – Fleisch und Metall, Licht und Dunkel, Sprache und Klang. Dutzende Zugfahrten fügen sich zu einer einzigartigen filmischen Reise und erzählen von der Angst und dem Nervenkitzel rund um zufällige Begegnungen und skizzieren das unbehagliche Miteinander von Mensch und Maschine im Kontext eines der bald grössten Eisenbahnnetze der Welt.» (Int. Filmfestival Locarno, 2014)

OUT OF FOCUS (Xu jiao) China 2014 Die ausgebildete Fotografin Zhu Shengze hat mit Out of Focus ihren ersten langen Dokumentarfilm realisiert. Ausgangspunkt war ein Foto-Workshop, den sie mit Kindern von chinesischen Wanderarbeitern durchgeführt hatte. Sie kommen ursprünglich vom Land und leben jetzt mit ihren Eltern in den urbanen Zentren Chinas, auf der ­Suche nach Arbeit und mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Aus dem anfänglichen Doku-

ZU GAST: JU ANQI

DIV. DATEN IM JANUAR

JU Anqi (*1975) stammt aus Urumqi, einer Stadt in der Provinz Xinjiang. Er absolvierte die Regieklasse an der Beijing Film Academy. 2000 realisierte er mit Starker Wind in Beijing (There’s a Strong Wind in Beijing) seinen ersten Dokumentarfilm und gründete u. a. zusammen mit Li Zhenhua die Trench Film Group. Ju gilt als einer der bekanntesten Filmemacher und Multi-Media-Künstler der «Neuen Generation» Chinas. Seine Experimentalfilme wurden u. a. im Centre Pompidou Paris und MoMA New York ausgestellt. Wir zeigen Starker Wind in Beijing im Doppelprogramm mit Big Character (2016). Ebenfalls zu sehen ist sein wunderbares dokumentarisches Roadmovie Poet on a Business Trip, das 2015 am Int. Film Festival Rotterdam Premiere feierte. Ju Anqi wird bei einigen Vorstellungen persönlich anwesend sein. Die Daten erfahren Sie auf unserer Website.


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China Independent 2017. mentieren des Workshops heraus fokussiert der Film auf die 13-jährige Qin und entwickelt sich zu einem rauen, verstörenden Porträt einer Heranwachsenden und ihrer Drei-Generationen-Familie, die unter prekärsten Umständen ihr Leben zu meistern versuchen. Wir erleben ihren Alltag ­zumeist in der städtischen Familienwohnung, einem Raum, dem einzigen Raum, dem die Kamera immer wieder neue Blickwinkel abzutrotzen vermag. (pm) Zhu Shengzes zweiter Film, Another Year, wird ebenfalls in diesem Programm gezeigt. 88 Min / Farbe / Digital HD / Chin/e // DREHBUCH UND REGIE Zhu Shengze // KAMERA Zhengfan Yang, Zhu Shengze // SCHNITT Zhu Shengze, Zhengfan Yang.

PER SONG (Dungwu yuan) China/Deutschland 2016 «Faultier, Kleinspitz, Yoyo, Dabo, Shark, Stier und Shrek leben in Chongqing, einer chinesischen Stadt am Jangtse mit ungefähr acht Millionen Einwohnern. Die sieben Freunde verbringen ihr Leben im Schatten der Wolkenkratzer und Brücken, in Strassencafés und in der Intimität ihrer Wohnungen. Nach und nach erfahren wir mehr über ihre Freundschaft, ihre Familien, Unsicherheiten, Geldnöte und Sorgen. Sei es ein Problem an der Universität, ein positiver HIV-Test oder eine schwierige Beziehung mit den geschiedenen Eltern, für jeden ist das eigene Problem das gravierendste. Aber wem steht es zu, zu sagen, wer

am meisten leidet? Die Gespräche wechseln hin und her zwischen belastenden Themen und unbeschwerten Scherzen über Internet-Dating und Homosexualität. Die Dialoge sind derart lebhaft, dass sie manchmal wie Fiktion wirken. Ein nachdenklicher Schwarzweiss-Film mit ausgedehnten Szenen, gespickt mit intimen Gesprächen unter Freunden, die einander wohlgesinnt sind, aber auch in einem gegenseitigen Konkurrenzkampf stehen.» (Int. Documentary Film Festival Amsterdam, 2016) Die Übersetzung des chinesischen Titels des Films bedeutet «Zoo». XIE Shuchang, geboren 1988. Studierte Literatur in Chongqing sowie Kunst in Hamburg und London. Er lebt und arbeitet als Künstler und Filmkritiker in Hamburg. Per Song ist Xies Langfilmdebüt. 73 Min / sw / DCP / Chin/d // DREHBUCH, REGIE UND ­KAMERA Xie Shuchang // SCHNITT Li Ju.

