Filmpodium 16.11.–31.12.2014 / Programme issue november 16 – december 31, 2014

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16. November–31. Dezember 2014

Kino ČSSR Titanus


Der neue Spielfilm von nuri Bilge Ceylan

«Wie Woody allen in Bestform.» faZ

Ab 27. November im Kino

Ein Filmgedicht gegen die Intoleranz «In seiner wütenden Verzweiflung ist es ein überaus poetisches, bildschönes Werk.» nZZ

Timbuktu Ab 18. Dezember im Kino

AbderrAhmAne SiSSAko, mAli

Die besten Filme aus Süd und Ost auch auf DVD, Blu-ray und online Reinschauen lohnt sich: www.trigon-film.org


01 Editorial

Es weihnachtet Das Jahr neigt sich schon dem Ende zu, und damit kommt die Saison der Geschenke. Das Filmpodium will da nicht hintanstehen, und so weisen wir Sie auf einige Freuden hin, die wir Ihnen in den nächsten Wochen bescheren. Da wäre erstens die neue Sélection Lumière. Unser Förderverein, der den Namen der legendären Erfinder des Lichtspiels trägt, ermöglicht Sonderveranstaltungen im Programm, die sonst nicht finanzierbar wären. Dazu zählen Besuche von Filmschaffenden oder die Live-Musik beim Stummfilm-­ Festival, das im Januar wieder beginnt. Als kleine Gegenleistung für diese wichtige Förderung dürfen Lumière-Mitglieder alle zwei Jahre eine Wunschliste von Filmen einreichen, die sie im Filmpodium sehen möchten. Die meistgewünschten Titel ergeben das folgende Programm, das in zwölf Sondervorstellungen mit einer Einführung präsentiert wird. Die Sélection 2015/16 ist in diesem Heft aufgeführt. Wenn Sie auch beim Kino-Nikolaus Wünsche anmelden möchten, treten Sie Lumière bei; Ihre Unterstützung würde uns freuen. Den Auftakt zur neuen Sélection Lumière macht der US-Weihnachtsfilm schlechthin, unser zweites Geschenk: It’s a Wonderful Life von Frank Capra, mit dem charmanten Schlaks James Stewart, läuft im Dezember als Reedition, in restaurierter Fassung. Wenn Sie, wie der Held George Bailey, mitunter am Guten im Menschen zweifeln, wird dieser Film es schon richten. Weit weniger bekannt als dieser immergrüne Christfeststreifen sind die meisten Perlen in unserer Reihe mit Werken der tschechoslowakischen Neuen Welle: Neben ein paar Publikumsfavoriten gibt es viel zu entdecken, was seit seiner Befreiung aus den Giftschränken der ČSSR hierzulande nie gelaufen ist. Überraschend sind auch manche Werke der Produktionsfirma Titanus, die nach Locarno auch Zürich beehren: Die Vielfalt des italienischen Nachkriegskinos – vom packenden Dokumentarfilm über neorealistische Dramen und Psychogramme von Antonioni und Rossellini bis zu Komödien von Fellini und Risi und einem Thriller von Argento – war hier so noch nie zu sehen. Unser letztes Geschenk gilt nicht dem Programm, sondern dessen Vermittlung: Neu gibt es endlich einen Filmpodium-Newsletter, der über Programmänderungen und aktuelle Ergänzungen informiert. So bleiben Sie auf dem Laufenden und verpassen keine kurzfristig angesetzten Veranstaltungen, die Sie interessieren. Anmelden können Sie sich unter www.filmpodium.ch. Wir wünschen Ihnen ein frohes Film-Fest! Michel Bodmer

Titelbild: Die Sonne im Netz von Štefan Uher


02 INHALT

Kino ČSSR

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Titanus

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Die sogenannten Filme des Prager Frühlings von Jiři Menzel und Miloš Forman kennt jeder. Viele andere Werke der tschechoslowakischen Neuen Welle der sechziger Jahre, in cineastischer Hinsicht nicht weniger bedeutend, verschwanden jedoch spätestens nach dem Einmarsch der UdSSR 1968 im Giftschrank. Unsere Reihe konzentriert sich auf solche wegweisenden Filme, von Štefan Uhers Die Sonne im Netz über Pavel Juráčeks kafkaesken Kurzfilm Josef Kilian bis zu Juraj Jakubiskos verspielter Selbstbespiegelung Christusjahre und František Vlácils ruppigem Mittelalter-Epos Marketa Lazarova, die hierzulande noch entdeckt werden wollen.

Als Gustavo Lombardo 1904 die Filmproduktionsgesellschaft Titanus gründete, ahnte niemand, dass seine Familie diese Firma über drei Generationen und 110 Jahre lang leiten und dabei die italienische Filmgeschichte massgeblich prägen würde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Titanus zu einem Studio im Hollywood-Stil, das sowohl Stars schuf als auch Regietalente förderte. Zu den klingenden Namen im titanischen Pantheon zählen Sophia Loren und Ingrid Bergman ebenso wie Visconti, Rossellini, Antonioni und Fellini. Die FilmpodiumRetrospektive zeigt neben Werken der Filmkunst, die die Lombardos ermöglichten, auch ein paar Kassenschlager aus ihrer Küche.

Bild: Valerie – Eine Woche voller Wunder

Bild: Pane, amore e fantasia


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Das erste Jh. des Films: 1994

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Premiere: Memories on Stone

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Die blutigste Palme d’or (Pulp Fiction), der coolste Hongkong-Film (Chungking Express), Porträts des ­tunesischen Feudalsystems (Les silences du palais) und der sowjetischen ­Nomenklatura (Soleil trompeur); ein Trip­tychon aus Mazedonien (Before the Rain), eine pittoreske Folie à deux (Heavenly Creatures) und eine Studie über Entfremdung (Trois couleurs: Rouge).

Filmische Reflexion über die Darstellbarkeit von Saddams Genozid an den nordirakischen Kurden.

Bild: Trois couleurs: Rouge

Bild: Der Mondmann

Reedition/Sélection Lumière: It’s a Wonderful Life

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«Ein Film der den Unterdrückten, den Herumgeschubsten, den Bettlern sagt: ‹Kopf hoch, Junge! Keiner ist arm, solange er einen Freund hat. Drei ­ Freunde und du bist stinkreich.›» ­Capras Beschreibung deutet an, weshalb diese Fabel zu den unverwüstlichen Seelenwärmern des Kinos zählt.

Filmpodium für Kinder: Der Mondmann

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Der Mondmann langweilt sich und reist zur Erde, wo er allerlei Abenteuer erlebt. Kongeniale Verfilmung von Tomi Ungerers Kinderbuch.

Premiere: Abendland

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Nikolaus Geyrhalter zeigt, was Europa nachts für seine Bürger tut und wie es sich gegen Eindringlinge schützt.

Einzelvorstellungen Zürcher Filmbuff-Quiz IOIC-Soireen: Georges Méliès & Fritz Lang

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05 Kino ČSSR

Perlen vom Meeresgrund Die Filme dieser Reihe stellen keine vollständige oder repräsentative Übersicht der sogenannten Neuen Welle der ČSSR dar. Es fehlen manche gelungenen Werke, die jedoch wohlbekannt sind und /oder im Filmpodium unlängst zu sehen waren. Unsere Ko-Kuratorin Barbara Dusek hat sich auf Filme konzentriert, die neu und wegweisend waren, aufgrund der politischen Verhältnisse aber kaum in westeuropäische Kinos gelangten. Die meisten dieser cineastischen Perlen, die die Neue Welle in den hoffnungsvollen Jahren vor 1968 ans Tageslicht spülte, wurden kurz nach ihrer Entstehung vom Regime versenkt. Gleichsam vom Meeresgrund geborgen, verblüffen und verzaubern sie bis heute. Im Januar und Februar folgen neuere tschechische und slowakische Filme. Die Neue Welle entstand in den sechziger Jahren, als die jungen Absolventen der Filmhochschule Prag (FAMU) ihre ersten Filme realisierten. Anders als bei der Nouvelle Vague, dem italienischen Neorealismus oder dem britischen Free Cinema unterstützte in der ČSSR keine Zeitschrift wie «Cahiers du cinéma», «Cinema Nuovo» oder «Sight & Sound» diese Bewegung. Ihre Macher waren zwar befreundet und arbeiteten oft zusammen, aber jeder suchte seinen eigenen Weg – solange dieser vom realsozialistischen Pathos wegführte. Nur die Kritik am politischen System war ihren Werken gemeinsam, mal direkter, mal eher verschlüsselt. Paradoxerweise ermöglichte der Staat selbst die Realisation dieser Filme, die in einigermassen selbständigen dramaturgischen Abteilungen entstanden und den damals vereinfachten Bewilligungsprozess nutzten. Der ganze Spass endete Anfang der siebziger Jahre mit der sogenannten Normalisation nach dem russischen Einmarsch in der Tschechoslowakei. Als erster Film der Neuen Welle gilt Die Sonne im Netz von Štefan Uher (1930–1993). Diese poetische, für die damalige Zeit total ungewöhnliche Erzählung über junge Liebe wurde vom Kameramann Stanislav Szomolányi gedreht, dessen Bildgestaltung den mosaikartigen Aufbau des Films unterstützt. Von der bleibenden Wertschätzung für diesen Film in der Slowakei zeugt der Umstand, dass der Nationale Filmpreis nach ihm benannt ist. Kafka und Hrabal standen Pate Den absurden Verhältnissen in einer absurden Zeit wurde das Kino bisweilen mit jenen Mitteln gerecht, die Franz Kafka für die Literatur entwickelt hatte. < >

Vignetten über Aussenseiter in Perlen auf dem Meeresgrund Oscarnominierte Satire: Der Feuerwehrball


06 Mit einem Minimum an Dialogen etwa brachte Josef Kilian von Pavel Juráček (1935–1989) und Jan Schmidt (*1934) das damalige Lebensgefühl auf den Punkt. Dass ein Film über die Unmöglichkeit, eine gemietete Katze zurückzubringen, als besonders kritisch gedeutet wurde, spricht Bände über die groteske Paranoia von damals. Schon vor der Premiere fast verboten, wurde diese kurze Fabel nach 1968 endgültig unterdrückt. Nur die Schaufenster mit Katzenbildern, mit denen Juráček einen verlassenen Laden in der Prager Altstadt ausgeschmückt hatte, erfreuten noch jahrelang die Passanten. Der tschechische Schriftsteller Bohumil Hrabal diente den Cineasten immer wieder als Stofflieferant. Sein erster Geschichtenband wurde 1965 von Jiří Menzel, Jan Němec, Evald Schorm, Jaromíl Jireš und Věra Chytilová (1929–2014) als Perlen auf dem Meeresgrund adaptiert. In der Episode Automat Welt von Chytilová spielt die Hauptrolle Hrabals Freund, der Künstler Vladimír Boudník, der auch das Vorbild für die Erzählung war. Zusammen mit dem Kameramann Jaroslav Kučera baut Chytilová ein reportagehaftes Gebilde um eine tote Frau und eine Hochzeitsfeier, das aber bereits die Stilmittel ihrer späteren Filme aufweist. Nur einen einzigen Langfilm konnte der Regisseur Ivan Passer (*1933), der als Drehbuchautor bei Miloš Formans Filmen mitwirkte, in der ČSSR drehen, ehe er 1969 in die USA auswanderte. Trotzdem gilt Intime Beleuchtung als einer der zehn besten tschechischen Filme. Auch hier diente als Vorlage eine Erzählung von Hrabal. Ivan Passer färbt seine bittere Komödie über Gegensätze zwischen Stadt und Land sowie über unterschiedliche Lebensentwürfe mit unterschwelliger Melancholie, auch wenn er subtil und humorvoll vom skurril-realen Alltag erzählt. Die Mitwirkung von Laiendarstellern verleiht dem – durchaus versöhnlichen – Film eine grosse Authentizität. Für die Bildgestaltung zeichnet Miroslav Ondříček. Auszeichnungen und Verbote Die erste Oscar-Auszeichnung für die ČSSR errang 1966 der Film Das Geschäft in der Hauptstrasse des Tandems Ján Kadár (1918–1979) und Elmar Klos (1910–1993). Als Vorlage diente ein Roman des slowakischen Schriftstellers Ladislav Grosman, eine Tragikomödie über einen kleinen Tischler, der 1942 im slowakischen Staat einen jüdischen Laden samt Inhaberin übernimmt. Teilweise autobiografisch erzählt Juraj Jakubisko in Kristove roky die tragikomische Geschichte zweier Brüder im besten Alter, den frühen Dreissigern, die auch als Christusjahre bezeichnet werden. Jakubisko selbst war damals 28 und probierte in seinem Debütfilm besonders im visuellen Bereich vieles aus. Zusammen mit Kameramann Igor Luther drehte er etwa teilweise auf Filmmaterial, das für die fotografische Tonaufnahme bestimmt war, und erzielte so Bilder mit hohem Kontrast. Formal erinnert die Erzählstruktur an die Anfänge der Neuen Welle und an Die Sonne im Netz.


07 In Marketa Lazarova, einer Adaptation des gleichnamigen Romans von ­Vladislav Vančura, erzählt der Regisseur František Vláčil ebenso meditativ wie grausam, mal poetisch und mal grobgeschnitzt, über Liebe und Schuld im Mittelalter, aber nicht nur. Drei Jahre lang hat er an seinem Werk gearbeitet, fast drei Stunden dauert der Film. Fast zehnmal mehr als die Kosten einer normalen Produktion hat Marketa Lazarova gekostet, weil Vláčil als Perfektionist keine Kompromisse eingehen wollte. Das Resultat ist opulente, fast barocke Erzählung – und nicht einfach zu verdauen. In der Zeitspanne von vierzehn Tagen während der Präsidentschaftswahlen von 1968 filmte der Regisseur Karel Vachek (*1940) in offiziellen und privaten Situationen die Gespräche der Politiker. Wahlverwandtschaften, im Direct-Cinema-Stil auf 16 mm gedreht, ohne Kommentar und Musik, offenbart nicht nur die damalige Atmosphäre und Aufbruchsstimmung, sondern auch die Machtmechanismen der Politik. 1969 wurde der Film verboten. Auch der Film Alle guten Landsleute ruhte jahrelang im Giftschrank, doch viele Kopien zirkulierten fleissig unter der Bevölkerung. Das geschilderte Schicksal der Bewohner eines kleinen Dorfes in den vierziger und fünfziger Jahren an der Grenze von Böhmen und Mähren wirkte nämlich stellvertretend für alle Dörfer in der Tschechoslowakei, für die Ohnmacht der kleinen Leute und den Zerfall der dörflichen Gemeinschaft. Der Regisseur Vojtěch Jasný (*1925) wurde 1968 in Cannes mit dem Regiepreis ausgezeichnet. Wie nicht anders zu erwarten, landete auch Der Leichenverbrenner von Juraj Herz (*1934) direkt nach der Premiere im Jahre 1969 im Tresor und kam erst 1990 wieder ins Kino. Herz mischt Horror, Satire und Drama und erzählt eine Parabel über einen verklemmten Familienvater und Krematoriumsbetreiber, der zum Mörder wird, um gesellschaftlich aufzusteigen. Die expressive Kameraarbeit von Stanislav Milota war die letzte, die er ausführen konnte, denn dieser Film bedeutete das Ende seiner Laufbahn als Kameramann und brachte auch das Aus für die Karriere seiner Frau, der Schauspielerin Vlasta Chramostová, die hier die weibliche Hauptrolle verkörpert. Als Ester Krumbachová das Drehbuch für die Adaptation von Vítězslav Nezvals Novelle «Valerie a týden divů» schrieb, sollte ihr Exmann Jan Němec es inszenieren. Da er aber nach 1968 absolutes Berufsverbot bekam, übernahm Jaromil Jireš die Regie. Krumbachová, die nicht nur Filmkostüme ­entwarf, sondern auch Szenografin und Schriftstellerin war, später als Regisseurin arbeitete und eine Art Muse der Filmszene war, zog sich zurück. ­Valerie – Eine Woche voller Wunder, eine surrealistische Parodie auf Schauerromane der Romantik, hatte damals bei Kritik und Publikum der ČSSR keinen Erfolg und läutete so symbolisch das Ende der Neuen Welle ein. Barbara Dusek Barbara Dusek ist Dramaturgin (FAMU) und freischaffende Autorin.


