Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

Page 1

Vorwort

Der Verfasser hält seit etlichen Jahren an der Universität der Bundeswehr München im Vertiefungsstudium (Masterstudium) eine Wahlpflichtvorlesung „Beurteilung und Ertüchtigung historischer Tragwerke“, die getreu dem Leibniz’schen Motto „Theoria cum Praxi“ den Bogen von der In-situ-Untersuchung eines Bauwerks bis zu seiner rechnerischen Analyse schlägt und sich nicht zuletzt deswegen großer Beliebtheit erfreut. Diese Vorlesung ist etwa hälftig dem Tragverhalten historischer Wölbkonstruktionen und der Analyse historischer Holztragwerke gewidmet. Sie ist unmittelbarer Ausdruck der aktuellen Forschungsschwerpunkte und Praxistätigkeiten des Autors. Besonderes Gewicht hat die Gewölbestatik in den Lehr- und Forschungsarbeiten des Verfassers gewonnen, seit es die 2011 erstmals durchgeführte „Erste Europäische Sommerschule zur Bautechnikgeschichte“ vorzubereiten galt, die damals in Cambridge ebenfalls zum Thema der Gewölbe abgehalten worden ist. Hinzu kamen Kurse zum Thema „Gewölbe“ für Tragwerksplaner in der Fortbildungseinrichtung Propstei Johannesberg bei Fulda. In allen diesen Lehrveranstaltungen und in Gutachten zu realen Objekten konnte eine Fülle von Informationen und Erkenntnissen gesammelt werden, die hier verarbeitet sind. In letzter Zeit ist – ausgelöst nicht zuletzt durch die „Richtlinie für die Überwachung der Verkehrssicherheit von baulichen Anlagen des Bundes“ (2008) – eine verstärkte Aktivität bei der Beurteilung und Ertüchtigung historischer Tragwerke zu beobachten. Der Aufgabe, eine historische Konstruktion aus zimmermannsmäßigem Holztragwerk und gemauerter, ggf. gewölbter Unterkonstruktion zu analysieren, hat die Lehre der letzten Jahrzehnte im Bauingenieurwesen nicht viel gegenüberzustellen; entsprechend unsicher ist sich manch ein Tragwerksplaner und im schlimmsten Fall sind unangemessene Ertüchtigungsmaßnahmen die Folge. Ein aktuelles Lehrbuch zu historischen Tragwerken existiert in deutscher Sprache nicht und auch die Lehrbücher aus dem benachbarten Ausland helfen zum Teil nur wenig weiter. Dafür existiert eine im Verlauf von mehr als zweihundert Jahren angewachsene, unüberschaubare Fülle an Spezial-Fachliteratur vor allem zur Gewölbestatik. Im vorliegenden Buch ist der Versuch unternommen worden, diese Spezialliteratur in englischer, italienischer, französischer und deutscher Sprache zusammenzufassen, weiterzuentwickeln und wieder für die praktische Anwendung zu erschließen. Beurteilung und Ertüchtigung historischer Tragwerke folgen dem Prinzip „Erst genau hinschauen und verstehen, dann rechnen, dann erst ertüchtigen“. Besonderes Gewicht wird hier den ersten beiden Schritten zugemessen. In der heutigen Praxis steht allzu oft die durchzuführende Maßnahme schon fest, ehe auch nur eine brauchbare Bau- und Zustandsaufnahme stattgefunden hat. So wird man einem historischen Bauwerk aber nicht gerecht. Manch eine Beobachtung, die zunächst übersehen worden ist, hilft später, die Bau-, Schadens- und Reparaturgeschichte aufzuklären und macht andere, ins Auge fallende „Schäden“ verständlich oder relativiert sie gar völlig. Kein historisches Gewölbe ist ungerissen. Dem heutigen Bauingenieur ist dies aber viel weniger bewusst als die Tatsache, dass auch beim modernen Stahlbeton Risse zwingend zum Tragverhalten dazugehören. Manche Abweichungen histori-


VIII

Vorwort

scher Gewölbe von der erwarteten Form sind schon Jahrhunderte alt, andere akut. Hier richtig zu urteilen, ist essentiell. Ein richtiges Urteil kann aber nur abgeben, wer über entsprechendes Hintergrundwissen verfügt. Dieses Hintergrundwissen zu vermitteln, ist Ziel des Buches. Es will kein Handbuch zum Nachweis nach Norm sein, sondern eine Anleitung zum Hinsehen, Denken, Verstehen. Nunmehr liegt endlich der von vielen lange erwartete erste Band zum Mauerwerk vor. Schwerpunktmäßig behandelt der Band gewölbte Strukturen. Wände, Strebepfeiler und Fundamente werden gewissermaßen nur als „Unterbau“ der gewölbten Raumdecke behandelt. Die Kürze des entsprechenden Kapitels resultiert aus der schmalen Informationsbasis, auf die man bei Wänden und Fundamenten beim realen Objekt üblicherweise zurückgreifen kann. Auch gibt es zur Theorie des Tragverhaltens mehrschaliger Wände nur wenige Vorarbeiten. Im vorliegenden Buch ist soweit wie irgend möglich originales, neues Bildmaterial verwendet worden. Diagramme, Zeichnungen und Fotos wurden fast ausnahmslos entweder selbst angefertigt oder aus originalen, bauzeitlichen Quellen entnommen. Grafiken aus zweiter Hand wurden vermieden. Einem aussagekräftigen Foto eines Befundes wurde der Vorzug vor einer Skizze gegeben, um dem Leser die Chance zu geben, sich selbst ein Bild zu machen. Risse wurden daher in Fotos nicht von Hand nachgezeichnet. Angesichts der Schwierigkeit, von Rissen und ähnlichen Befunden aussagekräftige Fotos anzufertigen, wurde manchmal auch auf etwas entlegene Bauwerke zurückgegriffen. Dieselbe Bemühung um originale, neue Informationen, die die Auswahl des Bildmaterials des vorliegenden Buches kennzeichnet, ist auch den vorgestellten Ansätzen der Analyse zuteil geworden. Keine Formel oder Aussage aus der Literatur ist einfach ungeprüft übernommen worden. Manches Neue hat dem Wissensstand wohl hinzugefügt werden können. Zu hoffen ist, dass das reiche Material, das hier präsentiert wird, einer möglichst großen Zahl von Lesern zu einem schonenden und verständnisvollen Umgang mit historischen Tragwerken verhelfen wird. Sollten Fehler gefunden werden oder Korrekturen nötig sein, sind entsprechende Hinweise sehr willkommen. Gedankt sei den künftigen Lesern, vor allem aber auch dem Verlag Ernst & Sohn und in besonderer Weise Frau Claudia Ozimek für die fast unendliche Geduld, mit der man auf das Werk gewartet und auch dessen Anwachsen zu einem zweibändigen Opus toleriert, wenn nicht gar unterstützt hat. Auch Ermunterung zwischendurch war nötig und ist gewährt worden. Unendliche Geduld hat auch meine Familie aufbringen müssen, die selbst auf den Urlaubsreisen stets noch meine Jagd auf Risse, Schäden an Gewölberippen oder interessante Beobachtungen in Dachräumen historischer Großbauten erduldet hat. Reiserouten wurden gezielt an solchen Punkten orientiert und der Großteil der gemeinsamen Freizeit zuhause und unterwegs ist in den vergangenen Jahren der das ganze Berufs- und Privatleben ergreifenden Leidenschaft für die historische Konstruktion zum Opfer gefallen. Meiner Frau und meinen Töchtern sowie allen Mitarbeitern, Kollegen und Freunden, die zum Entstehen des Werkes passiv und aktiv ihren Beitrag geleistet haben, danke ich an dieser Stelle ganz herzlich. München, im Mai 2013

Stefan M. Holzer


4.2 Grenzzustandsbetrachtungen an gerissenen Schiffswölbungen

207

tere Konfigurationen, in denen der Stichkappenanschluss bis in die Zone der Bruchfugen der Haupttonne reicht, hat Krausz nicht betrachtet. 4.2.2