POET ON A BUSINESS TRIP (Shi ren chu chai le) China 2014

«In seiner ganzen Einfachheit ein komplett einzigartiger Film, gedreht vor mehr als 10 Jahren und erst jetzt fertiggestellt. (...) Im Jahr 2002 machte Ju Anqi einen Film über eine Reise des Dichters Shu in das im äussersten Westen Chinas gelegene autonome uigurische Gebiet Xinjiang. Alles, was wir über Shu wissen, ist, dass er einen

A FILMLESS FESTIVAL LI ZHENHUA IM GEPRÄCH MIT ZHU RIKUN

DO, 19. JANUAR | 20.00 UHR

Als das Beijing Independent Film Festival (BIFF) 2014 von den Behörden geschlossen wurde, waren zahlreiche Kameras dabei: Festivalbesucher und -gäste, Mitarbeiterinnen und Journalisten filmten die Proteste, das Eingreifen der Polizei und die nachfolgenden Diskussionen. Der Filmemacher Wang Wo erstellte aus dem Material die 80-minütige ­Dokumentation A Filmless Festival. Im Anschluss an die Vorstellung vom Donnerstag, 19. Januar, treffen sich Li Zhenhua, Ko-Kurator der Helmhaus-Ausstellung «Hinter jedem Berg steht noch ein Berg», und Zhu Rikun, Filmemacher und ehemaliger künstlerischer Leiter des BIFF, zum Gespräch über die Situation der unabhängigen Filmschaffenden und Künstler in China. Zhu Rikun ist mit zwei Filmen im Programm vertreten, The Dossier und Welcome. Die Daten seiner Anwesenheit bei einzelnen Vorstellungen entnehmen Sie bitte unserer Website.


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China Independent 2017. Dichter spielt, der sich selbst auf eine Geschäftsreise schickt – ein absurder, satirischer Ausgangspunkt, der den Ton für den Film angibt. Aus einer Vielzahl von Gründen begann Ju erst 2013 mit der Bearbeitung des rohen, lyrischen Materials, das er in einem heute sehr ruhelosen Xinjiang gedreht hatte: Es ist wie ein ausgezeichneter Wein, der Zeit zu reifen hatte. Shus körperlich anstrengende Reise, strukturiert durch 16 Gedichte, die er unterwegs geschrieben hat, führt ihn auf unendlichen steinigen Strassen vorbei an schäbigen Gasthäusern und durch beeindruckende Landschaften von einer Prostituierten zur nächsten. In seiner dokumentarischen Authentizität ist Poet on a Business Trip auch ein historisches Dokument, das eine Atmosphäre des Verlustes ausstrahlt und einen unsentimentalen und doch melancholischen Einblick in ein Land im Wandel und einen Spiegel für die existenzielle Unumkehrbarkeit der Zeit bietet.» (Int. Film Festival Rotterdam, 2015) Von Ju Anqi zeigen wir ebenfalls Starker Wind in Beijing und Big Character. Shus sechzehn Gedichte können auf poetonabusinesstrip.com ­ nachgelesen werden. 103 Min / sw / DCP / Chin/e // DREHBUCH, REGIE UND ­KAMERA Ju Anqi // MUSIK Li Yuan, Ma Yuanyuan // SCHNITT Wang Kang // MIT Shu (= Hou Xianbo; Dichter).

STARKER WIND IN BEIJING (Beijing de feng hen da) China 2000

«Beijing, China 1999: eine Stadt, eine Nation im Fluss, den Blick auf den Rand des Millenniums und die Vorbereitungen zum fünfzigsten Geburtstag der Gründung der Volksrepublik gerichtet. Der Regisseur Ju Anqi und sein Team waren zu Fuss unterwegs, um, ausgehend von dem einfachen Thema ‹Wind›, dies alles auf Zelluloid zu bannen. (...) Ju Anqi bricht mit den Konventionen des chinesischen Films und der chinesischen Medien und wendet sich ohne Hemmungen mit einer simplen Frage direkt an die Bewohner Beijings, auf der Strasse, auf öffentlichen Plätzen, in Schulen, Restaurants, Schönheitssalons und öffentlichen Bädern.» (Forum Berlinale 2000) Starker Wind in Beijing wird zusammen mit Big Character gezeigt. Von Ju Anqi zeigen wir ebenfalls Poet on a Business Trip. 48 Min / Farbe / 16mm / Chin/d // DREHBUCH, REGIE UND SCHNITT Ju Anqi // KAMERA Liu Yong-hong.

TA’ANG Hongkong/Frankreich 2016 «Nicht nur an den Grenzen zu und in Europa sind Menschen auf der Flucht. Die Ta’ang leben als ethnische Minderheit in Myanmar, seit Jahrzehnten gefangen zwischen dem burmesischen Bürgerkrieg und der chinesischen Grenze. 2015 flammte die Gewalt in der Region wieder auf und löste einen Exodus der Ta’ang nach China aus. An die 100  000 Geflüchtete, vornehmlich Frauen, Alte und Kinder, leben heute in der Provinz Yunnan quasi-nomadisch in unsteten Camps, in der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr. Wang Bing dokumentiert ein Leben in ständiger Bewegung, ohne Konstanz und in essenzieller Abhängigkeit von Lebensmittelspenden, Tagelöhnerjobs und Nachrichten aus der Heimat. In den Bildern von langen Märschen und nächtlichen Gesprächen an den Campfeuern wird das globale Phänomen ‹Flucht› zur individuellen Erfahrung.» (Dokumentarfilmwoche Hamburg, 2016) WANG Bing, geboren 1967 in der Provinz Shanxi. Gilt als der herausragendste chinesische Dokumentarfilmer. Sein Erstling, der neunstündige Tie Xi Qu: West of the Tracks war international ein grosser Festival- und Kritikererfolg und zählt bis heute zu den besten Filmen Chinas. Ta’ang feierte 2016 an der Berlinale seine Premiere. Wir zeigen ebenfalls in dieser Reihe Wangs Three Sisters und ’Til Madness Do Us Part. 148 Min / Farbe / DCP / Chin/e // DREHBUCH UND REGIE Wang Bing // KAMERA Shan Xiaohui, Wang Bing // SCHNITT Adam Kerby, Wang Bing.

