Mutations 2 Moving stills

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Rhythmen vorstellen“ können, die in den Bewusstsein am Werk sind. Die in „Mutations II“ ausgestellten Werke von Foto- und Videokünstlern zeigen Spuren des mal direkten, mal indirekten Einflusses all dieser Verschiebungen und Tendenzen der letzten dreißig Jahre. Es kann kaum überraschen, dass dies zu einer großen Vielfalt in den Praktiken, Verfahren und Herangehensweisen in beiden Bereichen, Video und Fotografie, führt, der Ausprägung jener individuellen und unverwechselbaren Schatten, auf die ich oben angespielt habe. Zeitlichkeit und Zeit-Raum werden nicht nur visuell, sondern auch akustisch hergestellt. Doch wenngleich die Tonspur normalerweise linear ist, also ein Kontinuum ab dem ersten Moment des Hörens darstellt, wurde auch sie dem Zweck der Fragmentierung und zeitlichen Remontage dienstbar gemacht. In einer Arbeit wie Christoph Brechs Opus 110a hören wir symphonische Musik, doch was vor unseren Augen das Videobild füllt, ist der Rücken einer Oberbekleidung (eines Fracks, wie wir versuchsweise annehmen mögen), in der wohl der Dirigent steckt – obwohl es sich ebenso gut um die simulierte Entsprechung eines Mannes handeln könnte, der symphonische Luftgitarre spielt.17 Die Wirkung ist die eines akuten Widerspruchs zwischen der visuellen Ebene dessen, was wir sehen, und der akustischen dessen, was wir hören, während uns die rhythmischen Bewegungen und Konfigurationen des Stoffs und der Nähte des Jacketts hypnotisieren. Im Verlauf dieser Wahrnehmung geht einem der Zusammenhang von Ton und Bild auf einer Ebene verloren; zugleich verbindet man sie auf einer anderen Ebene neu. Diese Erfahrung ist transitiv – sie ist in Brechs Werk weit verbreitet – ; das heißt, sie drückt eine Handlung des Subjekts auf das Objekt aus, erfordert aber ein direktes Objekt, um ihre volle Bedeutung hervorzubringen. 17 Es handelt sich um Christoph Poppen, der das Münchener Kammerorchester dirigiert; gespielt wird Schostakowitschs Kammersymphonie Opus 110a. Brech nennt die Arbeit eine „Studie zur visuellen Dynamik der Musik“. Zu betonen ist allerdings, dass dies rein äuSSerliche Angaben sind, die zu einem Verständnis der Arbeit nicht erforderlich sind; obwohl dieses Verständnis natürlich ein anderes sein mag, wenn der Betrachter mit dem Musikstück vertraut ist.

Dahinter steht die Annahme, dass der Betrachter das direkte Objekt ist, an das sie sich wendet. Das seit langem bestehende Verhältnis zwischen Musik und Video ist uns wohlbekannt, doch im Fall von Popmusikvideos ist die Wirkung normalerweise die einer bildlichen Verdeutlichung. Brech dagegen stellt uns ein Mindestmaß an Information zur Verfügung (das Video endet mit einer Einstellung auf die Partitur) und überlässt es dem Betrachter, die Arbeit zu vervollständigen; ja der Betrachter und die Rezeption durch ihn sind nun erforderlich, soll die Arbeit Bedeutung erlangen. Diese Strategie ist für viele heute tätige Videokünstler bezeichnend; das heißt, sie ist anti-illustrativ und wird oftmals in Begriffen der Post-Narrative ausgedrückt.18 Das heißt, sie analysiert nicht eine Narration oder die lineare Erzählung einer Geschichte im strukturellen Sinn einer Feststellung der Endergebnisse von Wahrnehmung a priori, sondern reizt zu und erfordert erweiterte Wahrnehmungen, die zur Vervollständigung der Arbeit beitragen. Dadurch kommen Zeit und Zeitinhalt des Betrachters in Antwort auf die Videoarbeit ins Spiel. Olga Chernyshevas Arbeit von funktioniert genau umgekehrt wie die von Brech. In ihrer Arbeit Windows sieht sich der Betrachter in die Rolle des unsichtbaren Voyeurs oder Spanners versetzt. In einer Reihe kurzer ausgeschnittener zeitlicher Einblicke durch nächtliche Fenster wird uns letztlich ein Lexikon des Alltagslebens präsentiert. Die Fenster sind banal und gewöhnlich, lassen an modernen Massenwohnungsbau denken, und die undurchsichtigen und unzulänglich beleuchteten Innenräume sind ordinär und in nichts auffällig. In Chernyshevas Videomomentaufnahmen aus dem Alltagsleben, die auf den Bildschirmen laufen, sieht ein Mann fern, tanzen drei Menschen im Kreis, spielt ein Mann allein Gitarre, bügelt eine Frau, ist ein Mann im 18 Die strukturale „Narratologie” wird traditionell mit einer Gruppe in Verbindung gebracht, die als russische Formalisten bezeichnet werden. Tzvetan Todorov (geb. 1939 in Bulgarien) prägte den Ausdruck und verweist auf das Vorbild Wladimir Propps (1895-1970). Siehe dessen Morphologie des Märchens (1928), München: Hanser, 1972.

Badezimmer und so weiter. Abgesehen von den Gewohnheitshandlungen, die hier ganz bewusst aufgerufen werden und in der Arbeit implizit enthalten sind, besteht keine direkte Verbindung zwischen den Fenstern außer einer vage typologischen. Die Zeitlosigkeit der Arbeit jedoch zeigt wenig an, das auf einen Ort oder Drehort deuten würde, an dem sich die gesehenen Ereignisse abspielen. Wurden sie gleichzeitig aufgenommen, zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen städtischen Räumen? Was wichtig wird, ist die einfache Tatsache, dass es Videobilder sind, und als verzeitlichte Bilder bringen sie den Betrachter als einen in den Kontext des unsichtbaren Voyeurs oder Spanners versetzten hervor. Wären es Standbilder oder Fotografien, so ergäbe sich kein solcher Eindruck einer Verstrickung des Betrachters. Die Mittler-Rolle des Mediums Video – was einer meiner Mitautoren in diesem Katalog ein „Pflegen des Dazwischen“ nannte – bestimmt nach wie vor die Videoproduktion. In den Arbeiten des israelischen Künstlers Ori Gersht mit den Titeln Big Bang und Pomegranate bedient sich die Aneignung des Stilllebens und der Blumenmalerei. In Big Bang ist der Bildschirm zunächst schwarz, ein pfeifendes Geräusch wird lauter, dann erscheint nach und nach ein Blumenstillleben in einer Glasvase, die sich an die Tradition niederländischer Genremalerei im siebzehnten Jahrhundert anlehnt. Das Ton-Bild und die Tonhöhe werden intensiver und ein Gefühl spannungsvoller Erwartung baut sich auf, bis die Blumen und die Vase schließlich explodieren. Die Bruchstücke gehen in einem Regen nieder und das Bild wird langsam dunkler, bis es ganz schwarz ist und die Videoschleife von vorne beginnt. Bei genauer Betrachtung ist überall in Gershts Werk ein eindringliches Gefühl persönlicher und politischer Identität und Biographie wahrnehmbar, und es dürfte kaum Zufall sein, dass er für das andere Video einen Granatapfel gewählt hat. In Pomegranate sehen wir einen perspektivischen Bilderrahmen und ein Stillleben bestehend aus einem aufgehängten Kohlkopf und einem Granatapfel, während zwei Kürbisse auf dem ruhen,

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