Baupraktische Verfahren zur Standsicherheitsbeurteilung

Wie beim gemauerten Bogen, so sind auch bei tonnen- oder kreuzgewölbten Räumen die Lage des Angriffspunkts und die Größe des Gewölbeschubs die wichtigsten Informationen, die man zur Standsicherheitsbeurteilung benötigt. Die einfachste Abschätzung überhaupt ergibt sich aus der von Jacques Heyman herangezogenen „Membrantheorie“ [Heyman 1966, S. 269–274]. Membrantheorie bedeutet, dass Biegetragwirkungen völlig vernachlässigt werden (Die „Stützlinie“ oder besser „Stützfläche“ ist dann identisch mit der Schalenmittelfläche). Das Flächentragwerk kann nur Spannungen in seiner Tangentialebene aufnehmen. Das Tragverhalten wird ausschließlich durch die geometrische Form bestimmt. Materialgesetze gehen nicht ein, es handelt sich um eine reine Gleichgewichtsbetrachtung, also um eine statisch bestimmte Idealisierung des Tragwerks. Ist die Wölbung in Längsrichtung des überdeckten Raumes eine stetig gekrümmte Tonne (Halbkreistonne oder elliptische Tonne), deren Scheitel ungebrochen durchläuft, so kann man im Rahmen der Membrantheorie auf ein aus dem Scheitelbereich herausgeschnittenes Stück der Tonnenschale die „Kesselformel“ anwenden: Der radial auf die Schale wirkende Druck p bewirkt in einer dünnen Zylinderschale mit dem Radius R und der kleinen Dicke t die Tangentialspannung σ t ¼ pR=t (tangential zur Leitkurve des Zylinders). Dies ist die Membranlösung eines unendlich langen Zylinders. Sie ist auf den Scheitelbereich des zylindrischen Tonnengewölbes anwendbar, denn im Scheitel der Tonne wirkt das Eigengewicht ρgt vertikal, also radial, die Tangentialspannung σ t hingegen horizontal. Da der Gewölbeschub in jedem Schnitt des Gewölbes gleich groß sein muss, ergibt sich der Horizontalschub des Gewölbes je Meter Längenerstreckung einfach zu Rρgt. Stichkappen, Widerlagerwinkel, vorhandene Hinterfüllungen oder dergleichen gehen in diese Membran-Berechnung nicht ein, sie haben keinerlei Einfluss auf das Ergebnis! Der einzige maßgebende Einflussfaktor ist die Krümmung des Gewölbes im Scheitelbereich. Auf spitzbogige Gewölbe ist Heymans Ansatz somit nicht anwendbar. Bei einem dünnen Kreuzgewölbe über einem Grundrissquadrat mit 2R Seitenlänge ergibt sich nach der Membrantheorie für das ganze Gewölbejoch ein Horizontalschub von H ¼ 2R2 ρgt. Für ein nicht hinterfülltes Kreuzgewölbe mit 0° Widerlagerwinkel gibt [Heyman 1966, S. 270] als Gewichtskraft einer Gewölbehälfte den Wert 2;28 R2 ρgt an. Diese Kraft wirkt nach Heyman im Abstand von 0;468R von der Schildwand. Daraus ergibt sich dann mit Hilfe von simplen Gleichgewichtsbetrachtungen (vertikale und horizontale Kräfte, Momente) an einer Gewölbehälfte, dass der Schub des Kreuzgewölbes in einer Höhe von 0;466R über der Widerlagerebene abzufangen ist [Heyman 1966, S. 271]. Dies ist ohne Zweifel eine garantierte obere Schranke für den tatsächlich auftretenden Gewölbeschub unter Eigengewicht. Im Folgenden wird anhand verbesserter Traglastabschätzungen ermittelt, ob die Genauigkeit dieser Abschätzung für die Praxis ausreichend ist.


208

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen

Zunächst soll aber noch das in dem bei Tragwerksplanern bis heute beliebten Buch von Klaus Pieper [Pieper 1983, S. 52–53] beschriebene Vorgehen zur Analyse des Kreuzgewölbes kurz charakterisiert werden. Zunächst idealisiert Pieper das Gewölbe als ebenen Dreigelenkbogen. Die Gelenke werden als zentrische Gelenke auf Höhe des optischen Widerlagers und am Gewölbescheitel gewählt. Damit ergibt sich der Bogenschub des Kreuzgewölbe-Joches über quadratischem Grundriss zu H ¼ 1;06 R2 ρgt, also nur noch rund halb so groß wie aus der Membrantheorie bzw. Kesselformel Heymans. Der vermeintlich geringe Gewölbeschub wird durch Biegung in den Schenkeln des Dreigelenkbogens erkauft, während bei Heyman das gesamte Flächentragwerk biegungsfrei angenommen wird. Pieper bemerkt sodann, dass die einfache Abschätzung mit dem Dreigelenkbogen nicht stimmen kann, weil die Bogenschenkel des Dreigelenkbogens die ihnen zugewiesene Biegung nicht aufnehmen können. Um eine andere Gelenklage zu begründen, greift Pieper auf die Betrachtung realer Rissbilder zurück. Er nimmt ein Rissbild an, das zwischen den Idealisierungen „Sabouret“ und „Kappe bleibt an der Haupttonne hängen“ liegt (Bild 4.17). Sodann setzt Pieper willkürlich das Gelenk in die Höhe 0; 6R über der Widerlagerebene und bestimmt damit den Schub H ¼ 1;4 R2 ρgt, also immer noch deutlich weniger als Heyman. (Die in Bild 4.17 angegebenen Zahlenwerte beziehen sich auf ein Viertel des Gewölbes, nicht auf eine Gewölbehälfte). Am hintermauerten Widerlager gibt Pieper allerdings einen höheren Wert des Gewölbeschubs an, nämlich H ¼ 1;76 R2 ρgt, ohne anzugeben, wie dieser Wert gewonnen wurde. Gilt das Prinzip des Gleichgewichtes der horizontalen Kräfte hier nicht mehr? Eine Verbesserung gegenüber Heymans Ansatz ist nicht erkennbar; vielmehr hat eine Willkür Einzug gehalten. Die Formel von Pieper ist somit unbrauchbar.

Bild 4.17 Inkonsistente Bestimmung des Schubs an einem Viertelsausschnitt des Kreuzgewölbes durch [Pieper 1983, S. 53].