THREE SISTERS (San zimei) Hongkong/Frankreich 2012 «Die zehnjährige Yingying kümmert sich um ihre beiden jüngeren Schwestern Zhenzhen und Fenfen. Die drei leben in einem Bergdorf in der Provinz Yunnan, mehr oder weniger allein. Der Vater arbeitet in der hunderte Kilometer entfernten Stadt, die Mutter hat die Familie schon vor Jahren verlassen. Ab und zu kümmern sich der Gross­ vater und eine Tante um die Schwestern – mehr schlecht als recht. In seinem vielfach ausgezeichneten Film wendet sich Wang Bing erstmals der Lebenswelt der verarmenden Landbevölkerung zu und dokumentiert ein tristes, vormodernes Dasein. In fast schon haptischen Aufnahmen voller Leben und Licht begegnet Wang seinen Protagonistinnen auf Augenhöhe, begleitet sie durch ihren gar nicht so kindlichen Alltag und lässt ihre Persönlichkeiten sich entwickeln.» (Dokumentarfilmwoche Hamburg, 2016)


> Three Sisters.

> ’Til Madness Do Us Part.

> Ta’ang.


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China Independent 2017. Von Wang Bing sind ebenfalls Ta’ang und ’Til Madness Do Us Part in dieser Reihe zu sehen. 153 Min / Farbe / DCP / Chin/e/d // DREHBUCH UND REGIE Wang Bing // KAMERA Huang Wenhai, Li Peifeng, Wang Bing // SCHNITT Adam Kerby, Louise Prince.

’TIL MADNESS DO US PART (Feng ai) Hongkong/Frankreich/Japan 2013 «Eine psychiatrische Anstalt in Yunnan zeigt die nackte Existenz der vom chinesischen Modernisierungswahn Ausgeschlossenen. Ein ganz und gar zärtliches Meisterwerk, das genau hinsieht. Cinéma vérité! Wenn Bilder stinken könnten – diese täten es. Fast vier Stunden beobachtet Wang Bing das Dahinvegetieren in einer geschlossenen Anstalt. Getrennt in zwei Etagen leben hier Männer und Frauen, deren Vergehen unklar oder nichtig sind, ebenso wie ihre Zukunft. Die Situation der Internierten ist absurd, in der existenziell schmerzhaftesten Bedeutung des Begriffs. (...) Wang Bing gelingt das Kunststück, mit seiner Kamera eins mit den Insassen zu werden. Nur so kann er beobachten und dokumentieren und die Schamlosigkeit einer Gesellschaft sichtbar machen, die Menschen wie Abfall einlagert.» (Nuremberg International Human Rights Film Festival, 2015) Von Wang Bing sind ebenfalls Ta’ang und Three Sisters in dieser Reihe zu sehen. 228 Min / Farbe / DCP / Chin/e/d // DREHBUCH UND REGIE Wang Bing // KAMERA Wang Bing, Liu Xianhui // SCHNITT Adam Kerby, Wang Bing.

WELCOME (Huan ying) China 2016 Der Filmemacher Zhu Rikun drehte seinen zweiten Dokumentarfilm, Dust, über die Berg­arbeiter in der Provinz Sichuan und ihre Lungenkrankheit. «Nun hören wir, während die Leinwand schwarz bleibt, Stimmen, die ihn bei seiner Rückkehr in diese Region willkommen heissen. Nach und nach wird die Situation klarer: Zhu dreht wieder im gebirgigen Teil Sichuans, aber die Behörden verbieten ihm, mit den lungenkranken Arbeitern zu sprechen. Er darf lediglich die Landschaft filmen. Ungekürzt hören wir das peinliche Gespräch mit den Lokalbehörden, dem Amt für Stabilisierung und dem Parteisekretariat des Politikund Justizdepartements. Ihre Drohungen kleiden sie in Höflichkeitsfloskeln und nette Worte. Sie sagen, sie seien glücklich über einen Film, der

ihre Region in einem positiven Licht zeige, aber gleichzeitig bestehen sie darauf, alle Aufnahmen zu sichten, und verlangen schliesslich, dass sie gelöscht werden. Die Stabilität muss um jeden Preis geschützt werden. Zhu Rikun hat ein rohes und verstörendes Dokument geschaffen, das die Methoden der Behörden blossstellt, indem er ­ihnen erlaubt, unzensiert zu sprechen.» (Int. Documentary Film Festival Amsterdam, 2016) Von Zhu Rikun ist ebenfalls The Dossier in diesem Programm zu sehen. 62 Min / Farbe / DCP / Chin/e // DREHBUCH, REGIE, KAMERA UND SCHNITT Zhu Rikun.

