ÖFG 2025

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DAS MAGAZIN DER ÖSTERREICHISCHEN FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT

DEMOKRATIE ZWISCHEN

AUFSTAND UND VERANTWORTUNG

Der Österreichische Wissenschaftstag 2025

LIEBE LESERINNEN,

LIEBE LESER!

W

ir freuen uns, Sie mit der 12. Ausgabe des Magazins der Österreichischen Forschungsgemeinschaft (ÖFG) über unsere Initiativen und Aktivitäten im Jahr 2025 informieren zu dürfen, und wünschen Ihnen schon jetzt eine spannende Lektüre!

2025 fand der Österreichische Wissenschaftstag mit dem Titel „Vom Aufstand der Untertanen zur selbstbewussten Zivilgesellschaft als Eckstein unserer Demokratie“ erstmals in Innsbruck statt und hat das Gedenken anlässlich des Gaismair-Jahres an den Ausgangspunkt gestellt, um die Rolle von Zivilgesellschaft und bedrohten demokratischen Strukturen aus ausgewählten Blickwinkeln zu behandeln. Der Bogen wurde dabei von der geschichtlichen Betrachtung der Rolle Michael Gaismairs über die Interaktion zwischen Literatur sowie Religion und Zivilgesellschaft bis hin zu deren Ein uss auf das Völkerrecht gespannt. In dieser Ausgabe des Magazins nden Sie eine umfangreiche Nachbearbeitung der spannenden und vielfältigen Beiträge des Wissenschaftstags (S. 26 .).

In bewährter Tradition des Magazins baten wir die Bundesministerin für Frauen, Wissenschaft und Forschung, Eva-Maria Holzleitner, sowie Vertreter:innen aller neun Bundesländer zum Interview und befragten sie zu ihren aktuellen Schwerpunkten im Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungsbereich (S. 20 f.).

Emil Brix, Präsident der Österreichischen Forschungsgemeinschaft

Harald Kainz, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der ÖFG

Medieninhaber und Verleger: Österreichische Forschungsgemeinschaft, Berggasse 25/21, 1092 Wien

T: +43/1/319 57 70

E: oefg@oefg.at Druck: Wograndl Druck GmbH, 7210 Mattersburg

Darüber hinaus erwarten Sie eine ausführliche Berichterstattung über den diesjährigen ÖFG-Workshop, der sich dem ema „Wissenschaft und Forschung als Treiber wirtschaftlicher Entwicklung“ gewidmet hat (S. 12 .), sowie ein Einblick in die Aktivitäten und Initiativen der Young Section unserer Arbeitsgemeinschaft „KI und Menschenrechte“ (S. 10 f.).

In der Rubrik „4 aus 300“ dürfen wir Ihnen vier Projekte, die mit Hilfe unseres Förderprogramms „Internationale Kommunikation“ verwirklicht werden konnten, vorstellen (S. 6 f.).

Ganz besonders freuen wir uns, unserer diesjährigen Preisträgerin – Univ.-Prof.in Dr.in Gabriele Berg– zum Erhalt des Wissenschaftspreises 2025 (S. 8 f.) zu gratulieren!

Leider müssen wir vom Ableben unseres langjährigen Präsidenten Heinrich Neisser berichten. Heinrich Neisser prägte die Ziele der ÖFG maßgeblich und war diesen bis an sein Lebensende verbunden. Wir werden ihn in ehrender Erinnerung behalten (S. 4 f.).

IHR

EMIL BRIX

IHR

HARALD KAINZ

PEFC/06-39-364/16

Fotos: Hans Ringhofer, Lunghammer/TU Graz

DER WISSENSCHAFTLICHE BEIRAT DER ÖFG

Martin Gerzabek, Univ.-Prof. für Ökotoxikologie und Isotopenanwendung, BOKU Wien

Magdalena Pöschl, Univ.Prof. für Rechtswissenschaften, Universität Wien

Barbara StelzlMarx, Univ.-Prof. für Geschichte, Universität Graz

Reinhard Heinisch, Univ.-Prof. für Politikwissenschaften, Universität Salzburg

Eva-Maria Remberger, Univ.-Prof. für Romanistik, Universität Wien

Friederike Wall, Univ.-Prof. für Unternehmensführung, Universität Klagenfurt

INHALT

NACHRUF AUF

HEINRICH NEISSER

Langjähriger Präsident der ÖFG 4–5

FÖRDERUNG FÜR

DEN NACHWUCHS

Vier von 300 Jungforscher:innen, die die ÖFG heuer unterstützte 6–7

ÖFG-WISSENSCHAFTSPREIS

Auszeichnung für Gabriele Berg 8–9

ARGE DER ÖFG

Young Section der ARGE Künstliche Intelligenz und Menschenrechte 10–11

Bernhard Jakoby, Univ.-Prof. für Mikroelektronik, Universität Linz

Kurt Scharr, Univ.-Prof. für Geschichte, Universität Innsbruck

Viktoria Weber, Univ.-Prof. für Biochemie, Universität für Weiterbildung Krems

Harald Kainz, Univ.-Prof. für Siedlungswasserwirtschaft, TU Graz, Beiratsvorsitzender

Eva Schernhammer, Univ.-Prof. für Epidemiologie, Medizinische Universität Wien

Susanne WeigelinSchwiedrzik, Univ.-Prof. für Sinologie, Universität Wien

WORKSHOP DER ÖFG

Heuer zum Thema Wissenschaft und Forschung als Treiber wirtschaftlicher Entwicklung 12–19

DIE WISSENSCHAFTSMINISTERIN IM GESPRÄCH

Interview mit Eva-Maria Holzleitner 20–21

WISSENSCHAFTS FÖRDERUNG IN DEN BUNDESLÄNDERN

Ziele und Schwerpunkte der Wissenschaftspolitik 22–25

Wolfgang Kautek, Univ.-Prof. für Physikalische Chemie, Universität Wien

Heinrich Schmidinger, Univ.-Prof. Philosophie/Theologie, Universität Salzburg

Peter Parycek, Univ.-Prof. für E-Governance, Universität für Weiterbildung Krems

Christiane Spiel, Univ.-Prof. für Bildungspsychologie und Evaluation, Universität Wien

DEMOKRATIE ZWISCHEN AUFSTAND UND VERANTWORTUNG

Beiträge zum Österreichischen Wissenschaftstag 2025 26–39

Michael Gaismair –Sozialrevolutionär? 28–29

Literatur und Zivilgesellschaft: Autor:innen im Gespräch 30–31

Das Volk und sein Einfluss auf das Völkerrecht 32–33

Die Universität in Kriegszeiten 34–35

Widerstand durch den Akt des Erinnerns

36–37

Religion und Gesellschaft 38–39

Einsatz für Wissenschaft, Demokratie und Zivilgesellschaft

Die Österreichische Forschungsgemeinschaft gedenkt ihres langjährigen

Präsidenten HEINRICH NEISSER (1936–2025)

Der liberale ÖVP-Politiker und spätere Politikwissenschaftler an der Universität Innsbruck war nicht nur seit den späten 1960er-Jahren eine prägende Person der österreichischen politischen Landschaft mit Führungsfunktionen in Verwaltung, Regierung und Parlament, sondern er übte auch von 1989 bis 2013 die Funktion des Präsidenten der Österreichischen Forschungsgemeinschaft aus.

In dieser Funktion leistete er wesentliche Beiträge, um Wissenschaftler:innen an den österreichischen Universitäten eine Plattform zu bieten, sich an der Stärkung der interdisziplinären Forschung und an der Weiterentwicklung der Wissenschafts- und Forschungspolitik aktiv zu beteiligen. Er war von der zentralen Rolle von Wissenschaft für die Modernisierung und demokratische Weiterentwicklung von Staat und Gesellschaft überzeugt.

Für diese gesellschaftliche Rolle der Wissenschaft und besonders der „Scientific Community“ kämpfte er in allen seinen politischen Funktionen. In seiner Zeit als Präsident der ÖFG wurden Arbeitsgemeinschaften zu Themen wie „Wege zur Civil Society in Österreich“, „Die Zukunft der Demokratie“ und „Bildung und Ausbildung“ eingerichtet. Mit seiner reichen Erfahrung als Parlamentarier und Regierungsmitglied hat er den Wissenschaftlichen Beirat der ÖFG und unzählige Jungforscher:innen zur kritischen Begleitung und erfolgreichen Unterstützung von Reformmaßnahmen der österreichischen Universitäten zu mehr Autonomie und Internationalisierung motiviert. Er blieb bis an sein Lebensende den zu großen Teilen von ihm selbst mitformulierten wissenschaftspolitischen Zielen der ÖFG verbunden. Der Wissenschaftliche Beirat und das Präsidium der Österreichischen Forschungsgemeinschaft werden ihn immer in ehrender Erinnerung behalten. Unsere Anteilnahme gilt seiner Familie und all seinen Freunden in allen politischen Lagern und wissenschaftlichen Institutionen.

Heinrich Neisser (1936–2025) Stationen seines Lebens

1936 – Heinrich Neisser wird in Wien geboren.

1960 – An der Universität Wien schließt er sein Studium der Rechtswissenschaften ab.

1961 – Neisser beginnt seine Laufbahn als Sekretär im Präsidium des Verfassungsgerichtshofs.

1969 – Ein Jahr lang ist Neisser Staatssekretär im Bundeskanzleramt.

1974 – Neisser wird der Leiter einer Stabsabteilung bei der Vereinigung Österreichischer Industrieller, wo er politische und wirtschaftliche Themen verbindet. Diese Postition hat er bis 1981 inne.

1975 – Für die ÖVP wird er erstmals Abgeordneter zum Nationalrat.

1983 – Das Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich wird an Neisser verliehen.

1987 – Neisser wird Bundesminister im Bundeskanzleramt und Bundesminister für Föderalismus und Verwaltungsreform in der Regierung Vranitzky II.

1989 – Neisser wird Präsident der ÖFG und hat die Position bis 2013 inne. In diesen zwei Jahrzehnten prägt er die Entwicklung der ÖFG und fördert die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Wissenschaft.

1990 – Er wird Obmann des Parlamentsklubs der ÖVP und bleibt vier Jahre lang in dieser Position.

1994 – Neisser wird zum Zweiten Präsidenten des Nationalrats gewählt. In dieser Funktion setzt er sich bis 1999 für parlamentarische Transparenz und demokratische Reformen ein.

der Universität Innsbruck wissenschaftlich mit der Geschichte und der Politik der Europäischen Integration, mit einem Fokus auf die EU.

2000 – In diesem Jahr übernimmt Neisser außerdem den Jean-Monnet-Lehrstuhl für „Europäische Integration“ am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck.

Heinrich Neisser war 25 Jahre lang Präsident der ÖFG

kreuz für Wissenschaft und Kunst erster Klasse.

2024 – Erst ein Jahr vor seinem Tod beendete seine Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform ihre Tätigkeit: Neisser war bis zuletzt politisch engagiert.

2025 – Im Alter von 89 Jahren verstirbt Heinrich Neisser in Villach.

Forschen ohne Grenzen

Auch dieses Jahr unterstützte die ÖFG NACHWUCHSFORSCHER:INNEN dabei, ihre Forschungsnetzwerke über Fach- und Landesgrenzen hinweg auszubauen

ISABEL FRAHNDL

Anregende Panels, Einblicke in eine fremde Wissenschaftskultur oder auch nur eine ehrliche Anmerkung von Kolleg:innen: Austausch beflügelt die Forschung. Deshalb ist es der ÖFG ein Anliegen, jungen Forscher:innen durch das Förderprogramm „Internationale Kommunikation“ ReisemittelZuschüsse zu gewähren und so ihre internationalen Networking-Bestrebungen zu ermöglichen. Vier der jährlich 300 ausgewählten Stipendiat:innen berichten, was sie für ihre Forschung mit nach Hause genommen haben.

Val Meneau, Universität Wien AWARENESS-ARBEIT ALS SOZIALE ÜBERBRÜCKUNGSSTRATEGIE

„Für mich ist immer wichtig, abzuschätzen, ob ein Thema gut in meiner wissenschaftlichen Community ankommt. Und ob ich etwas vergessen habe in meinem Gedankenprozess“, sagt Val Meneau. Diese Community, bestehend aus Forschenden der Queer, Trans und Gender Studies, zeichnet sich nicht nur durch ihre Forschungsrichtung, sondern auch durch ihren sozialen Hintergrund aus. Ein von der ÖFG geförderter Aufenthalt in Barcelona ermöglichte Meneau den Austausch mit ihr: Bei der dreitägigen AtGenderKonferenz im Juli wurde über queere und feministische Forschung diskutiert, darunter auch Meneaus Paper über Awareness-Arbeit als soziale Überbrückungsstrategie.

Gemeint ist damit die basisdemokratische, gemeinschaftlich geleitete Care- und Interventionsarbeit im queeren Nachtleben. „Auch wenn es den Anspruch gibt, dass diese Spaces für alle sein müssen, ist auch dort sehr viel Gewaltpotenzial. Die gleichen Probleme wie im Alltag gibt es auch in der QueerNightlife-Szene.“ Da es zu diesem Thema wenig bzw. nur junge Basisliteratur gibt, verbindet Meneau Literatur aus verschiedenen Feldern und generiert mittels qualitativer Befragungen Erkenntnisse aus communityinternem Wissen. „Außerdem arbeite ich viel mit aktivistischen Szenen. Von der Themenfindung bis zur Publikation von Forschungsarbeit dauert es oft Jahre. In der Zwischenzeit brauchen wir aber schon Lösungen. Der Aktivismus ist einfach viel schneller.“

Basierend auf diesen Erkenntnissen möchte Meneau ein größeres Forschungsprojekt aufbauen. Auch Inputs aus Barcelona sollen berücksichtigt werden: „Ich möchte eine Critical Participatory Action Research Methodology einspannen, damit nicht nur mit der Wissenschaft gesprochen wird. Es sollten schnellstmöglich praktische Umsetzungen wie Workshops stattfinden, sodass das Wissen direkt in die Szene einfließt.“

Lea Demelius, TU Graz

DIFFERENTIAL PRIVACY UND FAIRNESS BEI KI

„Dass KI sehr große Datenmengen benötigt, ist allgemein bekannt. Aber was viele nicht wissen: Wenn man Machine-Learning-Modelle mit Daten trainiert, kann es sein, dass man von ihrem Output Rückschlüsse auf Individuen ziehen kann. Und das ist ein Problem“, sagt Doktorandin Lea Demelius. Die 27-Jährige hat an der TU Graz in verschiedenen Bereichen geforscht, unter anderem Elektrotechnik. „Ich habe dann aber gemerkt, dass für mich mehr dazugehört als die Faszination, wie was funktioniert. Ich wollte ein Ziel haben, hinter dem ich stehen kann und das auch für die Gesellschaft wichtig ist.“

Mit dem Thema Privatsphäre und Datenschutz bei KI hat die 27-Jährige dieses Ziel gefunden. Denn vor allem im medizinischen Bereich kann es zu Verletzungen der Privatsphäre kommen, wenn KI-generierte Daten auf Individuen zurückgeführt werden können. Als State-of-the-Art-Methode, um dem vorzubeugen, gilt das in den USA entwickelte Differential-Privacy-Verfahren: ein mathematisches Rahmenwerk, das bei datenschutzkonformen Analysen sicherstellt, dass die Resultate nahezu gleich bleiben, auch wenn Daten einzelner Personen inkludiert oder weggelassen werden.