4.2 Grenzzustandsbetrachtungen an gerissenen Schiffswölbungen

209

Weder von Pieper noch von Heyman wird der Fall der Stichkappentonne behandelt, also der Fall von Kappen, die nicht ganz bis zum Scheitel der Haupttonne reichen. Für spitzbogige Gewölbe (oder beliebige andere Gewölbeformen) wird von beiden Autoren die Methode Mohrmanns empfohlen, von der man aber auf Grundlage der Arbeiten Robert Marks und Rainer Barthels annehmen kann, dass sie vermutlich weit – allzu weit – auf der sicheren Seite liegt. Verbesserungen gegenüber dem Vorgehen von Heyman und Pieper mit dem Ziel einer schärferen Abschätzung des real auftretenden Gewölbeschubs sind nur unter folgenden Voraussetzungen möglich: – Berücksichtigung der Biegetragwirkung, – Berücksichtigung der endlichen Druckfestigkeit, – Berücksichtigung der real auftretenden Risskonfigurationen bzw. Mechanismen, – Bestimmung der Gelenklage nicht heuristisch, sondern mit einem Optimierungsalgorithmus. Zu diesem Zweck wurde speziell für die Beurteilung gewölbter Bestandsbauten ein einfaches Berechnungsprogramm entwickelt, das auf folgenden Voraussetzungen beruht: – Es werden nur ebene Mechanismen betrachtet. – Die drei relevanten Rissmechanismen „Sabouret“, „Kappe bleibt an der Haupttonne hängen“ sowie „Kappe reißt von der Haupttonne ab und bleibt für sich stehen“ werden alle berücksichtigt. – Die Gelenkbildung wird – wie beim ebenen Bogen – unter Berücksichtigung der endlichen Mauerwerksdruckfestigkeit modelliert. Dabei wird vereinfachend unterstellt, dass in jedem zur Längsachse der Haupttonne parallelen Schnitt ein über die Tonnenlänge gleichbleibender Beanspruchungszustand herrscht. – Es wird unterstellt, dass über die Lagerfugen Schub übertragen werden kann. Eine genaue Analyse des Spannungszustands innerhalb der ungerissenen Kappenteilstücke erfolgt nicht. Für den in der Praxis bedeutsamsten Fall der rund- oder korbbogigen, symmetrischen Stichkappentonne unter Eigengewicht weist das betrachtete Optimierungsproblem („Finde die maximal mögliche Schubkraft des sich einstellenden Dreigelenkbogens“) nur einen einzigen Freiheitsgrad auf – die Lage der „Bruchfuge“ auf den Bogenschenkeln. Somit kann für diesen Fall eine Lösung durch einfaches Ausprobieren erfolgen. Nur für spitzbogige Tonnen (unbekannte Lage des scheitelnahen Gelenks) und unsymmetrische Tonnen oder Stichkappen ist wieder ein „Hill-climbing“-Algorithmus zur Lösung eines Optimierungsproblems mit drei Freiheitsgraden erforderlich. Für den Rissfall „Sabouret“ kann nicht auf vorausberechnete Gewichtskräfte und Momente zurückgegriffen werden, weil die Größe der statisch wirksamen rotierenden Gewölbeteile von der Bruchfugenlage bzw. Risslage abhängt. Die Berechnung wird in diesem Fall daher etwas aufwendiger als beim einfachen ebenen Bogentragwerk. Bei einem Kreuzgewölbe bzw. einer Stichkappentonne wird die Haupttonne durch die Stichkappe „aufgeschnitten“ (Bild 4.18). Diese Öffnung wird durch die Stichkappe wieder verschlossen. In Abhängigkeit von der Güte der Verzahnung zwischen


210

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen

Bild 4.18 Modell „gelochte Tonne“.

Stichkappe und Haupttonne kann ein Teil der in der Tonne zum Widerlager hin strebenden Druckkräfte in die Kappen eingeleitet werden. Die übrigen Spannungsanteile müssen um das durch die Stichkappe geöffnete Loch herumgeleitet werden. In diesem Bereich wird sich in der Tonnenschale ein Entlastungsbogen ausbilden, der die Druckspannungen zu den schmalen Tonnenstreifen hinleitet, die vom Auflager übrig bleiben. In den nach unten hin immer schmaler werdenden Tonnenschenkeln wird sich somit kein gleichmäßiger Spannungsverlauf in den Lagerfugen einstellen. Geht man jedoch vereinfacht davon aus, dass die Variation der Spannungen in den Lagerfugen längs der Tonnenachse nicht besonders groß sein wird, so kann man die eigentlich erforderliche Bestimmung einer dreidimensionalen, in allen Richtungen räumlich gekrümmten „Stützfläche“ wieder durch die Berechnung einer ebenen „Stützlinie“ bzw. – unter Berücksichtigung der begrenzten Druckfestigkeit des Materials – eines ebenen „Stützbandes“ am Tonnenquerschnitt ersetzen. Berechnet wird die gelochte Tonne also de facto als ebener Bogen variabler Breite. Aufgrund der nach unten hin immer schmaler werdenden Tonnenschenkel sind die Druckspannungen dort erheblich größer als in einem gleich weit gespannten Bogen bzw. ungelochten Tonnengewölbe konstanter Breite. Auch Barthel hat bereits – mindestens für den Fall des „römischen Kreuzgewölbes“ – eine solche vereinfachte Analyse versucht und dabei die beiden Rissmechanismen „Sabouret“ und „Stichkappe rotiert mit der Haupttonne“ untersucht [Barthel 1993, S. 112–114]. Das dort zur Bestimmung der Gelenklage verwendete Kriterium, „dass an den Gelenken die dort wirkende Resultierende parallel zum Rand“ sein müsse, ist allerdings inkorrekt. Am Gelenk ist die Stützlinie tangential zum Rand, nicht aber die Resultierende, denn auch über die Gelenkfuge kann Schub übertragen werden (Verwechslung zwischen Seillinie und Stützlinie, vgl. [Heyman 2009]). Dadurch ergeben sich in Barthels Rechnung fälschlicherweise zu geringe Werte des Schubs (H ¼ 1;4 R2 ρgt für den Rissfall „Sabouret“ bzw. H ¼ 1;35 R2 ρgt für den Rissfall „Kappe rotiert mit der Haupttonne“, wohingegen die korrekten Zahlenwerte H ¼ 1;57 R2 ρgt und H ¼ 1;44 R2 ρgt lauten würden). Außerdem ist bei Barthel die begrenzte Druckfestigkeit des Materials nicht berücksichtigt, die Gelenke liegen also direkt am Intrados bzw. Extrados, was zu einer weiteren Verminderung des aufzunehmenden Schubs gegenüber einer realistischeren Betrachtung führt.


4.2 Grenzzustandsbetrachtungen an gerissenen Schiffswölbungen

211

Gewählt wird für die Berechnungsbeispiele Gewölbe mit 25 cm Stärke (einheitlich für Haupttonne und Kappen und ohne Dickenabstufung) und einem Mittelradius R ¼ 5 m (Lichtweite somit 9,75 m). Die Länge des betrachteten Joches betrage 10,25 m, entsprechend der Jochbreite einschließlich der Kappenstärke von beidseitig jeweils 25 cm. Es wird davon ausgegangen, dass im Bereich der Stichkappen die Schiffsbreite 10 m beträgt (d. h. die Wandvorlage entspricht der Gewölbestärke). Zu untersuchen sind zylindrische Stichkappen mit geradem Scheitel und Mittenradien von 3,00 m, 4,25 m und 5,00 m. Die letzte Variante ergibt ein „römisches Kreuzgratgewölbe“. Bei der Berechnung der „Stützzone“ wird von einer Druckfestigkeit des Mauerwerks βMW ¼ 1;5 MN=m2 ausgegangen. Die Wichte des Wölbmaterials betrage 18 kN=m3 . Bei den folgenden Zahlenbeispielen wird ein Keilsteinwinkel von 0,5° vorausgesetzt. Die Modellrechnungen werden alle an einem Gewölbe mit Widerlagerwinkeln von 0° und 180° durchgeführt, ausgehend vom Fall nicht ausgefüllter Zwickel. Bei gotischen Kreuzgewölben und frühneuzeitlichen Stichkappentonnen kommt diese Situation nicht ganz selten vor. Ein ebener Bogen mit der genannten Dicke, demselben Öffnungswinkel und Radius ist nicht standfähig. Bei einem Tonnengewölbe, das beiderseits eine dichte Folge von Schildkappen bzw. Stichkappen aufweist, ist das Fehlen einer Hinterfüllung jedoch nicht so problematisch wie bei einem ebenen Bogen: Die unteren, fast senkrecht aufsteigenden Teile der Stich- bzw. Schildkappen wirken für die Haupttonne wie Strebewände, die den unteren Teil der Haupttonne effektiv daran hindern, nach außen umzufallen. Über Schub in der selbst bei Kufverband typischerweise guten Verzahnung zwischen Stichkappe und Haupttonne im untersten Gewölbeabschnitt wird ein Teil der Druckkräfte aus dem unteren Tonnenteil in die Stichkappe eingeleitet. Die Stützlinie des ganzen Gewölbejoches kann daher in diesem Bereich aus der Haupttonne nach oben austreten, auch wenn die Hintermauerung fehlt. Es kann sich kein Fünfgelenkmechanismus einstellen, der zum Einsturz führen würde. Besser ist es natürlich, wenn die Hintermauerung vorhanden ist, zumal sie auch das Gewicht des Gewölbes erhöht, ohne den Schub zu vergrößern, und somit dem Unterbau hilft, die Horizontalkomponente der Gewölbekräfte weiterzuleiten. Die Berechnung mit nicht ausgefüllten Zwickeln ermöglicht den direkten Vergleich mit den Ansätzen Heymans und Piepers. Außerdem wird es sich ohnehin herausstellen, dass die parallel zur Raumachse verlaufenden Gelenklinien in der Haupttonne immer höher liegen, als eine übliche Zwickelhinterfüllung hinaufreicht, so dass die Höhe der Zwickelfüllung für die Größe des Gewölbeschubs ohne Belang ist. Nach der Membranmethode von Heyman, also nach der „Kesselformel“, ergibt sich für den Schub eines ganzen derartigen Joches unabhängig von Vorhandensein und Form der Stichkappen als auf der sicheren Seite liegende Abschätzung der Wert H ¼ 236 kN. Betrachtet wird zunächst die Tonne mit Stichkappen, deren Radius 3,00 m beträgt. Das Gesamtgewicht des Gewölbejoches beträgt in diesem Fall 645 kN. Mit dem Programm wird bei der gewählten Geometrie unabhängig vom angenommenen Mechanismus ein Gewölbeschub H ¼ 173 kN für das Gewölbejoch bestimmt (Bild 4.19). Die unteren Bruchfugen stellen sich bei einem Winkel von rund 43,5° gegenüber der Horizontalen ein, liegen also weit über dem Stichkappenscheitel, so