YUMEN China 2013 Gespenstergeschichten und «Ruinentourismus» verbinden sich in dieser seltsamen und wunderschönen Zusammenarbeit zweier chinesischer Avantgarde-Künstler und eines amerikanischen Experimental-Ethno-Filmemachers. Die in den 1980er Jahren einst boomende Ölstadt Yumen im Nordwesten Chinas liegt heute fast gänzlich verlassen und dem Verfall preisgegeben da. Pumpende Ölbohrtürme, atemberaubende Landschaften und der Shabby Chic einer sterbenden Stadt bilden die Kulisse, die von Geistern, Tänzern und Malern mit Nackt-Performancekunst und improvisiertem Flamenco belebt wird. Fetziger Taiwan-Pop aus den 1970ern und zeitgenössische Korea-Girl-Groups tragen das Ihrige zu diesem stimmungsvollen Doku-Essay bei. (pm) «Die Filmemacher haben in der endgültigen Fassung dieses auf 16-mm-Material gedrehten Films alle Spuren des Filmens, inklusive unscharfer Einstellungen, Fehlfarben an Spulen-Enden und sogar das Kamerageräusch dringelassen. Eine schmerzvolle und nostalgische Hommage an eine verschwindende Welt und das Medium, das diese festhält.» (Eva Sangiorgi, FICUNAM, 2013) HUANG Xiang, geboren 1974 in der Provinz ­Guangdong. Avantgarde-Künstler und Filmemacher. XU Ruotao, geboren 1968 in Shenyang. Künstler und Filmemacher. Er begann seine Karriere Anfang der 1990er Jahre im ersten Künstlerdorf Chinas, in Yuanmingyuan. Von J. P. Sniadecki ist ebenfalls The Iron Ministry in dieser Reihe zu sehen. 65 Min / Farbe / Digital HD / Chin/e // DREHBUCH, REGIE UND SCHNITT Huang Xiang, Xu Ruotao, J. P. Sniadecki // ­KAMERA J. P. Sniadecki // MIT Chen Xuehua, Chen Qi, Zhou Qian, Huang Xiang, Xu Ruotao.


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Yojimbo und seine Remakes Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. Das ist, auf die knappste Formel gebracht, der Topos, der dem Zyklus von fünf Filmen um Yojimbo und seine Remakes zugrunde liegt. Am Anfang stand wohl ein Italiener: 1746 schuf Carlo Goldoni mit «Il servitore di due padroni» ein Meisterstück der Commedia dell’Arte, in dem der schelmische Truffaldino nicht nur seiner Herrin Beatrice dient, sondern heimlich auch deren Liebhaber Florindo, was zu allerhand komischen Verwicklungen führt, ehe die Liebenden zusammenfinden und auch der «Diener zweier Herren» glücklich unter die Haube kommt. Das Doppelspiel eines Dieners, der einen Loyalitätskonflikt bewusst in Kauf nimmt, trieb Dashiell Hammett 1929 weniger liebenswert weiter in seinem schwarzen Krimi «Red Harvest», dessen namenloser Protagonist in einer korrupten Kleinstadt alle Gangster gegeneinander aufhetzt, bis sich die Kontrahenten gegenseitig auslöschen. Auch in «The Glass Key» (1931) liess Hammett den Antihelden Ned Beaumont zwischen zwei rivalisierenden Gangs intrigieren. 1930 wurde «Red Harvest» erstmals von Hobart Henley als Roadhouse Nights frei (und unbefriedigend) verfilmt. Inspiriert von Hammetts Romanen (und Hollywoods Westerns) schufen Akira Kurosawa und Ryuzo Kikushima 1961 das Drehbuch zu Yojimbo (Der Leibwächter), in dem Toshiro Mifune als verschlagener Ronin namens Sanjuro abwechselnd zwei verfeindeten Familienclans zu Diensten steht, um diese erst recht gegeneinander aufzuwiegeln. Immerhin folgt er selbst noch einem Ehrenkodex, der ihm gebietet, Unschuldige zu retten und das Böse zu bestrafen. Ohne explizite Quellenangabe wandelte Sergio Leone mit Hilfe seiner Drehbuchkoautoren Kurosawas Vorlage ab zu seinem ersten, stilbildenden Italo-Western, Per un pugno di dollari bzw. A Fistful of Dollars, der den «Mann ohne Namen» als Antihelden in einer moralisch verkommenen Version des alten Hollywood-Westerns etablierte. Kurosawa, der Hammetts Romane nie als Vorlage ausgewiesen hatte, klagte mit Erfolg gegen Leones Plagiat und erstritt sich eine Gewinnbeteiligung. Der Stoff wanderte zurück über den Atlantik und manifestierte sich 1990 wieder in Miller’s Crossing, einem Gangsterfilm der Coen-Brüder, dessen Plot näher bei «The Glass Key» liegt als bei «Red Harvest»: Tom Reagan ist kein Aussenstehender, sondern die rechte Hand des irischstämmigen Gangsters Leo, der sich gegen den Mafioso Caspar durchzusetzen versucht. Allerdings führen Toms private Ziele dazu, dass der Bandenkrieg eskaliert. Als explizites Remake von Yojimbo hat Walter Hill seine düstere, ruppige Gangsterfilm/Western-Hybride Last Man Standing konzipiert. Bruce


35 Willis spielt hier den «Mann ohne Namen» – bzw. mit dem offensichtlichen Decknamen John Smith –, der im Grenzkaff Jericho auftaucht und gezielt unter den lokalen Gangsterclans Zwietracht sät, bis quasi die Mauern der Stadt einstürzen. Noch viel postmoderner als die selbstironische Version der Coens ist schliesslich der schon im Titel offensichtliche Genre-Mix, den Kurosawas Landsmann Takashi Miike in Sukiyaki Western Django auftischt. Wie Quentin Tarantino, der hier als Erzähler oder griechischer Chor auftritt, klaut und borgt Miike nicht nur bei Hammett und Yojimbo, sondern rührt zudem Spaghetti-Western und Shakespeares «Henry VI» samt Rosenkrieg hinein. Michel Bodmer ACHTUNG – REMAKE-SONDERANGEBOT: Wer einen Film besucht, von dem das Filmpodium Original und Remakes zeigt, kann die weiteren dazugehörigen Filme zum Halbtax-Preis sehen. Ticket aufbewahren und beim nächsten Besuch vorweisen! Die Reihenfolge spielt keine Rolle.