Die University of Virginia beheimatet eine der wenigen Forschungsgruppen weltweit, die sich ausdrücklich mit der Verbindung von differentieller Privatsphäre und Fairness befassen. Mithilfe der ÖFG-Förderung konnte Demelius während eines fünfmonatigen Aufenthalts an der University of Virginia ihre Doktorarbeit über Differential Privacy vertiefen. Den Auftakt der Reise bildete die AAAI25-Konferenz in Philadelphia, wo Demelius

Fotos: Carina Armes, Lea Demelius, www.katinafotografie.at, Privat

ihre Arbeit im Rahmen eines DoktorandenKonsortiums vorstellte.

„Es war meine erste große Konferenz und ich habe so viele Leute kennengelernt – sowohl aus einem weiteren Forschungsumfeld als auch aus der kleineren Community der Privacy-Forschung. Man wächst einfach an so einem Aufenthalt.“

Michael Denk, Johannes-Kepler-Universität Linz AUSWIRKUNGEN VON KI AUF DAS RECHTS- UND VERWALTUNGSWESEN

„Es sind oft sehr grundsätzliche Fragen, die man stellt, wenn man wissen will, ob Digitalisierungsinstrumente im staatlichen Kontext genutzt werden können: Sind KI-Entscheidungen zuverlässig? Wie verhindert man diskriminierende Ergebnisse? Und wie geht der Staat damit um?“, erklärt Michael Denk. Für seine Forschung über KI im Verwaltungswesen ist es deshalb sinnvoll, über den Horizont des österreichischen Rechtssystems hinauszublicken und sich mit dem internationalen Kollegium auszutauschen.

Eine wertvolle Gelegenheit dazu war die durch die ÖFG geförderte Teilnahme an der Konferenz „Discretionary Justice in the Digitalized Age“, die am 5. Juli 2025 in Peking stattfand und von der China University of Political Science and Law (CUPL) organisiert wurde – der führenden juristischen Hochschule Chinas im Bereich Politik- und Rechtswissenschaften. Der am Energieinstitut der Linzer Johannes-Kepler-Universität tätige Rechtswissenschaftler wurde eingeladen, dort einen Vortrag über das Spannungsfeld zwischen KI und verwaltungsrechtlichen Entscheidungsprozessen zu halten.

„Die chinesische Gesellschaft ist massiv digitalisiert, auf privater und staatlicher Ebene. Aus unserer eurozentrischen Sicht wird das oft kritisch bewertet, indem man auf fehlende Menschenrechte verweist – ich habe aber auf wissenschaftlicher Ebene gesehen, dass Defizite sehr wohl angesprochen werden, zum Beispiel im Bereich von KI-gestützter Videoüberwachung mit Gesichtserkennung. Das war ein großes Learning: dass in anderen Rechtsordnungen und Gebieten dieser Welt zu ähnlichen beziehungsweise genau den gleichen Themen geforscht wird.“

Michael Denk, Johannes-KeplerUniversität Linz

Tina Palme, Universität Wien PH-VERÄNDERUNG DES EINZELLERS NONIONELLA SP. T1 IN SCHWEDEN „Manche Foraminiferen-Arten können selbstständig den pH-Wert im Wasser senken und dadurch neue Kammern in ihren Schalen aufbauen. Das ist Wahnsinn, dass Einzeller, winzig kleine Lebewesen, so etwas schaffen können“, erklärt Tina Palme. Foraminiferen sind in sämtlichen Meereslebensräumen vertreten und fungieren als wichtige Indikatoren für Umweltveränderungen. Für ihre Dissertation untersucht Palme am Institut für Paläontologie der Universität Wien die Amöbe Nonionella sp. T1, die erst vor wenigen Jahrzehnten im schwedischen Gullmar-Fjord aufgetaucht ist und mittlerweile bereits das Habitat dominiert.

„Was wir wissen wollen: Warum ist diese Foraminifere so erfolgreich? Ist sie einfach sehr tolerant gegenüber verschiedenen Bedingungen? Und was macht sie zu so einer opportunistischen Spezies?“ Ein vielversprechender Ansatz, um diese Fragen zu klären, sind Futterexperimente: Anhand dieser Experimente kann man erkennen, ob sich Veränderungen positiv oder negativ auf die Amöbe auswirken.

„Ich wusste von einem Kollegen in Japan, der die Methodik und die Instrumente dazu hat, die genauen pH-Veränderungen in und um die Foraminifere aufzuzeichnen und zu beobachten. So entstand die Idee meines Forschungsbesuchs. Fast zwei Wochen forschte Palme im Oktober an der Japan Agency for Marine-Earth Science and Technology (JAMSTEC). Eine Erfahrung mit wertschätzenden Kolleg:innen, die sie als lehrreich empfunden hat: „Ein paar Tage lang haben sich die Foraminiferen gesträubt, den Indikatorstoff aufzunehmen, und als das endlich geglückt ist und klar war, dass wir die pH-Veränderungen nachvollziehen können, gab es sogar Applaus im Labor.“

Tina Palme sagt über ihren Wunsch für die Zukunft: „Es wäre schön, wenn sich damit auch mehr Menschen und Gruppen beschäftigen könnten. Mit Problemen wie der Klimaveränderung und der Ozeanversauerung ist diese Forschung auf vielen Ebenen sehr wichtig.“

Tina Palme, Universität Wien

Mikrobiom: Mediator der Gesundheit

Für ihre Forschung zum Mikrobiom der Pflanzen wurde der Biologin und Biotechnologin GABRIELE BERG der Wissenschaftspreis der ÖFG verliehen

WERNER STURMBERGER

Aufgrund ihrer hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen, der hohen Aktualität ihrer Forschungsschwerpunkte und dem großen Engagement in der Kommunikation ihrer Forschungsergebnisse erhielt Gabriele Berg den diesjährigen Wissenschaftspreis der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. Sie erforscht seit vielen Jahren das Mikrobiom von Pflanzen. Dass dieses mittlerweile ein etabliertes Forschungsfeld darstellt, verdankt sich einer vergleichsweise überschaubaren, aber hochengagierten Forschungscommunity. Die Arbeiten von Gabriele Berg zur Koevolution von Mikrobiom und pflanzlichen Organismen haben einen maßgeblichen Anteil daran. Als sie ihr Studium der Biologie an der Universität Rostock 1981 aufnahm, war das Mikrobiom weitgehend unbeforscht. Auf den Abschluss ihres Studiums mit Auszeichnung im Jahr 1986 folgte ein einjähriges Forschungsstudium für Mikrobiologie und Biotechnologie an der Universität Greifswald. 1995 promovierte sie „magna cum laude“ zur Dr.in rer nat, im Jahr 2001 erlangte sie die Venia Legendi für Mikrobiologie. 2005 wurde sie, als erste Professorin, auf einen naturwissenschaftlichen Lehrstuhl der Technischen Universität Graz berufen. Seit 2021 forscht sie zudem am Leibniz-Institut für Agrartechnik und Bioökonomie e. V. (ATB) in Potsdam.

schung ist sehr stark technologietrieben. Erst in den 90er-Jahren haben neuartige molekulare Verfahren, wie Hochdurchsatzsequenzierungstechnologien, größere Fortschritte in diesem Gebiet ermöglicht.

Wie kann man sich das Mikrobiom von Pflanzen vorstellen?

ALS ICH STUDIERT HABE, KANNTE MAN DAS MIKROBIOM SCHLICHTWEG NICHT

Frau Berg, woher kommt Ihr Interesse für das Mikrobiom?

Gabriele Berg: Ich habe Biologie mit Schwerpunkt Ökologie studiert und gemerkt, dass da etwas fehlt – nämlich die Mikroorganismen. Das Mikrobiom kannte man damals schlichtweg nicht. Es gab die mikrobielle Ökologie, aber man konnte den Bakterien und Pilzen nicht habhaft werden. Nur bei ganz wenigen war es möglich, sie zu kultivieren und zu untersuchen. Man konnte sie aber nicht in ihrem Zusammenspiel betrachten. Das Forschungsgebiet der Mikrobiomfor-

Berg: Man weiß seit mehr als 100 Jahren, dass im Wurzelraum der Pflanze Mikroorganismen leben und dort eine entscheidende Rolle für die Nährstoffversorgung und Gesundheit der Pflanzen spielen. Bekanntestes Beispiel dafür sind die Knöllchenbakterien im Wurzelraum der Pflanzen, die sogar ein eigenes Organ entwickelt haben. Aber das ist eben nur ein ganz kleiner Bruchteil dieser Symbiose zwischen Pflanzen und Mikroorganismen. Die Wirkung der Mikroorganismen beginnt bereits bei der Keimung. Viele Pflanzen können gar nicht von sich aus keimen, sondern sind dazu auf Mikroorganismen angewiesen. Letztlich finden sich in allen Teilen der Pflanze Mikroorganismen. Was aber nun immer mehr in den Fokus rückt, ist nicht nur das Mikrobiom der Pflanzen selbst, sondern dessen Auswirkungen auf Bodenqualität sowie unsere Gesundheit. Das ist der wirklich überraschende Aspekt daran.

Welche Wechselwirkungen gibt es hier zwischen unserer Gesundheit und dem Mikrobiom der Pflanzen?

Berg: Mit unserer Forschungstätigkeit konnten wir einen wichtigen Beitrag dazu leisten, diese Vorgänge genauer zu beschreiben. In den meisten Biologielehrbüchern wird man lesen können, dass im Magen ein pH-Wert von 2 herrscht, der jegliche Mikroorganismen abtötet. Dass dem nicht so ist, hat fast jeder schon mal selbst erfahren – im schlimmsten Fall durch Bakterien wie Salmonellen oder EHEC. Doch auch Bakterien, die im Mikrobiom der Pflanzen leben, können den Magen passieren und in unserem Darm verweilen oder sich ansiedeln, wo sie Nahrung verdauen und so Vitamine, Hormone, Mineral- und Wirkstoffe herstellen. Für unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit ist das entscheidend. Dafür braucht es ein

diverses, vielfältiges Mikrobiom. Je mehr Arten und Funktionen ein System aufweist, desto resilienter ist es. Das gilt auch für das Mikrobiom. Mittlerweile wissen wir, dass viele Erkrankungen durch „missing microbes“, also durch fehlende Bakterien, hervorgerufen werden. Unsere pflanzlichen Lebensmittel sind eine wichtige Quelle für diese Vielfalt.

Begriffe wie „One Health“ beschreiben alle Lebewesen verbindende Zusammenhänge von Gesundheit. Wie passt das Mikrobiom da hinein? Berg: Das Mikrobiom ist sozusagen die Erklärung des One-Health-Konzepts. Das Mikrobiom ist der Mediator von Gesundheit und Wohlergehen, denn diese Mikroorganismen der Pflanzen finden über Nahrung Eingang in Mensch und Tier. Der Diversitätsverlust dieses Systems stellt eine zunehmende Bedrohung der Gesundheit dar. Verantwortlich dafür ist die Summe vieler menschlichen Aktivitäten – insbesondere die intensive Landwirtschaft. An die Stelle unzähliger unterschiedlicher Pflanzensorten ist ein enger Fokus auf wenige Hochleistungssorten getreten. Das Mikrobiom wird über den Samen an die nächste Pflanzengeneration weitervererbt. Wir haben dazu viele Untersuchungen zum Einfluss von Züchtung und Domestikation auf das Mikrobiom gemacht. Die Veränderungen sind natürlich bei den jeweiligen Pflanzen und Sorten unterschiedlich.

Gabriele Berg ist Professorin am Institut für Umweltbiotechnologie an der TU Graz

Generell kann man aber sagen, dass das die Pflanzen stark verändert hat und etwa nur mehr die Hälfte des ursprünglichen Mikrobioms erhalten geblieben ist. Und deswegen brauchen diese Sorten auch so viele Chemikalien, um keimen, wachsen und überleben zu können. Der massive Einsatz von Pestiziden und chemischen Düngemitteln wirkt sich wiederum abträglich auf die Diversität des Mikrobioms aus.

Was bedeutet das für Landwirtschaft und Ernährungssicherheit, die bereits durch Bodenerosion und Klimawandel unter Druck geraten? Berg: Wir befinden uns hier in einer erschreckenden Abwärtsspirale. Der Klimawandel trägt hier genauso dazu bei wie chemische Einträge und das omnipräsente Mikroplastik. Der Rückgang der mikrobiellen Diversität, ob in den Böden, den Pflanzen, Tieren und auch in uns Menschen, schreitet so schnell voran, dass wir es eigentlich nicht schaffen, diese überhaupt rechtzeitig zu erforschen. Das ist besorgniserregend. Gemeinsam mit anderen Forscher:innen in diesem Themengebiet haben wir darum eine globale Initiative zum Schutz der Mikroorganismen und Mikrobiome gestartet. Darum freue mich sehr über die Auszeichnung der ÖFG, weil sie der Bedeutung der mikrobiellen Vielfalt für unsere Gesundheit und die unserer Umwelt Sichtbarkeit verleiht.

Aufklärung, Differenzierung, Regulierung

KI verbreitet sich rasant. Das wirft Fragen auf, etwa zu Persönlichkeitsrechten. Die

YOUNG SECTION DER ARGE KI UND MENSCHENRECHTE befasst sich damit

Künstliche Intelligenz ist nicht dasselbe wie humanoide Roboter“, sagt Annemarie Hofer. „Und trotzdem werden diese beiden völlig unterschiedlichen Dinge immer noch oft gleichgesetzt.“ Die Diplomingenieurin forscht zum Framing wissenschaftlicher Evidenz in rechtlichen Entscheidungen und befasst sich in diesem Rahmen auch mit KI. Bei Debatten zum Thema künstliche Intelligenz sieht sie viel Aufklärungsbedarf. „Ich halte es für wichtig, statt zu pauschalisieren oder auf den Hype aufzuspringen, einen Schritt zurückzutreten und Möglichkeiten sowie Risiken differenziert zu betrachten und einzuordnen.“

Das tut die Arbeitsgemeinschaft „KI und Menschenrechte“, und damit auch die Young Section dieser ARGE. Hofer ist KoLeiterin der Young Section und hat sie 2023 mitbegründet. Mittlerweile hat die Forschungsgruppe rund zwanzig Mitglieder, die an Universitäten in Österreich und im Ausland tätig sind. Sie treffen sich mehrmals im Jahr, tauschen sich in Lesekreisen aus, veranstalten Workshops und publizieren gemeinsam – wie etwa 2024 im Rahmen einer Gastherausgeberschaft im Magazin „juridikum“, die sich der interdisziplinären Betrachtung der rechtlichen Regulierung von KI widmete.

„Unser Austausch ist sehr fruchtbar, und gerade der interdisziplinäre Ansatz ist ein Asset“, berichtet Ko-Leiterin Sophia Witz, die seit der Gründung Teil der Young

Annemarie Hofer, Wissenschaftlerin am Institut für Innovation und Digitalisierung im Recht der Uni Wien; Mitgründerin und Ko-Leiterin der Young Section

Sophia Witz, Rechtswissenschaftlerin am Institut für Innovation und Digitalisierung im Recht der Universität Wien und Ko-Leiterin der Young Section

GRUNDRECHTSSENSIBLE ANWENDUNGEN VON KI SIND IMMER RISKANT

Section der ARGE „KI und Menschenrechte“ ist. Sie forscht zu Verfassungs- und Menschenrechten, derzeit befasst sie sich besonders mit Technologierecht. Viele Mitglieder der Young Section arbeiten rechtsdogmatisch; vertreten sind aber auch Wissenschaftler:innen aus den Disziplinen Rechtsphilosophie, Informatik, Soziologie, Wissenschafts- und Technikforschung.