212

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen

Bild 4.19 Schematische Darstellung der Stützzone und der Gelenk- bzw. Risslinien für den Fall der Stichkappe mit 3,00 m Radius. Die kleinen Stichkappen haben auf das Tragverhalten der Haupttonne keinen Einfluss.

dass die Stichkappen ohne Einfluss auf den Gewölbeschub bleiben. Bei derart kleinen Stichkappen sind in der Praxis die Gewölbezwickel mindestens bis zur halben Stichhöhe der Haupttonne hinterfüllt, so dass die Gewölbeschenkel unterhalb der Gelenklinien nicht nach außen rotieren können. Daher ist das untersuchte Gewölbe standsicher, obwohl die Berechnung ausweist, dass unterhalb eines Winkels von rund 25° gegenüber der Horizontalen die „Stützzone“ nach oben aus der Haupttonne heraustritt. Bei größerer Stichkappenabmessung werden die Unterschiede zwischen den drei betrachteten Mechanismen wirksam. Gewählt wird nunmehr ein Stichkappenradius von 4,25 m (Bild 4.20), was einem Gesamtgewicht des Gewölbejoches von 689 kN entspricht. Man beachte, dass mit wachsender Größe der Stichkappe das Gesamtgewicht des Gewölbes nicht zu-, sondern abnimmt. Mit der größeren Stichkappe ergibt sich, dass die Stichkappen auf jeden Fall in den Fuß der statisch wirksamen Haupttonne hineinragen, also über die sich einstellenden Gelenklinien nach oben hinaufreichen. Die Zahlenwerte für den Rissfall „Stichkappe reißt längs des Grates von der Haupttonne ab“ ändern sich allerdings kaum gegenüber jenen der Tonne mit kleineren Stichkappen (H ¼ 173 kN, Bruchfuge bei 45,5°). Nimmt man an, dass

Bild 4.20 Schematische Darstellung der Stützzone und der Gelenk- bzw. Risslinien für den Fall der Stichkappe mit 4,25 m Radius für das Rissbild der mit der Haupttonne rotierenden Stichkappe.


4.2 Grenzzustandsbetrachtungen an gerissenen Schiffswölbungen

213

die Stichkappe längs des Kappengrates fest mit der Haupttonne verzahnt ist und dem rotierenden Schenkel der Haupttonne folgt (Bild 4.20), so stellt sich die Bruchfuge des Gewölbes bei einem Winkel von nur 34° gegenüber der Horizontalen ein und der Gewölbeschub fällt auf H ¼ 163 kN. Aufgrund des rückwärts drehenden Momentes der rucksackartig an der Haupttonne hängenden Stichkappe stellt sich rechnerisch ein schlangenlinienförmiger Verlauf der Stützzone ein; das zurückdrehende Moment ist auch für den geringen Wert des Gewölbeschubs verantwortlich. Als maßgeblicher Rissfall kann nunmehr jedoch der Fall „Sabouret“ identifiziert werden (Bild 4.21), der allerdings zahlenmäßig kaum von jenem der abreißenden Stichkappe abweicht (H ¼ 173 kN, Bruchfuge bei 41,5°). Auch hier tritt wieder im Gewölbezwickel die Stützzone aus der Gewölbeschale, aber wiederum in einem Bereich, der in der Praxis fast immer hinterfüllt ist. Außerdem kann hier der stehenbleibende untere Teil der Stichkappe gut als eine Art Strebemauer fungieren. Angesichts des geringen Unterschiedes zwischen dem Sabouret-Mechanismus und der stehenbleibenden, von der Haupttonne abreißenden Kappe ist es klar, dass in der Praxis beide Rissmechanismen gleichermaßen möglich sind und der tatsächlich sich einstellende Rissverlauf durch untergeordnete Einflüsse bestimmt werden kann.

Bild 4.21 Schematische Darstellung der Stützzone und der Gelenk- bzw. Risslinien für den Fall der Stichkappe mit 4,25 m Radius für das Rissbild „Sabouret“.

Erhöht man den Stichkappenradius schließlich auf 5,00 m, so erhält man das „römische Kreuzgewölbe“. Das Gewicht dieser Gewölbeform beträgt nur noch 568 kN. Nunmehr ist nicht mehr der Fall der an der Haupttonne hängenbleibenden Stichbzw. Schildkappe derjenige, der den geringsten Schub liefert und somit am wenigsten wahrscheinlich ist. Vielmehr stellt es sich nunmehr heraus, dass der geringste Horizontalschub zum Fall der stehenbleibenden, von der Haupttonne abreißenden Kappe gehört (H ¼ 160 kN mit Bruchfugen bei 51,5°). Nimmt man hingegen an, dass der obere Teil der Schildkappe mit der Haupttonne rotiert, so erhöht sich der Gewölbeschub auf H ¼ 168 kN (Bruchfugen bei 31,5°, siehe Bild 4.22). Dabei tritt die Stützzone jedoch beiderseits des Gewölbescheitels nach oben aus der Tonne heraus. Da die Berechnung auf der Annahme einer dort fest mit der Haupttonne verbundenen Stichkappe beruht, ist dies zulässig und bedeutet, dass im Scheitelbereich die Druckspannungstrajektorien auch in die Stichkappe hineinlaufen und sich erst


214

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen

Bild 4.22 Schematische Darstellung der Stützzone und der Gelenk- bzw. Risslinien für das „römische Kreuzgewölbe“ im Rissmechanismus „Schildkappe rotiert mit der Haupttonne“.

weiter unten in der Haupttonne konzentrieren. Maßgebend wird nun allerdings eindeutig der Sabouret-Mechanismus (Bild 4.23). Auch für diesen Mechanismus verlässt die Stützzone in der unmittelbaren Nähe des Scheitels die Tonne nach außen, was aber mit dem angenommenen Mechanismus konsistent ist. Der Sabouret-Mechanismus liefert einen Schub H ¼ 181 kN und Bruchfugen bei 42°.

Bild 4.23 Schematische Darstellung der Stützzone und der Gelenk- bzw. Risslinien für das „römische Kreuzgewölbe“ im Rissmechanismus „Sabouret“.

Die vorstehenden, ausführlichen Parameterstudien an dem Gewölbe mit geraden, nicht steigenden Stichkappen können wie folgt zusammengefasst werden: – Je nach geometrischer Situation werden verschiedene Mechanismen rechnerisch maßgebend. – Die Mechanismen unterscheiden sich sehr deutlich in der Lage der rechnerischen Bruchfuge. – Die zugehörigen Werte des Gewölbeschubs weisen hingegen eine sehr geringe Bandbreite auf. Der Schub ist fast unabhängig von der Größe der Stichkappen. – Das Gesamtgewicht des Gewölbejoches wird umso geringer, je mehr sich das Gewölbe einem Kreuzgewölbe annähert.