> Diamanten der Nacht.

> Das Gesch채ft in der Hauptstrasse.

> Das Fest und die G채ste.

> Intime Beleuchtung.

> Mut f체r den Alltag.

> Der erste Schrei.


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Kino ČSSR.

DIE SONNE IM NETZ (Slnko v sieti) ČSSR 1962

Der halbwüchsige Amateurfotograf Fajolo und seine hübsche Nachbarin Bela treffen sich oft auf dem Dach zum Radiohören, und beide wollen sich die angekündigte Sonnenfinsternis ansehen. Vor den Sommerferien kommt es zum Streit, und ­Fajolo verlässt Bratislava allein, um Landdienst zu leisten. Dort lernt er die aufreizende Jana kennen, ohne zu ahnen, dass Bela inzwischen vom Draufgänger Peto umworben wird. Der Slowake Štefan Uher schuf diesen Urfilm der Neuen Welle der ČSSR. Seine ideologiefreie Erkundung des Lebensgefühls der Jugend und die freche Erzählweise im Stil der Nouvelle Vague steckten die tschechischen Cineasten an. (mb)

JOSEF KILIAN (Postava k podpírání) ČSSR 1963 Auf der Suche nach einem Katzenverleihinstitut gerät Jan Herold in das beklemmende System ­eines anonymen bürokratischen Apparats. «Die Kafka-Konferenz auf Schloss Liblice endete 1963 mit seiner Rehabilitierung, worauf sich eine Tendenz zur Liberalisierung der Kunst abzeichnete. Josef Kilian war das erste künstlerische Dokument dieses historischen Moments, an dem man die Absage an den Stalinismus und dessen Kunstdoktrin entschlüsseln kann.» (Tschechisches Zentrum Wien) 38 Min / sw / 35 mm / Tsch/e // DREHBUCH UND REGIE Pavel Juráček, Jan Schmidt // KAMERA Jan Čuřík, Andrej Kirillow // MUSIK Wiliam Bukový // MIT Karel Vašíček (Jan Herold), Consuela Morávková (Katzenverleiherin), Ivan Růžička (Be-

90 Min / sw / 35 mm / Slow/d // REGIE Štefan Uher // DREH-

amter), Pavel Bártl (Kilian).

BUCH Alfonz Bednár, nach drei Erzählungen von Alfonz ­Bednár // KAMERA Stanislav Szomolányi // MUSIK Ilja ­Zeljenka // SCHNITT Bedřich Voděrka // MIT Marián Bielik (Fajolo), Jana Beláková (Bela), Olga Šalagová (Jana), Andrej Vandlík (Belas Vater), Eliška Nosálová (Belas Mutter).

DER ERSTE SCHREI (Křik) ČSSR 1963

Ein junges Paar im Prag der frühen sechziger Jahre bekommt sein erstes Kind. «Der Film ist eine Reflexion über die veränderte Wahrnehmung der beiden jungen Leute an diesem ausserordentlichen Tag, an dem alles gleich und doch anders ist. Das Bewusstwerden des veränderten Verhältnisses, der veränderten Gemeinschaft wird anhand drei ineinander verflochtenen Handlungslinien gezeigt: Ivana vor der Entbindung ihres ersten Kindes; Slávek, der als Fernsehmechaniker in der Stadt seiner Arbeit nachgeht und Einblick in die verschiedensten M ­ ilieus gibt; und Fragmente aus Wochenschauen – das Bild einer chaotischen, unsicheren, halbirren Welt, in die das Kind geboren werden soll.» (Jan Žalman, in: Filmprofile der tschechoslowakischen Gegenwart, Prag 1968) 82 Min / sw / 35 mm / Tsch/f // REGIE Jaromil Jireš // DREHBUCH Jaromil Jireš, Ludvík Aškenazy // KAMERA Jaroslav Kučera // MUSIK Jan Klusák // SCHNITT Jiřina Lukešová // MIT Josef Abrhám (Slávek), Eva Límanová (Ivana), Eva Kopecká (Lehrerin), Jiří Kvapil (junger Arzt), Slávka ­ ­Procházková (junge Krankenpflegerin).

DIAMANTEN DER NACHT (Démanty noci) ČSSR 1964 «Zwei halbwüchsige Jungen können während des Zweiten Weltkriegs aus einem Judentransport fliehen. Tagelang schleppen sie sich durch eine unwirtliche Gegend; Erinnerungen an die Heimat überfallen sie in Traumfetzen. Ein Trupp alter Männer mit Jagdflinten hetzt sie und nimmt sie gefangen. Der Film beschwört wortkarg und in suggestiven Bildern die Einsamkeit der Gejagten, die hirnlose Bosheit der Jäger.» (Reclams Filmführer) 63 Min / sw / 35 mm / Tsch/d/f // REGIE Jan Němec // DREHBUCH Jan Němec, Arnošt Lustig, nach einer Erzählung von Arnošt Lustig // KAMERA Jaroslav Kučera // SCHNITT Miroslav Hájek // MIT Ladislav Janský (der erste Junge), Antonín Kumbera (der zweite Junge), Irma Bischofová, Jan Říha.

MUT FÜR DEN ALLTAG (Každý den odvahu) ČSSR 1964

Einer der eifrigsten Aktivisten in seiner Fabrik soll als «Held der Arbeit» gefeiert werden. Doch kommen ihm plötzlich Zweifel an seinen Idealen. «Der erste lange Spielfilm Evald Schorms hatte ein Jahr Exportverbot und ging auch im eigenen Land nicht unangefochten über die Leinwand. Örtliche Parteifunktionäre und Betriebsleiter sahen sich unbotmässig behandelt. Manche Kritiker warfen Schorm Nihilismus und Zynismus vor. ­Tatsächlich führt der Regisseur in dem Film einen Arbeiter, Jarda Lukáš, bis hart an die Grenze des kafkaesken Daseins, wobei er freilich vor der Be-


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Kino ČSSR. nennung konkreter Motive nicht zurückschreckt.» (Heinz Ungureit, Filmkritik, 7/1966)

mos des Films spiegelt sich das Schicksal der Gesellschaft.» (Filmarchiv Austria, Feb. 2007)

85 Min / sw / 35 mm / Tsch/d/f // REGIE Evald Schorm //

71 Min / sw / DCP / Tsch/e // REGIE Ivan Passer // DREHBUCH

DREHBUCH Antonín Máša, Evald Schorm, Jan Čuřík //

Jaroslav Papoušek, Ivan Passer, Václav Šašek, nach einer Erzäh-

­KAMERA Jan Čuřík // MUSIK Jan Klusák // SCHNITT Josef

lung von Bohumil Hrabal // KAMERA Miroslav Ondříček, Josef

Dobřichovský // MIT Jana Brejchová (Vera), Jan Kačer (Jarda

Střecha // MUSIK Oldřich Korte, Josef Hart // MIT Karel Blažek

Lukáš), Vlastimil Brodský (Redaktor), Jiřina Jirásková (seine

(Bambas), Zdeněk Bezušek (Petr), Věra Křesadlová (Štěpa),

Frau), Josef Abrhám (Borek).

Jan Vostrčil (Grossvater), Vlastimila Vlková (Grossmutter).

DAS GESCHÄFT IN DER HAUPTSTRASSE (Obchod na korze) ČSSR 1965 In einer slowakischen Provinzstadt zur Zeit des faschistischen Staates, als die Entrechtung der Juden Einzug hält, lebt der Tischler Brtko. Sein Schwager, ein Hlinka-Gardist, bietet ihm die «Arisierung» eines Ladens in der Hauptstrasse an. Von der Aussicht auf gesellschaftlichen Aufstieg verlockt, nimmt Brtko an. Im fraglichen Geschäft verkauft eine verwitwete Jüdin Knöpfe und hält sich damit knapp über Wasser. Als Brtko erscheint, glaubt die alte Frau, dass die Behörde ihn als Unterstützung schickt. «Kadár und Klos untersuchen hier, wie eine kleine Diktatur als Phänomen korrumpiert, zersetzt und am Ende die moralische wie physische Substanz des Menschen völlig vernichtet.» (Jan Žalman, Kinemathek, Heft 79, Sept. 1992) 128 Min / sw / DCP / Slow/e // REGIE Ján Kadár, Elmar Klos // DREHBUCH Ladislav Grosman, Ján Kadár, Elmar Klos, nach dem Roman «Der Laden auf dem Korso» von Ladislav Grosman // KAMERA Vladimír Novotný // MUSIK Zdeněk

PERLEN AUF DEM MEERESGRUND (Perličky na dně) ČSSR 1965

Fünf tragikomische Vignetten über ungewöhnliche Menschen, ausgehend von Bohumil Hrabals Geschichtenband «Ein Perlchen auf dem Grund». Smrt pana Baltazara / Der Tod des Herrn Balthasar, Regie: Jiří Menzel Eine eigenwillige Familie von Motorradfans besucht den Grossen Preis der ČSSR. Podvodníci / Die Schwindler, Regie: Jan Němec Zwei alte Männer im Krankenhaus prahlen mit dubiosen Erzählungen von ihren Erfolgen. Dům radosti / Haus der Freude, Regie: Evald Schorm Zwei Versicherungsbeamte besuchen das Wohnhaus eines naiven Malers und müssen feststellen, dass es dort nichts zu versichern gibt. Automat Svět / Automat Welt, Regie: Věra Chytilová Die seltsame Atmosphäre einer Imbissstube in der Vorstadt Prag-Libeň verwandelt sich mit dem Einzug einer Hochzeitsgesellschaft. Romance / Romanze, Regie: Jaromil Jireš Installateursgehilfe Gaston gefällt sich selber nicht. Da verliebt sich ein Romamädchen in ihn.

Liška // MIT Jozef Kroner (Tono Brtko), Ida Kamińska (Rosalie Lautman), Hana Slivková (Evalina Brtková), František

105 Min / sw + Farbe / 35 mm / Tsch/d // DREHBUCH Menzel,

Zvarík (Markus Kolkocky), Martin Hollý (Imro Kuchar).

Němec, Schorm, Chytilová, Jireš, Bohumil Hrabal, nach Erzählungen von Hrabal // KAMERA Jaroslav Kučera // MUSIK

INTIME BELEUCHTUNG (Intimní osvětlení) ČSSR 1965

Jan Klusák, Jiří Šust // SCHNITT Jiřina Lukešová, Miroslav Hájek // MIT Pavla Maršálková (Matka), Ferdinand Krůta (Vater), Miloš Čtrnáctý (Tenor), František Havel (Journalist), ­Václav Žák (Maler), Vladimír Boudník (Maler), Ivan Vyskočil (Gaston), Bohumil Hrabal.

Bambas, Absolvent der Musikhochschule, hat für ein kleinbürgerlich-ländliches Leben auf die Verwirklichung seiner Begabung verzichtet. Seine relative Zufriedenheit stellt er erst in Frage, als sein Freund Petr ihn besucht, der die verspielten Möglichkeiten verkörpert und ihn zur Reflexion über sein eingeengtes Leben zwingt. «Ich bin davon überzeugt, das sich die interessantesten Dinge unter dem Mantel des Allerunscheinbarsten und Gewöhnlichsten abspielen.» (Ivan Passer, zit. in: Filmkritik, 2/1968) «Mit der Konfrontation divergierender Lebenskonzepte thematisiert Passer ein Leitmotiv der jungen Regisseure. Im familiären Mikrokos-

DAS FEST UND DIE GÄSTE (O Slavnosti a hostech) ČSSR 1966

Eine Picknickgesellschaft wird von zwielichtigen Männern terrorisiert. Plötzlich taucht ein Herr auf, der alle zu einer Geburtstagsfeier im Grünen einlädt. Als der Herr bemerkt, dass ein Mann die Einladung ausgeschlagen und sich davongemacht hat, bläst man zur Jagd auf den Aussenseiter, und alle sind bereit, mitzulaufen.


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Kino ČSSR. «In all dem, was ich bis jetzt gedreht habe, beschäftigte ich mich gerade mit dem unfreien ­Menschen. In Diamanten der Nacht ist er unfrei infolge eines Drucks von aussen, der Krieg heisst. In Das Fest und die Gäste geht es um die Unfreiheit, welche die Menschen sich selbst dadurch aufbürden, dass sie zu Kollaboration bereit sind.» (Jan Němec, Interview in: Filmové a televizní noviny, 7.8.1968)

hafter Natur und der Macht von Staat und Kirche gilt für viele als bester ČSSR-Film überhaupt. (mb) 162 Min / sw / DCP / Tsch/e // REGIE František Vláčil // DREHBUCH František Pavlíček, František Vláčil, nach dem Roman von Vladislav Vančura // KAMERA Bedřich Batka // MUSIK Zdeněk Liška // SCHNITT Miroslav Hájek // MIT Josef Kemr (Kozlík), Magda Vášáryová (Markéta Lazarová), František Velecký (Mikoláš), Ivan Palúch (Adam), Pavla Polášková (Ale-

70 Min / sw / 35 mm / Tsch/d/f // REGIE Jan Němec // DREH-

xandra), Michal Kožuch (Lazar), Vladimír Menšík (Bernard).

BUCH Ester Krumbachová, Jan Němec // KAMERA Jaromír Šofr // MUSIK Karel Mareš // SCHNITT Miroslav Hájek // MIT Ivan Vyskočil (Gastgeber), Jan Klusák (Rudolf), Jiří Neměc (Jo-

CHRISTUSJAHRE (Kristove roky)

sef), Zdenka Salivarová-Škvorecká (Eva), Pavel Bosák

ČSSR 1967

(František), Helena Pejšková (Marta), Evald Schorm (der Gatte).

DER FEUERWEHRBALL (Hoří, má panenko) ČSSR/Italien 1967

Feuerwehrball in einem tschechischen Dorf: Allerlei Unvorhergesehenes macht dem Organisationskomitee zu schaffen und stört den Ablauf des Programms. Während man in Formans Heimat seine böse Allegorie wenig schätzte, bescherte ihm die Oscar-Nomination den Einstieg in Hollywood. «Forman forciert seine politische Haltung nicht, er lässt sie sich aus dem menschlichen Drama entfalten. Dieser Film ist einfach richtig lustig und als Parabel zeitlos.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 4.8.2002)

«Christusjahre hat als Hauptfiguren ein Alter Ego des Cineasten, das als Kunstmaler in Prag das Boheme-Dasein eines alternden, labilen Jugendlichen fristet, und dessen Bruder Andrej, der ein geordneteres Leben führt, aber auch noch Sinn für Kinderspiele hat. Diese Neigung zu Spielen und Spässen – auch provokativer Art – liegt im Herzen des ästhetischen Ansatzes des Films. Dieser entführt uns in ein wirbelndes Fest, indem er geschickt alle Stilmittel des modernen Kinos der sechziger Jahre anwendet: Verzicht auf den Zwang zur Handlung, Bild- und Toncollagen, ungewohnte Blickwinkel, Gegenüberstellung von höchst komponierten Bildern mit dokumentarischen Aufnahmen, Anschlussfehler, abrupt auftauchende Farbbilder.» (Claude Rieffel, aVoir-aLire.com) 95 Min / sw + Farbe / 35 mm / Slow/d // REGIE Juraj Jakubisko

71 Min / Farbe / DCP / Tsch/d // REGIE Miloš Forman // DREH-

// DREHBUCH Juraj Jakubisko, Lubor Dohnal // KAMERA Igor

BUCH Miloš Forman, Jaroslav Papoušek, Ivan Passer //

Luther // MUSIK Wiliam Bukový // SCHNITT Bedřich Voděrka

­KAMERA Miroslav Ondříček // MUSIK Karel Mareš // SCHNITT

// MIT Jiří Sýkora (Juraj), Jana Stehnová (Jana), Vlado Müller

Miroslav Hájek // MIT Jan Vostrčil (Komitee-Vorsitzender),

(Andrej), Miriam Kantorková (Marta), Mária Sýkorová (Gross-

Josef Kolb (Josef), František Svět (alter Mann), ­Milada Ježková

mutter), Viktor Blaho (Jurajs Vater).

