FALTER Bücherherbst 2012

Page 53

s a c h b u c h

F A L T E R   4 1 /1 2

53

Die Unterscheidbarkeit Artisten, Rekordhalter der Dinge und die Blätter und Spezialisten Gartenkunst: Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp liest die Formensprache des Barockgartens neu

Botanik: Der Schweizer Biologe Ewald Weber singt ein Loblied auf die außergewöhnlichen Fähigkeiten von Pflanzen

o sieht eine klassische Opposition S aus: Hier die Gärten des Barock, in deren geometrischer Anlage mit den

enn man genauer hinschaut, W wird auch Gras zu einem echten Faszinosum. Klar: Ohne Gras kein

schnurgeraden Sichtachsen und akkurat geschnittenen Hecken sich der Despotismus des Ancien Régime à la Versailles ausdrückt, dem sich auch die Natur zu unterwerfen hat. Auf der anderen Seite der Landschaftsgarten englischer Prägung mit seiner kurvigen Wegführung und den gelenkten Blicken auf malerische Naturszenerien, der im 18. Jahrhundert endlich die engen Fesseln der barocken Gartengestaltung sprengte und sie durch die Prinzipien von Natürlichkeit, Naturnähe und freiem Miteinander ersetzte. Als Produkt der Aufklärung prägte den Landschaftsgarten ein Naturverständnis, das nicht auf Ausbeutung fußen wollte – kurz: ein von Menschenhand geschaffenes, irdisches Paradies, in dem die Natur als Gegenmodell zur starren Hierarchie städtischen Lebens fungierte. Es war diese ideologische Überfrachtung,

schreibt der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, Jahrgang 1947, der zuletzt Monografien zur Theorie des Bildakts, Michelangelo und dem Künstler als Verbrecher publizierte, die „die stilistische Differenz zwischen dem Landschafts- und Barockgarten zu einem epochalen Kulturkonflikt erhob“. Die „bipolare Frontstellung“ zwischen den beiden Gartentypen, so Bredekamp, verschleierte alsbald die „inneren Widersprüche“ des Landschaftsgartens, auch weil sie keinen klaren Blick mehr auf die „alternativen Formen des geometrischen Barockgartens“ erlaubte. Neuere Forschungen legen nahe, dass die Grenzen nicht so streng zu ziehen sind. Mit seinem schmalen Buch „Leibniz und die Revolution der Gartenkunst“ legt es Bredekamp klar auf eine Revision der gängigen Gartenhistorie an. Zum Beispielfall werden darin der Große Garten von Hannover-Herrenhausen und die Beteiligung von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) an dessen Entstehung. Denn Garten und Schloss von Herrenhausen, argumentiert Bredekamp, „widersetzen sich der Einordnung in die eingeschliffene Abfolge von Renaissance-, Barock- und Landschaftsgarten, und dies gilt entsprechend auch für Leib-

niz’ Sicht auf den Garten“, denn die „Linearität dieser Sequenz war von Beginn an ein Produkt der Ausblendungen sowie gezielten Gewichtungen des historischen Materials“. Bredekamp geht es darum, „diese Verkürzungen zurückzunehmen und damit der Gartengeschichte insgesamt eine neue Wendung zu geben“. Leibniz – Philosoph, Politiker, Historiker, Mathematiker, Physiker und einer der Vordenker der Aufklärung – ging 1676 als Bibliothekar nach Hannover und war über 30 Jahre lang an der Gestaltung und Planung des Gartens mitbeteiligt, wobei ihn vor allem technische Lösungsvorschläge für die Brunnen, Fontänen und Kanäle beschäftigten. Wie Bredekamp zeigt, prägte die gestal-

terisch wie technisch herausfordernde Planung dieser Gartenanlagen Leibniz’ Vorstellungen von Natur und Kunst. Zur Schlüsselszene wird eine Anekdote, in der eine Gruppe um Leibniz und die Kurfürstin eines Tages in den Gärten die Frage beleuchtet, dass kein einziges Blatt in Form und Struktur einem anderen vollkommen gleiche. Die Blätter des Großen Gartens werden zum Ausgangspunkt für Leibniz’ Prinzip der unendlichen Unterscheidbarkeit der Dinge. Der Barockgarten mit seinen strengen, symmetrischen Formen steht dieser Vielfalt nicht im Weg: „Im Detail entfaltet sich vielmehr eine freie Variabilität, die umso stärker wirkt, je mehr sie durch gerade Linien begrenzt wird.“ Bredekamp zeigt eindrucksvoll, dass auch der barocke Garten als Ort der Freiheit und Individualität wahrgenommen werden konnte und sollte und durchaus kein Gegenbild der Moderne war: Die Botschaft des Barockgartens ist fortschrittlicher als ihr Ruf; und auch in Landschaftsgärten kann es sehr eng gesteckte Grenzen geben. Das ist äußerst erhellend. J u l i a K o spa c h

Horst Bredekamp: Leibniz und die Revolution der Gartenkunst. Herrenhausen, Versailles und die Philosophie der Blätter. Wagenbach, 176 S., € 30,80