4.2 Grenzzustandsbetrachtungen an gerissenen Schiffswölbungen

215

Nun ist es natürlich von höchstem Interesse, die durch eine schnelle Abschätzung gewonnenen Werte des Gewölbeschubes mit den Ergebnissen der genauen FiniteElemente-Simulationen durch Barthel zu vergleichen. [Barthel 1993, S. 162] hat das „römische Kreuzgewölbe“ über einem quadratischen Joch mit R ¼ 5 m und mit denselben sonstigen Annahmen wie hier, allerdings mit einer Wichte von 20 kN=m3 gerechnet. Skaliert man Barthels Finite-Elemente-Ergebnisse mit dem Faktor 18/20 (strenggenommen wegen der Nichtlinearität der FE-Berechnung unzulässig, hier jedoch ausreichend genau, weil nicht die Druck-, sondern die Zugfestigkeit das Verhalten dominiert), so erhält Barthel bei starren Auflagern einen Schub H ¼ 231 kN, was exakt der Membranlösung Heymans entspricht. Allerdings nimmt dieser Schub nach Barthel schon bei 2 mm Widerlagerverschiebung, also im praxisrelevanten Fall, auf H ¼ 174 kN ab [Barthel 1993, S. 162]. Die mit dem einfachen Starrkörpermodell bestimmte Horizontalkraft H ¼ 181 kN weist somit nur rund 4 % Abweichung von den Finite-Elemente-Ergebnissen auf und liegt auf der sicheren Seite. Hingegen sind die Werte von Pieper mit H ¼ 1;4 R2 ρgt ¼ 158 kN (am Gewölbescheitel angegebener Zahlenwert) und H ¼ 1;76 R2 ρgt ¼ 198 kN (am Widerlager angegeben) erwartungsgemäß weit von den realistischen Ergebnissen entfernt. Blickt man auf die Berechnungsreihe mit den verschieden großen Stichkappen zurück, kann man sogar noch eine weitaus deutlichere Vereinfachung der rechnerischen Untersuchung von Stichkappentonnen und Kreuzgewölben rechtfertigen: Eine reine Tonne ohne Stichkappen übt schätzungsweise einen Schub H ¼ 173 kN auf ihren Unterbau aus, das Kreuzgewölbe H ¼ 181 kN. Alle Stichkappentonnen werden einen Schub zwischen diesen beiden Werten liefern (gilt nicht für nach innen fallende Stichkappen). In guter Näherung kann man somit in den meisten Fällen die Stichkappen komplett ignorieren und einfach so tun, als liege ein reines Tonnengewölbe vor. Überdies stimmt auch die Lage der Gelenklinien beim Sabouret-Rissmechanismus in sehr guter Näherung mit der Gelenklage einer Tonne ohne Stichkappen überein (Bruchfugen wandern nur zwischen rund 41° und 45°). Mit etwas Vorsicht kann man die gute Übereinstimmung zwischen Tonne (d. h. ebenem Bogen) und Stichkappen- oder Kreuzgewölbe daher sogar ohne größere Bedenken verwenden, um für den Fall eingetretener Widerlagerverschiebungen größeren Ausmaßes die maximal bis zum Einsturz mögliche Widerlagerverschiebung geometrisch nichtlinear grob abzuschätzen, was mit jeder anderen Methode nahezu unmöglich ist. Im Einzelnen wäre nun noch zu erforschen, ob die Beobachtungen am Kreuzgewölbe über quadratischem Grundriss sich auch auf stark queroblonge Kreuzgewölbe, wie sie in gotischen Bauten vorkommen, übertragen lassen. Vereinfacht man rechnerisch die Stichkappentonne zu einer Tonne ohne Stichkappen, so sollte man bei der rechnerischen Weiterleitung der Lasten in den Unterbau nicht vergessen, dass eine reine Halbkreistonne ohne Stichkappen im Beispiel ein Gesamtgewicht von 725 kN aufweist, während das Gewicht des Kreuzgewölbes weniger als 80 % des Gewichts der Tonne ohne Stichkappen beträgt. Da der Wert des Horizontalschubs mit größer werdenden Stichkappen kaum abnimmt, sich das Gewölbegewicht jedoch verringert, ist der Gewölbeschub des Kreuzgratgewölbes für den Unterbau rechnerisch kritischer, da das Verhältnis von Schub zu Auflast maßgebend ist. In der Praxis wird dieses Problem jedoch durch die meist vorhandene


216

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen

Zwickelfüllung ausgeglichen, die mit wachsenden Stichkappen meist mitwächst (Auffüllung bis Oberkante Stichkappe), und außerdem ist natürlich der beim Kreuzgewölbe „punktuell“ auftretende Gewölbeschub leichter durch eine Strebekonstruktion aufzunehmen als der „kontinuierliche“ Schub der Tonne. Fehlt die Zwickelfüllung, kann das Kreuzgewölbe bzw. die Stichkappentonne durch nachträgliches Ausfüllen der Zwickel bis knapp unter halbe Stichhöhe stabilisiert werden, sofern die dadurch erhöhte Gesamtlast in der Fundamentsohle aufgenommen werden kann, was in nahezu allen Fällen der Praxis möglich ist. Umgekehrt verdient es Beachtung, dass das in der Praxis immer wieder anzutreffende Ausräumen von Gewölbezwickeln äußerst schädlich sein kann und daher zu unterlassen ist. Wird die Zwickelfüllung ausgeräumt, weil sie z. B. aus Bauschutt oder anderen schädlichen Materialien besteht (feuchtigkeitsspeichernde Stoffe und dergleichen), ist sie auf jeden Fall durch besser geeignetes Material zu ersetzen. Wird dies unterlassen, riskiert man neue Schäden am Gewölbe. Bild 4.24 zeigt ein charakteristisches Beispiel hierzu: Eine Wallfahrtskirche wurde im 17. Jh. nachträglich mit einer Stichkappentonne gewölbt. Das Dachwerk reichte damals mit hölzernen Stempeln weit in die Gewölbezwickel hinunter. Diese Dachwerksstreben waren jedoch bis zur Oberkante der Stichkappen in eine Zwickelfüllung eingebettet. Zeugnis dafür ist der heute noch vorhandene Stumpf dieser Streben, der als einziges Teil des alten Dachwerks einen Brand im späten 18. Jh. überlebt hat, weil er durch die Zwickelfüllung geschützt war. Das damals neu erstellte Dachwerk verwendet die Streben des Vorgängerdaches nicht. Bei einer Sanierung im späten 20. Jh. wurden erstmals seit Erbauung des Gewölbes die Zwickel ausgeräumt und dabei die nur am oberen Ende verkohlten Dachwerksstreben freigelegt. Heute weist das damals sanierte Gewölbe, das eine wertvolle Dekoration mit Rokoko-Fresken trägt, neue Risse auf. Auch ohne diesen Effekt stellt

Bild 4.24 Ein Ausräumen der Gewölbezwickel ohne Ersatz der alten Füllung verringert die Standsicherheit des Gewölbes und führt zu neuen Rissen


4.2 Grenzzustandsbetrachtungen an gerissenen Schiffswölbungen

217

das Ändern der Kräfteverhältnisse an einem historischen Gewölbebau stets ein Schadensrisiko dar, das genau abgewogen werden sollte. 4.2.3

Besonderheiten von Rippengewölben

Obwohl die Rippen gotischer Gewölbe nicht als tragendes Skelett wirken, das die gesamte Auflast der Kappen zu tragen hat, sondern die Kappen sich vielmehr selbst tragen, verdienen dennoch die Rippen besondere Aufmerksamkeit. Im günstigsten Fall binden die Rippen so tief in das Kappenmauerwerk ein, dass jeder einzelne Rippenstein fest an der Kappe hängt. In diesem Fall werden die globalen Verformungen des Gewölbefeldes auch den Rippen aufgezwungen, was bei gleichen Rotationen aufgrund des längeren Hebelarms bei den Rippen stärkere Schäden auslöst als beim Kappenmauerwerk. So entstehen zum Beispiel tiefe, klaffende Fugen, wenn sich das Gelenk des Gewölbes nach unten öffnet (Bild 4.25).