Ein Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten bringe immer einen Mehrwert, betont Witz. So kann etwa

deutlich werden, wie Erkenntnisse aus der Rechtswissenschaft konkret umgesetzt werden können. Geht es zum Beispiel um den Einsatz von KI in der medizinischen Forschung, kann auf diese Weise die rechtliche Perspektive mit den technischen Voraussetzungen in Verbindung gebracht werden.

Regelmäßige Vernetzungstreffen führen immer wieder zu gemeinsamen Forschungsprojekten mehrerer Mitglieder der Young Section. „Aus den meisten Treffen gehen wir mit Ideen für mindestens zehn neue Publikationen hinaus“, erzählt Hofer. Denn an Untersuchungsgegenständen herrscht kein Mangel: Die Entwicklung der vielen verschiedenen KI-Anwendungen, mit denen bereits gearbeitet wird, bringe, so Hofer, „zahlreiche Möglichkeiten, aber genauso viele ungelöste Fragen“.

Schnittstellen mit Menschenrechtsfragen sind dabei zahlreich: „Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ist bei vielen Anwendungen stark betroffen, ebenso wie der Schutz personenbezogener Daten“, sagt Witz. „Künstliche Intelligenz kann außerdem bestehende Diskriminierungsmechanismen fortschreiben und in großem Rahmen extrapolieren – zum Beispiel, wenn KI genutzt wird, um Bewerbungsunterlagen zu filtern.“ Dass in manchen HR-Abteilungen derzeit so gearbeitet wird, sieht sie kritisch. „Grundrechtssensible Anwendungen sind immer riskant: Das gilt zum Beispiel auch für KI, die für Grenzkontrollen im Migrationsbereich eingesetzt wird.“ Ebenso zu hinterfragen seien Empfehlungen für eine stärkere Nutzung von KI, fügt Hofer hinzu. Gründlich recherchierte Fakten und eigenständige Überlegungen würden häufig von Fake News und den Interessen von Big Tech verdrängt. „In diesem Zusammenhang sind Menschenrechte wie das Recht auf Informationsfreiheit oder freie Meinungsäußerung betroffen.“

Beide Expertinnen betonen: Regulierung von KI-Nutzung ist hochrelevant. Der „AI Act“ der EU – mit dem die Young Section sich naturgemäß befasst – soll genau das leisten: KI-Anwendungen in verschiedene Risiko-Klassen einteilen und entspre-

chend regulieren. Nicht nur die theoretische Ausarbeitung dieser EU-Verordnung ist komplex, sondern auch die praktische Umsetzung. „Die technischen Möglichkeiten ändern sich ständig, was immer wieder Neuausrichtungen erfordert“, erklärt Witz. „Technologiekonzerne betreiben viel Lobbying. Außerdem ist es im Interesse der EU, zwar zu regulieren, gleichzeitig aber wettbewerbsfähig zu bleiben.“

Sich mit den Entwicklungen in der EU auseinanderzusetzen ist für die Young Section ebenso wichtig wie der Kontakt mit Forscher:innen auf der ganzen Welt. Heuer wurde daher ein Treffen mit einer Delegation von Wissenschaftler:innen der KyotoUniversität organisiert. Gemeinsam hielt man einen Workshop zu KI-Forschung ab, bei dem die Gäste unter anderem einen mit KI ausgestatteten humanoiden Roboter vorstellten: eine bewusst imperfekt gestaltete Maschine mit dem Sprachniveau eines kleinen Kindes, die Nutzer:innen im Alltag begleitet. „Dabei sind spannende Diskussionen entstanden“, erzählt Witz. „Wir haben festgestellt, dass der Autonomiebegriff in

Künstliche Intelligenz und humanoide Roboter sind unterschiedliche

Dinge – trotzdem werden sie in Darstellungen zum Thema KI oft vermischt.

Ein Beispiel für problematisches Halbwissen

der japanischen Gesellschaft eine andere Bedeutung hat und dass mit Persönlichkeitsrechten anders umgegangen wird. Dass der Roboter Menschen sogar ins Schlafzimmer folgt, wird beispielsweise kaum als problematisch wahrgenommen.“

Um die eigene Forschung international noch sichtbarer zu machen, organisierte die Young Section 2025 außerdem einen Workshop zu akademischem Schreiben auf Englisch. Mehr Sichtbarkeit für KünstlicheIntelligenz-Forschung wünscht sich Hofer aber auch außerhalb der wissenschaftlichen Community. „Es braucht bessere Wissenschaftskommunikation. Wir werden derzeit mit KI-generierten Inhalten überschwemmt – das ganze Internet ist voller Müll. Nutzer:innen wissen außerdem oft nicht genug über das jeweilige Tool und seine Einschränkungen.“ Obwohl viele KIAnwendungen einen großen Nutzen hätten, sei die Gesellschaft noch weit von einem ausgewogenen und informierten Umgang entfernt. Um das zu ändern, sind Zivilgesellschaft, Politik und Medien gefordert – ebenso wie die Wissenschaft.

Wissenschaft und Forschung

als Treiber wirtschaftlicher

Entwicklung

Am 4. und 5. April wurden beim ÖFG-WORKSHOP in Wien die Rolle von Forschung und Entwicklung für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes debattiert

Emil

WERNER STURMBERGER

Die europäische Gesellschaft, Wirtschaft und Industrie stecken in einem Strukturwandel. Um diesen erfolgreich zu bewältigen, braucht es die enge Kooperation von Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung. Damit gewinnen Wissens- und Technologietransfer stetig an Bedeutung. Im Workshop wurden Stellschrauben identifiziert und die aktuelle Situation in Österreich beleuchtet.

Nach der Begrüßung durch den ÖFGPräsidenten und damaligen Hausherrn Emil Brix gab Andrea Schenker-Wicki, Rektorin der Uni Basel, einen Einblick in Technologietransferaktivitäten in der Schweiz, die international als Vorzeigeland in diesem Bereich gilt. Jürgen Janger (WIFO) sowie Barbara Weitgruber (BMFWF) und Stefan Riegler (BMWET) widmeten sich in ihren Vorträgen der Bedeutung von Forschungsförderung und Grundlagenforschung für den Innovationsstandort Österreich. Zentrale Instrumente der Forschungsförderung sind die Programme FFG Comet sowie die Christian-Doppler-Labore. Karin Tausz (FFG) und Hans Irschik (CDG) vermittelten in ihren Vorträgen einen Überblick über Inhalt, Potenzial und bisherige Erfolge dieser beiden Leuchtturm-Projekte.

Einblick in die praktische Umsetzung von Forschungsförderung und die damit verbundenen Herausforderungen bei Unternehmensgründungen gaben die Vorträge von Martin Mössler vom Science Park Graz sowie der beiden Gründer Christoph Reschreiter (Cube DX) und Michael Spörk (Dewine Labs). Das Biotech-Start-up Cube DX entwickelt Lösungen zur raschen Sepsisdiagnostik auf genetischer Basis. Dewine Labs unterstützt Unternehmen bei der Implementierung zuverlässiger Datenübertragung per Bluetooth.

Die Teilnehmer:innen der abschließenden Podiumsdiskussion – Markus Fallenböck (Uni Graz), Emmanuel Glenck (FFG) und Christoph Reschreiter – diskutierten unter Leitung von Hans Irschik über die Beseitigung von Hürden für junge Unternehmen.

Illustration: Georg Feierfeil, Fotos: Alek Kava

Die im Rahmen des Workshops präsentierten Fakten und Überlegungen bestärken die ÖFG in ihrer Überzeugung, dass es eine Intensivierung der Kooperation von Wissenschaft und Wirtschaft sowie weitere Investitionen in diesem Bereich braucht. Die Politik ist daher gut beraten, dies bestmöglich zu unterstützen, um die mittel- bis langfristige Entwicklung der heimischen Wirtschaft und Industrie abzusichern.

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Fortsetzung von Seite 13

UNTERNEHMERISCHES

DENKEN AN DEN UNIS VERANKERN

Unternehmensgründungen direkt aus der Uni sind nach wie vor rar: Michael Spörk ist eine Ausnahme. Der CEO und Mitbegründer von DEWINE Labs spricht über die Erfahrungen, die er dabei gesammelt hat

Herr Spörk, wie kam es zur Gründung von DEWINE Labs?

Michael Spörk: Mein Ko-Gründer Rainer Hofmann und ich haben uns während des Doktorats ein Büro geteilt. Dabei haben wir festgestellt, dass wir an sehr ähnlichen Dingen forschen. Wir hatten beide unabhängig voneinander den Eindruck gewonnen, dass es weder in Fabrikhallen noch in Krankenhäusern praktikable Lösungen für eine zuverlässige kabellose Datenübertragung gibt. Die Kluft zwischen den Praxisanwendungen und dem Stand der Forschung war überraschend groß. So ist die Idee entstanden, dass wir auch praxisrelevante Anwendungen entwickeln wollen. Im Zuge unseres Studiums haben wir weiter geforscht und Lösungen entwickelt, die klar besser waren als das, was am Markt verfügbar war. Zudem haben wir beide bereits neben dem Doktorat Unternehmen im Bereich Funkkommunikation unterstützt. Was uns gefehlt hat, war das juristische und betriebswirtschaftliche Know-how. Wir haben im Grazer Start-up-Biotop nach Antworten gesucht: Wie schaut ein Businessplan aus? Wie kommt man an eine Finanzierung? Welche Fördermöglichkeiten gibt es? Die Grazer Gründungsgarage und der akademische Inkubator „Science Park“ der Grazer Universitäten haben uns geholfen, offene Fragen zu beantworten. So konnten wir vor drei Jahren DEWINE Labs gründen. Mittlerweile ersetzt unsere sichere und effiziente Bluetooth-Kommunikation mehrere Hundert Kilometer Kabel in unterschiedlichsten Anwendungsszenarien – von Industrie, Logistik und Handel bis hin zu medizinischen Einrichtungen.

Auf welche Hürden stößt man beim Versuch, Wissen aus der Forschung an den Universitäten in die Praxis überzuführen?

Spörk: Ich möchte gern vorausschicken, dass alle Menschen, mit denen wir an der TU Graz zu tun hatten, sehr bemüht waren, uns bestmöglich zu unterstützen. Aus meiner Perspektive gibt es aber drei große Hürden: Die erste ist der an der Universität vorherrschende Habitus: Dort werden Menschen

dafür ausgebildet, Probleme wissenschaftlich zu analysieren und wissenschaftliche Lösungen zu finden. Das Ziel ist nicht, marktreife Produkte zu entwickeln. Wenn man das dennoch versucht, stößt man schnell auf Widerstand. Unternehmerisches Denken spielt kaum eine Rolle. Das zweite Hindernis sind rechtliche Aspekte rund um das Thema Patente. Die Technologietransferbüros sind sehr bemüht, aber für Forschende ist die Situation um Patente sehr intransparent: Kann ich während meiner Forschungszeit an der Uni ein Patent anmelden? Wie sieht dieser Prozess aus? Wie und zu welchen Bedingungen darf ich ein Patent nutzen? In unserem Fall war es so, dass wir der TU Graz unser Patent zu wirklich fairen Konditionen abkaufen konnten. Das bringt mich zum dritten Punkt: Es braucht so etwas wie Mentoring, eine institutionalisierte Unterstützung bei der Unternehmensgründung. Ich merke bei vielen Forschenden in meinem persönlichen Umfeld, dass es dafür großes Interesse gibt. An der Uni gibt es viele verschiedene Expertisen, die man hier zusammenführen könnte.

Wie stellt sich die Zusammenarbeit mit akademischen Institutionen jetzt aus der Perspektive eines Unternehmens dar? Spörk: Wir arbeiten nach wie vor sehr eng und gern mit der TU Graz und ihren Forschungszentren zusammen. Damit sind wir eng an den aktuellen Stand der Forschung angebunden und stehen in ständigem Austausch mit talentierten NachwuchsIngenieur:innen. Wir kennen wiederum die Situation am Markt und bei unseren Kund:innen: Wir wissen, welche Technologien am Markt relevant sind und welche Anwendungsprobleme es zu lösen gilt. Damit lassen sich Forschungsfragen anstoßen und zugleich praxisnäher gestalten, wenn das gewünscht ist. Die Zusammenarbeit findet primär im Rahmen gemeinsamer Bacheloroder Masterarbeiten statt. Diese erlauben es Jung-Forscher:innen, einen Einblick in angewandte Forschung in Unternehmen zu erhalten und zugleich für die Lösung praxisrelevanter Probleme bezahlt zu werden. Das funktioniert für alle drei Parteien – Unternehmen, Uni, Studierende – sehr gut.

Was braucht es, um den Innovationstransfer von der Grundlagenforschung in die Wirtschaft zu verbessern?

Spörk: Um an die erwähnten Hürden anzuknüpfen: Ich glaube, es ist wichtig, unternehmerisches Denken an den Unis zu verankern.

Es muss nicht jede:r Forschende gründen, aber jede:r sollte über ein Grundverständnis wirtschaftlicher Zusammenhänge verfügen. Dafür könnte man mit Ingenieur:innen zusammenarbeiten, die diesen Weg gegangen sind. Es braucht außerdem schnelle, einheitliche und transparente IntellectualProperty-Prozesse. Es sollte leichter werden, Patente anzumelden und dann auch zu nutzen. Und als letzten Punkt würde ich mir noch eine engere Zusammenarbeit zwischen Unis, Start-ups und etablierten Unternehmen wünschen. Unternehmen könnten etwa die Möglichkeit bekommen, an den Unis ihre Herausforderungen darzustellen, um dann gemeinsam nach Lösungen zu suchen. So etwas wie ein Start-up-Stipendium wäre sicherlich auch interessant. Ich glaube, es wird auch intensiv daran gearbeitet, um den Technologietransfer weiter zu verbessern. Aber im Vergleich mit der Schweiz oder den USA steht man hier noch am Anfang.

INTERNATIONALE

VERNETZUNG ALS ZENTRALER INNOVATIONSFAKTOR

Die Schweiz gilt neben Schweden und den USA als besonders innovativ. Was man in puncto Technologietransfer voneinander lernen könnte, erklärt Andrea SchenkerWicki, Rektorin der Universität Basel

Frau Schenker-Wicki, wo sehen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Schweiz und Österreich?

Andrea Schenker-Wicki: Beide Länder gelten als Hochtechnologiestandorte und investieren mit je ca. 3,3 % des BIP im Vergleich zum OECD-Durchschnitt besonders stark in Forschung und Entwicklung. In der Schweiz sind die privaten Forschungs- und Entwicklungsausgaben um einiges höher als in Österreich. Zudem verfügt sie über eine größere Forschungslandschaft als Österreich. Die Schweiz ist bekannt für ihre führende Position in der Pharma- und Biotechnologie, Medizintechnik und im Bereich der Präzisionsinstrumente. Österreich konzentriert sich hingegen eher auf Mechatronik, Umwelttechnologien und Informationstechnologie, obwohl es auch einen bedeutenden LifeSciences-Cluster in Wien gibt. Die größten Unterschiede zwischen den beiden Ländern liegen jedoch in den Hochtechnologiebereichen: in der globalen Präsenz der Hochtech-

Andrea SchenkerWicki, Rektorin der Universität Basel

nologieunternehmen sowie in der Patentstrategie. Schweizer Unternehmen verfügen über eine ausgeprägtere globale Präsenz. Zudem haben viele globale Unternehmen dort ihren Sitz. Außerdem schützt die Schweiz ihre Innovationen sehr viel stärker mittels Patenten. Zwar sind global tätige Firmen in der Schweiz für einen großen Anteil dieser Patentanmeldungen verantwortlich, aber auch die Universitäten sind hier sehr aktiv. Das ist in Österreich weniger der Fall.

Inwiefern sind österreichische Programme wie die CD-Labore oder FFG Comet mit Innosuisse vergleichbar?

