Leseproben

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Jan Volker Röhnert  Die Hingabe, endloser Kokon. Gedicht 2005

Nobody feels any pain … Ein Brief im Kasten genügte mir jetzt auszupacken. Soeben habe ich dich wiederentdeckt. Ohne einen Schritt zu gehen warst du neben mir, wie das in die Knochen geritzte Steinzeitalter plötzlich die Jäger umstand. Mit diesen Signalen wurden wir wach. Es geht um das Ganze, den Kanal der Sinne, der aus dem Moder der Kellertreppe, die zu meinem Schreibtisch führt, den Glamour destilliert, keine Einbahnstraße, sondern die luftige, dichte Röhre, in der jeder ohne Ende zu einem anderen wird: Um klar zu sehen, mußt du ständig den Standort wechseln. […] Du weißt, die Körper haben ein Gewicht, das sie hinunter zieht, und notwendig fallen sie ungeschützt – doch ein Engel stützt uns, mitten in der Luft, damit wir diese Gegenwart bewohnen können, den künstlichen Überzug der Dinge, den ich so sehr liebe, sobald die Menschen daraus verschwunden sind. Die alte Fabrikscheune steht leer, in der Woche übt eine Band dort den Blues: Can you stand the tune […]

Jan Volker Röhnert »Die Hingabe, endloser Kokon«, Gedicht, edition AZUR 2005, 80 S.,Klappenbroschur, 12,50 EUR, mit einem Nachwort des Herausgebers, ISBN: 3-931743-83-7 Achtung! Nur noch wenige Exemplare.


Jan Volker Röhnert  Notes from Sofia. Bulgarische Blätter 2011

Gegen das Gefühl von Unwirklichkeit, das diese riesenverglasten keimfreien vollausgeleuchteten Einkaufs»zentren« verströmen, sind wir im Westen- längst immun – da, wo alles von einem künstlichen Hochglanzfilm versilbert ist, gibt es keinen Instinkt mehr für den Kontrast von ›Natur‹ und ›Künstlichkeit‹; – aber wehe, die Risse dahinter werden sichtbar! In Sofia hingegen tritt man aus der Mall ins Freie hinaus, ist alles Riss, die Fassade gegenüber mit Flecken gelbgrauen- Verputzes überzogen, die Schornsteine und Dachziegel schief und auseinander klaffend, lichtlose Flure, vorhanglose dunkle Fenster, -Krater im Gehsteig, die Straßenbahnoberleitung schlägt Funken beim Vorüberrasen der Tastarme – das ist die Wirklichkeit der Stadt. Was die glitzernden Auslagen im Angesicht der nicht so konfliktfrei und für sich selbst existierenden Welt kreieren, ist ein Zuwachs an Melancholie, denn die Projektion von gelungenem Sex und Lebensglück durchs Kaufen und Tragen all der Gegenstände ist nie im -Leben einzulösen: Immer wieder wird man mit der Nase aufs harte schmutzige Straßenpflaster zurückgestoßen oder strandet völlig einsam unter einem Riesenplakat, welches »das perfekte Paar« anpreist. Denn dass die Dinge hinterm Glas der Mall kein Verlangen nach erlösendem Sex, der Bilderkitsch kein Bedürfnis nach dem »guten Leben« wecken, wird nur behaupten, wer über seine Melancholie die Maske des Zynismus stülpt. Das ist ja die Tragödie: Die Sehnsüchte, die die Mall wachruft, sind alle echt, doch was diesen durchsichtigen Glasort am Leben, das Geld am Fließen hält, ist zugleich die Quelle der Verzweiflung: dass sie alle unerfüllbar sind. Die Sehnsüchte der Mall sind mit dem, was wir als »Wirklichkeit« kennen, so wenig vereinbar wie der hellichte Tag mit neon ausgestrahlter Mitternacht. Jan Volker Röhnert »Notes from Sofia. Bulgarische Blätter«, edition AZUR 2011, 148 S., Klappenbroschur, 19,80 EUR, ISBN: 978-3-942375-04-7


Chris Edgar  Zuviel Gelächter in der Dunkelheit. Gedichte 2007

Lass doch die Gelassenen Sie wissen wo sie leben Und sind glücklich dort zu bleiben Geborgen in dem Wissen Daß der Zweck des Lebens auf Chacun pour soi und sui generis beruht Von außen kommend darfst du nicht Das feine Gleichgewicht zerstören das sie hält Ungehindert jeder in seinem oder ihrem Eigenen Dialekt und Mikroklima Es heißt daß Es in manchen Provinznestern Wie Nevers Sommers um die Mittagszeit Pechschwarz ist und nichts sich rührt Das reicht um einen stummen Schrei hervorzustoßen Um abhauen zu wollen Und nie zurückzuschauen Wir wissen daß alle Straßen in die Hauptstadt führen Brechen auf um wieder an der Lebensader der Nation zu zapfen

