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„Mehr Fortschritt wagen“

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Vorgestellt

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Es ist Zeit, Fakten zu schaffen

Warum wir noch immer kein Cannabisgesetz haben, warum die Zeit abläuft und was einfach besser gemacht werden könnte. Ein Kommentar von Dirk Heitepriem und Jürgen Neumeyer

Rückblende: 24. November 2021 – fast genau vor zwei Jahren startete die Ampelkoalition mit der Vorstellung ihres Koalitionsvertrags. Unter dem Motto „Mehr Fortschritt wagen“ fand sich auf Seite 87 unter der Überschrift „Drogenpolitik“ folgender Satz: „Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein.“ Trotz aller Klarheit, dass es sich hierbei ausschließlich um eine Absichtserklärung handelte, weckten diese Sätze doch die Hoffnung, dass Deutschland endlich notwendige Schritte in Richtung einer Neubewertung von Cannabis gehen würde. Zwei Jahre später sollte es nun eigentlich so weit sein – und vielleicht wird zumindest der Beschluss im Deutschen Bundestag noch 2023 geschaft . Aber so richtig rund läuft der Prozess nicht. Der Entwurf der ersten Säule wurde am 16. August 2023 vom Kabinett verabschiedet und sollte bis Ende des Jahres finalisiert werden, sodass es zum Jahreswechsel in Kraft treten kann. Das wird jetzt nicht der Fall sein und bestenfalls wird es nun Anfang April 2024 so weit sein. Nun fühlen sich drei Monate Verzögerung nach den Jahrzehnten der Prohibition nicht viel an, aber sie könnten entscheidend sein. Jede Verzögerung nimmt Zeit von der Arbeit an der “Säule 2” weg, denn ab Sommer 2025 herrscht Wahlkampf und Stand heute ist eine Fortsetzung der Ampelkoalition zumindest schwer vorstellbar.

Was ist aber das Problem? Warum kann dieses so wichtige Projekt nicht endlich abgeschlossen werden?

Die einfache Antwort: Das Gesundheitsministerium ist zwar verantwortlich für das Gesetz, aber so richtig Lust darauf haben die Wenigsten im Haus. Die komplexe, aber präzisere Antwort ist: Es ist kompliziert. Es gilt einerseits, zumindest einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Cannabis umzusetzen. Dies muss aber so geschehen, dass das Gesetz nicht zustimmungspflichtig für den Bundesrat wird, denn da gibt es keine Mehrheiten dafür. Andererseits gilt: Es fehlt der Mut, im Zweifel ggf. ein wenig gegen internationales Recht zu verstoßen (einen Weg, den sich andere Länder wie Kanada zugetraut haben). Abschließend steht die Angst, in Einzelfragen gegen Europäisches Recht zu verstoßen. Deshalb dominiert das Motto: “Nur kein Risiko eingehen”. Aber seien wir auch prozessual mal ehrlich: Selbst wenn Deutschland das Cannabis-Gesetz in der ein oder anderen Frage “notifizieren” lassen müsste (z. B. bei einer 1 %-THC-Grenze für Industriehanf), dann bedürfte es immer eines “Klägers” mit wettbewerbsrechtlichen Bedenken. Erst vor dem EuGH könnte dann diese Einzelregelung zu Fall gebracht werden. Alternativ müsste sich die EU-Kommission insgesamt der Frage annehmen und könnte Deutschland dann für diese Einzelverordnung rügen. Erscheint das angesichts der Neubewertungen von Cannabis in zahlreichen EU-Staaten als wahrscheinlich? Und so haben wir heute einen Gesetzentwurf, der so gut und wichtig ist, dass er beschlossen werden muss. Gleichzeitig enthält er aber so viele handwerkliche Fehler und Unzulänglichkeiten, dass er eigentlich überarbeitet werden muss. Eine Zwickmühle, in der sich die Fachpolitiker um Dirk Heidenblut (SPD), Christine Lütke (FDP) und Kirsten Kappert-Gonther (Grüne) befinden. Mit der Verschiebung der zweiten und dritten Lesung im Bundestag ist jedoch klar, dass man sich im Zweifel für Qualität im Gesetzentwurf entschieden hat und nicht für Geschwindigkeit. An diesem Punkt ist es notwendig, gerade die verantwortlichen Bundesminister an ihren Koalitionsvertrag zu erinnern. Wer „mehr Fortschritt wagen“ möchte, muss jetzt auch ins Risiko gehen und endlich Fakten schaffen. Sollte das Gesetz noch scheitern, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit für die nächsten Jahre das Projekt Cannabislegalisierung in Deutschland gestorben. Und dies ist mit vielen Konsequenzen verbunden.