(Josefs Frau), Jan Stöckl (Ehrenhauptmann), Stanislav ­Holubec (Karel), Josef Kutálek (Ludva).

MARKETA LAZAROVA (Markéta Lazarová)

ALLE GUTEN LANDSLEUTE (Všichni dobří rodáci) ČSSR 1968

ČSSR 1967 Im 13. Jahrhundert, auf der Kippe zwischen Heidentum und Christentum, tobt in Böhmen eine Familienfehde. Kozlíks Söhne verschleppen Markéta, die schöne Tochter seines Rivalen Lazar, sowie den jungen deutschen Bischof Kristian. Lazar schwört Rache und der König schickt Truppen, um Kristian zu befreien. František Vláčil bemühte sich bei der Adaptation von Vladislav Vančuras Roman von 1931 um historische Genauigkeit, verwendete aber formale Mittel der Neuen Welle, um Vančuras Metaphorik zu vermitteln. Dieses bizarre, beeindruckende Epos über den zeitlosen Konflikt zwischen trieb-

Ein kleines mährisches Dorf. Anhand markanter Episoden aus den Jahren 1945 bis 1958 wird die Entwicklung von der ersten Nachkriegseuphorie bis hin zur Ernüchterung über die (Zwangs-)Kollektivierung der Landwirtschaft im Leben und Schicksal einiger Dorfbewohner und -bewohnerinnen gespiegelt. «Jasný, Meister des lyrischen Films mit politischer Implikation, hat mit Alle guten Landsleute seinen Höhepunkt erreicht. Klarer, konsequenter und – bei allem Witz – ernsthafter (als in seinen früheren Filmen) werden hier Humor, Ironie und Poesie zur Aufdeckung politischer Wirklichkeit eingesetzt.» (Th. R., NZZ, 27.6.1969)


> Marketa Lazarova .

> Christusjahre.

> Alle guten Landsleute .


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Kino ČSSR. 119 Min / Farbe / 35 mm / Tsch/f // DREHBUCH UND REGIE

SCHNITT Jaromír Janáček // MIT Rudolf Hrušínský (Kopf-

Vojtěch Jasný // KAMERA Jaroslav Kučera // MUSIK Svato-

rkingl), Vlasta Chramostová (Lakmé), Jana Stehnová (Zina),

pluk Havelka // SCHNITT Miroslav Hájek // MIT Vlastimil

Miloš Vognič (Mili), Ilja Prachař (Walter Reinke), Jiří Menzel

Brodsky (Očenáš), Vladimir Menšík (Pyrk), Radoslav Brzobo-

(Dvořák).

hatý (František), Drahomíra Hofmanová (die lustige Witwe), Waldemar Matuška (Zášinek), Václav Babka (Franta Lampa).

WAHLVERWANDTSCHAFTEN (Spřízněni volbou) ČSSR 1968

FAMU-Abgänger Karel Vachek geriet im Frühjahr 1968 in die Umwälzungen in der ČSSR und wurde unversehens zum Chronisten der Ereignisse vom Rücktritt des Präsidenten Antonín Novotný bis zu den Präsidentschaftswahlen. Mit 16-mmKamera und Tonband ausgestattet traten Vachek und sein Team ins politische Getümmel und fingen dann an zu drehen, wenn andere aufhörten. Hinter den Kulissen hielten sie bei Diskussionen das «menschliche Antlitz» des von Dubček, Svoboda und anderen vertretenen Sozialismus fest. (mb)

DAS OHR (Ucho) ČSSR 1969/1990 In die Villen der Spitzenfunktionäre werden in den fünfziger Jahren überall Abhörgeräte eingebaut. Ein stellvertretender Minister schliesst aus einigen Anzeichen, dass er bald verhaftet werden soll. Von einem Empfang nach Hause gekommen, beginnt er mit seiner Frau, aus Angst vor der Zukunft ebenso heftig wie entlarvend zu streiten. Da klingelt das Telefon... «21 Jahre nach seiner Entstehung aus dem Eisschrank geholt, wirkt Das Ohr nicht ganz so genial wie Menzels gleichzeitig entstande Lerchen am Faden, doch ist der Film vielleicht noch bezeichnender für diese kurze, in ästhetisch wie politischer Hinsicht wirklich revolutionäre Periode.» (Lorenzo Codelli, in: Positif, Paris)

85 Min / sw / Digital HD / Tsch/e // REGIE Karel Vachek // ­KAMERA Jozef Ort-Šnep // SCHNITT Jiřina Skalská.

PODIUMSGESPRÄCH: KINO ČSSR

93 Min / sw / 35 mm / Tsch/f // REGIE Karel Kachyňa // DREHBUCH Jan Procházka, Karel Kachyňa // KAMERA Josef Illík // MUSIK Svatopluk Havelka // SCHNITT Miroslav Hájek // MIT

FR 12. DEZ | nach der 18.00-Uhr-Vorstellung

Jiřina Bohdalová (Anna), Radoslav Brzobohatý (Ludvik), Jiří

Magda Vášáryová (Hauptdarstellerin in Marketa Lazarova und heutige Nationalrätin der Slowakischen Republik) und andere Gäste schildern die Umstände, unter denen die Cineasten der Neuen Welle arbeiteten, und was nach 1968 geschah.

Císler (Standa), Miloslav Holub (General).

DER LEICHENVERBRENNER (Spalovač mrtvol) ČSSR 1969

Karel Kopfrkingl ist ein höchst pflichtbewusster Mensch, Kremator und Familienvater. Die Identifikation mit seinem Beruf gründet auch in seiner buddhistischen Überzeugung, mit der Einäscherung das irdische Leid zu verkürzen und den Toten den Eingang ins Paradies zu erleichtern. «Da die Geschichte im Prag der 1930er Jahre angesiedelt ist, als im Münchner Abkommen das Sudetenland Nazideutschland zugeteilt wurde, ahnt man, in welche Richtung sich Kopfrkingls Psychopathologie und Beruf bewegen werden.» (Michael Brooke, Sight & Sound, Juni 2006) «Eine bitterböse Parabel über Faschismus, Mitläufertum und Opportunismus, die einen nicht wieder loslassen wird.» (bildstoerung.tv) 95 Min / sw / DCP / Tsch/d // REGIE Juraj Herz // DREHBUCH Juraj Herz, Ladislav Fuks, nach der Novelle von Ladislav Fuks // KAMERA Stanislav Milota // MUSIK Zdeněk Liška //

VALERIE – EINE WOCHE VOLLER WUNDER (Valerie a týden divů) ČSSR 1970 Ein junges Mädchen in einem transsilvanischen Städtchen des 19. Jahrhunderts entdeckt, dass die Welt nicht ist, was sie zu sein scheint. «Gefilmt in lyrischem Stil, feiert der Film das erste Aufwallen der Pubertät. Kenner des Brauchtums und der Mythologie mögen einen logischen roten Faden in diesem Reigen der Vampire und Wölfe, der schwarzen Magie, der Rituale und des Tanzes ausmachen, doch für die meisten Leute besteht das weit weniger anspruchsvolle Vergnügen bei diesem Film darin, sich zurückzulehnen und sich vom Bilderstrom fortlaufend überraschen zu lassen. Die Gesamtwirkung des Films ist verblüffend.» (John Collis, Time Out Film Guide) 77 Min / Farbe / 35 mm / Tsch/d // REGIE Jaromil Jireš // DREHBUCH Jaromil Jireš, Ester Krumbachová, nach dem Roman von Vítězslav Nezval // KAMERA Jan Čuřík, Oldřich Hubáček // MUSIK Jan Klusák // SCHNITT Josef Valušiak // MIT Jaroslava Schallerová (Valerie), Helena Anýžová (Grossmutter), Petr Kopřiva (Orlík), Jan Klusák (Gracián).



15 Titanus

Ein Filmstudio für jede Jahreszeit Was MGM, Universal, Warner und andere Hollywood-Studios für die USA waren, wollte Titanus für Italien sein: ein Zentrum der Filmproduktion mit eigener Infrastruktur und eigener Handschrift, das selber Stars aufbaut, neue Regietalente entdeckt und dabei gutes Geld verdient. Seit 1904 haben drei Generationen der Familie Lombardo diesem Credo nachgelebt und die Filmgeschichte mitgeprägt. Nach dem Filmfestival Locarno widmet auch das Filmpodium dieser italienischen Traumfabrik eine Retrospektive. Wer sich mit Filmgeschichte beschäftigt, hat selten Grund, die edle Wissenschaft der Heraldik zu Rate zu ziehen. Die Wappenkunde ist ja die Domäne von Historikern, die auf das Mittelalter und die Renaissance spezialisiert sind. Damals dienten Wappenschilde dem Zweck, bei einer Schlacht Freund und Feind auseinanderzuhalten. Bei Turnieren halfen sie den Zuschauern, Ritter unterschiedlicher Adelsgeschlechter augenblicklich zu identifizieren. Danach büssten Schilde ihre martialische Funktion ein und wurden zu Ehrenzeichen. Zwei grosse Filmstudios stellten sie als Gütesiegel jeweils vor den Beginn ihrer Produktionen. Wer kennt nicht das Wappenschild, das die Warner Bros. in Hollywood als grafisches Statement im Vorspann ihrer Filme platzieren? Um wie viel raffinierter aber ist das Wappen der italienischen Firma Titanus: Scheinbar aus schwerem Metall geschmiedet, mit schwungvoll verziertem Kopfstück, wirkt es wehrhaft; es könnte zu einer Adelsfamilie gehören, deren Stammbaum weit in die Renaissance zurückreicht. Auch die Musik zum Signet weckt auf subtile Weise Erwartungen: Zunächst ist der verlockende Wirbel eines Xylofons zu hören, der mit Streichern unterlegt ist; erst nach zehn Sekunden ertönt eine stolze Fanfare. «Der grösste Produzent, Verleiher und Idiot Italiens» Wie Warner Bros. wurde auch die Titanus als Familienbetrieb gegründet und sie ist es immer noch. Ihre Firmengeschichte ist die schillernde Chronik einer Dynastie, in der die Leidenschaft für das Kino drei Generationen überdauert hat: Das Studio, dessen Name metallurgische wie mythische Assoziationen weckt, wurde von Gustavo Lombardo gegründet und weitergeführt von sei< >

Abgesang auf eine Ära: Il gattopardo Balztanz um eine Blondine: Poveri ma belli


16 nem Sohn Goffredo, bis schliesslich der Enkel Guido das Erbe antrat. Wie alle grossen Produzenten verstanden sie es, mit der Zeit zu gehen und zugleich Anker in die Zukunft zu werfen. Damit die Dynastie das italienische Kino mehr als ein Jahrhundert lang prägen konnte, mussten ihre Statthalter wandelnde Paradoxa sein: Diplomaten und Strategen, Geizkragen und Verschwender, Propheten und Skeptiker. Sie waren wechselweise Komplizen und Gegenspieler der Regisseure, fungierten als Hebammen und Hemmschuhe. Entsprachen sie dem landläufigen Klischee vom Filmproduzenten als geschäftstüchtiger Barbar, der die Künstler in einem Wechselbad aus Aggression und Schmeichelei für seine Zwecke einspannt, sich kleinlich über die kostspieligen Wünsche seiner Regisseure beschwert und dabei doch schon im Hinterkopf seinen Profit errechnet? Der Regisseur Riccardo Freda jedenfalls nannte Goffredo Lombardo den «grössten Produzenten, Verleiher und Idioten Italiens» und wusste gleichwohl dessen Risikobereitschaft zu schätzen. Denn die Lombardos stellten sich der furchteinflössendsten Aufgabe im unwägbaren Filmgeschäft: Sie mussten Entscheidungen treffen. Aufstieg und Fall des Titanen Anno 1904 wollte Gustavo Lombardo Neapel zum zweiten Zentrum der frühen italienischen Filmproduktion nach Turin machen. Auch als Verleiher konnte er grosse Erfolge verbuchen. Mit Leda Gys heiratete er eine Schauspielerin, deren Temperament überschäumender, unverblümter, mithin neapolitanischer war als das der anderen Stummfilm-Diven Italiens. Obwohl die Firma 1928 nach Rom umsiedelte, blieb sie dem Geist des Mezzogiorno treu: Ihr erster grosser Nachkriegserfolg Catene (1948) spielte in Neapel. Und Mario Serandrei, der einen Grossteil der Titanus-Produktionen schnitt, ­ stammte ebenfalls von dort. Während der Ära des Faschismus lag die Produktion fast brach; mit dem Montagefilm Giorni di gloria stand sie jedoch nach Kriegsende aus den (auch moralischen) Ruinen wieder auf. Nach Gustavos Tod 1951 schuf ­Goffredo eine Infrastruktur nach Hollywood-Vorbild: Die Büros lagen unweit der Stazione Termini. In ganz Rom liess er mehrere Ateliers, Schnitt- und Synchronstudios errichten. Er gründete einen Musikverlag sowie eine eigene Filmzeitschrift. Regisseure und Schauspieler band er vertraglich immer nur kurz- oder mittelfristig an das Studio. Er überwachte jede Phase der Produktion und mischte sich massiv in Drehbucharbeit und Montage ein. In seinem Büro liess er eigens dafür einen Schneidetisch installieren. In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten produzierte die Titanus annähernd 100 Filme; in seiner Glanzzeit, den fünfziger Jahren, brachte das Studio bisweilen 15 Titel pro Jahr heraus. Um die Risiken gering zu halten, ging Goffredo von Anfang an Koproduktionen ein, vor allem mit Frankreich


17 und Spanien, aber auch mit US-Studios wie RKO und MGM. Diese Praxis gipfelte 1963 in Il gattopardo, für den die Titanus eine Partnerschaft mit der 20th Century Fox schloss. Die Dreharbeiten zu Robert Aldrichs Sodoma e Gomorra verschlangen zur gleichen Zeit das Vierfache des ursprünglichen Budgets und stürzen die Titanus in den Konkurs. 1964 entstand die vorerst letzte Produktion fürs Kino, die Ateliers wurden verkauft, danach konzentrierte sich Goffredo auf den Verleih. Dabei setzte er ebenfalls auf die Mischung aus Vertrautem und Neuem. 1970 brachte die Titanus Dario Argentos erste Regiearbeit L’uccello dalle piume di cristallo heraus, die frischen Wind ins Genre des «Giallo» brachte. Goffredo und sein Sohn Guido entdeckten das Fernsehen und hielten auch in diesem Medium den Dialog mit der Tradition aufrecht. Die Mischung macht’s Goffredo träumte davon, einen unverwechselbaren Studiostil zu etablieren. Am Neorealismus hatte das Studio wenig Anteil. Gleichwohl reflektierten die Produktionen der Titanus die Erfahrung von Entbehrung und Aufbruch. Von Giorni di gloria an setzten sie sich regelmässig mit dem Zweiten Weltkrieg auseinander. Dramen wie Estate violenta und La ciociara rekonstruieren den Schrecken der Bombennächte und zeigen die Widersprüche auf, die die Gesellschaft durchziehen; De Sicas Film wird 1960 beim Publikum lebhafte Erinnerungen an die Zeit des Mangels wachgerufen haben: Weil es nicht genug Gläser gibt, muss in einer Szene von La ciociara der Wein aus tiefen Tellern getrunken werden. Das Prestige, das Namen wie Michelangelo Antonioni, Federico Fellini und Luchino Visconti dem Studio brachten, wurde gegenfinanziert mit dem Rückgriff auf populäre Genres. Melodramen von Raffaello Matarazzo liessen die Kasse klingeln; Pane, amore e fantasia von Luigi Comencini und Poveri ma belli von Dino Risi, vom Studio rasch zu Serien ausgebaut, lancierten den Siegeszug der «commedia all’italiana». Mit Roberto Rossellinis Viaggio in Italia hielt gleichsam die filmische Moderne Einzug ins Kino. Dem Drehbuchautor und Dokumentarfilmer Valerio Zurlini gab Goffredo Lombardo die Chance, mit Estate violenta 1959 einen Zyklus von Filmen zu lancieren, in denen sich der moralische Aufruhr einer jungen Generation Bahn brechen konnte. Er erkannte auch früh das Talent von Elio Petri, dessen I giorni contati zu den grossen Studien der existenziellen Krise zählt, von denen das italienische Kino zu Beginn der 60er Jahre Zeugnis ablegte. Das war der Nebeneffekt der Mischkalkulation, welche die Lombardos betrieben: Ihre Filme entwarfen stimmige Zeitbilder, die bis heute überzeugen. Gerhard Midding Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin.