Chris Edgar »Zuviel Gelächter in der Dunkelheit«, Gedichte, aus dem Amerikanischen und mit einem Nachwort von Jan Volker Röhnert, edition AZUR 2009, 64 S., Klappenbroschur, 12,50 EUR, ISBN: 978-3-931743-03-1


Mathias Jeschke  Das Gebet der Ziege. Gedichte 2010

Eine Hand schon im Maul des Kalbs, saugt es dich täglich tiefer hinein in diese Landschaft, eben noch Festland, fast schon offenes Meer. Die quecksilbrige Fläche und das Wasser, das wie ein Fieber steigt und fällt, auch hier saugt es dich fest. Ein Traum, der nach dir greift. Wo die Sonne über die Ebene rollt, in der die Vögel ihre langen Schnäbel versenken, Bodenproben entnehmen oder den Grundwasserstand messen. In den Schlaf hinein die Klieep-Rufe im Watt, wo ganze Expertenkommissionen die Frage des Übergangs diskutieren. Mit vermutlich offenem Ausgang. Anders das blutjunge Leben des Kalbs und sein Wissen von einer anderen Welt. Auf zittrigen Beinen sucht es Halt. Sein trojanischer Blick.


Mathias Jeschke  Das Gebet der Ziege. Gedichte 2010

Kaum einer älter als Jünger, schildkrötenalt. Und während die Flut der Bewahrung die Steige ausspült, Flure und Räume entleert, bleibt im Herzen des Hauses der Rechner: Zwei Schränke mit Käfern, das entomologische Gewissen. Filigranes Chip- und Platinen-Chitin. Die Augen und Uhren des Lebens mit ihren Wimpern, Zeigern und Federn. Wer nichts mehr verliert, der kann es hören, ein leises, blinzelndes Ticken, subtil. Das Metrum der Schöpfung. So blickt sie uns an: Erjagte Zeit. Und während wir altern, ging Jünger voraus in den Garten, dem Panzer der Schildkröte nach.

Mathias Jeschke »Das Gebet der Ziege«, Gedichte, mit einem Nachwort von Arne Rautenberg, edition AZUR 2010, 80 S., Klappenbroschur, 14,90 EUR, ISBN: 978-3-942375-00-9 (= Blaue Reihe, Bd. 5)


Nancy Hünger  Deshalb die Vögel. Instabile Texte 2009

Vier Uhr morgens und wir schütteln uns aus wirren Träumen, schlüpfen in die Überhaut, den Fahrstuhl, das Drehkreuz, stehlen uns leise aus dem Hotel, weil wir immer noch auf der Suche und rastlos sind, weil es ein anhaltendes, schlafloses Begehren ist, für alle Vorstellungen und Erwartungen, auch die kühnsten, eine vage Entsprechung in der Welt zu finden. Und so stiegen wir den Hang hinauf und hinab, folgten dem Bogen der Mauer ums Rund der Stadt bis zum Damaskus-Tor, im Wettlauf mit der Sonne eilten wir die Treppen hinunter, eilten nach links und nach rechts, und auf der Geraden dann ein beschleunigter Schritt, der uns auf Haupt- und Nebenwegen, durch das Geflecht der steinernen Gassen, durchs Innere dieser verwinkelten Festung führte. Und wir würden erst wieder am Fuße des Tempelbergs ausatmen, einatmen wollen, weil es dieses uneinlösbare Versprechen gibt, dass die Sonne hier eine andere sei und auch ihr Aufgang, Abgang ein gleißendes Spektakel. Es ist gegen fünf, als das Licht – oder war es die siedende Luft – die Kanten der Häuser und Türme irisieren lässt, ein leichtes Augenbeben und schon glimmt ein Scheibchen Glutrotes an jenem Rand, an dem die Welt einmal zu Ende war, und Schicht um Schicht schält sich zaghaft aus dem Dämmer, bis das große Ganze eine Kugel scheint, ein glühendes kreisrundes Ding, noch einmal das Feuer, die siedende Luft, ein Zittern und Knistern: die Kanten sind geschliffen, die Augen stehen still, und ich weiß nicht zu sagen, sind es die Spitzen der Minarette, die goldenen Kuppeln und Bogendächer, die Vögel, die tumultuös in den Palmenköpfen zwitschern, oder ist es eine Frage des Lichts, des Himmels, eine