Schenker-Wicki: Alle drei sind wichtige Akteure für die jeweiligen Hochtechnologiestandorte und beteiligen sich aktiv am Forschungs- und Technologietransfer. In den CD-Laboren wird anwendungsorientierte Grundlagenforschung unterstützt, die als Basis für größere Innovationssprünge dient. Im Gegensatz dazu ist das COMETProgramm der FFG ein gemeinsam von der Wissenschaft und der Wirtschaft entwickeltes Programm zur Forschungs- und Technologieförderung: Es soll über die Einbindung mehrerer Industriepartner die Clusterbildung in eigens gegründeten GmbHs stärken. Die schweizerische Agentur für Innovationsförderung Innosuisse bietet neben einer Reihe von Projektförderungen auch Beratungsangebote, Netzwerkveranstaltungen und Innovationswettbewerbe an. Sie fördert ebenfalls Innovationen in Unternehmen – es gibt allerdings praktisch keine direkte finanzielle Unterstützung von Unternehmen. Die Projektdauer ist mit zwei Jahren eher kurz. Innosuisse und FFG sind nationale Agenturen zur Förderung von Innovationen in Unternehmen, während CD-Labore näher an der universitären Forschung sind und deren Umsetzung in den Unternehmen mitgestalten.

Spitzenforschung ist mittlerweile stark internationalisiert, Förderprogramme sind aber noch stark national gerahmt. Braucht es hier eine stärkere Internationalisierung?

Schenker-Wicki: Ich kann aus der Schweiz berichten: Innosuisse, die schweizerische Förderagentur, hat in den letzten fünf bis zehn Jahren die Förderprogramme für Innovationsprojekte stark internationalisiert. Diese haben oft einen strategischen Charakter, um die Zusammenarbeit mit gewissen

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Ländern zu stärken. Unsere Regierung setzt dabei auf Soft Power und Wissenschaftsdiplomatie. Noch vor zehn Jahren herrschte seitens Innosuisse eine große Skepsis in Bezug auf eine Internationalisierung der Innovationsprojekte. Diese Skepsis ist mittlerweile verflogen und einem großen Enthusiasmus gewichen.

Wie stellt man sicher, dass Grundlagenforschung der Allgemeinheit und nicht nur einzelnen Unternehmen zugute kommt?

Schenker-Wicki: Wichtig ist, dass die Bedingungen sowohl für Universitäten als auch für Start-ups transparent und fair gestaltet werden. Die Universitäten werden in der Regel über entsprechende Equity und Royalties abgegolten. Die Bedingungen unserer Universität sind in toto auf unserer Website publiziert, sodass alle Beteiligten wissen, welche Spielregeln gelten. Es ist jedoch eine Illusion zu glauben, dass eine Universität über die Beteiligungen an Start-ups reich werden kann. Viel wichtiger ist, dass mit Start-ups hochwertige Arbeitsplätze und ein entsprechendes Steuersubstrat geschaffen werden. Das kommt dem Staat und damit der Allgemeinheit zugute.

Was können die Schweiz und Österreich voneinander lernen?

Schenker-Wicki: Österreich legt großen Wert auf die direkte Zusammenarbeit zwischen der Industrie und der Forschung und damit auch auf eine möglichst rasche und gezielte Umsetzung und Integration von Innovationen in industrielle Prozesse. Ein spezielles Augenmerk gilt dabei den KMUs. Dies ist vorbildlich und hilft, den Forschungs- und Technologietransfer zu beschleunigen. Da die KMUs das Rückgrat unserer Volkswirtschaften sind, gibt es für die Schweiz hier sicherlich noch Potenzial. Auch die regionalen Netzwerke, die den Austausch zwischen Universitäten und Fachhochschulen sowie der Wirtschaft auf lokaler Ebene fördern, sind in Österreich ausgeprägter als in der Schweiz. Österreich könnte hingegen von der globalen Erfahrung des Nachbarlandes profitieren und mehr globale Partnerschaften anstreben, speziell auch im High-End-Bereich von Pharma und Biotech. Solche Partnerschaften vereinfachen den Zugang zu internationalen Märkten und Innovationen. Dementsprechend ist auch das private Engagement von international tätigen Venture Capitalists in der Schweiz um einiges größer als in Österreich.

IST ÖSTERREICH

AUF DEM WEG ZUM

INNOVATION LEADER?

Wie es um die heimische Forschungslandschaft steht und welche Bedeutung die FIT-Strategie für diese hat, erklärt Barbara Weitgruber, Sektionschefin der Sektion „Wissenschaftliche Forschung, internationale Angelegenheiten“ des BMFWF

Frau Weitgruber, was waren aus Ihrer Sicht die zentralen Punkte der FWF Impact Studie 2024?

Barbara Weitgruber: Sie konnte zeigen, dass die Wirkung der vom Österreichischen Wissenschaftsfonds geförderten Grundlagenforschung deutlich rascher und umfangreicher ist als bisher angenommen: Innerhalb eines Jahres finanzieren sich die öffentlichen Gelder durch Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen selbst: Auf jeden FWF-Förder-Euro entfallen im Durchschnitt 1,1 Euro an Staatseinnahmen und 2 Euro Bruttoinlandsprodukt. Mehr als 40 Lizenzen, über 170 Erfindungen und weltweit mehr als 800 Patente lassen sich auf die in der Studie umfassten FWF-Projekte aus dem Zeitraum 2009 bis 2022 zurückführen. Das zeigt, FWF-Projekte sind die Basis für innovative Unternehmensgründungen, technologische Entwicklungen – insbesondere Schlüsseltechnologien – und hochwertige Arbeitsplätze. Die Forschungsprojekte befassen sich zudem mit gesellschaftlichen Herausforderungen wie Gesundheit, Klima oder KI und ermöglichen einen umfassenden Wissenstransfer in Wirtschaft und Gesellschaft.

Wirtschaftlicher Erfolg heimischer Unternehmen basiert oft auf öffentlich finanzierter Grundlagenforschung. Wie wahrt man in Spin-offs und Public-Private-Partnerships die Interessen der Öffentlichkeit?

Weitgruber: Spin-offs, also Unternehmensgründungen aus Hochschulen und Forschungseinrichtungen, bringen innovative Lösungen direkt in den Alltag. Das zeigen auch die bisher zwanzig Spin-off Gründungen aus dem BMFWF-Förderprogramm „Spin-off Fellowships“: Die Themen reichen von Diagnostik für Netzhauterkrankungen über neue Krebstherapien bis hin zu barrierefreien Technologien wie Braille-Systeme oder Recycling-Technologien. Transparente Auswahlverfahren im Rahmen der Fördervergabe sichern dabei die Interessen der Allgemeinheit.

Gibt es so etwas wie ein Spannungsfeld zwischen national gerahmter Forschungsförderung und einer zunehmenden Internationalisierung wissenschaftlicher Forschung?

Weitgruber: Wissenschaft und Forschung sind stark von internationaler Kooperation geprägt. Für ein kleines, exportorientiertes Land wie Österreich sind solche Kooperationen sowohl für den Erhalt und den Ausbau der Exzellenz als auch die gemeinsame Erarbeitung von Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen unerlässlich. Um nachteiligen Transfer kritischen Wissens und von Technologien sowie eine Gefährdung der akademischen Freiheit und Integrität der Forschung zu verhindern, sind Hochschulen, Forschungsorganisationen und forschungsnahe Firmen angehalten, ihr Bewusstsein zu schärfen und Maßnahmen zu ergreifen. In der staatlichen Forschungsförderung internationaler Kooperationen kann der Fokus auf Bereiche gemeinsamen Interesses gelegt werden, in denen der erwartete Nutzen die Risiken überwiegt. Ziel ist die Förderung verantwortungsvoller, produktiver und reziproker internationaler Zusammenarbeit.

Betreffen die universitätsfeindlichen Haltungen der Trump-Administration in den USA auch Österreich?

Weitgruber: Die Unsicherheit durch Budgetkürzungen, der Rückzug aus internationalen Organisationen und Kooperationen sowie eine restriktivere Visapolitik trifft die gesamte internationale Forschungscommunity. Es geht aber um mehr als das: Die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und Vertrauen in Wissenschaft und Forschung stehen hier auf dem Spiel. Chancen könnten sich in der Rekrutierung von Forschenden ergeben, für die Österreich eine attraktive Alternative als „sicherer Hafen“ für die Freiheit wissenschaftlicher Forschung darstellt. Das BMFWF hat hier ein Perspektivenpaket auf den Weg gebracht. Neben gezielten Informationen auf der Euraxess Website (Anm.: Research & Innovation in Austria: Focus USA | EURAXESS) zu Fördermöglichkeiten und Jobangeboten in Österreich haben die Universitäten im Rahmen eines bis 30. September 2026 befristeten Gesetzespakets die Möglichkeit, durch vermehrtes „Opportunity Hiring“ sowie raschere und einfachere Berufungen aus den USA flexibel auf die derzeitige Situation zu reagieren.

Barbara Weitgruber, Sektionschefin der Sektion „Wissenschaftliche Forschung, internationale Angelegenheiten“ des BMFWF

Mit Blick auf die Ergebnisse der FWF-Impact-Studie: Wohin sollte sich Österreich jetzt orientieren?

Weitgruber: Das Regierungsprogramm und die Halbzeitevaluierung der FTI-Strategie zeigen den Weg, den wir einschlagen müssen, um zur Gruppe der Innovation Leader aufzuschließen. Das Resümee der Halbzeitevaluierung spricht hier durchaus eine deutliche Sprache: In diesem Resümee wird die Förderung exzellenter Grundlagenforschung als besonders relevant für die Erreichung österreichischer Strategieziele beschrieben. Nach Einschätzung der Expert:innen, die den Bericht verfasst haben, hat – mit Blick auf die gegenwärtigen Struktur- und Standortprobleme – das Erreichen dieser Ziele seit dem Anlaufen der Strategie sogar noch weiter an Bedeutung gewonnen.

Die Regierung hat sich eine Forschungsquote von 4 % bis 2030 festgeschrieben. Welche Bedeutung hat diese für die heimische Forschungslandschaft?

Weitgruber: Österreich befindet sich mit einer geschätzten Forschungsquote von 3,35% im Jahr 2024 und Platz drei im EUVergleich auf einem sehr guten Weg. Das Budget, das dabei im Rahmen des FTI-Pakts 2027–2029 zur Verfügung stehen wird, ist maßgeblich, um die im Regierungsprogramm angestrebte Forschungsquote von 4 % bis 2030 erreichen zu können. Um das zu erreichen, ist eine starke Grundlagenforschung für die internationale Wettbewerbsfähigkeit und die Standort-Attraktivität für hochqualifizierte Fachkräfte besonders wichtig.

Weitere Informationen zum Programm sowie zu den Vorträgen, die im Rahmen des ÖFG-Workshops „Wissenschaft und Forschung als Treiber wirtschaftlicher Entwicklung“ gehalten wurden, finden Sie unter diesem QR-Code. Eindrücke vom Workshop und den Vortragenden zeigen wir Ihnen auf den folgenden Seiten.

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ÖFG-WORKSHOP IN DER DIPLOMATISCHEN AKADEMIE IN WIEN

An den beiden Workshop-Tagen wurde in Vorträgen und Diskussionen das Zusammenspiel von Forschung und Wirtschaft erörtert

Es ging um Themen wie geförderte Forschungsprojekte als Treiber des Strukturwandels oder Innovationsprogramme der Universitäten

Motor für Fortschritt und Demokratie

Wissenschaftsförderung sieht EVA-MARIA HOLZLEITNER, Bundesministerin für Frauen, Wissenschaft und Forschung, nicht als Kostenfaktor, sondern als Investition

Frau Ministerin, universitäre Forschung und Bildung zu fördern, obwohl die Regierung ein rigoroses Sparpaket schnüren musste, ist eine Herausforderung. Wie begegnen Sie ihr?

Eva-Maria Holzleitner: Gerade in Zeiten angespannter Budgets ist es entscheidend, klare Prioritäten zu setzen. Forschung und Bildung sind Investitionen in die Zukunft unseres Landes – sie sichern Innovation, Wohlstand und soziale Stabilität. Wir haben daher alles daran gesetzt, die Mittel für die Hochschulen bestmöglich abzusichern und gleichzeitig die soziale Durchlässigkeit im Rahmen des Studiums zu fördern – etwa mit der Valorisierung der Studienbeihilfe und der Erhöhung des Mensabonus. Es ist mir wichtig zu betonen: Wissenschaft ist kein Kostenfaktor, sondern eine Investition, ein zentraler Motor für Fortschritt und Demokratie.

Soziale Durchlässigkeit an Universitäten ist Ihnen ein Anliegen. Welche Maßnahmen wurden in diesem Bereich schon umgesetzt, was ist geplant?

zuständig. Welche Chancen sehen Sie bei der Arbeit an dieser Schnittstelle?

Holzleitner: Die Verbindung beider Agenden eröffnet große Chancen. Unser Ziel ist es, Wissenschaftskarrieren planbarer und verlässlicher zu gestalten – mit mehr Laufbahnstellen und mehr Entfristungen. Das verbessert gleichzeitig die Vereinbarkeit von Beruf und Sorgepflichten deutlich. Besonders wichtig ist es, die gläserne Decke an Hochschulen durchlässiger zu machen: Wir brauchen mehr Frauen in Professuren und Führungspositionen. Wir können es uns nicht leisten, auf mehr als die Hälfte der Gesellschaft zu verzichten. Auch in den Fächern selbst wollen wir ein stärkeres Gleichgewicht erreichen, indem wir die horizontale Segregation abbauen.

Immer wieder wird über Österreichs Position in der internationalen Forschungslandschaft diskutiert. Wie sollen sich heimische Universitäten im Hinblick darauf positionieren? Holzleitner: Wir müssen uns international stärker sichtbar machen – und das nicht nur über Rankings, sondern über exzellente Forschung, Kooperationen und Innovationskraft. Österreichs Universitäten sind gut aufgestellt, wenn es darum geht, international zu vernetzen, Talente anzuziehen und mit zukunftsweisenden Themen Akzente zu setzen. Hochschulen sind ein Fenster zur Welt und damit für Österreich ein wichtiges Element für den Aufbau internationaler Netzwerke.

AUSREICHENDE FÖRDERUNG IST FÜR GROSSE INNOVATIONEN UNABDINGBAR

Holzleitner: Die soziale Öffnung der Hochschulen ist ein wesentliches Anliegen meiner Politik. Die Studienbeihilfe bleibt das zentrale Instrument für den sozialen Hochschulzugang. Deshalb haben wir die Studienbeihilfe valorisiert und damit einen wichtigen Schritt gesetzt. Aber wir gehen weiter. So prüfen wir derzeit die Auszahlungsmodalitäten der Auslandsstipendien, um den Zugang einfacher und gerechter zu gestalten. Diese Reform soll ab dem Sommersemester 2026 greifen. Ein weiterer Schwerpunkt ist leistbares Wohnen: Die Wiedereinführung einer staatlichen Studierendenheimförderung soll Sanierungen und Neubauten unterstützen – denn Wohnen ist ein Grundbedürfnis und ein Schlüsselfaktor für soziale Durchlässigkeit.

Frauenförderung und Wissenschaftsförderung gehen in Österreich derzeit Hand in Hand, Sie als Bundesministerin sind für beide Agenden

Sie setzen sich dafür ein, Forschende aus den USA, die von den drastischen Einschnitten der US-Regierung betroffen sind, nach Österreich zu holen. Wie entwickeln sich diese Pläne?