> Le amiche.

> Pane, amore e fantasia.

> Siamo donne.

> Viaggio in Italia.


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Titanus.

GIORNI DI GLORIA

SIAMO DONNE

Italien 1945

Italien 1953

«Eine dokumentarische Huldigung an die ‹resistenza›, knapp nach Kriegsende gefertigt. Aktionen des Widerstands gegen italienische Faschisten und Nazi-Besetzer im Zeitraum Herbst 1943 bis Frühjahr 1945. Reaktionen auf die Ermordung von 333 Zivilisten im März 1944 als Racheakt für einen Anschlag, bei dem 33 SS-Männer in Rom ums Leben kamen: deutsche Gründlichkeit im Mass eins zu zehn. Marcello Paglieros Episode gilt der Exhumierung der Leichen in den Fosse Ardeatine. Luchino Visconti filmt mit acht Kameras den Prozess gegen den römischen Polizeichef Pietro Caruso, der den Deutschen die Geiseln beschaffte. Während des Verfahrens, das mit dem Todesurteil und der Exekution des Quästors endet, wird der Zeuge der Anklage Donato Carretta von der aufgebrachten Zuschauermenge als der ehemalige Direktor des Regina-Coeli-Gefängnisses erkannt und gelyncht.» (Harry Tomicek, Österreich. Filmmuseum Wien, 1/2005)

Wie heutige Fernsehsender veranstaltete auch die Titanus Castings, um den nächsten weiblichen Star zu finden. Gewinnerinnen des Wettbewerbs dürfen in einem Episodenfilm mit vier echten Stars mitwirken, die darin allerdings zeigen wollen, was für normale Frauen sie geblieben sind: Alida Valli verlässt einen Promi-Wohltätigkeitsball, um an die Verlobungsfeier ihrer Assistentin zu gehen. Ingrid Bergman hadert mit einer Nachbarin, deren Huhn ihr offenbar die Rosenbeete verwüstet. Isa Miranda, die ein kinderloses, egozentrisches Dasein fristet, kümmert sich um einen verletzten Jungen. Anna Magnani versucht einem Taxifahrer klarzumachen, dass ihr Dackel als Schosshund gratis mitfahren darf. Der Film als Ganzes ist ein vergnügliches Zeitdokument; in cineastischer Hinsicht überzeugen vor allem Rossellinis selbstironische Darstellung seiner Frau, Ingrid Bergman, und Viscontis witzige One-Woman-Show, die Anna Magnani aufs Image massgeschneidert ist. (mb)

71 Min / sw / 35 mm / I/e // DREHBUCH UND REGIE Mario ­Serandrei, Giuseppe de Santis, Luchino Visconti, Marcello

100 Min / sw / 35 mm / I/e // REGIE Alfredo Guarini, Gianni

Pagliero // KAMERA Giovanni Pucci, Massimo Terzano,

Franciolini, Roberto Rossellini, Luigi Zampa, Luchino V ­ isconti

­Umberto della Valle // MUSIK Constantino Ferri.

// DREHBUCH Cesare Zavattini, Suso Cecchi d’Amico, Luigi Chiarini // KAMERA Otello Martelli, Enzo Serafin, Domenico

PANE, AMORE E FANTASIA Italien 1953

Scala // MUSIK Alessandro Cicognini // SCHNITT Mario ­Serandrei, Adriana Novelli, Jolanda Benvenuti // MIT Alida Valli (Alida), Ingrid Bergman (Ingrid), Isa Miranda (Isa), Anna Magnani (Anna), Anna Amendola (Anna), Emma Danieli

Einer der ganz grossen italienischen Kassenschlager der fünfziger Jahre, eine «fröhlich ­bewegte Liebesgeschichte aus dem Alltag eines italienischen Bergdorfes. Ein angegrauter Carabinieri-Feldwebel schwankt unentschlossen zwischen einem wilden Naturkind und der verschlossenen Dorfhebamme. Mit den Mitteln des Neorealismus entwirft der Film das frische und menschliche Bild eines Volkes, in dem Fröhlichkeit und Melancholie, Leidenschaft und Ritterlichkeit, Boshaftigkeit und Güte, Aberglaube und echte Religiosität dicht nebeneinander wohnen.» (Lexikon des int. Films) Lollobrigida als Landmädchen «zeigt, dass sie das nuancenreiche Spiel beherrscht und mühelos von der Komödie zum Drama zu wechseln vermag.» (Katalog Filmfestival Locarno, 2007) 93 Min / sw / 35 mm / I/e // REGIE Luigi Comencini // DREHBUCH Ettore Maria Margadonna, Luigi Comencini, Vittorio De Sica // KAMERA Arturo Gallea // MUSIK Alessandro Cicognini // SCHNITT Mario Serandrei // MIT Gina Lollobrigida (Maria De Ritis, «La Bersagliera»), Vittorio De Sica (Antonio Carotenuto), Marisa Merlini (Annarella Mirziano), Roberto Risso (Gendarm Stelluti), Virgilio Riento (Don Emidio).

(Emma).

SCUOLA ELEMENTARE Frankreich/Italien 1954 Der seriöse und bescheidene Lehrer Dante Trilli zieht aus dem Süden nach Mailand. An der Schule, die ihn angestellt hat, trifft er auf seinen ehemaligen Kollegen Pilade, der nun als Hauswart arbeitet. Als Pilade ihn für allerlei Nebengeschäfte gewinnen will und der brave Lehrer sich obendrein in die jüngere Kollegin Laura verguckt, droht Trilli seine Ideale zu vergessen. «Alberto Lattuada passte die Prinzipien des Neorealismus seinem Lieblingsgenre an, den Geschichten von glückloser Liebe. Seine Pro­ ­ tagonisten, die Visionen unsterblicher Leidenschaft verfolgten, wurden in wirklichkeitsnahe Um­gebungen verpflanzt, und ihre Kümmernisse entspannen sich vor dem Hintergrund des Nachkriegs-Italiens und der sozialen Unruhe. ­ Lattuadas Grundüberzeugungen von der Güte der Menschen und der Zerstörungskraft der Gesellschaft standen nicht im Gegensatz zum neorea-


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Titanus. listischen Humanismus.» (Mira Liehm, Passion and Defiance: Film in Italy from 1942 to the Present, Berkeley 1984)

113 Min / sw / Digital HD / I/e // REGIE Federico Fellini // DREHBUCH Federico Fellini, Ennio Flaiano, Tullio Pinelli // KAMERA Otello Martelli // MUSIK Nino Rota // SCHNITT ­Mario Serandrei, Giuseppe Vari // MIT Broderick Crawford

95 Min / sw / 35 mm / I/e // REGIE Alberto Lattuada // DREH-

(Augusto), Richard Basehart (Carlo/Picasso), Giulietta

BUCH Alberto Lattuada, Giorgio Prosperi, Jean Blondel,

Masina (Iris), Franco Fabrizi (Roberto), Giacomo Gabrielli

Charles Spaak // KAMERA Leonida Barboni // MUSIK Mario

(«Baron» Vargas), Maria Zanoli (Bäuerin).

Nascimbene // MIT Riccardo Billi (Dante Trilli), Mario Riva (Pilade Mucci), Lise Bourdin (Laura Bramati), Alberto Rabagliati (Adalberto Bonfanti), René Clermont (Vincenzo Serafini).

VIAGGIO IN ITALIA Italien 1954 Auf einer Italienreise brechen bei einem englischen Ehepaar die längst schwelenden Spannungen auf. Während die Eindrücke des fremden Landes die gegenseitige Entfremdung immer gnadenloser hervortreten lassen und die Scheidung schon unvermeidlich scheint, erkennen die beiden auch, wie leer das Leben ohne den anderen wäre. «Mit Viaggio in Italia gelang Rossellini in den Augen vieler Kritiker der erste moderne Film. Die Geschichte und die Topografie der gewählten Schauplätze lassen den Film quasi aus seiner Handlungsspur laufen und führen zu den Brüchen, aus denen ein neues Kino hervorgeht.» (Laura Mulvey, Sight & Sound, Dez. 2000) 83 Min / sw / DCP / E/f/i // REGIE Roberto Rossellini // DREH-

LE AMICHE Italien 1955 Clelia, eine junge Frau, die nach Turin zurückkehrt, gerät in einen Kreis von Freunden, die ebenso zynisch wie egoistisch sind und zu denen sie bald auf Distanz geht. Doch der Umgang hat sie schon stärker geprägt, als ihr lieb ist. «Antonionis Faszination für Frauen ist mit einer Sympathie unterlegt, die man feministisch nennen könnte. Die Hauptfiguren verfolgen ihre Wünsche und Ambitionen unter Einschränkungen, die ihnen von den Sitten und der rohen Unmöglichkeit der Männer aufgezwungen werden. Das will nicht heissen, dass die Frauen vollkommen wären oder sich selbst als Opfer ansehen. Im Gegenteil: Was Le amiche so erfrischend macht – so traurig und bisweilen so lustig –, ist der Umstand, dass seine Heldinnen Fehler machen und Schwächen haben, eitel und mächtig sind, jede auf ihre Weise. Sie machen einander oft unglücklich, doch ihre Gesellschaft ist stets ein Vergnügen.» (A. O. Scott, The New York Times, 17.6.2010)

BUCH Vitaliano Brancati, Roberto Rossellini // KAMERA Enzo Serafin // MUSIK Renzo Rossellini // SCHNITT Jolanda

105 Min / sw / Digital HD / I/e // REGIE Michelangelo Antoni-

­Benvenuti // MIT Ingrid Bergman (Katherine Joyce), George

oni // DREHBUCH Michelangelo Antonioni, Suso Cecchi

Sanders (Alex Joyce), Marie Mauban (Marie), Anna Proclemer

D’Amico, Alba De Cespedes, nach der Erzählung «Tra donne

(Prostituierte), Tony La Penna (Tony Burton), Natalia Ray-La

sole» von Cesare Pavese // KAMERA Gianni Di Venanzo //

Penna (Natalia Burton), Jackie Frost (Judy), Leslie Daniels

MUSIK Giovanni Fusco // SCHNITT Eraldo Da Roma // MIT

(Judys Haushälterin).

Eleonora Rossi Drago (Clelia), Gabriele Ferzetti (Lorenzo), Franco Fabrizi (Cesare Pedoni, Architekt), Valentina Cortese (Nene), Yvonne Furneaux (Momina De Stefani), Madeleine

IL BIDONE Italien/Frankreich 1955 Die Geschichte des alternden Gauners Augusto und seiner Kumpane, die im Nachkriegs-Italien als Priester und Amtspersonen auftreten, um arme Leute um ihr Geld zu bringen. Ein gelähmtes Mädchen, das Augusto gläubig um seinen priesterlichen Segen bittet, öffnet für einen Moment dessen Herz. «Ein Film mit neorealistisch genauer Milieuschilderung, aber chaplinesker Komik, eine todtraurige Komödie, in der das Lachen erstirbt, eine Tragödie mit beissenden Karikaturen – ein fellinesker, konzessionsloser, einzigartiger Film kurzum.» (Harry Tomicek, Österreich. Filmmuseum Wien, 1988)

Fischer (Rosetta Savoni), Anna Maria Pancani (Mariella), ­ ­Luciano Volpato (Tony), Maria Gambarelli (Direktorin des Ateliers), Ettore Manni (Carlo, Assistent des Architekten).

POVERI MA BELLI Italien 1957 «Poveri ma belli erzählt eine einfache, kleine Geschichte: Zwei Burschen, Freunde, arm und schön, verlieben sich in dasselbe bezaubernde Mädchen, die Rivalitäten treiben sie auseinander, doch als die Begehrte sich dann für einen dritten, ihren Ex entscheidet, finden die Freunde wieder zusammen, die Zeit wird die Wunden schon heilen. Ein zentrales, immens erfolgreiches Frühwerk von Dino Risi: In seiner leicht hingeworfenflatterhaften, in den schönsten Momenten an


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Titanus. gute Schlager und deren Wahrheit erinnernden Art ist Poveri ma belli noch gut verankert im ‹neorealismo rosa› – in seinem Blick auf die Figuren, deren seelische Brüchigkeiten jedoch zeichnen sich die Unerbittlichkeit und Härte kommender Werke ab. In seinen Themen – Verstädterung, aufkommende Jugendkultur – wie auch der Fülle seiner Details ein perfektes Dokument jener Jahre. Poesie für die Massen, wie man sie heute kaum mehr kennt.» (Olaf Möller, Österreich. Filmmuseum Wien, 1/2010)

«Rosis unbekanntester Film zählt zu seinen besten. Die gleichsam dokumentarische Qualität des Films ist der Blick von aussen, die atmosphärische Dichte. Aus der Sicht des Arbeitsemigranten wird das Wirtschaftswunder weniger wunderbar.» (Karsten Witte, in: Europäische Filmkunst, Frankfurt a. M. 1990) 121 Min / sw / 35 mm / I/e // REGIE Francesco Rosi // DREHBUCH Suso Cecchi d’Amico, Francesco Rosi, Giuseppe ­Patroni Griffi // KAMERA Gianni Di Venanzo // MUSIK Piero Piccioni // SCHNITT Mario Serandrei // MIT Alberto Sordi

101 Min / sw / 35 mm / I/f // REGIE Dino Risi // DREHBUCH

(Ferdinando «Totonno»), Belinda Lee (Paula Mayer), Renato

Dino Risi, Massimo Franciosa, Pasquale Festa Campanile //

Salvatori (Mario Balducci), Nino Vingelli (Vincenzo), Josef

KAMERA Tonino Delli Colli // MUSIK Piero Morgan // MIT

Dahmen (Herr Mayer), Aldo Giuffré (Armando).