Bild 4.25 Nach unten klaffendes Gelenk in einem Rippenbogen (Kathedrale Antwerpen).

Binden die Rippensteine nicht oder nur wenig in die Schale ein, können sie sich relativ zur Kappe verschieben. Da der Rippenbogen für sich einen geringeren Krümmungsradius aufweist als die Kappe, hat die Rippe bei nachgebenden Widerlagern die Tendenz, tangential zur Kappe zu rutschen und sich radial abzulösen. Beiden Beanspruchungen hat die Konstruktion nur wenig Widerstand entgegenzusetzen. Daher kann sich der Rippenbogen unter solchen Umständen in weiten Bereichen von der zugehörigen Kappe lösen. Bild 4.26 zeigt eine nur mit einer flachen Abdachung in die Gewölbekappe einbindende Werksteinrippe eines Backsteingewölbes, die durch einen durchgehenden Riss von der Kappe getrennt ist. Schlimmstenfalls können aus solchen Rippenbögen einzelne Steine abstürzen. Fotos kriegsbeschädigter Gewölbe zeigen sehr oft abgefallene Rippen bei ansonsten intakter Wölbfläche (z. B. [Grassnick 1963, Abb. 31]). Besonders bei nach unten klaffenden Fugen (Bild 4.25) ist die Gefahr gegeben, dass einzelne Steine herausfallen, obwohl die Standsicherheit des Gewölbes als Ganzes gewährleistet ist. Die Schlusssteine binden meist in die Gewölbeschale ein oder durchdringen sie sogar völlig. Zwischen den Schlusssteinen spannen sich die Rippenbögen dann „frei“, also mechanisch mehr oder weniger unabhängig von den Kappen. Diese Situation


218

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen

Bild 4.26 Rippe ohne Verband zum Kappenmauerwerk. Die restauratorische Öffnung zeigt, dass die Rippe oberseits flach abgedachte Form aufweist (Münster Ingolstadt; Foto: Clemens Voigts).

ist für die engmaschigen spätgotischen Gewölbe typisch. Bei stärkeren Verformungen des Gewölbes als Ganzes werden die in die Kappe einbindenden Schlusssteine gezwungen, deren Verformungen mitzumachen. Die Rippensteine der anschließenden Rippenbögen müssen dann mit diesen Verschiebungen ihrer Widerlager zurechtkommen, was zur Ausbildung „plastischer Gelenke“ bis hin zum Abplatzen von Rippenbruchstücken führen kann. Bild 4.27 zeigt ein Beispiel, in dem ein mit der Kappe rotierender Schlussstein zu Schäden in den anschließenden Rippenbögen geführt hat. Das Beispiel macht deutlich, dass das Rippennetz statisch ein gewisses „Eigenleben“ führt. Herabfallende Rippenbruchstücke stellen eine Gefährdung der Verkehrssicherheit dar und sind daher durch Sichern zu verhindern. Eine solche Sicherung setzt jedoch eine genaue Bestandsaufnahme voraus, im Rahmen derer geklärt wird, welche Steine lediglich ohne Verband unter der Kappe liegen und welche einbinden. Die einzelnen Rippensteine können mit Hilfe stählerner Haken, die durch die Kappe hindurchgehen und auf deren Oberseite verankert sind, befestigt werden.

Bild 4.27 Abplatzende Rippenvorderkante im Anschluss eines Rippenbogens an einen Schlussstein (Kapitelsaal, Kloster Fontenay/Frankreich).


4.2 Einordnung einer Schiffswölbung in das Gesamtsystem

219

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die Rippen in den seltensten Fällen das Tragverhalten des Gewölbes beeinflussen. Vielmehr hängt das Rippennetz mit einzelnen Zwangspunkten an der Gewölbeschale. Deren Verformung wird durch die globale Situation des Gewölbes in einem Langraum, an den gegebenenfalls Strebepfeiler, Strebebögen oder Seitenschiffe angrenzen, bestimmt und gleicht der Verformung eines rippenlosen Gewölbes. Für die Standsicherheit des Gewölbes als Ganzes sind die Rippen bedeutungslos. Selbst stark geschädigte Rippen rechtfertigen keine Standsicherheitsmaßnahme am Gesamtgewölbe, solange dessen Verformungen in den Grenzen bleiben, die man auch bei einem rippenlosen Gewölbe fordern würde. Vielmehr führt die Verkehrssicherungspflicht an einem Rippengewölbe im schlimmsten Fall dazu, dass alle Rippensteine an die Kappen zurückgehängt werden müssen, um einem Absturz zuvorzukommen. Sind Kantenabsplitterungen an einzelnen Rippensteinen vorhanden, sollte vor einer kraftschlüssigen Neuverfugung geprüft werden, ob diese nicht den nachteiligen Effekt weiterer Abplatzungen zur Folge haben wird. Ausgebröckelte Fugen dienen dem Rippennetz als Bewegungsfreiheitsgrade, die die Aufnahme der tages- und jahreszeitlichen Verschiebungen aus Temperaturschwankungen ermöglichen. 4.3

Einordnung einer Schiffswölbung in das Gesamtsystem des Gewölbebaus und Ertüchtigung

Im vorliegenden Kapitel wurde der Fall eines tonnen- oder kreuzgewölbten Langraums behandelt. Der Schub des Gewölbes des Langraums muss durch die Seitenwände bzw. vorgelegte Strebepfeiler aufgenommen werden. Manche Gebäudetypologien, z. B. barocke Wandpfeilerkirchen, verdanken ihre historische Popularität der effektiven und dauerhaft zuverlässigen Ableitung des Gewölbeschubs des weitgespannten Schiffes. Gewölbte Langräume sind häufig auch Bestandteil mehrschiffiger Bauten, z. B. einer Hallenkirche (mehrere etwa gleich hohe Schiffe) oder einer Basilika (überhöhtes Mittelschiff). Charakteristische Beispiele für beide Bauformen sind in Bild 4.28 dargestellt. Der linke Teil der Abbildung zeigt einen Blick entlang einem der Hauptpfeiler der Basilika Saint-Denis nach oben. Deutlich ist zu sehen, dass sich oberhalb der Seitenschiffe die Mittelschiffswand aufgrund des Gewölbeschubs der Hochschiffsgewölbe leicht nach außen neigt. Unterhalb der Höhe des Anschlusses der Seitenschiffsgewölbe ist die Neigung deutlich geringer, so dass an dieser Stelle ein auffällig sichtbarer Knick im Pfeiler entsteht. Derartige Beobachtungen kann man an fast jeder gotischen gewölbten Basilika machen, ganz unabhängig davon, ob ein Strebewerk aus äußeren Strebebögen und Strebepfeilern vorhanden ist oder nicht. Vor Ort ist die Verformung stets noch viel deutlicher zu sehen als auf jedem Foto. Manchmal kehrt sich die Neigung unterhalb der Seitenschiffsgewölbe sogar um und die Wand neigt sich im unteren Bereich nach innen. Im rechten Teil von Bild 4.28 ist ein Blick in das Seitenschiff der Kirche San Fortunato in Todi/ Umbrien zu sehen. Es handelt sich um eine Hallenkirche mit gleich hohen, jedoch sehr unterschiedlich breiten Schiffen. Besonders beim zweiten Pfeiler fällt im Vergleich mit der geringeren Neigung der anderen Pfeiler dessen starke Neigung nach außen auf. In allen Jochen hat man versucht, die Schiefstellung der Pfeiler durch Strebebögen unterhalb der Seitenschiffsgewölbe aufzuhalten. Die Ursache der


220

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen

Bild 4.28 Wirkung des Gewölbeschubs auf den Unterbau. Links: Basilika; in Höhe des Angriffspunktes des Schubs des Seitenschiffsgewölbes ist ein Knick im Pfeiler zu erkennen (Saint-Denis); rechts: Hallenkirche mit sehr unterschiedlich breiten Schiffen. Aufgrund des größeren Schubs des Mittelschiffs neigen sich alle Pfeiler mehr oder weniger stark nach außen (San Fortunato, Todi/Umbrien).