lange Weile geht das so, bis einer was sagt, sich traut, ein Wort durch die Stille zu stoßen, bis einer ruft: Komm doch! Gegen sechs wird alles verklungen sein, wenn die Touristen einfallen, die Geburtsrechtler und Gläubigen, die Pilger und Verlorenen, die Einarmigen und Blinden, die koreanischen Chöre und christlichen Wallfahrer, die Jungen und Alten, die Syrer, Libanesen, 48 Palästinenser, Amerikaner, Spanier, Armenier, Russen, die Allerherrgottskinder, und ihre kleinen und großen Wünsche in die Fugen schieben, ein bisschen­ Wehmut in die Ritzen stopfen. Und auch wir gehen nun, gehen durch die schlafenden Souks, die toten Gärten, entlang der schweren grünen Eisentore, nur noch eine Stunde und sie werden aufknospen, aufplatzen, dann gibt es kein Durch-, kein Entkommen mehr zwischen Perlen und Äpfeln, Kreuzen und Kippas und all dem wundersamen Zeug, und wir eilen zurück, verlaufen uns ein wenig, ganz absichtsvoll verdrehen wir die Köpfe, deuten nach links und rechts, oben und unten, folgen den schwindenden Schatten in die dunkelsten Winkel, den Katzen auf der Spur eilen wir die Treppen hinunter, eilen nach links und nach rechts, und auf der Geraden dann ein beschleunigter Schritt, der uns auf Haupt- und Nebenwegen, durch das Geflecht der steinernen Gassen, durchs Innere dieser verwinkelten Festung führt. So sag Jerusalem, welches Tor? Und welcher Weg? Denn der Hunger ist groß, solange nur alles fremd und verrätselt bleibt, solange hört es nicht auf, weil es ein großes uneinlösbares Versprechen gibt, an das wir ja alle glauben wollen.

Nancy Hünger »Deshalb die Vögel. Instabile Texte«, mit einem Nachwort von Gisela Kraft, edition Azur 2009, 80 S., Broschur mit Schutzumschlag, 14,00 EUR, ISBN: 978-3-9812804-8-7


Stephan Turowski  Glückwunsch zur Wunde. Gedichte 2010

Du kannst nicht das Buch lesen und gleichzeitig den Apfel schälen. Schau auch nicht aus dem Fenster, während das Nudelwasser kocht, der Schnee fällt auch ohne dich. Du denkst, wenn es dunkel wird, könntest du einfach das Licht anknipsen. Du hast noch nichts verstanden.

In die Seele Nun will ich leuchten, wie du es mich gelehrt hast, einen Stern an den Hüftknochen tackern und tanzen im Rhythmus des fallenden Schnees. Bin ich nicht mehr ich geworden? Ich scherze mit dem Vogel auf der Balustrade und lade mein Luftgewehr so lässig wie noch nie. Siehe, hauchst du durch den Hörer des Telephons mir in die Seele, ich mache alles neu.

Stephan Turowski »Glückwunsch zur Wunde«, edition AZUR 2010, 64 S., durchgehend zweifarbig, Broschur, 14,90 EUR, ISBN: 978-3-942375-02-3

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Stephan Turowski  Und jetzt bist du nackt. Gedichte 2006

Komm zu mir nachhause, ich bin über achtzehn und vollschlank. Ich lese gerne bei Kerzenlicht, dann kann ich die Bücher gleich anzünden. Die Wände habe ich schwarz gestrichen, so schlafe ich besser und träume nicht. Komm zu mir nachhause.

Natur Ich dachte, Natur, da will ich hin, an den Wurzeln reißen, Blut spucken, den Sternen winken, bis der Arzt kommt. Ich kam in den Wald, zog das Fell drüber, kletterte in den Bäumen, von den Spechten gegrüßt, von den Eichhörnchen gefürchtet, griff zur Liane, die nur ein Ast war, ich dachte, Natur, wie komme ich da wieder raus.