­Marisa Allasio (Giovanna), Maurizio Arena (Romolo), Renato Salvatori (Salvatore), Ettore Manni (Ricardo), Alessandra ­Panaro (Anna Maria), Lorella de Luca (Marisa).

LA CIOCIARA Frankreich/Italien 1960

ESTATE VIOLENTA Faschistensohn Carlo gehört im Sommer 1943 zur Jeunesse dorée von Riccione bei Rimini. Sein Vater hat ihm mit Tricks die Einberufung erspart. Am Strand verliebt er sich in die schöne 30-jährige Offizierswitwe Roberta. Das missfällt seiner Freundin Rosanna ebenso wie Robertas Mutter. Als Carlos Beurlaubung ausläuft, soll er in Bologna einrücken, obschon der Duce abgedankt hat und das Volk an den Faschisten Rache zu nehmen beginnt. Roberta will mit Carlo untertauchen und fährt mit ihm im Zug weg. Doch ihre Reise wird von einem Flugzeugangriff unterbrochen. Jean-Louis Trintignant und Eleonora RossiDrago sind das Paar in dieser Mai-SeptemberRomanze vor historischem Hintergrund. In der Dramatik der letzten Kriegsmonate spiegelt sich die Aufgewühltheit der Protagonisten. (mb)

Die junge Witwe Cesira zieht mit ihrer 13-jährigen Tochter Rosetta aus Rom in ihre Heimatregion Ciociaria zurück, als gegen Ende des Zweiten Weltkriegs die Hauptstadt von den Alliierten bombardiert wird. In ihrem Dorf freundet sich Cesira mit dem feinsinnigen Lehrer Michele an, doch die Idylle wird gestört: Fliehende Nazis zwingen Michele, sie übers Land zu führen, und nordafrikanische Truppen der einmarschierenden Alliierten fallen über Cesira und Rosetta her. Cesare Zavattini adaptierte den Roman von Alberto Moravia, die Inszenierung übernahm ­ ­Vittorio De Sica. Sophia Loren, ursprünglich für die Rolle der Tochter vorgesehen (mit Anna ­Magnani als Mutter), brillierte in der unglamourösen Rolle der Cesira und gewann dafür als erste Schauspielerin in einem fremdsprachigen Film einen Oscar. Ebenfalls gegen den Typ besetzt ist Jean-Paul Belmondo als schüchterner Bücherwurm Michele. (mb)

98 Min / sw / 35 mm / I/e // REGIE Valerio Zurlini // DREHBUCH

100 Min / sw / DCP / I/f // REGIE Vittorio De Sica // DREHBUCH

Valerio Zurlini, Suso Cecchi d’Amico, Giorgio Prosperi //

Cesare Zavattini, Vittorio De Sica, nach dem Roman von Al-

­KAMERA Tino Santoni // MUSIK Mario Nascimbene // SCHNITT

berto Moravia // KAMERA Gabor Pogany // MUSIK Armando

Mario Serandrei // MIT Eleonora Rossi-Drago (Roberta),

Trovaioli // MIT Sophia Loren (Cesira), Jean-Paul Belmondo

­Jean-Louis Trintignant (Carlo), Jacqueline Sassard (Rosanna),

(Michele), Raf Vallone (Giovanni), Eleonora Brown (Rosetta),

Raffaele Mattioli (Giulio), Federica Ranchi (Maddalena).

Renato Salvatori (Florindo).

Italien/Frankreich 1959

I MAGLIARI Italien/Frankreich 1959

BANDITI A ORGOSOLO Italien 1961

Ein italienischer Gastarbeiter in Hannover wird durch Landsleute in Betrugsgeschäfte verwickelt, beginnt eine Beziehung mit der Ehefrau eines Hamburger Textilhändlers und erlebt in der unwirtlichen Bundesrepublik die Zerstörung seiner Träume vom sozialen Aufstieg. Alberto Sordi brilliert als Vertreter mit MG-Mundwerk.

In den Bergen Sardiniens gerät der Schafhirt Michele zu Unrecht unter Verdacht, Komplize von Räubern zu sein, die einen Carabiniere erschossen haben. Da er seine Unschuld nicht beweisen kann, sieht er sich zur Flucht gezwungen und gerät erst recht in den Ruch des Gesetzlosen.


> Banditi a Orgosolo.

> Il bidone.

> I magliari.

> Estate violenta.

> L’uccello dalle piume di cristallo.

> I giorni contati.


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Titanus. 1961, als schon die Ära Fellinis und Antonionis angebrochen war, griff der Dokumentarfilmer Vittorio De Seta in seinem Spielfilmdebüt Banditi a Orgosolo stark auf den Neorealismus zurück. Ohne psychologische oder politische Hintergründe auszuloten, zeigt er den Konflikt zwischen der fast mittelalterlich-bäurischen Kultur Sardiniens und dem Staat Italien, der als verständnislose Kolonialmacht erscheint. Seine schnörkellose Inszenierung, die die Menschen als Teil der unveränderlichen Landschaft ins Bild setzt, wurde in Venedig mehrfach preisgekrönt. (mb) 98 Min / sw / 35 mm / I/e // REGIE Vittorio De Seta // DREHBUCH Vera Gherarducci, Vittorio De Seta // KAMERA Vittorio De Seta // MUSIK Valentino Bucchi // SCHNITT Jolanda

derts: Der alte Fürst Fabrizio arrangiert sich zwar oberflächlich mit den aufstrebenden bürgerlichliberalen Kräften – er verheiratet seinen Neffen mit der Tochter des opportunistischen Bürgermeisters –, verweigert jedoch seine Mitarbeit am neuen Königreich Italien und beklagt das ewige Kolonialschicksal Siziliens. In einer grandios gestalteten Ballszene treffen sich am Ende alte und neue Gesellschaft zum Totentanz. Visconti identifiziert sich spürbar mit Fabrizio, der die Unabwendbarkeit der neuen Ordnung, aber auch die Fragwürdigkeit der daran geknüpften Hoffnungen erkennt ... Sein historisches und gesellschaftliches Panoramabild ist von faszinierender Schönheit und analytischer Schärfe zugleich.» (Lexikon des int. Films)

­Benvenuti // MIT Michele Cossu (Michele), Vittorina Pisano (Mintonia), Peppeddu Cuccu (Peppeddu).

185 Min / Farbe / Digital HD / I/d // REGIE Luchino Visconti // DREHBUCH Luchino Visconti, Suso Cecchi d’Amico, Pasquale

I GIORNI CONTATI Italien 1962

Festa Campanile, nach dem Roman von Giuseppe Tomasi di Lampedusa // KAMERA Giuseppe Rotunno // MUSIK Nino Rota (Walzer von Giuseppe Verdi) // SCHNITT Mario ­Serandrei // MIT Burt Lancaster (Don Fabrizio, Fürst von Salina),

«Elio Petris erstes Meisterstück. Cesare Conversi, ein Handwerker von bestürzender Dutzendhaftigkeit, wird Zeuge des zufälligen Sterbens eines einfachen Mannes genau wie er selbst. Seine Welt bricht zusammen – in allem sieht er nur noch den Tod, vor allem, wenn er in den Spiegel schaut. Doch Cesare will leben. So gibt er seinen Job auf und versucht sich in all dem, was man für gewöhnlich so assoziiert mit dieser Tätigkeit: ‹leben› – und scheitert, wieder und wieder, macht sich nur lächerlich mit seinem Gestrampel. Am Ende kehrt er zurück zu seinem alten Dasein und macht weiter. Und wartet. Petris Hommage an seinen Vater ist eine seiner bittersten Arbeiten, darin auf ganz unmittelbare Weise traurig. Wie viel ihm an der Figur von Cesare Conversi lag, zeigt sich darin, dass er sie am Rande von Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto (1970) kurz wieder auftauchen liess.» (Olaf Möller, Österreich. Filmmuseum Wien, 1/2012) 93 Min / sw / DCP / I/f // REGIE Elio Petri // DREHBUCH Elio Petri, Carlo Romano, Tonino Guerra // KAMERA Ennio Guarnieri // MUSIK Ivan Vandor // SCHNITT Ruggero Mastroianni // MIT Salvo Randone (Cesare Conversi), Franco Sportelli (Amilcare Francheschelli), Regina Bianchi (Giulia), Marcella

­Claudia Cardinale (Angelica Sedara/Bertiana), Alain Delon (Tancredi Falconeri, Neffe des Fürsten), Paolo Stoppa (Don Calogero Sedara), Serge Reggiani (Don Ciccio Tumeo), Rina Morelli (Maria Stella Salina, Frau des Fürsten).

L’UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO Italien/BRD 1970 Ein amerikanischer Schriftsteller wird in Rom zufällig Zeuge eines Mordversuchs. Weil er der Polizei keine Hinweise zum Täter liefern kann, gerät er zunächst selbst unter Verdacht. Er beginnt, auf eigene Faust nachzuforschen. Diese Edgar-Wallace-Adaptation verlieh dem italienischen Krimi-Genre neue Impulse. Das ­Regiedebüt von Dario Argento, dem «König des Spaghetti-Slasher-Films», thematisiert Voyeurismus, Schizophrenie, Sadismus – alles wiederkehrende Elemente seiner späteren Filme. ­«Einige extravagante falsche Spuren gibt es schon, doch die Spannung wird vor allem durch die elegante Kamera von Vittorio Storaro und durch Morricones sinnliche Filmmusik aufrechterhalten.» (David Thompson, Time Out Film Guide)

Valeri (Graziellas Mutter), Angela Minervini (Graziella), Giulio Battiferri (Spartaco).

92 Min / Farbe / Digital HD / I/e // REGIE Dario Argento // DREHBUCH Dario Argento, nach einem Roman von Edgar

IL GATTOPARDO Italien/Frankreich 1963 «Visconti erzählt vom Schicksal der sizilianischen Aristokratie zur Zeit der Einigungsbestrebungen Garibaldis in Italien um die Mitte des 19. Jahrhun-

Wallace // KAMERA Vittorio Storaro // MUSIK Ennio Morricone // SCHNITT Franco Fraticelli // MIT Tony Musante (Sam Dalmas), Suzy Kendall (Giulia Movita), Eva Renzi (Monica ­Ranieri), Mario Adorf (Berto Consalvi), Enrico Maria Salerno (Kommissar Morosini), Dario Argento (Hand des Mörders).


24 Das erste Jahrhundert des Films

1994 Von der gnadenlos coolen Unterwelt L.A.s (Pulp Fiction), dem neongrellen Moloch Hongkong (Chungking Express) und dem schillernden Traumreich aus Neuseeland (Heavenly Creatures), über einen poetischen Abstecher in die Welt arabischer Frauen in Tunesien (Les silences du palais), mitten in die schwelenden Konflikte in Mazedonien (Before the Rain), hinein in die trügerische Harmonie eines strahlendschönen Sommertags in Russland (Soleil trompeur) und in Kieślowskis vielschichtiges Panorama menschlicher Entfremdungsformen (Trois couleurs: Rouge) führt diesmal die Jahrhundertfilmreise. 1994 ist ein Jahrgang prall mit formal gewagten, brillanten filmischen Erzählungen und aufregenden Inszenierungen, die das Kino nachhaltig verändert oder geprägt haben – grosses Kino, das schockiert, überwältigt und berührt. Tanja Hanhart

Das erste Jahrhundert des Films In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 wegweisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, d.h. im Jahr 2014 sind Filme von 1914, 1924, 1934 usw. zu sehen, im Jahr 2015 dann Filme von 1915, 1925, 1935 usw. Weitere wichtige Filme von 1994 Durch den Olivenhain Abbas Kiarostami, Iran Eat Drink Man Woman Ang Lee, Taiwan/USA Ed Wood Tim Burton, USA Exotica Atom Egoyan, Kanada Forrest Gump Robert Zemeckis, USA Four Weddings and a Funeral Mike Newell, GB Hoop Dreams Steve James, USA Il postino Michael Radford, I Léon Luc Besson, F Les roseaux sauvages André Téchiné, F Muriel’s Wedding P. J. Hogan, Australien

Natural Born Killers Oliver Stone, USA Pom Poko Isao Takahata, J Riget Lars von Trier, Dänemark Sátántangó Bela Tarr, Ungarn Shallow Grave Danny Boyle, GB The Adventures of Priscilla, Queen of the Desert Stephan Elliott, Australien/GB The Lion King Roger Allers, Rob Minkoff, USA The Shawshank Redemption Frank Darabont, USA Trois couleurs: Blanc Krzysztof Kieślowski, F/Pol/CH


Das erste Jahrhundert des Films: 1994.

LES SILENCES DU PALAIS (Shamt al kushur) Tunesien/Frankreich 1994

Tunesien, Mitte der sechziger Jahre. Die 25-jährige Hochzeitssängerin Alía erfährt vom Tode ihres ehemaligen Gebieters, Prinz eines Scheichgeschlechts. Zum ersten Mal seit zehn Jahren kehrt sie zurück in jenen Palast, dessen Mauern ihre Kindheit und Pubertät eingrenzten und in dem sie zusammen mit ihrer Mutter und einer Gruppe weiterer Dienerinnen der adligen Herrschersippe sklavenähnlich unterstellt war. Ein poetischer und politischer Trip in die ­hermetische Welt arabischer Frauen. «Moufida Tlatli, die 1968 ihr Studium an der Pariser Filmhochschule abschloss und erst 26 Jahre später ihren ersten eigenen Film realisieren konnte, hat diesen Film ihrer Mutter gewidmet. Sie erzählt ihre Geschichte mit einer Vielzahl von Rückblenden, die zunächst fast stakkatoartig geschnitten sind, dann immer länger werden. (…) Die Regisseurin konfrontiert uns so mit einer Gesellschaft, in der die Männer die Geschicke lenken und die islamischen Traditionen bewahren, während die Frauen bis zur sexuellen Verfügbarkeit verdinglicht sind. Es werden Machtstrukturen deutlich, die den Frauen jedes Recht auf Individualität und

Selbstverwirklichung, auf ihren Körper und ihre Sexualität absprechen. Sichtbar wird ein Universum, das auf Unterdrückung (die männliche Seite) und Gehorsam (die weibliche Kehrseite) aufgebaut ist, und dessen Nahtstellen durch das Unausgesprochene, den nicht ausgestossenen Schrei, eben das Schweigen gekittet werden.» (Hans Messias, film-dienst, 23/1997) «Tlatli gestaltet ein ‹Règle du jeu› auf tunesisch. (…) Die junge Frau und das Männer­ orchester, die motivische Montage in einem freien Zeitenfluss, die schwachen Männer, die das Sagen nur durch Wahren der Hierarchie innehalten, das Bild der Berührung durch das vergitterte Fenster: Das sind Momente, die nachhallen aus einem Film, der seine Kraft just aus der Schweigsamkeit bezieht und damit das Schweigen bereits unübersehbar durchbricht.» (Walter Ruggle, trigon-film.org) 128 Min / Farbe / 35 mm / OV/d/f // DREHBUCH UND REGIE Moufida Tlatli // KAMERA Youssef Ben Youssef // MUSIK Anouar Brahem // SCHNITT Moufida Tlatli, Camille Cotte, ­Karim Hammouda // MIT Amel Hedhili (Khedija), Hend Sabri (Alía als Kind), Ghalia Lacroix (Alía als Erwachsene), Sami Bouajila (Lofti), Kamel Fazaa (Sid’ Alí), Najia Ouerghi (Khalti Hadda), Hichem Rostom (Si Bechir), Hatem Berrabeh (Salim), Fatima Ben Saïdane (Mroubia), Sonia Meddeb (La Jneina), Hélène Catzaras (Fella).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1994.