Holzleitner: Mit unserem Programm zum Opportunity Hiring wollen wir aktiv Forschende gewinnen, die im Ausland keine Perspektiven mehr haben. Österreich bietet ein attraktives wissenschaftliches Umfeld – exzellente Universitäten, eine starke Forschungslandschaft, gesellschaftliche Offenheit und politische Stabilität. Zugleich ist es für uns eine Chance, neue Impulse und

Expertise ins Land zu holen. Wir verstehen Wissenschaft als internationale Gemeinschaft, in der wir solidarisch Verantwortung übernehmen. Wir freuen uns, dass wir bereits die ersten Spitzenforscher:innen begrüßen durften.

Welche Rolle soll die heimische Wissenschaft in der Entwicklung und Regulierung von KI spielen? Holzleitner: Österreichische Universitäten und Forschungseinrichtungen spielen eine zentrale Rolle in der Entwicklung von KI. Mit der AI Factory Austria (AI:AT) haben wir ein Konsortium, das die Expertise vieler Spitzeninstitutionen bündelt – von der TU Wien über die Universität Wien bis hin zum ISTA

Eva-Maria Holzleitner ist SPÖ-Politikerin und seit März Bundesministerin für Frauen, Wissenschaft und Forschung

und der ÖAW. Diese Initiative zeigt, dass wir technologisch international mitgestalten können. Gleichzeitig brauchen wir eine starke Stimme bei der Regulierung. Unsere Forschung liefert die evidenzbasierte Grundlage für politische Entscheidungen – und Wien ist gerade im Bereich des Digitalen Humanismus weltweit Vorreiter und Leuchtturm. Mit dem Vienna Manifesto, dem UNESCO Chair on Digital Humanism an der TU Wien und neuen Doktoratsprogrammen haben wir ein Umfeld geschaffen, das technologische Innovation und humanistische Werte verbindet. So stellen wir sicher, dass KI im Dienst der Menschen entwickelt und reguliert wird –und nicht umgekehrt.

Ganz Österreich fördert Forschung

Jedes der neun Bundesländer stellt FÖRDERMASSNAHMEN für die heimische Wissenschaft vor

Wien: Quo vadis, Wissenschaft? Wissenschaft und Demokratie stehen in direktem Verhältnis zueinander. Angriffe auf wissenschaftliche Institutionen in Ländern mit autoritären Tendenzen haben die Freiheit der Wissenschaft in den Mittelpunkt der politischen Debatte gerückt. Die Stadt Wien bekennt sich klar zu einer Wissenschaftspolitik, die evidenzbasierte Analysen als unverzichtbare Grundlage für den Umgang mit großen gesellschaftlichen Herausforderungen begreift.

Einen Schwerpunkt der Stadt Wien bildet dabei seit 2019 der Digitale Humanismus. Zu den Höhepunkten zählte die von der Stadt Wien ermöglichte, erste internationale Digital Humanism Conference 2025 „Shaping our Digital Future“. Sie brachte internationale Spitzenforscher:innen und Entscheidungsträger:innen nach Wien, um gesellschaftspolitische Herausforderungen der digitalen Transformation zu diskutieren und Handlungsoptionen aufzuzeigen. Zentrale Erkenntnisse der Konferenz findet man auf der Website https://dighum.wien/keystatements-and-conclusions/

Der Complexity Science Hub (CSH) verfügt seit dem Umzug in das Palais SpringerRothschild im März 2025 über erweiterte Räumlichkeiten, die seine international renommierten Arbeiten zu Gesundheit, Mobilität, Klima, Wirtschaft und Konfliktforschung sowie deren Vermittlung an Öffentlichkeit und Politik strukturell stärken.

Mit der Etablierung des Ludwig Boltzmann Instituts für Wissenschaftsvermittlung und Pandemievorsorge (LBI-SOAP) im Herbst 2025 schuf die Stadt Wien gemeinsam mit der LBG und MedUni Wien einen Ort exzellenter Pandemieforschung und Wissenschaftsvermittlung unter Leitung des international renommierten Forschers Florian Krammer.

Mit klaren Schwerpunkten, verlässlichen Partnerschaften und gezielten Investitionen in Talente, Infrastrukturen und Wissenschaftsvermittlung stärkt die Stadt Wien ihren Standort für exzellente, kritische Forschung, die konkrete Antworten auf zentrale gesellschaftliche Fragen erarbeitet.

Burgendland: Innovation als Motor für nachhaltigen Fortschritt

In Zeiten globaler Umbrüche zeigt sich die strategische Bedeutung einer zukunftsorientierten Forschungs- und Innovationspolitik besonders deutlich. Das Burgenland hat seinen Weg als dynamischer Forschungsstandort konsequent fortgesetzt. Trotz bundesweit angespannter Budgetlagen haben wir an unseren Investitionen in Wissenschaft und Forschung festgehalten. Gerade in herausfordernden Zeiten gilt es, durch Innovation die Weichen für morgen zu stellen und den Wirtschaftsstandort nachhaltig zu stärken.

Unser Fokus in den Bereichen erneuerbare Energie, Nachhaltigkeit und Digitalisierung haben sich als zukunftsweisend erwiesen. Die etablierten Forschungseinrichtungen wie das Lowergetikum und das Informatikum entwickeln sich kontinuierlich weiter und schaffen durch ihre Arbeit wichtige Synergien zwischen Wissenschaft und regionaler Wirtschaft. Immer mehr burgenländische Unternehmen erkennen den Mehrwert von Forschungskooperationen und werden aktive Innovationstreiber.

Im Burgenland ist eine positive Entwicklung spürbar, die das Land als attraktiven Standort für Wissenschaft und Wirtschaft positioniert. Durch gezielte Fördermaßnahmen unterstützen wir Projekte, ermöglichen strategische Partnerschaften und schaffen Rahmenbedingungen, um Talente in der Region zu halten und neue anzuziehen.

Mit strategischer Weitsicht, Beharrlichkeit und Zusammenarbeit behauptet das Burgenland seinen Platz als innovativer Forschungsstandort und baut ihn kontinuierlich aus – mit dem Ziel, konkrete Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit zu entwickeln und die Lebensqualität der Menschen nachhaltig zu verbessern. In diesem Zusammenhang kommt den Impulsen, die von der ÖFG ausgehen, ein hoher Stellenwert zu.

Niederösterreich: Wir gestalten die beste Zukunft für unsere Kinder Nur mit Wissenschaft und Forschung können wir Antworten auf die Fragen der Zu-

Fotos: Katarina Soskic, LMS Burgenland

kunft geben – in Bereichen von Gesundheit über Landwirtschaft und KI bis zum Weltraum. Es liegt an uns, das Vertrauen in die Wissenschaft zu stärken, denn es gibt Orientierung in einer Zeit des Umbruchs. Umso wichtiger ist es, Forschung transparent und verständlich zu machen, denn Wissenschaft darf nicht im Elfenbeinturm stattfinden.

Jeder Euro, der in Bildung und Wissenschaft investiert wird, ist eine Investition in die Zukunft unseres Landes, die sich vielfach auszahlt. In den letzten Jahrzehnten ist es uns in Niederösterreich gelungen, eine starke Wissenschaftsachse aufzubauen. Das hat wesentlich dazu beigetragen, dass unser Bundesland ein Kristallisationspunkt für Studierende und Forscher aus der ganzen Welt ist. Derzeit lehren und forschen hier über 2.000 Expertinnen und Experten an mehr als 200 Forschungseinrichtungen, Technopolen, Universitäten und Fachhochschulen mit rund 7.000 Studierenden.

In Klosterneuburg haben wir mit dem Institute of Science and Technology Austria (ISTA) eine international anerkannte Einrichtung der Grundlagenforschung etabliert. Wir stehen hier auf Augenhöhe mit Institutionen wie Oxford, ETH Zürich oder dem Weizmann-Institut. In Tulln befindet sich das „Haus der Digitalisierung“ sowie der Forschungscampus mit dem Schwerpunkt Umwelt und Technologie. In St. Pölten überzeugt die Fachhochschule mit ihrer Spezialisierung auf Digitalisierung, Cyber Security und KI, und in Wiener Neustadt ist mit dem MedAustron ein internationales Gesundheitszentrum entstanden, das als Hoffnungsprojekt im Kampf gegen Krebs gilt. Bald wird es einen weiteren Knotenpunkt auf dieser Wissenschaftsachse geben: Hainburg, wo wir uns grünen Technologien und internationalen Wissenschaftskooperationen widmen.

Oberösterreich: Gestaltung von Fortschritt mit Verantwortung In Oberösterreich werden Zukunftstechnologien an klaren Zielen ausgerichtet: starke Wirtschaft, klimafitte Produktion, verlässliche Sicherheit. Das ist Kurs für eine führende Rolle im europäischen Strukturwandel.

INVESTITIONEN

IN DIE WISSENSCHAFT SIND ZUKUNFTSINVESTITIONEN FÜR UNSER LAND

Mit der Wasserstoff-Offensive 2030 hat das Land OÖ einen strategischen Meilenstein gesetzt. Das oberösterreichische Wasserstoff-Netzwerk vernetzt mittlerweile 77 Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Die Eröffnung eines neuen Wasserstoff-Forschungszentrums in Wels im Herbst 2025 und das gemeinsame Wasserstoff-Valley von Oberösterreich, Steiermark und Kärnten stärken die industrielle Dekarbonisierung. Von den insgesamt 578 Mio. Euro Projektvolumen der Initiativen des Wasserstoff-Valleys entfallen 385 Mio. Euro auf Oberösterreich. Quantentechnologien sind als neue Schlüsseltechnologie in der oberösterreichischen Wirtschafts- und Forschungsstrategie #upperVISION2030 verankert. „Quantum Made in Upper Austria“ eröffnet enorme Chancen für Industrie, Medizin und Forschung – von präziseren Diagnosen über effizientere Produktionsprozesse bis zu nachhaltigen Wertschöpfungsketten. Mit Kompetenzaufbau in Quantum Machine Learning, Quantenelektronik und Quantensensorik wollen wir die Technologien rasch aus dem Labor in die Praxis bringen. Mit der Sicherheits-Allianz OÖ setzt das Land einen klaren Schwerpunkt und positioniert sich als Standort für Sicherheitstechnologien und -anwendungen – gestützt auf innovative Betriebe, exzellente Forschung und hochspezialisiertes Know-how. Im Rahmen der 2025 gestarteten Förderausschreibung Security Technologies & Solutions werden kooperative F&E-Projekte in den Bereichen Cybersecurity, Sensorik, automatisierte Mobilität und Katastrophenmedizin mit 4 Mio. Euro aus Landesmitteln unterstützt.

Steiermark: Forschung als Werkzeug für die Lösung globaler Herausforderungen Die Steiermark ist seit Jahren Österreichs führendes Forschungsland und genießt auch international einen exzellenten Ruf als Wis-

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Fortsetzung von Seite 23

senschaftsstandort. Mit einem historischen Höchstwert bei der Forschungs- und Entwicklungsquote von 5,31 Prozent liegen wir auch im europäischen Vergleich weit vorne. Unser Erfolg basiert auf einem leistungsfähigen Ökosystem, in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Forschung auf höchstem Niveau betreiben. Dabei ist die gelebte Kooperationskultur von Wissenschaft und Wirtschaft ein wesentlicher Baustein.

Auf diese Zusammenarbeit werden wir auch in Zukunft setzen und sie weiterentwickeln.

Um den Forschungsstandort langfristig zu stärken, haben wir die Forschungsstrategie 2030 erarbeitet. Sie setzt auf klare Schwer-

Willibald Ehrenhöfer, Wissenschafts- und Forschungslandesrat der Steiermark

GERADE JETZT BRAUCHEN WIR DIE BESTEN RAHMENBEDINGUNGEN FÜR FORSCHUNG

punkte: Digitalisierung und Mikroelektronik, Gesellschaft und Wandel, neue Mobilität, grüne Transformation sowie Gesundheit und Life Sciences. In diesen Disziplinen verfügt die Steiermark über herausragende Forschungskompetenzen und hat das Potenzial, zur führenden Leitregion zu werden.

Besonderes Augenmerk legen wir auf die Nachwuchsförderung und die grundlagenorientierte Forschung. Unser Ziel: steirische Exzellenz auszubilden und mit unseren Spitzenforscherinnen und -forschern internationale Strahlkraft zu entwickeln, für eine starke Position im globalen Wettbewerb. Forschung und Innovation haben in meiner politischen Arbeit als Landesrat einen besonderen Stellenwert. Sie sind nicht nur ein wirtschaftlicher Motor, sondern spielen auch eine zentrale Rolle bei der Lösung globaler Herausforderungen – vom Klimaschutz bis zur digitalen Transformation. Deshalb investieren wir weiterhin gezielt in ein starkes, offenes und zukunftsorientiertes Forschungsumfeld. Denn die Forschung von heute ist die Wirtschaftsleistung von morgen. Gemeinsam gestalten wir Zukunft –durch Forschung, Leidenschaft und Mut zur Veränderung.

Salzburg: Exzellenz, Kooperation und Innovation zusammendenken

Salzburg ist ein Land der klugen Köpfe und wir tun alles dafür, dass das so bleibt. Wissenschaft und Forschung sind Motor für Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und Fortschritt, aber auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Zukunftschancen der Jugend. Gerade in Zeiten knapper Budgets ist es daher entscheidend, die besten Rah-

Karoline Edtstadler, Landeshauptfrau von Salzburg

menbedingungen für Forschung zu schaffen. Wir wollen Salzburg als attraktiven Wissenschafts- und Technologiestandort weiter stärken. Das gelingt, wenn wir Exzellenz, Kooperation und Innovation zusammendenken.

Mit der Fakultät für Digitale und Analytische Wissenschaften an der Universität Salzburg haben wir einen zentralen Zukunftsschritt gesetzt. Hier entstehen Forschungsfelder, die vom Einsatz von KI bis zur Cybersecurity reichen.

Ein weiteres Herzstück ist der Schulterschluss zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Salzburg fördert gezielt den Wissenstransfer, damit Forschungsergebnisse schneller in die Praxis gelangen und Innovationen dort ankommen, wo sie wirken: in den Betrieben, in der Verwaltung und im Alltag. Auch Start-ups und junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler finden bei uns ein Umfeld, das ihnen Perspektiven bietet.

Besonderes Augenmerk legen wir auf Nachhaltigkeit und Digitalisierung – Themen, die sich gegenseitig bedingen. Forschung im Bereich der Umwelttechnologien, Energiewende oder Kreislaufwirtschaft ist nicht nur ein Beitrag zum Klimaschutz, sondern auch eine Investition in die Zukunft unserer Kinder.

Gaby Schaunig, Landeshauptmannstellvertreterin und Technologiereferentin in Kärnten

Kärnten: Achse der Innovation – Beitrag zur europäischen Forschungszukunft Mit der Inbetriebnahme der Koralmbahn beginnt in Kärnten weit mehr als ein neues Kapitel der Mobilität: der Auftakt zu einem Wandel, der Arbeit, Forschung und Leben noch enger verbindet. Südösterreich rückt zusammen, und damit entsteht ein gemeinsamer Zukunftsraum für Innovation, der weit über die Landesgrenzen hinausstrahlt. Kärnten begreift diesen Moment als Chance. Wir gestalten den Wandel strategisch – entlang einer neuen Achse der Innovation, die sich von der Adria bis zur Ostsee spannt. Sie steht für Offenheit, Zusammenarbeit und Fortschritt im Sinne der Menschen. Im Lavanttal entsteht mit dem Technologiepark Lavanttal ein Zentrum für Zukunftsthemen wie Smart Materials und Kreislaufwirtschaft. In St. Paul wächst damit ein Symbol für eine interkommunale Innovationspolitik, die regional denkt und europäisch wirkt. Auch bestehende Strukturen werden gestärkt: Der Lakeside Science & Technology Park in Klagenfurt und der High Tech Campus Villach bündeln Forschungskraft, Hochschulnähe und wirtschaftliche Dynamik. Ein Meilenstein ist die Transformation

Fotos: Lunghammer, Salzburger Volkspartei, Helge Bauer

der Lakeside Labs in ein COMET-Zentrum, das kooperative Spitzenforschung dauerhaft verankert – mit spürbarem Nutzen für Wirtschaft und Gesellschaft. Auch in der angewandten Mobilitätsforschung setzt Kärnten

Akzente: Mit MOBIREG werden neue Wege erprobt, wie ländliche Regionen intelligent vernetzt werden können. Der 5G Playground Carinthia bietet ideale Bedingungen für Anwendungen in autonomer Mobilität, Industrie 4.0 oder Robotik; der Digital Innovation Hub Süd unterstützt kleine und mittlere Unternehmen bei der digitalen Transformation.