Stephan Turowski »Und jetzt bist du nackt.« Gedichte, mit einem Nachwort von Uwe Kolbe, Edition AZUR 2006, 64 S., Klappenbroschur, 12,00 EUR, ISBN: 3-931743-00-4 (= Blaue Reihe, Bd. 3)

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Sudabeh Mohafez  Das Zehn-Zeilen-Buch 2010

heute kam mauze an die küchentür. sie schnurrte kurz, kratzte, als wir nicht sofort öffneten, leise am holz, stolzierte schließlich durch die nun aufgezogene tür herein wie nofretete persönlich, ignorierte uns vollkommen abgrundtief komplett, schritt langsam durch unsre unterm tisch ausgestreckten beine hindurch zum wassernapf, rümpfte kurz die nase, weil er so gut wie leer war, trank ausgiebig, nachdem wir ihn, geplagt von schlechtem gewissen, gefüllt hatten, strich dann um den ofen, schnurrte erneut, jagte siebzehn sekunden lang ein unsichtbares etwas unter der spüle und sprang endlich mit einem einzigen eleganten satz auf deinen schoß. und als rené hereinkam, um sich einen mitternachtsimbiß zu bereiten, sagte er leise: na ihr drei? Lanzelot: Berlin-Neukölln flirrt über den boden: libellenschnelles räderrattern über groben asphalt. und trägt knieschoner und helm und t-shirt – schwarz, xxl, mit reznor-konterfei – und stürzt nicht. stürzt überhaupt nie. und weit gespreizte arme und wind und angewinkeltearme und sonne, und dreht sich hoch überm boden einmal um die eigene achse,und landet hinterm abgrund auf der anderen rampe, und lehnt sich zurück, kurz, sehr kurz, und hält die knie gebeugt, und richtet sich auf, und saust, braust ins tal, betontal, und hinten wiederhoch, und steht plötzlich still: als wär nie bewegung gewesen. und das fieberglas in der hand jetzt: als wär’s nie unter füssen gewesen. und sieht sich um, lächelt. und sein name sei lanzelot. und sein name sei robin. und sein name sei nizam aus dem fünften stock in der herrnhuter straße­ drei. Sudabeh Mohafez »Das Zehn-Zeilen-Buch«, edition Azur 2009, 112 S., Klappenbroschur, 14,50 EUR, ISBN: 978-3-9812804-6-3

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Tobias Grüterich  Harte Kerne. Aphorismen und Notate 2009 Lass dir nie sofort anmerken, dass du nichts zu verbergen hast.

Das Böse lässt sich nicht bestechen. Es bleibt böse.

Genugtuung ist die Schadenfreude der Defensiven.

Hinterhältige Beleidigung: jemandem etwas gegen seinen Willen hoch anrechnen.

Wer die allgemeine Naivität nicht teilt, weiß ein bisschen mehr – oder viel weniger.

Ehrliche Antworten erhalten wir nur ungefragt.

Ach wie gut, dass niemand weiß, dass niemand weiß.

Geheimniskrämer gewinnen offensichtlich.

Ungerecht wäre es, die Leichtgläubigen nicht zu betrügen.

Tobias Grüterich »Harte Kerne. Aphorismen und Notate«,mit einem Nachwort von Helge Pfannenschmidt, edition Azur 2009, 140 S.,Broschur mit Schutzumschlag, Fadenheftung, 14,00 EUR, ISBN: 978-3-9812804-1-8

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Elazar Benyoëtz Das Mehr gespalten. Einsprüche – Einsätze 2007 Blumige Sprache rührt, wie alles, was welkt

Dichtung – Sprachentführung

Satire – gerächte Sprache

Dichtung – die Beute ausgehungerter Wörter

Der große Rest zerfließt in Epik

Elazar Benyoëtz »Das Mehr gespalten. Einsprüche & Einsätze«, edition AZUR 2005, 204 S.,Broschur mit Schutzumschlag, Fadenheftung, 18,00 EUR, ISBN-13: 978-3-931743-01-7

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Clara Ehrenwerth  Absagen 2009