Schiefstellung ist in der sehr unterschiedlichen Größe des Schubs aus dem sehr breitem Mittelschiff und den sehr schmalen Seitenschiffen zu suchen. Eine derartige Schiefstellung ist ebenfalls bei fast allen Hallenkirchen in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße festzustellen. Wenn die Schiefstellung nicht zunimmt, ist sie kein Anlass zum Eingriff. Aufgrund des langsamen Erhärtens der historischen Mörtel hat sich die Schiefstellung oftmals schon in den Jahren unmittelbar nach Einwölbung ergeben. Auch die Strebebögen in Bild 4.28 rechts sind fast bauzeitlich. Schlechte Gründung oder bindiger Boden lassen die Situation unausgeglichenen Gewölbeschubs allerdings manchmal zum Problem werden. Die Darlegungen zum Tragverhalten von Bögen und gewölbten Langräumen verdeutlichen, dass solche Systeme wie die in Bild 4.28 dargestellten positionsweise durchgerechnet werden können: Die Gewölbe verwandeln sich durch Riss- bzw. Gelenkbildung in statisch bestimmte Teiltragwerke. Deren Auflagerreaktionen werden mit dem Traglastverfahren ermittelt und auf den Unterbau angesetzt. Größe und Angriffspunkt der Gewölbelasten ergeben sich aus der Mechanismusanalyse. Die Pfeiler und Wände des Gewölbebaus sind dann wiederum statisch bestimmte Kragarme, die am unteren Ende in das Fundament eingespannt sind. Diese Kragar-


4.2 Einordnung einer Schiffswölbung in das Gesamtsystem

221

me können für sich nachgewiesen werden. Maßgeblicher Lastfall ist nahezu immer der Lastfall Eigengewicht mit Wind. Vor allem bei gotischen Bauten liefern die hohen und großen Dächer und die schlanken und hohen Außenwände erhebliche Windlasten, die auf der windabgewandten Seite des Bauwerks in dieselbe Richtung wirken wie der Gewölbeschub. Eine interessante Frage ist nun noch, ob bei der Berechnung derartiger Gewölbebauten für alle Gewölbe – für die des Seitenschiffs genauso wie für die des Mittelschiffs – der Zustand „tendenziell nachgebende Widerlager“ angenommen werden soll oder nicht. Oftmals findet man die Aussage, das Seitenschiffsgewölbe werde durch den Schub des Mittelschiffs zusammengedrückt, befinde sich also im Zustand „tendenziell zusammenrückende Widerlager“ und weiche nach oben aus. Der Verfasser des vorliegenden Werkes ist der Auffassung, dass diese Situation weitaus seltener auftritt, als behauptet wird. Sie kann sich nur dann einstellen, wenn die Außenmauer des Seitenschiffs wesentlich steifer ist als die übrigen Pfeiler. Diese Situation ist nicht sehr wahrscheinlich. Da die Auflast der Binnenstützen meist höher ist als die der Außenstützen, ist die Exzentrizität der Last in diesen Stützen auch nicht größer als bei den Außenwänden. Bei genauem Hinsehen zeigt sich meist auch im Seitenschiff ein durchgehender Scheitelriss auf der Gewölbeunterseite. Genauen Aufschluss über die Situation kann nur eine exakte Nachmessung der Schiefstellungen der Binnen- und Außenstützen bringen. Ist die Differenz zwischen der Kopfauslenkung der Innen- und Außenstützen tatsächlich negativ, so sollte man für die Bemessung der Außenwände den maximalen Schub der Seitenschiffsgewölbe ansetzen. Für alle anderen Bauteile liegt der Ansatz des minimalen Schubs auf der sicheren Seite. Die Frage ist nun, wie man den „maximalen Schub“ eines Tonnengewölbes mit Stichkappen oder eines Kreuzgewölbes bestimmt. Der Zustand „tendenziell zusammenrückende Widerlager“ wird für Tonnengewölbe mit Stichkappen und Kreuzgewölbe durch die Traglastanalyse nicht abgedeckt. Mangels Beobachtungen an real existierenden Gewölben ist es schwierig, zu beurteilen, welche Mechanismen sich einstellen. Der Sabouret- oder Schildbogenriss wird sich bei zusammenrückenden Widerlagern schließen und die Schildkappen werden für die Haupttonne als eine Art „Strebepfeiler“ wirken. Da auch in einschlägigen Berichten über tatsächlich nach oben ausweichende Gewölbe (z. B. in den äußeren Seitenschiffen des fünfschiffigen Doms zu Augsburg, vgl. [Barthel/Maus/Jagfeld/Kaiser 2010]) keine Details zu den entsprechenden Mechanismen mitgeteilt werden, wird vorgeschlagen, den Schub für die Situation tendenziell zusammenrückender Widerlager in solchen Fällen auf der sicheren Seite liegend anhand der Tonne unter Vernachlässigung der Schildkappen bzw. Stichkappen zu ermitteln. Die Untersuchungen des vorliegenden Kapitels rechtfertigen es in vielen Fällen, das Tragverhalten der Gesamtstruktur an einem ebenen Querschnitt durch den mehrschiffigen Bau zu untersuchen. Der Querschnitt wird durch die Pfeiler und Gurtbögen gelegt. Diese Art der Analyse hat eine lange, bis ins 19. Jh. zurückreichende Tradition. [Ungewitter/Mohrmann 1890, Bd. 2, S. 331– 404] untersuchen eine Vielzahl von Gebäudetypologien in den Lastfällen Eigengewicht und Eigengewicht mit Wind. Diese Analysen haben auch heute noch weitgehend Gültigkeit und können angewendet werden. Nur in Ausnahmefällen wird


222

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen

sich die Herstellung eines räumlichen Finite-Elemente-Modells empfehlen, zumal dessen nichtlineare Berechnung eine Fülle neuer, schwieriger Probleme aufwerfen und letztlich an der Grundaussage der Analyse wenig ändern wird. Solange die Verformungen insgesamt kein besorgniserregendes Maß erreicht haben, sind auch die Risse im Gewölbebau kein Problem. Ist die Schiefstellung der Mittelschiffspfeiler oder -wände jedoch so groß, dass tatsächlich keine ausreichende Sicherheit gegen Einsturz mehr gegeben ist (Schiefstellung, Bodenpressung in der Fundamentsohle), so führt an einer Ankerung des Mittelschiffes mit dem Ziel der Verringerung (nicht kompletten Aufhebung) des Schubs kein Weg vorbei. Auch die Seitenschiffsaußenwände können durch den erhöhten Schub in Gefahr geraten. In diesem Fall müssen die Anker über die gesamte Breite des Gewölbebaus geführt werden. Bei allen Ankern ist dafür Sorge zu tragen, dass die Spannkraft nicht zu stark durch Temperaturschwankungen beeinflusst wird: Dazu kann die Führung innerhalb des temperierten Innenraums ebenso ausreichen wie eine hinreichend starke Vorspannung. Schlaff durchhängende Anker sind wirkungslos und können im schlimmsten Fall noch nicht einmal einen Einsturz verhindern. Anker sind also wenigstens mit einer Kraft vorzuspannen, die durch Temperaturschwankungen nicht gänzlich abgebaut werden kann. Vom Innenraum aus sichtbare Anker (Bild 4.29) sind in Deutschland leider bis heute wenig populär und werden von Denkmalpflegern oft abgelehnt (vgl. [Rehm/Barthel/ Maus 2012, S. 359]). In Italien sind hingegen in fast allen historischen Gewölbebauten horizontale Anker vorhanden, die die beiden Widerlager der Gewölbe miteinander verbinden. Manchmal liegen die Anker auch etwa auf Höhe der beiden „Bruchfugen“ des Gewölbes. Diese Anker sind in der Mehrzahl der Fälle historisch und oft bauzeitlich. Im Erdbebenland Italien sind derartige Anker sicher dringender notwendig als in Deutschland. Ihre Häufigkeit spricht dafür, dass das Material Eisen in Italien in vorindustrieller Zeit leichter zu beschaffen war als in Deutschland. Schon 1621 waren dem italienischen Naturwissenschaftler Bernardino Baldi die verschiedenen Möglichkeiten, derartige Anker anzuordnen, wohlvertraut: „Um diesem Problem

Bild 4.29 Historischer Gewölbeanker (17. oder 18. Jh.) in der 1625 erbauten Pfarrkirche von Dachau.