Kärnten gestaltet Zukunft, als Forschungs-, Technologie- und Lebensstandort. Forschung und Innovation werden eingesetzt, um das Leben der Menschen zu verbessern – durch nachhaltige Lösungen, gute Arbeit und gesellschaftlichen Fortschritt.

Tirol: Forschung als Kompass für morgen Ob künstliche KI, Immunforschung oder nachhaltige Baustoffe: wissenschaftliche Erkenntnisse bestimmen unseren Alltag wie nie zuvor. Gerade in Zeiten rasanter Veränderungen und wachsender Skepsis setzt Tirol ein klares Zeichen: für die Werte von Wissenschaft und Forschung. Denn Wissenschaft bedeutet Verantwortung – und dieser stellt sich Tirol mit klaren Fördermaßnahmen.

Zwei aktuelle Projekte zeigen, wie breit Tirols Forschungsförderung aufgestellt ist: Ein Forschungsteam der Medizinischen Universität Innsbruck überwacht die RSVImmunisierung, um den Schutz von Kleinkindern vor schweren Atemwegsinfektionen zu verbessern. Zuletzt steuerte das Land Tirol auch 150.000 Euro für eine Studie zur KI-gestützten Brückenwartung bei. Auch sonst trägt vor allem die Förderung von Nachwuchsforscher:innen Früchte: Über eine Million Euro flossen 2025 in 56 ausgewählte Projekte – von Studien zum Ernährungsverhalten von Volksschulkindern, Bodenerschütterungen bei Bahngleisen bis hin zur Untersuchung alpiner Seen. Mit dem Landespreis für Wissenschaft ging schließlich die höchste Forschungsauszeichnung des Landes an die Erziehungswissenschaftlerin Michaela Ralser: für ihre Arbeiten zu institutioneller Gewalt in Kinderheimen Tirols, Vorarlberg und Tirol-Südtirol-Trentino. Als erstes Bundesland Österreichs verfügt Tirol über flächendeckende MINT-Angebote für Schulen, Kindergärten und Horte. Ob in der Forscherwerkstatt oder dem Informatik-Lab mit Robotik-Programmen – Tirols Kinder und Jugendliche

Cornelia Hagele, Landesrätin für Gesundheit, Pflege, Bildung, Wissenschaft und Forschung

forschen, tüfteln und entdecken in allen Bezirken. Nachhaltige Wissenschaftsförderung beginnt schließlich schon bei den Kleinsten.

Vorarlberg: Forschung stärken, trotz oder gerade bei herausfordernder Budgetlage Man könnte auf den ersten Blick annehmen, dass begrenzte finanzielle Mittel im Widerspruch zur Stärkung der Forschung stehen. Doch das ist nicht zwangsläufig der Fall. Wie alle öffentlichen Körperschaften steht Vorarlberg vor finanziellen Herausforderungen, die auch Forschungseinrichtungen betreffen. Die finanziellen Rahmenbedingungen erfordern einen klaren Fokus und Effizienzsteigerung. Nur so ist es möglich, das hohe Forschungsniveau langfristig zu sichern.

Barbara Schöbi-Fink, Landesrätin für Wissenschaft, Vorarlberg

Die Budgets der Universitäten bei sinkenden Studierendenzahlen zu erhöhen und gleichzeitig die Fachhochschulen mit steigenden Studierendenzahlen durch Budgetkürzungen zu schwächen, erachten wir als nicht sinnvollen Weg. Die FHs sind in vielen Regionen Österreichs wichtige Standortfaktoren, welche die Wettbewerbsfähigkeit positiv beeinflussen und als Partner der Wirtschaft wirken. Ihre Bedeutung spiegelt sich auch im Beitrag zur Innovationskraft des Standorts. Diesem Umstand sollte auch seitens des Bundes Rechnung getragen werden. Aber nicht nur auf der finanziellen Ebene braucht es längst fällige Reformen. Während im benachbarten Deutschland mittlerweile 12 von 16 Bundesländern ein Promotionsrecht für Hochschulen für angewandte Wissenschaften (FH) gesetzlich verankert haben und damit beste Erfahrungen machen, bleibt unseren besten Köpfen diese Möglichkeit seit der Gründung der Fachhochschulen vor 30 Jahren verwehrt.

Noch immer werden in den FHs durch die Studienplatzfinanzierung und der damit zusammenhängenden Bürokratie zu viele interne Ressourcen gebunden. Mehr Autonomie der FHs, analog zu den Universitäten, ist dringend notwendig.

Marco Tittler, Landesrat für Wirtschaft, Vorarlberg

Innovation muss vor Tradition stehen. Mit diesem Leitgedanken sollten wir unser tertiäres Bildungssystem in die Zukunft entwickeln – letztlich zum Wohle aller. Vorarlbergs Wirtschaft ist im europäischen Vergleich stark positioniert, kann ihr volles Potenzial aber nur dann ausschöpfen, wenn Forschung, Innovation, Transfer und Ausbildung Hand in Hand gehen. Denn nur eine wettbewerbsfähige Wirtschaft schafft Wohlstand und damit soziale und gesellschaftliche Stabilität.

zwischen Aufstand und Verantwortung

Ein Bauernführer mit Programm

Der Tiroler Bauernführer Michael Gaismair galt lange als Held und Sozialrevolutionär. Der Historiker ROBERT REBITSCH rückt dieses Bild zurecht

Die letzte bedeutende Fachkonferenz zu den Bauernaufständen 1525 und Michael Gaismair gab es in Innsbruck vor fünfzig Jahren. Damals lagen sozialhistorische Themen im Forschungstrend, wie sich

Robert Rebitsch, Historiker an der Universität Innsbruck, erinnert. „Vor allem in der damaligen DDR waren die Bauernkriege ein großes Thema der marxistisch geprägten Geschichtsschreibung.“ Fünfhundert Jahre nach den Ereignissen ist das Interesse neu entfacht. Mit dem Jubiläumsjahr bot sich Rebitsch eine Gelegenheit, die Ereignisse aus heutiger Sicht neu zu kontextualisieren. „Mir ging es nicht um die Person Michael Gaismair allein, sondern insgesamt um die Geschehnisse in Tirol um 1525/26.“

Wie wurde Gaismair (1490–1532) bisher gesehen? „Heute betrachten wir diese marxistisch-teleologische Geschichtsschreibung natürlich kritisch: Damals wurden die Bauernkriege in einer Art revolutionärem Kontinuum der Menschheitsgeschichte bis zur kommunistischen Revolution als Vollendung gesehen. Dennoch haben die Forscher:innen der DDR oder auch Josef Macek aus der damaligen Tschechoslowakei enorm viel neues Faktenwissen bereitgestellt.“

Rebitsch deutet die Ereignisse in Tirol nicht als Bauernkrieg, sondern als „Low Intensity Conflict“. „Die Kriegsgeschehnisse im süd- und mitteldeutschen Raum haben früher begonnen und waren viel massiver als

Robert Rebitsch, Historiker an der Universität Innsbruck und Autor der Monografie „Michael Gaismair und der Aufstand der Tiroler Bauern“

und Klerus durften jagen und fischen. Die Lage war angespannt, wie wir auch aus den Beschwerdebriefen an die Regierung in Innsbruck wissen. Dann begannen die Kämpfe im süddeutschen Raum, und dieser Geist der Revolte übertrug sich auf Tirol.“

Ausgelöst wurden die gewalttätigen Geschehnisse 1525 durch die geplante Vollstreckung des Todesurteils gegen den „Absager“ (Häretiker) Peter Paßler in Brixen. Ihm waren die Fischereirechte im Antholzer See als Existenzgrundlage entzogen worden. Als ihm der Rückerhalt auf dem Rechtsweg nicht gelang, deklarierte er sich gegen die Obrigkeit und sagte dem Bischof den Kampf an. Diesen verlor er und sah seinem Urteil entgegen, doch Bauern hatten sich mit ihm solidarisiert und befreiten ihn. Danach brach der Aufstand los: Die Stadt Brixen und das Chorherrenstift in Neustift wurden geplündert.

Wie kam nun Gaismair ins Spiel? „Er war ein Kanzleischreiber des Fürstbischofs Sebastian Sprenz, und als solcher schrieb er sogar noch den Bericht über die Befreiung Paßlers“, erklärt Rebitsch. „Er war ein Verwaltungsprofi, kannte sich gut in den politischen Gegebenheiten der Grafschaft Tirol aus und hatte militärische Fachkenntnisse. Dann wechselte er innerhalb eines Tages die Seiten. Warum, wissen wir nicht genau.“

DIE BAUERNKRIEGE WAREN EIN GROSSES

THEMA IN DER DDR-GESCHICHTSSCHREIBUNG

in Tirol, wo es keine großen Schlachten gab.“ Der Historiker kontextualisiert die Situation: „Tirol war durch die vielen Kriege von Maximilian I. im Sinne der expansiven Habsburgischen Großmachtpolitik sehr verschuldet, und es gab eine hohe Abgabenlast für die Untertanen. Weitere Faktoren waren die Ideen der Reformation und die äußerst schlechte sicherheitspolitische Lage in Tirol.“

Nach dem Tod Maximilians I. habe es fast anarchische Zustände gegeben, weil die Menschen gegen die rigorosen Verordnungen im Jagdwesen protestierten. „Nur Adel

Gaismair war ein bäuerlicher Aufsteiger und besaß auch Bergbaugruben in Sterzing. „Einige Tage nach den Ereignissen in Brixen ließ er sich zum obersten Feldhauptmann als militärischer und politischer Führer der Bauern wählen und zog zur Verwaltung in das Hochstift Brixen ein.“ Die Bauern forderten vom Landesfürsten Tirols etwa die Erleichterung der Abgaben und Jagdfreiheit. Tatsächlich war dieser zu Verhandlungen in Form eines Landtages bereit. Einige Forderungen fanden ihre gesetzliche Entsprechung in der Landesordnung Tirols von 1526.

„Gaismair hatte zwar nichts zu tun mit diesen Verhandlungen, doch er war nicht einverstanden mit dem Resultat“, sagt Rebitsch. „Einen Monat später wurde es brenzlig für ihn, als Ferdinand I. das Fürstbistum unter Zwangsverwaltung stellte und einen Verwalter einsetzte. Gaismair räumte die Stellung im Hochstift nicht. Es kam zu einem Machtspiel zwischen ihm und dem Landesfürsten.“

Foto:
Universität
Innsbruck, Eva Fessler

In Innsbruck gab man vor, den Bauernführer zu Gesprächen einzuladen, um die Übergabe des Hochstiftes zu verhandeln. Er wurde unterwegs festgenommen, konnte jedoch fliehen. „Gaismair setzte sich nach Zürich ab, wo er auf Ulrich Zwingli traf und dessen reformatorische Ideen kennenlernte. In Klosters schrieb er dann seine bekannte Landesordnung für Tirol, in der sich einige Zwinglianische Gedanken finden.“ Sein Aufenthalt in Graubünden hatte ihn zudem veranlasst, das dortige politische System der Bundesversammlungen und gemeinsamen Festlegungen der Gesetze zu studieren.

Die Schrift beinhalte durchaus „vordemokratische Elemente“, so Rebitsch. Zum Beispiel die Etablierung freier Wahlen der Gerichte und Regierung, die Umwandlung von

Gegen die Obrigkeit wandte sich der Tiroler Bauernführer Michael Gaismeir im 16. Jahrhundert. Doch kann man ihn wirklich als Sozialrevolutionär bezeichnen?

Klöstern in Spitäler oder die Trockenlegung der Sumpfgebiete. „Einerseits waren die Vorstellungen prädemokratisch, auf der anderen Seite sehr rigide“, erklärt Rebitsch. „So wollte Gaismair den Handel lokal auf Trient konzentrieren – schwer nachvollziehbar für ein Durchzugsland wie Tirol. Außerdem wollte er große Handelsgesellschaften wie jene der Familie Fugger verbieten.“

Heute werde Gaismair als Vorläufer demokratischer Ideen eingeordnet, aber nicht als Sozialrevolutionär. Er war eine lokale Erscheinung mit Einfluss in Brixen und dem Fürstbistum. Dennoch ist die Landesordnung ein interessantes Dokument mit einem politischen Programm, das in dieser Form niemand sonst geschrieben hatte, nicht einmal der Reformator Thomas Müntzer.

Zugang über die Emotion

Autor:innen

MALL reflektieren über die Interaktion zwischen Literatur und Zivilgesellschaft

BRUNO JASCHKE

Frau Kijanowska, Frau Erizanu, Herr Mall, haben Sie Beispiele von Literatur, in denen die Zivilgesellschaft eine prominente Rolle spielt?

Marianna Kijanowska: Aus der Zeit der Unabhängigkeit nach 1991 ragt in der ukrainischen Literatur diesbezüglich der preisgekrönte Roman „Iwan und Phoebe“ von Oksana Luzyschyna heraus. Er erzählt von den Studentenprotesten, der „Revolution auf Granit“. Ohne sie hätte sich die Entwicklung der Ukraine hin zur Unabhängigkeit viel langwieriger und schwieriger gestaltet. Den Roman zu lesen war für mich besonders, weil die Autorin eine enge Freundin und Gesprächspartnerin ist. Ich selbst bin Teil jener Zivilgesellschaft, die in dem Buch beschrieben wird, und war bekannt oder befreundet mit den Vorbildern der Charaktere. Bezeichnenderweise sind außer diesem Roman alle Bücher, die ich als wichtig erachte und sich mit der Zivilgesellschaft in der Ukraine auseinandersetzen, nicht fiktional.

Kijanowska, ukrainische Schriftstellerin, Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin

Sepp Mall: Ich kenne kein literarisches Werk, das die Zivilgesellschaft im engeren Sinn explizit als Hauptthema hat. Andererseits: In der Literatur geht es vordergründig immer um Menschen in bestimmten sozialen, politischen oder gesellschaftlichen Umständen –und damit um zivilgesellschaftliche Belange. Auffällig wird die Thematik vor allem, wenn es um Geschehnisse in Diktaturen oder autoritären Systemen geht, wo alles, was Zivilgesellschaft ausmacht, verboten, unterdrückt oder gesteuert wird. Mir fallen Anna Seghers’ „Das siebte Kreuz“, Jorge Semprúns „Was für ein schöner Sonntag“ oder „Dunkelblum“ von Eva Menasse ein. Gedichte von Bertolt Brecht, auch Dramen von Elfriede Jelinek gehören hierher, Margaret Atwoods „Report der Magd“ und viele mehr.

Gibt es literarische Werke, die zivilgesellschaftliche Aktivitäten angeregt haben?