CHUNGKING EXPRESS (Chongqing senlin) Hongkong 1994

Zwei lose verknüpfte Episoden über gebrochene Herzen und Liebessuchende: Polizist Nr. 223 trauert seiner verflossenen Freundin nach. Er kauft jeden Tag eine Ananasdose mit demselben Verfallsdatum und beschliesst, genauso lange auf seine Freundin zu warten, bis die Dosen abgelaufen sind – und sich dann in die Frau zu verlieben, der er als erste begegnet. Polizist 663 wird ebenfalls von seiner Freundin verlassen. Das Mädchen vom Fast-Food-Imbiss verliebt sich in ihn und beginnt, sich heimlich in seiner Wohnung aufzuhalten. Zusammen mit Kameramann Christopher Doyle verwandelte Wong Kar-wai den Moloch ­ Hongkong in etwas Verschwommenes aus grellen Neonlichtern und verzerrten Bildern und spielte mit Tempo und Aufnahmetechnik: Selten war Kino so aufregend neu trotz einfacher filmischer Mittel. Chungking Express war einer der prägenden Filme der neunziger Jahre, dem dank Quentin Tarantino ein internationaler Start ermöglicht wurde, und der den Hong-Kong-Regisseur Wong Kar-wai augenblicklich zum Star des modernen asiatischen Films machte.

«Alles ist erlaubt in diesem herrlich gefilmten, absolut überraschenden Charmeur von einem Film, der den Sex-Appeal seiner umwerfenden Stars zementierte und in dem Dosenananas und ‹California Dreamin’› von The Mamas & the Papas zu Symbolen romantischer Liebe werden. (...) Chungking Express war der Masculin féminin der neunziger Jahre, ein Pop-Art-Film über coole Mittzwanziger auf der Suche nach Liebe in einer Stadt, die Paris als Zentrum der Weltkino-Fantasie ablöste. (...) Dieser Film etablierte Wong als bedeutenden Autorenfilmer, den glamourösesten und rätselhaftesten seit Godard.» (Amy Taubin, criterion.com) 97 Min / Farbe / 35 mm / Chin/d/f // DREHBUCH UND REGIE Wong Kar-wai // KAMERA Christopher Doyle, Andrew Lau Wai-keung // MUSIK Frankie Chan, Roel A. Garcia // SCHNITT Kwong Chi-leung // MIT Tony Leung Chiu-wai (Polizist 663), Takeshi Kaneshiro (Polizist 223), Faye Wong (Faye), Valerie Chow (Stewardess), Brigitte Lin (Frau mit blonder Perücke), Chen Jinquan (Besitzer des «Midnight Express»).


Das erste Jahrhundert des Films: 1994.

PULP FICTION USA 1994 Episoden aus der Unterwelt von L.A.: Zwei Auftragskiller müssen eine Leiche und eine bluttriefende Limousine beseitigen, ein Borderline-Pärchen versucht ein Restaurant auszurauben, und ein alternder Boxer riskiert sein Leben wegen ­einer vom Vater geerbten Uhr. Schrill, wie ein cooler Rausch inszeniert und bis in die letzte Nebenrolle hochkarätig besetzt: Quentin Tarantino gewann mit Pulp Fiction, seiner zweiten Regiearbeit, die Goldene Palme in Cannes und wurde endgültig zum Starregisseur – sein Film spielte weltweit über 214 Millionen Dollar ein und gehört damit zu den erfolgreichsten Independent-Filmen seiner Zeit. «Dieser Film ist immer noch so faszinierend und verrückt wie eh und je: hartherzig, unverschämt und atemberaubend. Der eiskalte Witz, der Connaisseur-Soundtrack, die Gewalt, die ausgedehnten Dialoge, die trance-artige Irrealität, die geniale karmische Balance zwischen der Heroin- und der Adrenalin-Szene, die erzählerischen Spitzkehren, durch die Travolta am Ende lebend und tot sein kann, seine Tanzszene, in der er schlecht und doch irgendwie brillant tanzt...

und vor allem die schiere unberechenbare Aufregung, wie sie nur Tarantino herbeizaubern kann. 1994 brach dieser Film wie ein Donnerschlag über meinem Kopf herein und in den neunziger Jahren wurde er zum Massstab für alles Coole.» (Peter Bradshaw, The Guardian, 15.4.2014) «Einer der einflussreichsten Film der neunziger Jahre. Seine Grösse entsteht durch seine Verbindung von lebendig-originellen Figuren mit einer Reihe von lebendigen und halb-abstrusen Ereignissen und durch den Dialog. (...) Die Figuren sind in diesem Film ständig am Reden – immer ist das interessant, lustig, unheimlich und verwegen.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 10.6.2001) 154 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Quentin Tarantino // DREHBUCH Quentin Tarantino, Roger Avary // KAMERA ­Andrzej Sekula // MUSIK Kool & The Gang, Al Green, Dusty Springfield, Neil Diamond, u. v. a. // SCHNITT Sally Menke // MIT John Travolta (Vincent Vega), Samuel L. Jackson (Jules Winnfield), Uma Thurman (Mia Wallace), Ving Rhames ­(Marsellus Wallace), Bruce Willis (Butch Coolidge), Harvey Keitel (Winston Wolf), Tim Roth (Pumpkin), Amanda Plummer (Honey Bunny), Christopher Walken (Cpt. Koons), Rosanna Arquette (Jody), Steve Buscemi (Buddy Holly), Quentin ­Tarantino (Jimmie).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1994.

BEFORE THE RAIN

(Pred dožhdot) Mazedonien/GB/Frankreich 1994 Der Spielfilmerstling Before the Rain des in den USA ausgebildeten Fotografen und MusikvideoRegisseurs Milcho Manchevski war zugleich der erste Film, der in seiner Heimat, der neu gegründeten Republik Mazedonien, realisiert wurde. Wenig überraschend behandelt der Film denn auch die schwelenden Konflikte in der jungen, vom jugoslawischen Trennungskrieg verschont gebliebenen Nation. Erzählt werden drei Geschichten, jeweils mit einem eigenen Titel, die jede für sich stehen könnte, sich aber nach und nach zu einem Ganzen summieren – eine Form, die Manchevski später auch in seinen Filmen Dust (2001) und ­ Mothers (2010) wieder aufnehmen wird. Die erste Geschichte, Words, spielt im ländlichen Mazedonien und handelt vom muslimischen Mädchen Zamira, das sich, eines Mordes beschuldigt, beim jungen orthodoxen Mönch Kiril versteckt. Die zweite Geschichte, Faces, wechselt nach London. Der Kriegsfotograf Aleksander hat genug von seinem Job und möchte mit seiner ehemaligen Geliebten, Anne, die als Bildredaktorin bei einer Nachrichtenagentur arbeitet, zurück in seine mazedonische Heimat reisen. In der drit-

ten und längsten Geschichte, Pictures, kommt Aleksander in seiner Heimat an – wir sind wieder im Dorf der ersten Geschichte. Auf der Flucht vor seinen Dämonen und der Kriegsgewalt muss er feststellen, dass hier nichts mehr so ist, wie es früher war. Manchevski beschwört mit einer – ausser in wenigen, intimen Momenten – stets bewegten Kamera (Manuel Teran) immer wieder eine Stimmung wie vor dem Regen, vor dem Sturm herauf. Sein Erzählstil ist elliptisch, dennoch bleibt der Film klar. Die bei genauer Betrachtung auftauchenden «Fehler» im Zeitkontinuum sind gewolltes Stilmittel. Manchevski spielt virtuos mit der Zeit; gerade in der Möglichkeit von Parallelitäten oder Löchern sieht er einen Ausweg aus der Gewaltspirale. Before the Rain wurde in Venedig mit dem Goldenen Löwen als bester Film ausgezeichnet. (pm) 113 Min / Farbe / 35 mm / OV/d // DREHBUCH UND REGIE Milcho Manchevski // KAMERA Manuel Teran // MUSIK Anastasia // SCHNITT Nicolas Gaster // MIT Rade Šerbedžija (Aleksander), Katrin Cartlidge (Anne), Grégoire Colin (Kiril), Labina Mitevska (Zamira), Jay Villiers (Nick), Silvija Stojanovska (Hana), Phyllida Law (Annes Mutter), Josif Josifovski (Vater Marko), Kiril Ristoski (Vater Damjan).


Das erste Jahrhundert des Films: 1994.

HEAVENLY CREATURES Neuseeland/Deutschland 1994 Neuseeland, 1954: Zwei 14-jährige Mädchen, die sich in der Schule und von den Eltern unverstanden fühlen, teilen eine Leidenschaft für den Operntenor Mario Lanza. Sie freunden sich an und steigern sich gegenseitig in eine schillernde Traumwelt hinein. Als ihre Eltern sie trennen wollen, entlädt sich ihr Hass in einem Verbrechen. 1994 überraschte der vormalige Trashfilmer Peter Jackson die Filmwelt mit seinem Film Heavenly Creatures, der faszinierenden Inszenierung einer wahren Geschichte, die in den fünfziger Jahren ganz Neuseeland schockiert hatte. «Was für eine Freude, Peter Jacksons meisterhaftes, formal gewagtes, grossartig gespieltes Drama wiederzusehen. (...) Kate Winslets schauspielerische Darbietung ist genial: Mit den weitaufgerissenen Augen und vollen Lippen wirkt ihr Gesicht fast hyperreal, wie eine Animation von Scharfsinn, Unfug, Sinnlichkeit und schliesslich finsterer Feindseligkeit. Im Laufe ihrer Karriere wurde aus ihr eine reifere, weniger auffällige, subtilere Schauspielerin, die aber immer zu überzeugen wusste (...). In gewisser Weise ist diese, ihre erste Rolle, die verführerischste und die lustigste Darbietung ihrer ganzen Laufbahn. Genauso hervorragend ist Melanie Lynskey in ihrer

etwas weniger glamourösen Rolle. Die Beziehung zwischen den beiden Mädchen ist zart, erotisch, verschwörerisch, geprägt von einer Belagerungsmentalität: sie beide gegen den Rest der Welt. Peter Jackson schafft einen beunruhigenden und überragenden ‹Coup de cinéma› mit dem plötzlichen Aufbruch in das dysfunktionale CGIWunderland ‹Borovnia›, dieses Fantasieland, zu dem die beiden Mädchen nur in überhöhten Momenten von Schwärmerei, Wut oder sexueller Lust Zugang haben. Jackson bewies damit sein Talent für wunderbare Fantasieszenerien – hier allerdings mit der subversiven Andeutung, dass diese das Ergebnis einer emotionalen Versehrtheit sind.» (Peter Bradshaw, The Guardian, 26.8.2011) 99 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Peter Jackson // DREHBUCH Fran Walsh, Peter Jackson // KAMERA Alun ­Bollinger // MUSIK Peter Dasent // SCHNITT Jamie Selkirk // MIT Kate Winslet (Juliet Hulme), Melanie Lynskey (Pauline Parker), Sarah Peirse (Honora Parker Rieper), Diana Kent (Hilda Hulme), Clive Merrison (Dr. Henry Hulme), Simon O’Connor (Herbert Rieper), Jed Brophy (John), Peter Elliott (Bill Perry), Peter Jackson (Vagabund vor dem Kino).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1994.

SOLEIL TROMPEUR

(Utomljonnyje solnzem) Frankreich/Russland 1994 Sowjetunion 1936: Auf der Datscha von Oberst Kotow, Held der Revolution und angesehener Soldat der Roten Armee, verbringt die Familie einen unbeschwerten Spätsommertag. Der Feiertag ist der sowjetischen Luftschifffahrt gewidmet, militärische Übungen unterbrechen kleine Vergnügungen wie Dampfbaden, Bootsfahren und Fussballspielen. Irritationen ganz anderer Art ruft das Auftauchen Mitias hervor: Er ist ein ehemaliger Geliebter von Kotows Frau und inzwischen Agent von Stalins Geheimdienst... «Nikita Michalkows Soleil trompeur, 1994 in Cannes mit dem Grand Prix und 1995 mit dem Oscar als bester ausländischer Film ausgezeichnet, wurde als Neugeburt des russischen Kinos gefeiert, das, aus der Kneblung der Sowjetzensur befreit, jene grossen Erwartungen erfüllen würde, welche etwa die Filme von Andrej Tarkowskij als exzellente Einzelleistungen immer geweckt hatten. Heute scheint Soleil trompeur eher den glorreichen späten Abschluss des sowjetischen Qualitätskinos und seiner Produktionsweise zu markieren. (…) Deutlicher als damals erweist sich beim erneuten Sehen, dass Soleil trompeur noch in anderer Hinsicht einen interessanten Wendepunkt darstellt: Wo die Filme der PerestroikaZeit darum bemüht waren, die notorischen ‹blinden Flecken› der Sowjetgeschichte zu beleuchten, geht es in Michalkows Melodram weniger um Aufklärung als um die Suche nach einer verloren geglaubten nationalen Identität. (…) Gute zwei Stunden lang feiert Soleil trompeur mit einer stimmungsvollen Leichtigkeit, die ein letztes Mal Michalkows grosses Talent als Regisseur von ­Atmosphäre und Schauspielensemble zeigt, ein seinerzeit zum Sprichwort gewordenes ­‹Russland, das wir verloren haben›.» (Barbara Schweizerhofer, Programm Filmpodium, Nov./ Dez. 2011)

TROIS COULEURS: ROUGE Frankreich/Schweiz/Polen 1994 Nachdem das erfolgreiche Fotomodell Valentine einen Hund angefahren hat, macht sie dessen Besitzer ausfindig, einen einsamen alten Richter. Obwohl sie von diesem Zyniker vorerst entsetzt ist, entwickelt sich zwischen den beiden eine sonderbare Beziehung... Trois couleurs: Rouge war Krzysztof Kieślowskis letzter Film, bevor der Regisseur mit nur 54 Jahren an einem Herzinfarkt starb. Gleichzeitig bildete er den Abschluss seiner Farben-Trilogie, die sich an der französischen Trikolore und der Parole «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» orientierte. Wie kein anderer Teil der Trilogie bleibt Rouge rätselhaft und, laut Angaben des Regisseurs, seine grösste dramaturgische und intellektuelle Herausforderung überhaupt. «Selbstverständlich ist Rot die Signalfarbe des Films, den Kieślowski – konsequenter noch als die beiden vorherigen Teile der Trilogie – gemeinsam mit seinem Kameramann Piotr Sobociński (…) zu einem Musterbeispiel für mathematisch genau ausgetüftelte Farbdramaturgie hochgestylt hat.» (Manfred Etten, film-dienst, 18/1994) «Rouge ist ein Film über Schicksal und Zufall, Einsamkeit und Kommunikation, Zynismus und Glauben, Zweifel und Begehren und über Lebensläufe, die von rational nicht fassbaren Kräften beeinflusst werden. Die sichere Regie vermeidet wirren Mystizismus, indem sie Handfestes – Schauspieler, Farben, Bewegungen, Töne und Musik – zur Versinnlichung abstrakter Konzepte nutzt. Atemberaubend schön, musikalisch kraftvoll und schauspielerisch mustergültig, ist der Film buchstäblich makellos. Eine der grössten kinematografischen Leistungen der letzten Jahrzehnte – ein Meisterwerk.» (Geoff Andrew, Time Out Film Guide) 99 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Krzysztof Kieślowski // DREHBUCH Krzysztof Kieślowski, Krzysztof Piesiewicz // ­KAMERA Piotr Sobociński // MUSIK Zbigniew Preisner,

135 Min / Farbe / 35 mm / Russ/d/f // REGIE Nikita Michalkow

Bertrand Lenclos // SCHNITT Jacques Witta // MIT Irène

// DREHBUCH Nikita Michalkow, Rustam Ibragimbekow //

­Jacob (Valentine Dussaut), Jean-Louis Trintignant (Joseph

KAMERA Wilen Kalyuta // MUSIK Eduard Nikolajewitsch

Kern, der Richter), Frédérique Feder (Karin), Jean-Pierre

­Artemjew // SCHNITT Enzo Meniconi // MIT Oleg Menschikow

­Lorit (Auguste Bruner), Samuel Le Bihan (Fotograf), Marion

(Dimitri, genannt Mitia), Nikita Michalkow (Col. Sergej Petro-

Stalens (Tierärztin), Teco Celio (Barmann), Bernard Escalon

witsch Kotow), Ingeborga Dapkunaite (Marusia), Nadeschda

(Schallplattenhändler), Jean Schlegel (Nachbar), Paul

Michalkow (Nadja), André Oumansky (Philippe), Wyacheslaw

­Vermeulen (Karins Freund), Roland Carey (Drogenhändler).