Mir reicht’s, ich fahre ans Meer. So fällt es mir ein auf dem Bahnhofsvorplatz, so drängt es sich mir auf an einem dieser Tage, an denen die Stadt nur aus Verrückten besteht, an denen dich jeder vergewaltigen will, Zehennägel in den Dönerzwiebeln liegen, alles sprungbereit am Bahnsteig steht, dich mitreißen will. Frankensteinig schlurft sich eine zerfetzte, hängende Masse voran, trägt die Plastiktüten vom Vorjahr auf, schiebt sie zwischen die Aktenkoffer, die Laptoptaschen, die Polypoliturschuhe, Gossengeruch und Dünkelwolken gleiten aneinander vorbei, ineinander über, man lunst sich verächtlich auf eine Stelle neben dem Ohr, die Augen verkleistert und fadenscheinig, und allen, allen trieft Burgerfett von den Fingern und Mundwinkeln: Mir reicht’s, ich fahre ans Meer, schaue am Fahrkartenautomaten schon, wann der nächste Zug nach Bremen fährt, Bremen, erstmal Bremen, Bremen und dann ans Meer. Während ich an der Drogeriekasse eine Zahnbürste, ein Deo, einen Kamm und ein waschlappengroßes Handtuch zahle, sende ich eine SMS an Martin: Mir reicht’s, ich fahre ans Meer, und da fährt schon der Zug, und da sitze ich schon, sitzen auch die Verrückten, aber nicht mehr lange, ihr denkt euch ein Yeah zu eurem Feierabend, ihr denkt euch ein Bier und eine schweigende Frau, aber ich, ich fahre jetzt ans Meer. Es ist März, es gibt ein paar Wolken, es ist mir egal, ich fahre ans Meer und kenne nicht den Wetterbericht, und da sage noch mal einer, ich sei nicht der Typ für ein Abenteuer. In Bremen kaufe ich mir einen asiatischen Nudelschlamm und schaue, wohin die Züge fahren. Mehrere Züge fahren ans Meer.

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Clara Ehrenwerth  Absagen 2009

Die Züge sind meine Freunde, denke ich mir, ich denke mir: Den Satz werde ich mir merken, er wird irgendjemandem gefallen. Ich steige in einen Zug mit der Digitalaufschrift Nordenham – in Deutschland ist das Meer immer oben, ich mag Deutschland: Wo eine Endhaltestelle mit Nord beginnt, geht der Bahnhof direkt in den Strand über, werden die Rillen im alten Pflaster des einzigen Bahnsteigs mit Sandkörnern geschlossen, treiben sich erste Muschelschalensplitter durch die Flip-Flops der Anreisenden, so muss es sein. Natürlich habe ich keine Ahnung vom Meer, aber wer hat das schon. In der gegenüberliegenden Sitzgruppe sitzt eine fröhlich erschöpfte Frau, die sich und die drei freien Plätze ganz mit einem Großeinkauf zugebaut hat, neben vier Tüten voller Lebensmittel mehrere Blumentöpfe, eine Playmobilburg, ein Kopfkissen – mindestens zwei bestechende Indizien für die Einödigkeit des Ortes, den wir anfahren: Man hat dort keine Läden. Man hat dort keine Autos. Man hat dort wohl nur ein kleines Haus mit Strandzugang und ein Schiff und drei Kinder. Und schon wird das Land flach, flacher, ganz flach, ein Fluss. Eine Kuh. Die Bäume. [...]

Clara Ehrenwerth »Absagen«, edition Azur 2009, 36 S., 4 farbig bedruckte Faltbögen mit Gummiband, 6,00 EUR, ISBN: 978-3-9812804-5-6

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Julia Schoch  Steltz & Brezoianu. Ein Mosaik für Leidenschaftliche 2007 Steltz und Brezoianu hatten den Abend mit einem befreundeten Paar verbracht. Nachdem der Mann und die Frau wieder gegangen waren, wurde Brezoianu bedrückt. Offenbar verfliegt die Liebe­ mit der Zeit, sagte er nachdenklich. Ihr erster Kuß war, wie wenn jemand einem andern eine Gabel ins Gesicht rammt. Inzwischen gleicht Küssen dem Flattern eines Fahnenstoffs zwischen ihren Gesichtern, und die Gabel benutzen sie zum Essen! Verkehrte Welt, meinte Steltz aus der Badewanne heraus und reichte Brezoianu mit einer stummen Aufforderung die Rückenbürste.

Ersatzhandlungen Als Steltz und Brezoianu sich im Erdgeschoß eines Kaufhauses mehr als heftig küssten, fragte ein Vorbeikommender empört: Was machen Sie denn da? Ach, entgegnete Brezoianu, ohne Steltzens­ Lippen aus den Augen zu lassen, wir überbrücken bloß die Zeit bis zur nächsten Revolution.

Julia Schoch »Steltz & Brezoianu. Ein Mosaik für Leidenschaftliche«, mit Zeichnungen von Sibylla Weisweiler und einem Nachwort von Ilma Rakusa, edition Azur 2007, 64 S., Hardcover, 14,50 EUR, ISBN: 978-3-9812804-9-4

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www.edition-azur.de info@edition-azur.de Gestaltung: Kraft plus Wiechmann / www.kplusw.de


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