Paula Erizanu: Kate Evans stellt in ihrem Comicroman „Rosa“ das Leben von Rosa Luxemburg dar. Der moldawische Autor Constantin Cheianu schrieb den ironischen Roman „Sex & Perestroika“ über die nationale Freiheitsbewegung in Moldawien. Kürzlich hat die moldawische EU-Literaturpreisträgerin Tatiana T , îbuleac den Roman „When You Are Happy, Hit First“ veröffentlicht, der die Geschichte ihres Vaters, eines Journalisten, und Mitglieds der nationalen Befreiungsbewegung der späten 80er- und frühen 90erJahre, erzählt. In Rumänien gibt es Werke, die etwa die Auseinandersetzung um die gefährdete Bergbaulandschaft Rosia Montana und die Antikorruptions-Proteste von 2017–2019 (#Rezist) thematisieren. Auch unter meinen Werken gibt es Beispiele: „This Is My First Revolution. Steal It“ ist ein Tagebuch von den Protesten in Moldawien im Jahr 2009. Der historische Roman „The Woods Are Burning“ spürt den Leben von Aleksandra Kollontai and Inessa Armand als Untergrundrevolutionärinnen im zaristischen Russland nach.

Paula

FAST KEIN WICHTIGES BUCH ZUR UKRAINISCHEN ZIVILGESELLSCHAFT IST FIKTIONAL

Sepp

Erizanu: Nachdem die Sowjetmacht unsere rumänischen Wurzeln und Identität unterdrückt hatte, bedeutete etwas mehr Redefreiheit während Glasnost and Perestroika, dass wir offener über die vom Staat bewirkte Hungersnot 1946–47 und die Deportationen von Moldawiern nach Sibirien reden und unsere Folklore zurückfordern konnten. Autor:innen spielten eine große Rolle für Moldawiens Unabhängigkeit oder als Meinungsführer:innen. Viele wurden Parlamentarier:innen und unterzeichneten die Unabhängigkeitserklärung.

Kijanowska: Mit 14 habe ich mit meinem Großvater, der eine hervorragende Bibliothek hatte, über Aristoteles diskutiert. Es war das Jahr nach der Tschernobyl-Katastrophe, und es gab niemanden in der totalitären UdSSR, mit dem ich sonst reden hätte können. Ich glaube, für alle aus meiner Generation, die die Schule noch in der UdSSR abschlossen, begann alles mit guten Gesprächspartner:innen und guten Büchern.

Setzt sich die Literatur intensiv genug mit der Zivilgesellschaft auseinander?

Erizanu: Diese Frage muss jeder Autor, jede Autorin für sich selbst beantworten. Ich versuche in meiner Literatur herauszuarbeiten, wie sich Aktivist:innen online – mit den scheinbar besten Absichten – in Bullies ver-

Marianna
Foto: Adriana
Dovha, Alex Coman, Minitta Kandlbauer

wandeln, wie sie sich verändern, wenn sie in die Politik gehen, aber auch, wie sie von Mächten wie Russland instrumentalisiert werden können.

Was befähigt Literatur besonders zur Abbildung, vielleicht sogar Ermutigung der Zivilgesellschaft?

Kijanowska: Was nicht Emotionen in uns aufrührt, vergessen wir. Wir erinnern uns an Bücher, die uns Kartharsis gewähren oder verändern. Als Medium der Interaktion mit der Zivilgesellschaft kann Literatur Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen vereinen, als teilten sie eine gemeinsame. Literatur funktioniert auch als Generationen-Marker. Lesen schweißt Generationen zusammen, TV-Serien und Geräte trennen eher. Um eine Zivilgesellschaft aufzubauen, braucht man etwas, das generationenübergreifend vereint. In der Ukraine leistete das

Geschichten

können machtvolle Instrumente sein, indem sie Gesellschaften trennen oder zusammenschweißen und Narrative festigen oder aufbrechen

nach der Unabhängigkeitserklärung das Werk von Serhij Schadan. Es wurde in den 1990ern gelesen und heute immer noch. Mall: Belletristik zielt vor allem auf die Emotion der Leser:innen und vermag es deshalb vielleicht sogar mehr als wissenschaftliche Literatur, Inhalte näherzubringen, aufzurühren oder zu begeistern. Gerade in einer Zeit, die geprägt ist vom erneuten Aufkommen autoritärer Systeme, scheint mir die literarische Beschäftigung mit Themen der Zivilgesellschaft äußerst wichtig. Aber auch andere Bereiche, etwa der zivilgesellschaftliche Widerstand im Rahmen von Klima-Aktionen – „Fridays for Future“ oder „Letzte Generation“ – könnten, gerade weil es auch um zivilen Ungehorsam mit all seinen gesellschaftlichen, juridischen und politischen Implikationen geht, spannende Ausgangspunkte für literarische Werke bilden.

Die Macht des Volkes

WALTER OBWEXER, Dekan am Institut für Europarecht und Völkerrecht an der Uni Innsbruck, erklärt, wie die Zivilgesellschaft das Völkerrecht beeinflussen kann

NATHALIE JASMIN KOCH

Entgegen sprachlicher Intuition ist das Völkerrecht kein „Recht der Völker“, sondern eine Rechtsordnung, die vor allem die Beziehungen zwischen Staaten regelt –sie definiert Rechte von Staaten für Staaten. Erst mit der Verschriftlichung der grundlegenden Menschenrechte im 20. Jahrhundert wurden Bürger:innen selbst Teil der internationalen Rechtsordnung. Seither können Mitglieder der Zivilgesellschaft Völkerrecht auf verschiedenen Rechtswegen für sich geltend machen oder über NROs und zivilgesellschaftliche Initiativen an der Ausarbeitung internationaler Normen mitwirken. Walter Obwexer lehrt als Dekan am Institut für Europarecht und Völkerrecht an der Universität Innsbruck und spricht über das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Völkerrecht im Spannungsfeld von staatlicher Souveränität und globaler Rechtsverantwortung.

Herr Obwexer, welche Rolle spielt die Zivilgesellschaft bei der Entwicklung und Durchsetzung von Völkerrecht?

Walter Obwexer, Dekan am Institut für Europarecht und Völkerrecht an der Universität Innsbruck

setzung ist die Rolle kleiner. Eine Ausnahme bilden die UN-Menschenrechtspakte, in deren Rechtssystem bei schweren Menschenrechtsverletzungen auch NROs eingebunden sind und Bericht erstatten können. Eine zweite Ausnahme betrifft das Asylrecht, weil hier Informationen der NROs herangezogen werden. Diese sind zwar nicht ausschlaggebend, werden aber berücksichtigt.

Wie können Einzelpersonen oder Gruppen auf das Völkerrecht einwirken?

Walter Obwexer: Für den Zusammenhang zwischen Völkerrecht und Zivilgesellschaft war bereits das im vorletzten Jahrhundert entstandene Internationale Komitee vom Roten Kreuz relevant: Es hat insbesondere auf das humanitäre Kriegsvölkerrecht und dessen Entstehung Einfluss genommen. Auch andere Nichtregierungsorganisationen (NROs) haben die Zivilgesellschaft vertreten und insbesondere ab etwa 1990 zunehmenden Einfluss auf die Entstehung von Völkerrecht genommen. Eine maßgebliche Rolle haben sie aber nicht. Sie können das Völkerrecht nicht formulieren, das müssen die Staaten tun. Aber sie haben über ihre fachliche Expertise einen bestimmten Einfluss. Insbesondere im Rahmen der Weltklimakonferenz oder auch der UN-Behindertenrechtskonvention ist durchaus eine Handschrift der NROs zu erkennen – zum einen in inhaltlicher Art, zum anderen in den Bemühungen, ein Scheitern der Konferenz zu verhindern. Bei der Durch-

ZUNEHMEND SETZT SICH DAS RECHT DES STÄRKEREN DURCH

Obwexer: Ganz wenig. Dennoch ist die Individualbeschwerde im Menschenrechtsbereich das Paradebeispiel, das zeigt, dass Einzelpersonen oder auch Vereinigungen internationales Recht durchsetzen können. In letzter Zeit haben Vereinigungen oder einzelne Bürger:innen vermehrt versucht, wichtige Entscheidungen über die Gerichte herbeizuführen. So zuletzt der Fall „KlimaSeniorinnen“: Da hat die Zivilgesellschaft gegen die Schweiz ein Urteil erreicht, indem der Gerichtshof für Menschenrechte, vereinfacht formuliert, ein Grundrecht auf Klimaschutz anerkannt hat. Es war natürlich eine paradigmatische Entwicklung, dass es jetzt ein solches Grundrecht gibt – mit der Verpflichtung der Staaten der Europäischen Menschenrechtskonvention, Menschen vor den negativen Folgen des Klimawandels zu schützen und diese Folgen zu reduzieren und möglichst zu verhindern. Das ist ein Erfolg der Zivilgesellschaft.

Müssten wir solche Handlungsräume nicht ausbauen – gerade jetzt, da das Vertrauen in völkerrechtliche Verbindlichkeit schwindet? Obwexer: Die Nachkriegsordnung, die weltweit gilt und auf Regeln beruht, gerät immer mehr unter Druck, weil manche Staaten und deren führende Politiker:innen sich nicht an das geltende Recht halten. Zunehmend setzt sich das Recht des Stärkeren durch. Grundsätzlich ist es zu begrüßen, wenn die Zivilgesellschaft eine größere Rolle in der Entwicklung und Durchsetzung von Völkerrecht bekommt. Aber diese Rolle hängt davon ab, ob die Staaten sich an das Völkerrecht, also an die von ihnen selbst geschaffenen Regelungen, halten. Ist dies nicht der Fall, dann nützt auch eine größere Rolle der

Zivilgesellschaft nichts. In dem Bestreben, die Rolle der Zivilgesellschaft im Völkerrecht zu stärken, dürfen wir auch nicht vergessen, dass dann die demokratische Legitimität sinkt. Warum? Weil die Staaten, die völkerrechtliche Verträge verhandeln, dies über ihre Vertreter:innen tun, in der Regel die Regierung. Diese Regierung ist von einem gewählten Parlament bestellt. NROs – wie Global 2000, Amnesty International, Menschenrechtsorganisationen usw. – sind alle nicht demokratisch legitimiert. Wenn deren Rolle bei der Entwicklung von Völkerrecht wesentlich gestärkt würde, wäre das mit einem Demokratiedefizit verbunden.

Was braucht es jetzt, um die Bedeutung und Einhaltung des Völkerrechts wieder zu stärken?

Ein Recht der Völker ist das Völkerrecht eigentlich nicht. Vielmehr regelt es Beziehungen zwischen Staaten. Trotzdem gibt es Einflussmöglichkeiten für die Zivilbevölkerung

Obwexer: In der jetzigen Zeit muss es die Priorität sein, wieder zur regelbasierten Nachkriegsordnung zurückzukehren. Zunächst muss darauf hingearbeitet werden, dass die Staaten wieder zu der Überzeugung gelangen, dass internationale Zusammenarbeit und Globalisierung nur funktionieren können, wenn alle sich an gemeinsam vereinbarte Regeln halten. Regeln, die auf der Gleichheit der Staaten beruhen. Dass nicht das Recht des Stärkeren gilt, sondern die Stärke des Rechts. Dabei kann auch die Zivilgesellschaft einen Beitrag leisten – indem sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten darauf hinarbeitet und Überzeugungsarbeit leistet, dass die regelbasierte internationale Ordnung wichtig und das Einhalten derselben notwendig ist.

„Krisenzeit erfordert Handeln“

Krieg verändert den Wissenschaftsbetrieb und rückt Aktivismus in den Vordergrund, sagt OXANA MATIYCHUK von der Jurij-Fedkowitsch-Universität Tscherniwzi

SOPHIE JAEGER

S pätestens seit Beginn der Vollinvasion der Ukraine durch Russland im Februar 2022 bestimmt der Krieg auch in der Westukraine den Alltag. Schwere Raketen- und Drohnenangriffe auf Lviv forderten zahlreiche Menschenleben. Noch näher an der EU-Außengrenze – nur 45 Kilometer von Rumänien entfernt – befindet sich Tscherniwzi, die historische Hauptstadt der Bukowina. Bei russischen Angriffen im Juli 2025 wurden auch dort Menschen getötet.

Die Stadt ist der Lebensmittelpunkt der Germanistin und Ukrainistin Oxana Matiychuk. Im Gespräch betont sie die Bedeutung der Westukraine für die Verteidigung des Landes: „Ich denke, dass jeder, der handlungsfähig ist und sich in irgendeiner Weise einbringen kann, einen Beitrag leisten muss. Denn wenn wir uns hier im Hinterland nicht engagieren, dann kommt die Front auch zu uns.“

Matiychuk lehrt und forscht am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte und Literaturtheorie an der Jurij-Fedkowitsch-Universität Tscherniwzi und ist dort in der Verwaltung tätig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die deutschsprachige Literaturgeschichte der Bukowina und die

Germanistin und Ukrainistin an der JurijFedkowitsch-Universität Tscherniwzi (Ukraine)

dienstes (DAAD) sowie die Ukrainisch-Deutsche Kulturgesellschaft Tscherniwzi.

Diese Arbeit ist für Matiychuk seit Beginn des russischen Angriffskriegs in den Hintergrund getreten: „In Zeiten wie diesen hat humanitäre Hilfe Vorrang“, erklärt sie. Seit 2022 ist sie federführend im Freiwilligenstab der Universität tätig und engagiert sich für Binnengeflüchtete und Frontunterstützung. „Inzwischen sind sehr, sehr viele meiner Kollegen von der Uni im Einsatz, und es gibt auch Gefallene. Deswegen muss man tun, was man kann, weil Krisenzeit Handeln erfordert.“

Neben ihrer Freiwilligenarbeit schrieb Matiychuk zwischen 2022 und 2025 unter dem Titel „Ukrainisches Tagebuch“ Gastbeiträge über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Vollinvasion für die „Süddeutsche Zeitung“. Für ihren humanitären Einsatz wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet.

WER HANDLUNGSFÄHIG IST, MUSS

EINEN BEITRAG LEISTEN

Genealogie des Schreibens. Als erste ukrainische Wissenschaftlerin beschäftigte sie sich in ihrer Dissertation mit dem literarischen Werk von Rose Ausländer, einer deutschsprachigen Jüdin aus Tscherniwzi, deren Lyrik die wechselvolle Geschichte der Bukowina im 20. Jahrhundert widerspiegelt.

Matiychuk ist auch in der Kulturvermittlung aktiv und ermöglichte zahlreiche Austauschprogramme zwischen ihrer Universität und deutschsprachigen Partnerorganisationen. Zusammen mit drei Kolleg:innen gründete Matiychuk 2009 das Zentrum „Gedankendach“, unter dessen Schirmherrschaft drei deutschsprachige Kultur-und Bildungsorganisationen geführt werden: das Zentrum für deutschsprachige Studien, das Lektorat des Deutschen Akademischen Austausch-

Das humanitäre Engagement der Universitätsmitarbeiter:innen und Studierenden begann spontan. Matiychuk erzählt, dass im Februar 2022 zahlreiche Unterstützungsanfragen bei ihr einlangten: „Nach 15 Jahren im Kulturmanagement und zahlreichen akademischen Austauschprogrammen hatten wir uns ein großes Netzwerk aufgebaut. Darüber erhielten wir entsprechend viele Hilfsangebote unterschiedlichster Art.“ Hochschulen und Universitäten spendeten etwa Schlafsäcke, Ecoflows oder Computer, Drucker und andere technische Geräte. Als Partnerorganisation der Johanniter Mission Siret an der rumänisch-ukrainischen Grenze verteilt die Ukrainisch-Deutsch Kulturgesellschaft auch Lebensmittel und Hygieneartikel an ostukrainische Binnengeflüchtete. Der andauernde Krieg und strengere Einfuhrbestimmungen erforderten die schrittweise Professionalisierung der Hilfsoperation: Die Ukrainisch-Deutsche Kulturgesellschaft wurde beim Ministerium für Sozialpolitik offiziell registriert, um Zollerklärungen zur Einfuhr der Hilfsgüter aus dem Ausland erstellen zu können, und ein Lagerraum wurde angemietet. Der Einsatz des Teams um Matiychuk ist nach wie vor essenziell für die Vermittlung der Hilfsgüter in die Region Tscherniwzi und darüber hinaus. Zuletzt wurden über die Kulturgesellschaft beispielsweise medizinische Geräte aus

Oxana Matiychuk,
Foto:
Oxana
Matiychuk

Schweden an Rehabilitationskliniken in Ternopil geliefert.