> Last Man Standing.

> Sukiyaki Western Django.


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Yojimbo und seine Remakes.

YOJIMBO

Platzes liegen wie auf einer Bühne.» (Oreste De Fornari: Sergio Leone, Bahia Verlag 1984)

Japan 1961 99 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE Sergio Leone [als

Der herrenlose Samurai Sanjuro gerät in eine Stadt, die von zwei konkurrierenden Parteien und ihren Handlangern beherrscht wird: Seibei arbeitet für den Seidenhändler, Ushitora für den Sakehändler. Beide Seiten beschäftigen Banditen und terrorisieren die Bürger; beide wollen Sanjuro als Leibwächter anheuern. Der Samurai nutzt seine Stellung und spielt die Parteien skrupellos gegeneinander aus. Die Hauptfigur verkörpert durchaus nicht die gleiche Moral wie der Held des Westernfilms, dem Yojimbo so nahe kommt wie kein anderes ­Jidai-geki Kurosawas. Der ‹Leibwächter› kann es an Bosheit mit seinen Gegnern jederzeit aufnehmen; wenn der Kampf einmal ins Stocken gerät, ist er es, der neue Auseinandersetzungen provoziert, und die Ordnung, die er herstellt, ist die des Todes.» (Karsten Visarius, in: Akira Kurosawa, Hanser Verlag 1988) 111 Min / sw / DCP / Jap/d // REGIE Akira Kurosawa // DREHBUCH Ryuzo Kikushima, Akira Kurosawa // KAMERA Kazuo Miyagawa // MUSIK Masaru Sato // SCHNITT Akira Kurosawa // MIT Toshiro Mifune (Sanjuro Kuwabatake), Eijiro Tono (Gonji, Sakefabrikant), Kamatari Fujiwara (Tazaemon, Seidenhändler), Takashi Shimura (Tokuemon, Sakefabrikant), Seizaburo Kawazu (Seibei, Tazaemons Diener), Kyu Sazanka (Ushitora, Tokuemons Diener).

A FISTFUL OF DOLLARS (Per un pugno di dollari) Italien/Spanien/BRD 1964

Ein Pistolero kommt in ein abgelegenes Wildwest-Nest, das von zwei rivalisierenden Banditenfamilien terrorisiert wird. Der Fremde tut so, als wolle er an den unsauberen Geschäften beider Parteien partizipieren; erst der Schluss offenbart seine wahre Absicht. «Die Unterschiede zwischen Yojimbo und Per un pugno di dollari sind vor allem geschmacklicher Art. Nehmen wir die Einleitung. Im ersten Film läuft ein Hund über die Strasse, der die Hand eines Toten im Maul trägt, im zweiten reitet die Leiche eines Mexikaners kerzengerade dahin, auf seinem Rücken ist ein Schild mit der Aufschrift ‹Adios amigo!› befestigt. Kurosawa ist grotesk, Leone nur geistreich. Seine etwas kommentierende Regie hat die elisabethanische Faszination des Themas jedoch nicht zerstört: die machiavellistischen Intrigen, den makabren Humor, das Theaterdekor mit den Häusern der beiden gegnerischen Familien, die am Rand des

Bob Robertson] // DREHBUCH Sergio Leone, Duccio Tessari, Victor Andrés Catena, Adriano Bolzoni, nach dem Film ­Yojimbo von Akira Kurosawa // KAMERA Massimo Dallamano (als Jack Dalmas], Federico García Larraya // MUSIK Ennio Morricone (als Dan Savio] // SCHNITT Roberto Cinquini (als Bob Quintle), Alfonso Santacana // MIT Clint Eastwood (Joe), Marianne Koch (Marisol), Wolfgang Lukschy (John Baxter), José «Pepe» Calvo (Silvanito), Gian Maria Volonté [als John Wells] (Ramón Rojo).

MILLER’S CROSSING USA 1990 Tom, persönlicher Berater des irischen Gangsterbosses Leo und zugleich ein notorisch verschuldeter Spieler, lässt sich durch das Washington der Prohibitionszeit treiben, das von Mafiosi und machtbesessenen Halbkriminellen regiert wird. Als Tom eine Affäre mit Leos Geliebter Verna beginnt und sich Leos Erzfeind Caspar andient, gerät die Unterwelt aus den Fugen. In unterkühlten Bildern werden Ewigkeitswerte (Vertrauen, Ehre) und Obsessionen (Gewalt, Geld) des Gangsterfilms thematisiert. «Dabei strebt Miller’s Crossing eine Präzision in der Verbindung von Form und Inhalt an, die im heutigen Kino nur zu selten geworden ist; die strikte Tilgung jeder Handschrift, aller Zeichen von Autorenschaft, die von der Erzählung ablenken könnten, macht den Film umso eindeutiger zum Produkt eines (doppelköpfigen) ‹auteurs›.» (Tim Pulleine, Sight & Sound, Winter 1990/91) 115 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Joel Coen, Ethan Coen (ungenannt) // DREHBUCH Joel & Ethan Coen, nach den Romanen «Red Harvest» und «The Glass Key» von Dashiell Hammett (ungenannt) // KAMERA Barry Sonnenfeld // ­MUSIK Carter Burwell // SCHNITT Michael R. Miller // MIT Gabriel Byrne (Tom Reagan), John Turturro (Bernie Bernbaum), Albert Finney (Liam «Leo» O’Bannion), Marcia Gay Harden (Verna Bernbaum), Jon Polito (Giovanni «Johnny Caspar» Gasparo), J. E. Freeman (Eddie Dane), Richard Woods (Bürgermeister Dale Levander), Steve Buscemi (Mink), Mike Starr (Frankie), Sam Raimi (kichernder Schütze), Frances McDormand (Sekretärin des Bürgermeisters, ungenannt).