Implikationen für Wirtschaft und Gesellschaft

Hierbei soll der Fokus nicht nur auf die weitere Kriminalisierung von Konsumenten gelegt werden. Ein Blick auf die Implikationen für die Wirtschaft und Gesellschaft zeigt das Dilemma:

1. Aus dem Vorreiter wird der Beobachter
Deutschland war regulatorisch ein wichtiger Vorreiter bei der Etablierung von Cannabis als Medizin. Gleiches erhoffte man sich in vielen europäischen und internationalen Ländern auch jetzt. Aber zu glauben, dass ohne eine Legalisierung in Deutschland, keiner mehr legalisieren wird, ist ein Trugschluss. Statt zu gestalten, wird Deutschland zum Zuschauen verurteilt. Statt Impulse für einen sicheren und kontrollierten Umgang mit Cannabis zu geben, wird dies von anderen übernommen.

2. Jugend- und Gesundheitsschutz bleibt auf der Strecke
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hatte die Cannabislegalisierung als Notwendigkeit für die Verbesserung von Jugend- und Gesundheitsschutz vorgestellt. Ohne eine legale Produktion und einen kontrollierten Markt gibt es faktisch keinen Schutz, denn den Schwarzmarkt interessiert beides nicht.

3. Kein Wachstumsschub für die Wirtschaft und Gesellschaft
Die Legalisierung von Cannabis würde Investitionen in Milliardenhöhe in Deutschland bedeuten. Allein um Kapazitäten für die Produktion von 400t Cannabis-Blüten zu schaffen, wären entsprechende Investitionen nötig. Dies wäre verbunden mit der Schaffung von zehntausenden sozialversicherungspflichten Arbeitsplätzen. Aber auch andere Wirtschaftszweige würden protieren – der Maschinenbau, Logistik und Transport, die Düngemittelindustrie, Licht- und Klimatechnik etc. Dieser Schub bleibt dann aus, und die Wertschöpfung verbleibt im illegalen Bereich, zum Teil sogar in der organisierten Kriminalität.

4. Deutschland als Industriehanf-Entwicklungsland
Das wahrscheinlich größte wirtschaftliche Potential liegt im Bereich des Industriehanfs: Als nachwachsender Rohstoff für Bau und Dämmung, als Fasermaterial, als Nahrungsmittel und vieles mehr. Die fehlende Rechtsicherheit für Anbauer und Verarbeiter bleibt bestehen (allem voran: Die abwegige, lediglich als juristisch-theoretisch potentiell angenommene Möglichkeit, sich über Berge von Nutzhanf zu berauschen; die sog. “Rauschklausel”) und das Wirtschaftsfeld wird europäischen Partnern und Ländern wie China und den Vereinigten Staaten überlassen.

5. Investitionshemmnisse durch Rechtsunsicherheiten bei medizinischem Cannabis
Das aus dem Anbau in Deutschland gewonnene Medizinalcannabis machte 2022 nur etwa 5 % des nach Deutschland importierten Cannabis aus. Die ist vor allem durch das Ausschreibungsverfahren bedingt. Gleichzeitig bestehen bei importiertem Cannabis zum Teil deutlich geringere Anforderungen an die Qualitätskontrolle. Dieses Ungleichgewicht, gepaart mit inkonsistenten Rechtsrahmen in den einzelnen Bundesländern, verhindert Investitionen in diesen Bereich.

Kleine Änderungen könnten viel bewirken

Diese Bereiche müssen und sollten auch durch das Cannabisgesetz angegangen werden. Aus diesem Grund braucht es jetzt Mut und Willen seitens der Bundesregierung und des Gesetzgebers, um das Gesetz jetzt so zu optimieren und zu verabschieden, dass die Bekämpfung des Schwarzmarktes voranschreiten, die wirtschaftlichen Potenziale gehoben, Jugend- und Gesundheitsschutz verbessert und die Kriminalisierung von Konsumenten beendet werden kann.