Neben Zollpapieren werden auch Spenden an Binnenflüchtlinge vermittelt, und der Empfang und die Verteilung von Hilfsgütern wird organisiert: „Alle zwei, drei Monate kommt ein Lkw mit 15 bis 20 Paletten, die dann bei uns landen und verteilt werden. Wenn diese Hilfsgüter ankommen, machen wir klassische Lagerarbeit“, erzählt Matiychuk. „Wir laden den Lkw aus und sortieren die Güter im Lager ein. Dann verteilen wir die Güter entweder selbst oder beladen damit im Laufe der darauffolgenden Tage Lkw, Busse oder Autos, die weiter in den Osten fahren.“ Bei dieser Arbeit wird das Team mittlerweile auch von zahlreichen Binnengeflüchteten unterstützt.

Humanitäre Hilfe für vom Krieg betroffene Menschen steht in der Ukraine auch an Universitäten zunehmend im Fokus

Die Kulturvermittlung laufe auf Sparflamme: „Mein Kollege, der 80 Prozent der Arbeit in diesem Bereich gemacht und sie als sein Lebenswerk angesehen hat, wurde im Jänner 2024 eingezogen.“ Obwohl die humanitäre Hilfe viel Zeit in Anspruch nimmt, setzt sich Matiychuk nach wie vor für kulturellen Dialog ein; zuletzt ermöglichte sie einer Gruppe deutschsprachiger Sponsor:innen eine Studienreise nach Tscherniwzi.

Kulturelle Projekte werden jetzt unter neuen Vorzeichen organisiert. Themen wie Traumata und Verlustbewältigung sind in den Vordergrund gerückt, und ukrainische Binnenflüchtlinge – darunter zahlreiche Kinder – zählen zu den wichtigsten Adressat:innen des Angebots der UkrainischDeutschen Kulturgesellschaft.

Erinnern ist Widerstand

Wie MEMORIAL gegen das Vergessen kämpft und warum Erinnern heute ein politischer Akt ist, erzählt die Soziologin und Politikwissenschaftlerin MARIT CREMER

SOPHIE HANAK

Die eigene Vergangenheit aufarbeiten und geschehenes Unrecht thematisieren: Das geschieht in vielen Ländern bis heute nur schleppend – oder gar nicht. Gegen das Verschweigen und Vergessen kämpfen Menschenrechtsorganisationen auf der ganzen Welt. MEMORIAL ist eine von ihnen: Sie setzt sich seit Jahrzehnten dafür ein, die Verbrechen der Sowjetzeit zu dokumentieren und an die Opfer zu erinnern. So wird Wissen bewahrt, das für das Verständnis der Gegenwart und für den Schutz der Menschenrechte notwendig ist.

Marit

Cremer. „Viele wussten lange nicht, was mit ihren Angehörigen geschehen war. Diese blinden Flecken verändern auch die nachfolgenden Generationen.“

In den Jelzin-Jahren öffnete sich für kurze Zeit ein Fenster der Freiheit. MEMORIAL begann, Dokumente, Briefe, Fotos und persönliche Gegenstände aus dem Gulag zu sammeln, etwa eine von einem Häftling gebaute einsaitige Geige, Schachfiguren aus Brotkrümeln oder Zeichnungen aus den Lagern. Das Archiv wurde zu einer einzigartigen Sammlung der Erinnerungen und in zahlreichen Ausstellungen gezeigt, in Moskau und im Ausland.

Mit der Perestroika begann in der Sowjetunion eine Zeit des Wandels. Mit ihr entstand 1989 in Moskau MEMORIAL, die erste Menschenrechtsorganisation des Landes. „Die Gründung von MEMORIAL war eine direkte Folge der Reformen unter Michail Gorbatschow“, sagt Marit Cremer. Die Soziologin und Politikwissenschaftlerin ist Professorin an der Internationalen Hochschule Karlsruhe und arbeitet seit vielen Jahren für MEMORIAL Deutschland. „Plötzlich ergaben sich neue Möglichkeiten. Dissident:innen, die schon lange über die Geschichte der Sowjetunion forschten – viele von ihnen waren selbst in Lagern inhaftiert –, schlossen sich zusammen, um über das zu sprechen, was bis dahin verschwiegen wurde.“

DAS VERSCHWEIGEN VON VERBRECHEN ZIEHT SICH DURCH GENERATIONEN

Die stalinistischen Verbrechen und die zahllosen Opfer dieser Herrschaft gelangten mit der Gründung von MEMORIAL erstmals an die Öffentlichkeit. Ein entscheidender Schritt war die Öffnung der Archive in den späten 1980er-Jahren. „Erst als Historiker:innen Zugang zu den Dokumenten erhielten, konnte die Geschichte überhaupt aufgearbeitet werden“, erklärt Cremer. Für viele Familien war das von immenser Bedeutung. Manche entdeckten erst Jahrzehnte später, etwa beim Aufräumen alter Wohnungen, dass ein vermeintlich im Krieg gefallener Großvater in Wirklichkeit im Gulag gestorben war. „Dieses Verschweigen zieht sich durch Generationen“, betont

„Diese Gegenstände belegen, dass es den Gulag wirklich gegeben hat“, sagt Cremer. „Sie zeigen, dass hinter den Zahlen tatsächlich Menschen mit individuellen Lebensgeschichten stehen.“ Für viele Angehörige war es das erste Mal, dass sie öffentlich über die Schicksale ihrer Familien sprechen konnten.

2014 wurde MEMORIAL in Russland als „ausländischer Agent“ eingestuft. Schulen, Museen und Bibliotheken, die über Jahre mit MEMORIAL zusammengearbeitet hatten, durften plötzlich nicht mehr kooperieren. „Vor unseren Büros standen bewaffnete Polizisten, Ausstellungen wurden zerstört, Mitarbeiter:innen diffamiert“, erinnert sich Cremer. „Das hat an der Seele gezehrt.“ Dennoch suchte MEMORIAL nach Wegen, weiterzuarbeiten. Ein Teil der Arbeit ging ins Ausland: In Berlin entstand „Zukunft MEMORIAL“, in Genf der internationale Dachverband. „Es ging immer darum, kreativ zu bleiben und neue Möglichkeiten zu finden, die Schwierigkeiten zu umgehen“, so Cremer. Die Organisation überlebte als Netzwerk aus rund 60 unabhängigen Gruppen. In Sankt Petersburg etwa kümmerten sich Freiwillige um alte Menschen, die den Gulag überlebt hatten. Andere MEMORIALZentren dokumentierten Kriegsverbrechen, etwa während der Tschetschenienkriege. Auch heute noch besteht MEMORIAL aus einem Netzwerk zahlreicher Organisationen in Russland und Europa und arbeitet eng mit Gedenkstätten, Stiftungen, Forschungseinrichtungen und Vereinen zusammen.

2022 erhielt MEMORIAL den Friedensnobelpreis, eine späte, aber bedeutende Aner-

kennung. „Das war eine enorme Bestätigung für all jene, die über Jahre unter schwierigsten Bedingungen gearbeitet haben“, sagt Cremer. „Es zeigte, dass diese Arbeit international verstanden und gewürdigt wird.“

Ein zentraler Teil der Arbeit bleibt das öffentliche Gedenken an die Opfer politischer Verfolgung. Seit 1991 ist in Russland der 30. Oktober der offizielle Gedenktag für die Opfer der politischen Repression, insbesondere des Gulag und des stalinistischen Terrors. Vor achtzehn Jahren hatte MEMORIAL begonnen, am Vorabend dieses Tages in Moskau direkt gegenüber der FSB-Zentrale die Namen der Opfer zu verlesen. Diese Tradition wird heute in Dutzenden Ländern und über einhundert Städten als Geste der Erinnerung und des Widerstands fortgeführt.

Stalinistische Untaten aufzuarbeiten und sichtbar zu machen leistet einen Beitrag zum Erhalt des Friedens

Auch das Projekt „Die letzte Adresse“ knüpft daran an: Kleine Metalltafeln an Häusern, ähnlich den „Stolpersteinen“, markieren die letzten Wohnorte der Verhafteten, bevor sie in den Gulag verbracht wurden und dort starben. Der 1993 in Berlin gegründete Verein MEMORIAL Deutschland holt mit diesen Täfelchen die vergessenen Menschen, die aus der sowjetischen Besatzungszone in den Gulag deportiert wurden, in die Öffentlichkeit zurück.

„Erinnern ist Widerstand“, sagt Marit Cremer. „Gerade heute, wo Geschichtsfälschung wieder zur Staatsdoktrin wird, bleibt es entscheidend, an die konkreten Menschen und ihre Geschichten zu erinnern. Erinnerung ist der stärkste Gegenentwurf zur Angst und zum Vergessen.“

Religion, Fußball und freiwillige Feuerwehr

Gemeinschaft stiften: Diese Funktion haben Religionen seit jeher, sagt Religionsphilosophin KATHERINE DORMANDY. Eine Funktion, die sie mit anderen Gruppen teilen

CLAUDIA STIEGLECKER

Es ist nicht die Verschiedenheit der Meinungen“, schrieb John Locke bereits im 17. Jahrhundert, „sondern die Verweigerung der Toleranz […], die alle Tumulte und Kriege erzeugt hat, die es in der christlichen Welt wegen der Religion gegeben hat.“ Der englische Arzt und Philosoph lehnte religiösen Zwang ab, warnte vor religiösem Fanatismus und forderte bereits früh eine Trennung zwischen Kirchen und Staat. Die Gesellschaft müsse einen aufgeklärten Umgang mit Religion finden.

Über 400 Jahre später scheint einer solcher Umgang immer noch nicht überall gefunden zu sein. „Religion ist irrational, emotionsbeladen und daher heikel – diese Meinung ist auch heute noch weit verbreitet“, sagt Katherine Dormandy, Professorin für Christliche Philosophie an der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Innsbruck und langjährige Forscherin im Bereich der Religionsphilosophie. Wie viel Wahres ist daran? „Als Philosophin versuche ich die Materie von außen, auf einer theoretischen Ebene zu betrachten“, betont Dormandy. „Es hängt immer vom Kontext, von der Gesellschaft ab, in welche Richtung sich Religion entwickelt.“

Katherine

Dormandy, Professorin für Christliche Philosophie an der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Innsbruck

aufgewachsen sind. „Religionszugehörigkeit kann auch Einfluss auf den Alltag haben“, sagt Dormandy. Das gilt zum Beispiel für Regeln wie bestimmte Essvorschriften oder Gebetszeiten. Derartige Regelungen wirken sich aber nicht immer gleich stark aus und werden unterschiedlich wahrgenommen: „Viele Menschen leben ihre Religion recht locker und frei.“

Laut Statistik Austria bekannten sich 77,6 Prozent der österreichischen Bevölkerung im Jahr 2021 zu einer Religion. In Österreich verteilen sich die Gläubigen auf 16 gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften sowie zwölf religiöse Bekenntnisgemeinschaften. Den größten Anteil machen mit 68,2 Prozent der Bevölkerung die christlichen Kirchen aus. „In Europa hat die christliche Glaubensrichtung eine lange Tradition und hohe Priorität“, meint Dormandy. „Mit der steigenden Pluralität an Religionen umzugehen, ist eine Herausforderung für die christliche Gesellschaft.“

Menschen definieren sich stark über Gruppen, denen sie sich zugehörig fühlen, wobei emotionale Verknüpfungen aufgebaut werden. „Emotionen sind mit Identität verbunden“, meint Dormandy. „Denn Empfindungen sagen etwas über mich als Person aus.“ Das gelte für jede Art der Gemeinschaft – ob Fußballverein, freiwillige Feuerwehr oder Religionsangehörigkeit. „Menschen haben einfach viele unterschiedliche Dinge, die für sie Identität stiften.“ Religionszugehörigkeit habe diesbezüglich keinen anderen Stellenwert als andere gesellschaftliche Gruppierungen.

RELIGIÖSE ÜBERZEUGUNGEN FÜHREN ZU GANZ UNTERSCHIEDLICHEN HANDLUNGEN

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass religiöse Überzeugungen in unterschiedlichen geschlichtlichen Kontexten zu ganz unterschiedlichen Handlungen führen können – so sei der von John Locke befürchtete Weg hin zu Fundamentalismus und Krieg keineswegs ein zwangsläufiger: „Religion kann mit ihren jeweiligen Grundwerten und Ideen durchaus auch das Beste im Menschen hervorrufen.“

Viele Religionen und zu ihnen gehörige Institutionen – etwa die christliche Kirche – blicken auf eine lange Geschichte zurück, die von Symbolen, Traditionen und Ritualen geprägt ist. Das Kreuz an der Wand, die Taufe eines Neugeborenen, die Beichte, das Weihnachtsfest: Das sind Gegenstände und Bräuche, mit denen viele Menschen hierzulande

Lassen sich also das Bekenntnis zum Islam, die Zugehörigkeit zum Frauenchor und das Engagement im örtlichen Sportklub über einen Kamm scheren? Dormandy erklärt eine Differenzierung: „Die Mehrheit der Religionen geht davon aus, dass etwas Transzendentales existiert, das über das Hier und Jetzt hinausgeht“, erklärt sie. „Religion kann durch ihre Traditionen, ihre psychologisch tief verwurzelte Symbolik und den transzendentalen Bezug sinnstiftend sein.“ Inhaltlich sei das der einzige Unterschied zwischen religiösen und anderen Gruppen.

Im Hinblick auf den großen gesellschaftlichen Einfluss spielt allerdings für viele Religi-

Foto:

onen noch ein weiterer Faktor eine wichtige Rolle: ihre weit zurückreichende Geschichte. Beim Christentum führte sie etwa zu einer Vielzahl von Institutionen, einem verzweigten Netzwerk und enormen Vermögensanhäufungen.

In der Zivilgesellschaft gehe es darum, dass Menschen zusammenkommen, sich austauschen, diskutieren und damit demokratische Prozesse beeinflussen. Dabei sei es gut und wichtig, dass möglichst viele unterschiedliche Meinungen aufeinandertreffen,

Der christliche Glaube kann ein Gefühl von Zugehörigkeit schaffen – genau wie die Mitgliedschaft im Fußballverein

denn nur so könne man zu Erkenntnissen kommen, die das Leben im Endeffekt verbessern können, unterstreicht die Religionsphilosophin.

Religion – oder vielmehr Religionen –sieht sie dabei auf derselben Ebene mit säkularen Akteuren. „Keine Meinung ist mehr wert als die andere, sei sie religiös oder nicht religiös. Auch die Standpunkte unterschiedlicher Religionen sind als gleichwertig anzusehen“, sagt sie. „Die Zivilgesellschaft soll allen eine Bühne bieten – dafür ist sie da.“

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Foto: Shutterstock, Montage: D. Greco

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