LAST MAN STANDING USA 1996 «Eigentlich ist John Smith auf dem Weg nach Mexi­ko, als ihn die Suche nach einem Nachtquar-


Yojimbo und seine Remakes. tier in das Grenznest Jericho verschlägt, wo ein äusserst unfreundlicher Empfang auf ihn wartet. Anstatt den Ratschlägen des Sheriffs zu folgen und die von Gangsterfamilien beherrschte Stadt schnellstens wieder zu verlassen, legt sich Smith in einem gefährlichen Spiel mit den rivalisierenden Clans an. Bald hat er sich sämtliche Einwohner zu Feinden gemacht und seine letzte Überlebenschance ist die des ‹last man standing›. Da heisst es dann: Ran an die Schiesseisen, und das am besten gleich beidhändig. (...) Hills geradlinige und schnörkellose Inszenierung treibt die Konfrontation ‹Einer gegen alle› auf die Spitze und ist durch Ry Cooders atmosphärische Musik bestens unterlegt. Mit Bruce Willis als zynischem Fremden ohne Vergangenheit und Zukunft steht Hill die Idealbesetzung zur Verfügung. Last Man Standing ist genau so inszeniert, genau so fotografiert und exakt so ausgestattet, wie gutes Genrekino gemacht sein muss.» (Tom Beyer, schnitt.de) 101 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Walter Hill // DREHBUCH Walter Hill, nach einer Story von Ryuzo Kikushima, Akira Kurosawa // KAMERA Lloyd Ahern II // MUSIK Ry Cooder // SCHNITT Freeman A. Davies // MIT Bruce Willis (John Smith), Bruce Dern (Sheriff Ed Galt), William Sanderson (Joe Monday), Christopher Walken (Hickey), David Patrick Kelly (Doyle), Karina Lombard (Felina), Ned Eisenberg (Fredo Strozzi), Alexandra Powers (Lucy Kolinski).

Namen, ist ein eher gekünstelter, weniger unheimlicher Cousin der vielen hageren und einzelgängerischen Reiter, die Clint Eastwood über die Jahre verkörpert hat. Dieser einsame Rächer spaziert in ein trostloses Bergkaff und stellt fest, dass es im Würgegriff einer Fehde ist zwischen den Genji, die Weiss tragen, und ihren rot gewandeten Rivalen, den Heiki. Dazwischen stehen zwei Frauen, die Mutter und Grossmutter eines kleinen Jungen, dessen gemischte Herkunft symbolisiert wird durch die weiss-roten Rosen, die auf dem Grab seines Vaters spriessen.» (A. O. Scott, The New York Times, 28.8.2008) «Sukiyaki Western Django ist eine ultragewalttätige Revolverhelden-Oper, angesiedelt in einem Nirgendwo aus Teilen des ländlichen Japans des 11. Jahrhunderts und des Nevadas des 19.  Jahrhunderts, mit japanischen Schauspielern, die Englisch sprechen (mit unterschiedlichem Erfolg) und Quentin Tarantino in einer Nebenrolle. (...) Hat man die Frage, wieso jemand überhaupt einen derart artifiziellen Film machen würde, mal abgehakt und widmet sich rein spasseshalber der Antwort, ist Sukiyaki Western Django ein blutrünstiges, granatenmässiges, oft saukomisches und einzigartig schräges Stück Kinounterhaltung.» (Andrew O’Hehir, salon.com, 28.8.2008) 99 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE Takashi Miike // DREHBUCH Takashi Miike, Masa Nakamura // KAMERA Toy-

SUKIYAKI WESTERN DJANGO Japan 2007

omichi Kurita // MUSIK Koji Endo // SCHNITT Yasushi Shimamura // MIT Hideaki Ito (der Namenlose), Masanobu Ando (Yoichi), Koichi Sato (Taira no Kiyomori), Kaori Momoi (Ruriko), Yusuke Iseya (Minamoto no Yoshitsune), Renji Ishibashi

«Der abgetakelte Saloon im Ort heisst Eastwood’s, und der Held, ein schweigsamer Schütze ohne

(Mura), Yoshino Kimura (Shizuka), Quentin Tarantino (Pi-

> Miller’s Crossing.

> A Fistful of Dollars.

ringo), Takaaki Ishibashi (Benkei), Teruyuki Kagawa (Sheriff).

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38 Reedition: Sur

Tango der Rückkehr Nach seinem Exil in Paris realisierte der argentinische Regisseur Fernando­E. Solanas 1987/88 Sur. Seine Schilderung einer Rückkehr in ein «normales» Leben nach der Militärdiktatur ist Vergangenheits­ bewältigung und Zukunftshoffnung zugleich.