4.2 Einordnung einer Schiffswölbung in das Gesamtsystem

223

zu begegnen, haben sich die erfahreneren Baumeister verschiedene Lösungen entwickelt: [... dicke Widerlagermauern ...] Des Weiteren verbinden sie Widerlager mit Widerlager durch dort befestigte eiserne Schlaudern sehr wirkungsvoll. [...] Ich allerdings halte es für noch nützlicher, die Anker [...] im unteren Drittelspunkt der Bogenschenkel anzuordnen [...]. Die guten Architekten bringen die Anker jedoch selten auf dieser Höhe an, weil sie der Auffassung sind, dass sie dort die Schönheit des Bauwerks beeinträchtigen [...]. Schließlich kann das Problem auch noch in einer dritten Weise behoben werden [... hölzerner Rahmen, der oben um das Gewölbe herumgreift].“ ([Baldi 1621, S. 108–110]; vgl. Bild 2.13). Die sichtbaren italienischen Anker nimmt der Besucher des Bauwerkes oftmals nicht bewusst wahr, sie gehören selbstverständlich zum Raumbild und sind sogar in Gemälden ab dem 15. Jh., die gewölbte Innenräume zeigen, oft dargestellt. In Deutschland hingegen erzeugt der Plan, sichtbare Anker in einen historischen Bau einzuziehen, meist heftigen Widerstand von Laien und auch von Denkmalpflegern. Dies führt dazu, dass dann über Möglichkeiten nachgedacht wird, die Anker unsichtbar über dem Gewölberücken zu führen. Soll ein Gewölbe, dessen Gewölbeschub durch die Unterkonstruktion nicht ausreichend aufgenommen werden kann, durch eine Konstruktion über der Gewölbeoberseite zusammengehalten werden, so ist eine biegesteife Klammer in Form eines Rahmens mit biegesteifen Ecken auszubilden. Die Füße des Rahmens müssen dann dort verankert werden, wo der Gewölbeschub angreift. Ausreichend steif ausgebildete Lösungen dieser Art wurden schon im späten 19. Jh. bei Neubauten realisiert [Breymann 1903, S. 305] (vgl. Bild 4.30). Derartige Klammern gehen bei Bestandsbauten fast zwangsläufig mit schwerwiegenden Eingriffen in den historischen Mauerwerksbestand einher. [Pieper 1983, S. 132] stellt konstruktive Varianten hierzu in einer Serie von Prinzipskizzen vor. Sollen die Umfassungswände selbst Teil der „Klammer“ sein, so sind sie in vertikaler Richtung (ggf. exzentrisch) auf Druck vorzuspannen, um die Biegemomente des Rahmens aufnehmen zu können. Die Ausbildung biegesteifer Ecken erfordert weitere, schräg angreifende Spannanker. Ein sehr biegesteifer Riegel muss über den Gewölbescheitel gelegt werden. Die Gefahr droht, dass bei solchen Eingriffen, die mit irreversiblen Maßnahmen einhergehen (Injektion von Verpressmörtel in die Wand, ggf. notwendige „Vernadelung“, usw.) die Gewölbe selbst und vor allem ein möglicherweise noch vorhandenes historisches Dachwerk in Mitleidenschaft gezogen werden. Des Weiteren sind stählerne Ankerungen im Dachraum einem weitaus höheren Risiko eines Brandes ausgesetzt als Anker im Inneren, unterhalb der Gewölbeschale. Aus allen diesen Gründen möchte der Verfasser an dieser Stelle ein dringendes Plädoyer für sichtbare Anker abgeben, getreu dem Motto: Das Problem ist dort zu beheben, wo es auftritt! Die Last sollte nicht auf Umwegen „spazieren geführt“ werden. Ein sichtbarer Anker ist wirksamer, ehrlicher und minimalinvasiver als jede Lösung oberhalb des Gewölbes! In Zusammenwirken mit einer Wiederherstellung oder Verbesserung der Ausmauerung oder Hinterfüllung der Gewölbezwickel bietet ein gut konstruierter Anker, der nahe dem Gewölbeansatz geführt wird, stets eine einigermaßen denkmalverträgliche Lösung. In Fällen, in denen bei historischen Bauten in Deutschland in zeitlicher Nähe zur Bauzeit Anker notwendig wurden, hat


224

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen

Bild 4.30 Klammerkonstruktion zum Abfangen des Gewölbeschubs oberhalb der Gewölbeschale [Breymann 1903, S. 305].

man diese ohne Bedenken im Rauminneren geführt, selbst in der Barockzeit, in der der Gewölbedekoration höchste Aufmerksamkeit zuteilwurde (Bild 4.29). Im vorliegenden Kapitel nicht behandelt wurde ein einzelnes Kreuzgewölbe, das nicht Teil einer Gewölbereihe ist. Im Fall des einzelnen Gewölbes können die vier Widerlager auch in diagonaler Richtung ausweichen. In diesem Fall bilden sich im mittleren Bereich des Gewölbes vier Risse, die ein übereck gestelltes quadratisches Feld aus dem Scheitelbereich des Gewölbes isolieren (vgl. Abb. bei [Pieper 1983, S. 50]). Der Fall einzelner Kreuzgewölbe ist mit den im vorliegenden Kapitel vorgestellten Methoden nicht zu lösen. Zwar ist es in einem solchen Fall immer noch möglich, die Statik eines diagonal zum Grundriss, also parallel zu den Kreuzgraten verlaufenden, flachgespannten Bogens veränderlicher Breite zu rechnen. Die Übereinstimmung solcher Rechenannahmen mit der Wirklichkeit muss dann aber anhand detaillierter Rissbeobachtungen vor Ort oder mit Modellexperimenten (vgl. [Van Mele/McInerney, DeJong, Block 2013]) überprüft werden. Der Fall „einzelner“ Kreuzgewölbe tritt vor allem bei quadratischen Räumen auf, die mit vier Kreuzgewölben überdeckt sind, die sich auf eine gemeinsame Mittelsäule stützen. Auch in solchen Fällen ist eine sichtbare Ankerung jeder anderen Lösung vorzuziehen.


BESTELLFORMULAR Stück

Fax: +49 (0) 30 470 31 - 240

Bestell-Nr.:

Titel

Preis* in €

978-3-433-02959-6

Statische Beurteilung historischer Tragwerke Band 1: Mauerwerkskonstruktionen

55,- Euro

906954

Gesamtverzeichnis Ernst & Sohn 2013/2014

kostenlos

Monatlicher E-Mail-Newsletter

kostenlos

bitte ankreuzen Liefer- und Rechnungsanschrift:

privat

geschäftlich

Firma

Ansprechpartner

Telefon

UST-ID Nr. / VAT-ID No.

Fax

Straße//Nr.

E-Mail

Land

PLZ

Ort

Vertrauensgarantie: Dieser Auftrag kann innerhalb von zwei Wochen beim Verlag Ernst & Sohn, Wiley-VCH, Boschstr. 12, D-69469 Weinheim, schriftlich widerrufen werden. Wilhelm Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG Rotherstraße 21, 10245 Berlin Deutschland www.ernst-und-sohn.de

Datum / Unterschrift *€-Preise gelten ausschließlich in Deutschland. Alle Preise enthalten die gesetzliche Mehrwertsteuer. Die Lieferung erfolgt zuzüglich Versandkosten. Es gelten die Lieferungsund Zahlungsbedingungen des Verlages. Irrtum und Änderungen vorbehalten. Stand: Juli2013 (homepage_Probekapitel)


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.