Fußball, aber ohne Gras auch keine Polenta, kein Brot und keine Sushi, denn auch Mais, Weizen, Roggen und Reis gehören zu den Gräsern. Weltweit sind sie die häufigsten Pflanzen überhaupt. Und der Grashalm macht einiges mit: Viehherden trampeln drüber, Badehandtücher liegen drauf, Maschinen walzen ihn nieder, schwere Winde krümmen ihn. Den Halmen macht das nichts aus. Nach einiger Zeit stellen sie sich einfach wieder auf. Nur wie genau machen sie das? Die Antwort auf diese und ähnliche Fra-

gen zur wunderbaren Welt erstaunlicher Pflanzenfähigkeiten gibt das famose „Kleine Buch der botanischen Wunder“ des Schweizer Biologen Ewald Weber. Mit den Gräsern zum Beispiel verhält es sich so. In gewissen Abständen verfügen sie über eine Art „Zwischenboden“, den Knoten, der als Verdickung des Halms sichtbar wird. Er ist das Geheimnis hinter der Stehaufmännchenfähigkeit niedergedrückter Gräser: „Der Knoten führt eine Wuchskrümmung aus – die Unterseite wächst, streckt sich und drückt so den Halm wieder in die Senkrechte.“ Bewegung durch Wachstum nennt das der Fachmann. Nur: Gibt es unter Pflanzen auch aktive Bewegungen, die rückgängig gemacht werden können – ähnlich dem Anspannen und Entspannen eines menschlichen oder tierischen Muskels? Nein, wäre man leichthin geneigt zu sagen, bevor einem das tägliche Öffnen und Schließen mancher Blüten einfällt, das jeder schon beobachtet hat. Sieht stark nach einer aktiven Bewegung aus. Ist es auch. Zum Beispiel bei der Silber- oder Wetterdistel, deren Kranz aus knisternd trockenen Blütenblättern direkt am Boden liegt und sich bei Schlechtwetter schließt. Die Unterseite der trockenen Hüllblätter quillt durch Wasseraufnahme auf und löst damit Bewegung nach innen aus, bei Sonnenschein öffnen sie sich wieder. Das sind zwei Beispiele aus heimischen Gefilden. Nicht minder spannend ist es, Ewald Weber zu den weltweiten Pflanzenartisten, -rekordhaltern und -spezialisten zu folgen: Im kubanischen Regenwald gibt es eine Kletterpflanze mit hasenohrenförmi-

gen Blüten, deren Form als Schallreflektor dient: eine Art botanische „Leuchtreklame für Blumenfledermäuse“ auf Nektarsuche. Von Wildtieren angeknabberte afrikanische Akazien informieren durch Ethylenausstoß benachbarte Bäume über drohende Gefahr, auf dass diese die Tanninproduktion in ihren Blättern hinauffahren, die Fresstieren ordentlich den Magen verderben kann. Auch die Frage, warum manche Bambusarten nur alle 120 Jahre, dann aber massenhaft blühen, Früchte bilden und gleich darauf absterben, wird in diesem Buch geklärt: Anders als in unseren Wäldern sind alle Pflanzen eines Bambuswaldes immer gleich alt. Was eine Pflanze tut, tun daher alle anderen auch. Und: Die Bambuspflanze regelt auf diese recht drastische Art den Bestand der von ihr lebenden Tiere, „indem sie sie ab und zu mit Nahrung vollstopft, bloß um sie daraufhin sterben zu lassen“. Auf den Seychellen wächst eine Palme

mit bis zu 20 Kilo schweren Nüssen, die damit unter den Wildpflanzensamen den Gewichtsrekord halten, ein klassisches Beispiel dafür, was Biologen „Inselgigantismus“ nennen. Der Wind kann so einen gewichtigen Samenstand kaum verblasen. Gleichzeitig ist es aber aus Konkurrenzgründen ungünstig, wenn alle Jungpalmen gleich direkt unterm Stamm der Mutterpalme zu wachsen begännen. Auch dafür hat die Natur eine geniale Lösung ersonnen. Aus der abgefallenen Frucht wächst eine Nabelschnur. Erst senkrecht in den Boden, dann wechselt sie in die Waagrechte und kriecht dann bis zu zehn Meter weit durch den Boden. An ihrem Ende erst gedeiht die neue SeychellenPalme. Auch die Nabelschnur ist also nichts, was als absolut todsicheres Unterscheidungsmerkmal zwischen uns und den Pflanzen infrage käme.

J u l i a K o spa c h

Ewald Weber: Das kleine Buch der botanischen Wunder. Beck’sche Reihe, 171 S., € 13,40

Die Falter-Buch-Rezensionen. Nachlesen und alle Bücher online bestellen. balken fashop rezensionen.indd 1

01.10.2009 11:44:25 Uhr


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.
FALTER Bücherherbst 2012 by Falter Verlagsgesellschaft m.b.H. - Issuu