SUR / Argentinien/Frankreich 1988 117 Min / Farbe / DCP / Span/d // DREHBUCH UND REGIE Fernando E. Solanas // KAMERA Felix Monti // MUSIK Astor ­Piazzolla // SCHNITT Juan Carlos Macías // MIT Miguel Ángel Solá (Floreal Echegoyen), Susú Pecoraro (Rosi Echegoyen), Philippe ­Léotard (Roberto), Lito Cruz (El Negro), Ulises Dumont (Emilio), Gabriela Toscano (Bondi), Roberto Goyeneche (Amado), M ­ ario Lozano (Echegoyen), Nathán Pinzón (Rasatti), Antonio Ameijeiras (Peregrino), Inés Molina (Maria),

1976 übernahmen die Generäle in Argentinien die Macht; 1983 endete ihre Herrschaft, während der sie ihre Kritiker und Gegner terrorisiert, gefangen genommen, gefoltert oder umgebracht hatten. Einige Oppositionelle konnten sich ins Exil absetzen, darunter der Musiker und Cineast Fernando Solanas. Nach seiner Rückkehr aus Paris realisierte Solanas 1987/88 Sur, «in dem die Zeit der Finsternis in Argentinien noch einmal durchquert wird und damit auch ein stückweit bewältigt. Floreal, die Hauptfigur, (...) kehrt nach dem Ende der Diktatur heim zu Rosi, seiner Frau, und zu seinem sechsjährigen Sohn, den er erst noch kennenlernen muss. Statt der Freude über die lang­ ersehnte Rückkehr überkommt ihn die Angst vor dem Wiedersehen nach all den Jahren. Die Geschichte hat Spuren hinterlassen, im privaten wie im öffentlichen Raum. Der Schmerz der Trennungen sitzt tief. Sur lässt diese Spuren aufscheinen und die Hoffnungen aufleben, die Floreal in den Tagesanbruch begleiten.» (Walter Ruggle, www.trigon-film.org) «Sur ist, wie jeder Tango, ein Klagelied und ein Pamphlet und ein Geistertanz zugleich. ‹Ich beschwöre die Vergangenheit, damit sie niemals wiederkehrt›, sagt Fernando Solanas.» (Claudius Seidl, Die Zeit, 2. 12. 1988)


39 Filmpodium für Kinder

Unsere Erde Von den Eisbären am Nordpol durch die gemässigten Zonen, die Wüsten und den Regenwald bis zum Südpol – und wieder zurück. Eine filmische Reise, verdichtet zu einem bildgewaltigen Porträt unseres Planeten und seiner tierischen Bewohner. Fünf Jahre lang waren 40 Kameraleute an 200 verschiedenen Drehorten für diese BBC-Dokumentation im Einsatz. «Diesem Mammutprojekt der BBC verdanken wir spektakuläre, hoch aufgelöste, nie da gewesene Bilder von jener Welt, die um uns und ohne uns seit Zeitaltern existiert. Unsere Erde ist ein 99-minütiges Naturschauspiel mit allen dramatischen Raffinessen. Der Film verlässt sich meist gekonnt auf die Kraft der Bilder und lässt die Natur die Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die alles hat und deren Drama und Komik über die Kraft der Fiktion hinausgeht. Genau wie wahre Geschichten über Menschen das entscheidende bisschen Mehr an authentischer Emotion vermitteln können, sind die tierischen Schicksale in Unsere Erde unglaublich mitreissend und bewegend.» (Nina Schattkowsky, Schnitt.de, 2008)

UNSERE ERDE (Earth) / GB/D 2007 99 Min / Farbe / Digital HD / D / ab 6J // REGIE Alastair Fothergill, Mark Linfield // DREHBUCH Alastair Fothergill, Mark ­Linfield, Leslie Megahey // MUSIK George Fenton // SCHNITT Martin Elsbury, Vartan Nazarian // MIT Ulrich Tukur (Erzähler).


40 SÉLECTION LUMIÈRE

WINTER’S BONE Zu den Gegenden der USA, die Europa nicht

Geschwister und sich selbst durchzubrin-

auf dem Schirm hat, gehören die Ozark

gen. Als Jessup aus dem Knast entlassen

Mountains, wo verarmte und systemfeindli-

wird und kurz darauf verschwindet, macht

che Bergler leben. In Winter’s Bone lässt

der Sheriff Ree klar, dass ihre Familie ihr

Debra Granik dort Jennifer Lawrence als

Obdach verliert, wenn Jessup nicht zum Ge-

kämpferische 17-jährige Ree gegen ver-

richtstermin erscheine. Ree schwört, ihren

krustete und kriminelle Clanstrukturen an-

Vater aufzutreiben, und macht sich auf die

treten.

Suche. Doch die verschwiegenen und verbrecherischen Clans begegnen ihr mit

Ree lebt in den unwirtlichen Bergen im Sü-

Feindseligkeit, und im Bemühen, ihr Heim

den Missouris. Ihr Vater Jessup stammt

zu retten, riskiert Ree Kopf und Kragen.

aus den alteingesessenen, weltabgewand-

Debra Graniks zweiter Spielfilm Winter’s

ten Clans, die heute von der Herstellung von

Bone beruht auf einem Roman von Daniel

Crystal Meth leben; ihre Mama ist ein Pfle-

Woodrell, der in den Ozarks lebt und bei der

gefall, sodass Ree selber die Mutterrolle

Adaptation auf die Stimmigkeit der Details

übernehmen muss, um ihre zwei kleinen

achtete. So wirkt Graniks Film fast wie ein ethnografischer Einblick in einen düsteren Winkel der USA, wo sich jahrhundertealte, trotzige Formen von Individualismus und Widerstand erhalten haben. Die komplexen Figuren des spannenden Dramas verhalten sich denn auch nie ganz so, wie man es erwartet, allen voran Rees Onkel Teardrop, dem John Hawkes eine beeindruckende Präsenz verleiht. Jennifer Lawrence verkörpert die tapfere, willensstarke Ree durchwegs überzeugend als ein Kind dieses sonderbaren Volks. Diese Rolle brachte ihr verdientermassen den Durchbruch, und Winter’s Bone wurde nicht nur mit dem Hauptpreis in Sundance, sondern auch mit