Tichonow (Wsewolod), Swetlana Kryuchkowa (Mochowa), Wladimir Ilyin (Kirik), Alla A. Kazanskaya (Lidia Stepanowna), Nina Archipowa (Yelena Michajlowna), Inna Ulyanowa (Olga Nikolayewna).


31 ZÜRCHER FILMBUFF-QUIZ

FR, 5. DEZ. | 20.30 UHR

HÄTTEN SIE’S GEWUSST?

> Magnolia.

Kaum ein Programmangebot des Film­

Sie können nun also anfangen, alle mögli-

podiums wurde in den letzten Jahren so

chen Lexika zu wälzen und Webseiten zu

nachgefragt wie das Filmbuff-Quiz. Nach

durchsurfen, um sich nochmals zu verge-

längerer Pause ist es wieder da: das Rate­

wissern, wie viele Blondinen bei Hitchcock

spiel für Cinephile, das stil- und sachge­

ins Gras beissen mussten und welche Fuss-

recht im Kino und nicht auf der Mattscheibe

baller zu Schweizer Filmstars wurden.

stattfindet.

Wie bei den TV-Vorbildern ist es allerdings nicht nötig, selber mitzuspielen, um

Die dürren Jahre sind vorbei: Im Dezember

Spass zu haben. Man kann beim Quiz auch

empfängt das Filmpodium nach längerer

mitfiebern, ohne persönlich als Filmbuff

Pause wieder wahre Kinokenner und Film-

aufzutrumpfen, und seine Lieblingskandi-

freundinnen, die miteinander mental die

datinnen anfeuern – oder sich einfach zu-

Klingen kreuzen wollen. Die Internet Movie

rücklehnen, die eingespielten Clips genies-

Database (IMDb) hat zwar in den letzten

sen und tolle Momente der Filmgeschichte

Jahren aus jedem User einen vermeint­

Revue passieren lassen.

lichen Filmexperten gemacht; beim Film-

Aufgrund der vielen Nachfragen seit

buff-Quiz zählt aber nicht die flinkste

dem letzten Quiz empfehlen wir allen, die

­Smartphone-Bedienung, sondern das, was

einen Sitzplatz auf Nummer sicher wollen,

offline aus den kleinen grauen Zellen abge-

den Vorverkauf oder die frühzeitige Reser-

rufen werden kann, also echtes Filmwissen.

vation. Wer mitmacht, muss sich zwar eh

Wieder wird es für die Profis im Publi-

warm anziehen, möchte aber doch an die-

kum Handicaps geben, damit die engagier-

sem Dezemberabend nicht draussen ste-

ten Amateure gleiche Chancen haben, die

hen müssen.

attraktiven Preise zu gewinnen. Dafür,

Corinne Siegrist-Oboussier

dass alles mit rechten Dingen zugeht, sorgt

& Michel Bodmer

Michael Sennhauser als unbestechlicher Schiedsrichter.


32 Premiere: Memories on Stone

Von den Schwierigkeiten, einen Film zu drehen Der irakische Kurde Shawkat Amin Korki, dessen Film Kick Off (2010) im Filmpodium zu sehen war, greift in Memories on Stone ein heisses Eisen auf: den Genozid an den Kurden durch Saddam Hussein. Er inszeniert dieses nationale Trauma aber nicht als geradlinige Tragödie, ­sondern als komplexe Reflexion über die filmische Aufarbeitung der Zeitgeschichte.

MEMORIES ON STONE (Bîranînên li ser kevirî) / Irak / Deutschland 2014

­97 Min / Farbe / DCP / OV/d/f // REGIE Shawkat Amin Korki // DREHBUCH Mehmet Aktaş, Shawkat Amin Korki // KAMERA ­Salim Salavati // MUSIK John Gürtler, Özgür Akgül // SCHNITT Ebrahim Saeedi // MIT Hussein Hassan (Hussein), Nazmi Kırık (Alan), Shima Molaei (Sinur), Rekesh Shahbaz (Bashir), Hishyar Ziro (Hajar), Bangin Ali (Hiwa), Suat Usta (Roj Azad), Salah Sheikh Ahmadi (Onkel Hamid), Baroj Akrayi (Salem).

Der Begriff «Anfal» steht für die systematische Vernichtung der Kurden im Nordirak durch Saddam Husseins Regime. Wenn die Zahl der Ermordeten auch bis heute umstritten ist, so starben durch die «Operation» doch wahrscheinlich mehr als 100 000 Kurden. Von den Ereignissen damals, Ende der achtziger Jahre, möchte der kurdische Regisseur Hussein in einem Spielfilm erzählen. Er ist eine Art Alter Ego von Shawkat Amin Korki, der in Memories on Stone (der Originaltitel in Kurdisch, der Sprache des Films, lautet: «Bîranînên li ser kevirî») die schwierigen Lebensumstände in seinem Heimatland – und erst recht die beschränkten Möglichkeiten, hier einen einigerma-


33 ssen anspruchsvollen Film zu drehen – zum Thema macht. Korki macht sich dabei die Konstruktion eines Films im Film zu Nutze, um die historischen Traumata und deren Nachwirkungen in ein direktes Spannungsfeld mit der Gegenwart zu bringen. Saddam Husseins Ära liegt einige Zeit zurück, und der Filmautor ­Hussein ist ohne seine deutsche Kleinfamilie im Exil aufgebrochen und in den Nordirak zurückgekehrt, um mit den Dreharbeiten zu beginnen. Doch sehr bald zeigt sich, wie schwierig das ziemlich ambitionierte Unterfangen ist. Hussein und sein Team müssen nicht mehr gegen ein Terrorregime kämpfen und sich verstecken, aber sie werden von allen Seiten mit Widerstand und Unverständnis konfrontiert. Es gelingt ihnen zwar, die technische Ausrüstung zu besorgen, die zahlreichen Statisten zu finden und den zentralen Schauplatz – einen Armeestützpunkt, in dem eines der Massaker stattfand – für den Dreh vorzubereiten. Als grösste Herausforderung jedoch erweist sich die Besetzung der Hauptrollen. Schliesslich wird Roj Azad, ein eitler Sängerstar, aus dem Ausland eingeflogen, weil sich die Produktion davon Vorteile verspricht – und bald stellt sich heraus, dass er nicht nur ein miserabler Schauspieler, sondern sowieso am meisten an der Promotion eines eigenen Immobilienprojekts vor Ort interessiert ist. Beim Casting für die weibliche Hauptrolle drohen die Filmarbeiten endgültig zu scheitern. Keine kurdische Familie erlaubt ihren Frauen, im Film mitzuwirken – es wäre eine Schande, heisst es, insbesondere unverheiratete Frauen auf diese Weise «auszustellen». Und in manchen Fällen gibt es kein Bewusstsein für den Unterschied zwischen Film – Kunst überhaupt – und Realität. Als sich schliesslich doch eine junge kurdische Frau meldet, braucht sie die Erlaubnis ihres Onkels und ihres Cousins, der zugleich ihr Verlobter ist. Letzterer wacht eifersüchtig über Sinur, und die Dreharbeiten, die nun endlich beginnen können, sind nicht nur deshalb äusserst turbulent. Bis zum Schluss nehmen die Absurditäten immer groteskere Ausmasse an. Shawkat Amin Korki, 1973 im Nordirak geboren und im Exil in Iran aufgewachsen, und sein türkischer (Produktions-)Partner und Koautor Mehmet Aktaş werfen in Memories on Stone ein Schlaglicht auf die Auseinandersetzung mit einem grossen Trauma, das noch nicht einmal ansatzweise verarbeitet ist. Gleichzeitig ist der Film eine beklemmende Momentaufnahme bereits vergangener Zustände in der Autonomen Region Kurdistan: Seit der Uraufführung im Juli 2014 haben sich die Ereignisse überschlagen; der Film schildert eine kurze Zeit vor der neusten Bedrohung, den Angriffen der Terrororganisation IS. Bettina Spoerri

Bettina Spoerri lebt und arbeitet als freie Kulturvermittlerin in Zürich.


34 Reedition/Sélection Lumière: It’s a Wonderful Life

Immergrüner Seelenwärmer Bei seinem Start nach dem Zweiten Weltkrieg war der Film ein finan­ zieller Misserfolg; erst durch zahlreiche Fernsehausstrahlungen wurde It’s a Wonderful Life zum Weihnachtsklassiker schlechthin. Das Film­ podium zeigt dieses saisongerechte Evergreen in restaurierter Fassung als Reedition und im Rahmen der Sélection Lumière.

IT’S A WONDERFUL LIFE / USA 1946 130 Min / sw / DCP / E/d // REGIE Frank Capra // DREHBUCH Frances Goodrich, Albert Hackett, Frank Capra, Jo Swerling, nach einer Erzählung von Philip Van Doren Stern // KAMERA Joseph Walker, Joseph Biroc // MUSIK Dimitri Tiomkin // SCHNITT William Hornbeck // MIT James Stewart (George Bailey), Lionel Barrymore (Mr. Potter), Thomas Mitchell (Onkel Billy), Donna Reed (Mary Hatch Bailey), Henry Travers (Clarence), Beulah Bondi (Mrs. Bailey), Ward Bond (Bert), Gloria Grahame (Violet Bick)

George Bailey, sein Leben lang hilfsbereit und selbstlos, beginnt an Heiligabend am Guten im Menschen zu zweifeln. Wegen eines Missgeschicks sind aus seiner Sparkasse 8000 Dollar verschwunden. Der kaltherzige Bankier Potter, der das Geld gefunden hat, versteckt es, weil er die Sparkasse übernehmen will. George droht eine Gefängnisstrafe. Und da fährt er auf der verschneiten Strasse auch noch sein Auto gegen einen Baum. Verzweifelt will sich George von einer Brücke in den Tod stürzen. Das ruft einen Schutzengel auf den Plan. Mitunter leichtfertig als naives Märchen abgetan, ist dieser Weihnachtsfilm eine «meisterliche Komödie mit viel Fantasie, liebenswürdiger Naivität und einem kräftigen Schuss sentimentaler Wehmut. Eine Hymne auf Nach-


35 barschaftsgeist und Kleinstadtvertraulichkeit, die nicht zuletzt auch einen Gegenentwurf versucht zur gesellschaftlich-politischen Katerstimmung im Amerika der ersten Nachkriegsjahre.» (Lexikon des int. Films) Vielleicht ist es gerade die aufrichtige Ernsthaftigkeit, gepaart mit einer gesunden Portion Humor, die Frank Capras Film nicht in den Kitsch abgleiten lässt. François Truffaut beschrieb den Regisseur wie folgt: «Er ist der Lotse, der sich am besten darauf verstand, seine Personen in Situationen tiefster menschlicher Verzweiflung zu steuern, ehe er das Ruder herumwarf und das Wunder geschehen liess, das uns mit neuem Vertrauen ins Leben aus dem Kino entliess.» (François Truffaut, zit. bei Österreich. Filmmuseum Wien, 1991) ★ am Do, 11. Dez., 18.15 Uhr: Einführung von Martin Girod Die Mitglieder des Fördervereins Lumière bestimmen alle zwei Jahre, welche Filme sie in dieser Sonderreihe sehen möchten. Für die Sélection 2015/16 haben sie – neben It’s a Wonderful Life – folgende Werke erkoren: Il deserto rosso (Michelangelo Antonioni, I/F 1964) Hiroshima mon amour (Alain Resnais, F/J 1959) Kauas pilvet karkaavat/Drifting Clouds (Aki Kaurismäki, Finnland 1996) La femme du boulanger (Marcel Pagnol, F 1938) Satyricon (Federico Fellini, I 1969) Gloria (John Cassavetes, USA 1980)

Stalker (Andrej Tarkowskij, UdSSR 1979) Foreign Correspondent (Alfred Hitchcock, USA 1940) Mitt liv som hund/My Life as a Dog (Lasse Hallström, Schweden 1985) Céline et Julie vont en bateau (Jacques Rivette, F 1974) Black Moon (Louis Malle, F 1975)

Treten Sie Lumière bei und üben Sie ebenfalls Ihr Stimmrecht aus!

ESCAZAL FILMS

PHOTO MICKAËL CROTTO

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36 Filmpodium für Kinder

Der mondmann .

Der Mann im Mond will die Erde kennenlernen: Eine abenteuerliche Reise in das Universum der Fantasie Tomi Ungerers, die mit wunderbaren Farben und visuellen Einfällen bezaubert.

DER MONDMANN / Deutschland/Frankreich/Irland 2012 95 Min / Farbe / DCP / D / 6 J // REGIE Stephan Schesch // DREHBUCH Stephan Schesch, Ralph Martin, nach nach dem Bilderbuch von Tomi Ungerer // MUSIK Louis Armstrong, Iron Butterfly, Jun Miyake u. a. // SCHNITT Sarah Clara Weber // SPRECHER Katharina Thalbach (Mondmann), Ulrich Tukur (Präsident), Thomas Kästner (Bunsen van der Dunkel), Elena Kreil (Mädchen), Ulrich Noethen (Vater), C ­ orinna Harfouch (Conquista), Tomi Ungerer (Erzähler).

Nacht für Nacht kauert der Mondmann in seinem Mond: Er ist ganz allein im weiten Weltall und langweilt sich entsetzlich. Kurz entschlossen packt er den Schweif eines vorbeisausenden Kometen und fliegt damit zur Erde. Mit staunenden Augen wandelt das sanfte, schneeweiss leuchtende Männchen nun durch die nächtliche Welt: Wie wundersam bunt und aufregend hier alles ist, voller wilder Tiere und wuchernder Pflanzen. Allerdings ist der kleine Fremdling hier nicht willkommen, denn der machthungrige Diktator, der über die ganze Erde herrscht und jetzt auch noch den Mond erobern will, sieht in ihm einen bedrohlichen Eindringling und steckt ihn ins Gefängnis; zudem können die Kinder ohne seine vertraute Präsenz im Mond nicht mehr einschlafen. Da merkt der Mondmann, dass er auf dieser Erde nichts verloren hat, sondern in seiner silbernen Kugel gebraucht wird, und möchte nach Hause – aber wie?