Was braucht es dafür jetzt noch? Natürlich könnte man sagen, dass jetzt nochmal einfach alles zur Diskussion gestellt werden sollte und das Gesetz in großen Teilen überarbeitet werden müsste. Das würde aber bedeuten, dass noch stärkere Verzögerungen wahrscheinlich würden. Konzentriert man sich jedoch auf die Punkte, die die größte Wirkung hervorrufen können, würden wir den dringend benötigten Paradigmenwechsel erreichen und wirklich entscheidende Weichenstellung für eine positive Entwicklung der Cannabiswirtschaft in Deutschland erreichen.

Das Cannabisgesetz muss dafür als ein Gesetz zur Neubewertung von Cannabis in allen Bereichen – Industriehanf (inkl. CBD und Nahrungsmittel), Medizinalcannabis und Genussmittelcannabis – betrachtet werden und nicht „nur“ als erster Schritt hin zur Genussmittellegalisierung. Hierbei kann mit überschaubaren Änderungen viel erreicht werden:

1. Rechtssicherheit in allen Bereichen der Cannabiswirtschaft schaffen
a. Ein Wegfall der sog. “Rauschklausel” für Industriehanf würde endlich Klarheit für alle Hanfbauern und Unternehmen schaffen, die in irgendeiner Form Industriehanf nutzen und weiterverarbeiten.
b. Das Extraktionsverbot bei Industriehanf muss klar die Möglichkeit schaffen, Extrakte aus Industriehanf herzustellen und dies nicht nur auf CBD als Reinstoff begrenzen (Stichwort “natürliches Vollextrakt”).
c. Die Abstandsregeln für den Konsum von Cannabis in der Öffentlichkeit müssen umsetzbar sein. Hierbei bietet es sich an, auf eine Sichtweitenregelung zu wechseln. Gleichzeitig müssen Patienten komplett von diesen Regelungen ausgenommen werden.

2. Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Cannabiswirtschaft verbessern
a. Der Anbau von Medizinalcannabis in Deutschland hat heute massive Wettbewerbsnachteile, nicht nur, aber vor allem durch die Ausschreibung. Daher ist die Einführung eines Lizenzsystems wie in anderen Ländern absolut notwendig.
b. International steigt der Wettbewerbsdruck für Industriehanf. Um Innovationen zu ermöglichen, wäre eine Anhebung der THC-Grenze auf 1 % hilfreich, wie es auch bereits in anderen EU-Mitgliedsstaaten der Fall ist

3. Bundeseinheitliche Regulierung
a. Der Markt für Medizinalcannabis zeigt, dass zum Teil sehr unterschiedliche Regulierungen in einzelnen Bundesländern zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Alle Regulierungen sollten daher so gestaltet werden, dass sie deutschlandweit gleich angewendet werden können.

Das Cannabisgesetz ist ein wichtiges Signal nicht nur für Konsumenten, sondern auch für die Wirtschaft und für Investitionen. Es ist gut und richtig, das Gesetz noch einmal nachzuschärfen und damit die Umsetzung zu vereinfachen. Doch muss dies nun auch auf den letzten Metern noch mit dem entscheidenden Engagement im Bundestag und der Bundesregierung gemacht werden. Denn „Mehr Fortschritt wagen“ bedeutet eben auch, notwendige Schritte mit Mut und Entschlossenheit zu Ende zu gehen.↙

Anmerkung: Bei Redaktionsschluss waren die genauen Termine zur Beschlussfassung des CanG noch nicht abschließend bekannt. Ebenfalls nicht die Ergebnisse der legislativen Änderungsvorschläge.

Dirk Heitepriem
Dirk Heitepriem ist Vizepräsident des Branchenverbandes Cannabiswirtscha e.V. (BvCW) und koordiniert dort den Fachbereich “Genussmittelregulierung”. Er arbeitet als Vice President External Affairs bei Aurora Europe, die in Kanada bereits Cannabis als Genussmittel produzieren und in Deutschland eine der drei Lizenzen für die Herstellung von Cannabis als Arzneimittel haben.

Jürgen Neumeyer
Jürgen Neumeyer war nach seinem Abschluss als Dipl.-Pol. ehrenamtlich zehn Jahre Referent für Drogenpolitik bei den Bundes-Jusos und beruflich 17 Jahre als Mitarbeiter im Bundestag. Nach einer langjährigen Tätigkeit als selbständiger Politikberater, Headhunter und Lobbyist, setzt er sich heute als Geschäftsführer des Branchenverbandes Cannabiswirtschaft e.V. (BvCW) für die Interessen der Cannabiswirtschaft ein.

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