WINTER’S BONE / USA 2010

vier Oscarnominationen und vielen anderen

100 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Debra Granik //

Preisen gewürdigt. (mb)

DREHBUCH Debra Granik, Anne Rosellini, nach dem Roman von Daniel Woodrell // KAMERA Michael McDonough // MUSIK Dickon Hinchliffe // SCHNITT Affonso Gonçalves // MIT Jennifer Lawrence (Ree), John Hawkes (Teardrop), Kevin Breznahan (Arthur), Dale Dickey (Merab), Garret Dillahunt (Sheriff Baskin), Sheryl Lee (April), Lauren Sweetser (Gail),

✶ am Mittwoch, 1. Februar, 18.15 Uhr:

Tate Taylor (Mike Satterfield).

Einführung von Martin Walder


41 IMPRESSUM

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS

in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Corinne Siegrist-Oboussier (cs), STV. LEITUNG Michel Bodmer (mb) WISSENSCHAFTLICHE MITARBEIT Tanja Hanhart (th), Marius Kuhn (mk), Primo Mazzoni (pm), Laura Walde PRAKTIKUM Valentina Romero // SEKRETARIAT Claudia Brändle BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 212 13 77 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 211 66 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: Arsenal Distribution, Berlin; ­Ascot Elite Entertainment Group, Zürich; Asian Shadows, Hongkong; British Film Institute, London; Carlotta Films, Paris; C ­ inélibre, Bern; Cineworx, Basel; Cnex Foundation, Taipei City; Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin; Dogwoof Global, London; Dynamics Film Library, Luxemburg; Filmcoopi, Zürich; Filmmuseum München; Filmoteca de la UNAM, Mexico City; Frenetic Films, Zürich; Le Giornate del cinema muto, Pordenone; Lobster Film, Paris; Look Now!, Zürich; The Mary Pickford Foundation, Santa Monica; MK2, Paris; National Film Center, Tokio; NFA, Prag; Nikkatsu, Tokio; Park Circus, Glasgow; Praesens Film, Zürich; Rialto Film, Berlin; J. P. Sniadecki, Chicago; Tamasa Distribution, Paris; Trench Film Group, Peking; trigon-film, Ennetbaden; UCLA Film & Television Archive, Santa Clarita; Visions Sud Est, Ennetbaden; Wang Bo, New York; Wang Wo, Peking; Warner Bros. Entertainment Switzerland GmbH, Zürich; Xenix Filmdistribution, Zürich; Yang Mingming, Peking; Zhu Rikun, Milton; Zhu Shengze, Chicago. DATABASE PUBLISHING BitBee Solutions GmbH, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS & Partner, Zürich // KORREKTORAT N. Haueter, D. Kohn // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 6000 ABONNEMENTE Filmpodium-Generalabonnement : CHF 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // FilmpodiumHalbtaxabonnement: CHF 80.– / U25: CHF 40.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // ­Abonnement Programmheft: CHF 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

VORSCHAU Cary Grant

Schwarz und Frau

Kaum einem Schauspieler ist es so gut ge-

In der Frühzeit des Kinos wurden schwarze

lungen, britische Klasse und Eleganz mit

Frauen fast ausschliesslich stereotypisch

amerikanischem Charme und Humor zu ver-

als Sklavinnen, Köchinnen und Hausmäd-

quicken: Cary Grant zählt zu den grössten

chen dargestellt oder gar karikiert. In den

Stars überhaupt; das Filmpodium widmet

letzten Jahrzehnten jedoch hat sich das Bild

ihm erstmals eine Retrospektive. Privat eine

der schwarzen Frau im Film markant verän-

eher schillernde Figur, brillierte Grant dank

dert, nicht nur in den USA. Cineastinnen mit

seiner Gewandtheit in Screwball Comedies

afrikanischen Wurzeln, darunter Julie Dash,

mit Katharine Hepburn oder Rosalind Rus-

Amma Asante und Ava DuVernay, schaffen

sell ebenso wie als - mitunter zwielichtiger -

schwarze Protagonistinnen, die Klischees

Frauenschwarm und Verführer in Melodra-

überwinden. Unsere Reihe konzentriert sich

men und Krimis. Capra und Cukor, Hawks

auf Spiel- und Dokumentarfilme um «dark

und Hitchcock schufen mit ihm Meister-

girls», deren Schicksale die Geschichte ge-

werke; Mae West und Ingrid Bergman teilten

prägt haben oder deren heutige Lebenser-

mit ihm die Leinwand.

fahrungen zur Identifikation einladen.


J.K.

MARIA

CHRISTOPHER

ANDREA

TAWFEEK

NIKI

SIMMONS KAVOYIANNI PAPAKALIATIS OSVÁRT BARHOM VAKALI

AB 19. JAN UAR IM K I NO

WORLDS APART Christopher Papakaliatis, Griechenland

Die Liebe in drei Generationen


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