37 Regisseur Stephan Schesch hat Tomi Ungerers grossartigen Bilderbuch­ klassiker «Der Mondmann» verfilmt, der herauskam, kurz bevor der erste Mensch den Mond betrat. Schesch orientierte sich für seinen komplett handgezeichneten Animationsfilm nicht nur am unerschöpflichen Einfallsreichtum Ungerers, an dessen Strich und Poesie, sondern entwickelte sein Drehbuch in enger Zusammenarbeit mit dem legendären Zeichner und Autor, um aus dem Buch einen Spielfilm für die grosse Leinwand zu machen. Mit seiner ­raunenden, dunklen Stimme fungiert Ungerer obendrein als Erzähler. Entstanden ist eine Geschichte um Freundschaft, Macht und Anderssein, mal poetisch, mal schräg, erzählt in traumhaften, farbig schillernden Bildern ­ und unterlegt mit einem passenden Soundtrack (u. a. mit Evergreens wie «Moon River» und «It’s Only a Paper Moon»): Der Mondmann entführt uns auf eine fantastische Reise, an der selbst die jüngsten Zuschauer ihr Vergnügen haben werden. Tanja Hanhart

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EIN


38 IOIC-SOIREEN

DO, 27. NOV. | 20.45 UHR / DO, 26. DEZ. | 20.00 UHR

ABENTEUER IM STUMMFILM Das Institut für incohärente Cinemato­

Für diesen Umstand ist bezeichnend, dass

graphie (IOIC) überrascht nach wie vor mit

Georges Méliès, der Schöpfer des erzäh-

inno­vativen Stummfilm-Live-Vertonungen

lenden Films, vielfach Inspiration bei Jules

und macht so die frühe Filmkunst nicht zu­

Verne gefunden hat, der Ikone der Aben-

letzt auch einem jungen Publikum zugäng­

teuer- und Reiseliteratur des 19. Jahrhun-

lich. In der Saison 2014/2015 ist das IOIC

derts. In Le voyage à travers l’impossible von

wiederum mit sechs Aufführungen im Film­

1904, einer Parodie auf die wissenschaftli-

podium zu Gast.

che Reiseliteratur seiner Zeit, nimmt eine geografische Gesellschaft mit dem bered-

Das wandernde Institut mit Sitz in Zürich

ten Namen «Institut de géographie incohé-

hat sich ganz dem Ansehen und der Verge-

rente» eine Weltreise in Angriff. Diese soll,

genwärtigung des Stummfilms verschrie-

wie es in der offiziellen englischen Erläute-

ben und veranstaltet einmal jährlich einen

rung des Films heisst, alle bisherigen Expe-

mehrtägigen, thematisch ausgerichteten

ditionen der gelehrten Welt hinsichtlich

Stummfilm-Marathon. Das Saison-Thema

Vorstellung und Fantasie (engl. «in concep-

wird dabei in seiner ganzen Breite und Tiefe

tion and invention») übertreffen. Für diese

ausgeleuchtet, und bei den Live-Vertonun-

Saison hat sich das IOIC vorgenommen, ge-

gen wechseln sich Musiker, Tonkünstlerin-

nau diese Welt der jegliche Vorstellung und

nen, Bands, Ensembles und Orchester un-

Fantasie sprengenden cinematografischen

terschiedlichen Alters und verschiedener

Abenteuer, Expeditionen und Reisen wieder

Stilrichtungen – Jazz, Rock, elektronische

aufleben zu lassen.

Musik, Neue Musik usw. – ab. Die neue Saison, die auch sechs Vorführungen im Filmpodium umfasst, widmet sich dem im frühen Kino allgegenwärtigen Thema der Abenteuer, Expeditionen und Reisen. Bevor im späteren 20. Jahrhundert mit gesteigerter Mobilität das Phänomen des Tourismus aufkam, bot der Film wie kein anderes Medium die Möglichkeit, sich ferne Länder bildlich vor Augen zu führen. Und so wimmelt es im frühen Kino von Filmen dokumentarischer und fiktionaler Natur, die ihre Zuschauer für die kurze Zeit des Kinoerlebnisses in die Ferne schweifen lassen und in andere Welten entführen und sie dann, um die Erfahrung des Fremden bereichert, wieder in den Alltag entlassen.

Die IOIC-Soireen im Filmpodium finden jeweils am letzten Donnerstag des Monats statt. Weitere Informationen zum IOIC: http://ioic.ch


39 VIER ABENTEUERFILME VON GEORGES MÉLIÈS DREHBUCH UND REGIE Georges Méliès Le voyage de Gulliver à Lilliput et chez les géants

DIE SPINNEN 1. TEIL – DER GOLDENE SEE / Deutschland 1919 2. TEIL - DAS BRILLANTENSCHIFF / Deutschland 1919/20

F 1902 / 4 Min / koloriert / Stummfilm / Digital HD Le voyage à travers l’impossible

197 Min / viragiert / Stummfilme mit dt. Zw’titeln / 16 mm //

F 1904 / 20 Min / koloriert / Stummfilm / Digital HD

DREHBUCH UND REGIE Fritz Lang // KAMERA Emil Schüne-

Les quatre cents farces du diable

mann, Karl Freund // MIT Carl de Vogt (Kay Hoog), Ressel

F 1906 / 17 Min / koloriert / Stummfilm / Digital HD

Orla (Lio Sha), Georg John (Dr. Telphas), Lil Dagover (Son-

À la conquête du pôle

nenpriesterin Naela).

F 1912 / 30 Min / sw / Stummfilm mit dt. Zw'titeln / Digital HD Fritz Langs Film Die Spinnen ist eine Hommage an die AbenZwischen der Geburt des Kinos aus dem Geiste der Jahr-

teuergeschichten seiner Jugendzeit, allen voran an den

märkte mit ihren Schaubuden und Panoptiken und dem Mo-

von ihm heiss verehrten Karl May. Ganz in der Tradition der

ment, in dem sich das neue Medium die Hörner abstösst und

Vampire des Louis Feuillade benennt der Titel eine krimi-

erwachsen, kommerzialisiert und berechenbar wird, steht

nelle Organisation, nämlich die Gegenspieler des Millionärs

das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Hier, in der Kind-

und Abenteurers Kay Hoog, eines Indiana Jones der Stumm-

heit und Jugend des Kinos, wird alles zu einem Spiel mit den

filmzeit. Auch in Fritz Langs rasantem Abenteuerfilm finden

Möglichkeiten, die das Medium bietet. Grenzen werden aus-

sich die klassischen Ingredienzen des Genres: Geheim­

gelotet, Unmögliches und Fantastisches wird plötzlich zeig-

gesellschaften, Spione, kriminelle Masterminds, exotische

und erlebbar. Ein häufig wiederkehrendes Motiv ist der Auf-

Weltgegenden, unterirdische Welten, geheime Zimmer,

bruch ins Unbekannte und Unerforschte. Zur Eröffnung der

Hypnose, verschlüsselte Nachrichten, täuschende Verklei-

Reihe im Filmpodium zeigt das IOIC vier Filme des Pioniers

dungen und vieles mehr. Ursprünglich geplant als vierteilige

Georges Méliès, in denen solche incohärente Geographien

Reihe, kam es trotz grossem Erfolg nach der zweiten Folge

erforscht, unmögliche Reisen unternommen und fantasti-

zu einem Abbruch des Projektes.

sche Abenteuer erlebt werden.

Vertont werden die beiden Filme von IOKOI, dem Ambient-

Vertont werden die Filme vom legendären Bieler Trio Koch-

Electropop-Projekt rund um die Zürcher Sängerin Mara

Schütz-Studer. Ursprünglich von der klassischen Musik her

­Miccichè. Mit dabei sind der Gitarrist Dimitri Käch, der Bas-

kommend, spielen der Holzbläser Hans Koch, der Cellist

sist James Varghese und der Schlagzeuger Alessandro

Martin Schütz und der Schlagzeuger Fredy Studer eine radi-

­Giannelli. In dieser Formation hat sich das Quartett bereits

kale Musik, die sich irgendwo zwischen freier Improvisation,

vor mehreren Jahren Die Frau im Mond von Fritz Lang vorge-

Rock, Elektronik und Free Jazz bewegt. Oder auf den Punkt

nommen. Von dieser legendären Vertonung wird heute noch

gebracht: «Hardcore Chambermusic».

geschwärmt…

Live-Vertonung: KOCH-SCHÜTZ-STUDER

Live-Vertonung: IOKOI

Hans Koch (Bassklarinette, Sopransaxofon)

Mara Miccichè (Stimme, Elektronik)

Martin Schütz (E-Cello)

Dimitri Käch (E-Gitarre)

Fredy Studer (Schlagzeug)

James Varghese (E-Bass)

www.koch-schuetz-studer.ch

Alessandro Giannelli (Schlagzeug, Elektronik) www.iokoi.net


40 PREMIERE: ABENDLAND

WENN ES NACHT WIRD IN EUROPA

ABENDLAND / Österreich 2011 90 Min / Farbe / DCP / D // REGIE Nikolaus Geyrhalter // DREHBUCH Wolfgang Widerhofer, Nikolaus Geyrhalter, Maria W. ­Arlamovsky // KAMERA Nikolaus Geyrhalter // SCHNITT Wolfgang Widerhofer.

Noch bis zum 7. März 2015 ist im Stadthaus

Doch Geyrhalter sieht in Europa nicht nur

Zürich die Ausstellung «Nacht Stadt» zu

den Ort, den es zu sichern gilt, sondern auch

­sehen, die erkundet, was nachts alles in

zu pflegen. An Schauplätze aus der Festung

Zürich passiert. Das Film­ ­ podium zeigt

Europa reiht er Szenen, in denen sich Men-

als ergänzende Premiere den Dokumentar­

schen kümmern. (...) Eine Nachtschwester

film Abendland des Österreichers Nikolaus

auf der Neugeborenenstation dreht das

Geyrhalter.

bisschen Mensch zwischen ihren Händen nebst seinen vielen Schläuchen in eine neue

Der Titel ist doppeldeutig: Nikolaus Geyrhal-

Lage. Viel später sehen wir, wie ein junger

ter porträtiert Europa als hochentwickelten

Mann in einem Pflegeheim alte Menschen im

westlichen Kontinent, der für seine Bürger

Schlaf dreht, ebenfalls um ihnen eine beque-

sorgt und sich gegen aussen abschottet; ge-

mere Lage zu verschaffen. Geyrhalter schafft

rade auch nachts wird viel getan, um diese

es, dass sich die Szenen in unserem Ge-

Ziele zu erreichen.

dächtnis miteinander verknüpfen. (...)

«‹Wer im Paradies lebt, muss gut darauf

Europa in einem Film zu fassen, ist kein

aufpassen›, sagt Geyrhalter und zeigt unse-

leichtes Vorhaben. Geyrhalter ist mit seinen

ren Kontinent als privilegierten Ort, der ge-

nächtlichen Momentaufnahmen eine beson-

sichert werden muss: Überwachungskame-

ders schöne der möglichen filmischen Ant-

ras an einer slawischen Grenze und in

worten gelungen.» (Wenke Husmann, Zeit

London, Grenzzäune in Melilla, der spani-

online, 20.12.2011)

schen Exklave in Marokko, Einsatztrainings der Polizei in Deutschland. Wir verteidigen, was wir haben, mit allen Mitteln, über die wir verfügen. (...)


41 IMPRESSUM

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS

in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Corinne Siegrist-Oboussier (cs), STV. LEITUNG Michel Bodmer (mb) WISSENSCHAFTLICHE MITARBEIT Tanja Hanhart (th), Primo Mazzoni (pm) // PROGRAMM-MITARBEIT Liliane Hollinger // PRAKTIKANT Marius Kuhn // SEKRETARIAT Claudia Brändle BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 212 13 77 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 211 66 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: CAB Productions, Lausanne; Cinecittà Luce, Rom; Cineteca di Bologna; Cineteca Nazionale, Rom; Deutsches Filminstitut – DIF, Wiesbaden; Fortissimo Films, Amsterdam; Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden; Generalkonsulat der Slowakischen Republik, Zürich; Hollywood Classics, London; Krátký Film, Prag; Lobster Film, Paris; Manaki Film, Skopje; Milcho Manchevski; Neue Visionen Filmverleih, Berlin; NFA, Prag; Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion GmbH, Wien; Park Circus, Glasgow; Radim Procházka, Prag; Rai Cinema, Rom; Ripley’s Film, Rom; Senator Entertainment AG, Berlin; Slowakisches Filminstitut, Bratislava; Sub-Ti Ltd., London; Surf Film, Rom; ­Tamasa Distribution, Paris; trigon-film, Ennetbaden. DATABASE PUBLISHING BitBee Solutions GmbH, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS & Partner, Zürich // KORREKTORAT N. Haueter, D. Kohn // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 7000 ABONNEMENTE Filmpodium-Generalabonnement : CHF 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halbtaxabonnement: CHF 80.– / U25: CHF 40.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Abonnement Programmheft: CHF 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

VORSCHAU Gene Kelly

Tschechisches und slowakisches Kino

Er war der Athlet unter den Stars des Holly-

Das tschechische und slowakische Film-

wood-Musicals und als Choreograf und Re-

schaffen seit der Samtenen Revolution und

gisseur ein absoluter Perfektionist. Am

der Auflösung der Föderation hat – nach ge-

Broadway erfolgreich, wollte Gene Kelly ur-

wissen Anlaufschwierigkeiten – eine neue

sprünglich gar nicht zum Film, doch bei

Generation von Cineasten und beachtliche

­Metro-Goldwyn-Mayer stiess er auf Seelen-

Werke hervorgebracht. Der zweite Teil un-

verwandte und lernte schnell, die künstleri-

serer Filmreihe widmet sich Regisseuren

schen Möglichkeiten des Kinos zu nutzen.

wie Jan Sverák, der mit Kolya einen Oscar

An der Seite von Fred Astaire und Frank

gewann, Martin Šulík, der mit Záhrada und

Sinatra und mit Partnerinnen wie Judy ­

anderen Titeln Aufsehen erregte, sowie

­Garland und Leslie Caron brillierte Kelly auf

Werken von Jan Hřebejk, Bohdan Slama und

dem Parkett, aber auch als Filmemacher

Vladimír Michálek, die sich mit verschiede-

machte er sich einen Namen. Seine Witwe,

nen Phasen der Geschichte ihrer Länder

die Film­ historikerin Patricia Ward Kelly,

auseinandersetzen. Die meisten Filme sind

wird unsere Retrospektive mit Einblicken in

als Schweizer Premiere zu sehen.

sein Schaffen ergänzen.


“A MAS T E RF U L WO RK O F H EART B REAK I N G ART I S T RY AN D P E RF E C T I O N ” REX REED, N EW YORK OB SERVER

E D D I E R E D MAY N E

FELIC IT Y JONE S

T H E EXT RAORDINARY STORY OF JAN E A N D ST E PH E N HAWKI NG

UNIVERSAL PICASTICNTURES PRESENTS A WORKING TITLE PRODUCTION EDDIE REDMAYNE FELICITY JONES “THE THEORY OF EVERYTHING” CHARLIE COX EMILY WATSON SIMON MCBURNEY WITH DAVID THEWLIS G MUSIC COSTUME HAIR, MAKE-UP AND PRODUCTION DIRECTOR OF BY NINA GOLD BY JÓHANN JÓHANNSSON DESIGNER STEVEN NOBLE PROSTHETIC DESIGNER JAN SEWELL EDITOR JINX GODFREY DESIGNER JOHN PAUL KELLY PHOTOGRAPHY BENOÎT DELHOMME AFC COEXECUTIVE BASED ON PRODUCER RICHARD HEWITT PRODUCERS AMELIA GRANGER LIZA CHASIN DAVID KOSSE THE BOOK “TRAVELLING TO INFINITY: MY LIFE WITH STEPHEN” BY JANE HAWKING SCREENPLAY PRODUCED DIRECTED BY ANTHONY MCCARTEN BY TIM BEVAN ERIC FELLNER LISA BRUCE ANTHONY MCCARTEN BY JAMES MARSH TheoryOfEverything.ch

D E C E M B E R 2 5 TH


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