Leseprobe: Petr Hruška: Irgendwohin nach Haus. Gedichte

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Irgendwohin nach Haus



Petr HruĹĄka

Irgendwohin nach Haus

Aus dem Tschechischen von Martina Lisa mit Kerstin Becker


Das unergründliche Streben der Menschen ist von düsterer Schönheit. Wie sich in ihnen immerzu etwas regt, wie sie sich für etwas, nach etwas oder jemandem strecken, bücken und wieder aufrichten, wie sie dabei atmen, fluchen und vor Zartgefühl zittern. Wie sie den Abend öffnen und in ihn hineinschauen, wie sie in die Dunkelheit treten, eher hilflos als furchtlos, und wie sie aus der Dunkelheit zurückkommen, mit einer besonderen Kühle um die Schultern. Wie sie trinken, wie sie direkt aus der Flasche trinken, und in ihrem Kopf im Nacken liegt die verstummte Welt genau wie der närrische Protz des Moments, wie sie trinken und in sich hineinlauschen, wie das Getrunkene herunterstürzt. Wie sie nachts immerzu hin und her huschen, abwechselnd aufs Klo schlurfen, verschiedene Schnüre und Riegel ausprobieren und dann auf die anderen schauen, die Schlafenden mit ihren nackten Nieren. Wie sie auf einmal erkennen, dass sie niemanden haben, wie sie auf einmal begreifen, dass jemand da ist. Wie sie mit dem Auto rasen, einsteigen und aussteigen, geheimnisvoll verbunden mit denen, die den Weg nicht kennen. Wie sie über die Blauverschiebung der Andromedagalaxie reden, die sich auf uns zubewegt, geheimnisvoll verbunden mit denen, die dieses Wunderwerk nie sehen werden, doch währenddessen zusammen sind.

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Auch wie sie vor Schreck erstarren, weil sie ihre Hände in etwas gesteckt haben und nicht mehr zurückkönnen, sie haben etwas viel zu Großes genommen, was sie weder tragen noch fallen lassen können, und so, in der lächerlichen Stellung des Skianfängers, spüren sie die kräftezehrende Vergeblichkeit des eigenen Tuns. Wie sie dranbleiben wollen, selbst um den Preis von Lügen, törichten Moden, Telefon- oder Bankverbindungen, damit sie um Gottes willen nicht allein sind, wenigstens einen Moment. Wie sie sich bei den Kindern verkriechen, bei ihrem Urvertrauen und den dünnen Unterarmen, inmitten des Trubels von grundanständigen Reklamen, Versicherungen und Abgeordnetenhäusern. Wie sie sich in die suburbane Dürre der Stadtrandwälder verkriechen, damit sie um Gottes willen allein sind, wenigstens einen Moment. Wie sie es schaffen, sich einzurollen, einzumummen und einen Moment Gottlosigkeit auszuhalten, wie sie das Streichholz anzünden, in Handschuhen, und dann wieder Schnaps besorgen. Von diesem Streben, von diesen Provisorien, fragilen Flößen und blassen täglichen Feuern, davon, wie der Mensch das eigene Unglück nicht bemerkt und sein Hemd zuknöpft, davon kann ich meine Augen nicht lassen.

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I. Zuhaus


Der Schuh

Zieh den Schuh aus. Die allerletzte Kindergröße. Auf dem Klebstoff die Anleitung in lächerlich kleiner Schrift, die musst wohl wieder du lesen. Wir beide gebeugt über dem verdreckten nassen Schuh. Rauen die Gummisohle auf und lassen im Riss die Chemie wirken. Begreif doch, auch unsere Körper sind aus Sauerstoff und Kohlenstoff uralter Sterne. Ferner, vereinsamter Sterne. Du redest von Mama. Komm, leg den Finger auf die Schlaufe, die geklebte Sohle zurren wir mit Senkeln fest. Rasende Nacht. Hastig verschnürter Schuh. Die allerletzte Kindergröße.

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Bota

Sundej tu botu. Poslední dětské číslo. Na lepidlu návod výsměšně malým písmem, budeš ho muset přečíst ty. Skloněni nad zasviněnou mokrou botou. Zdrsníme povrch pryže, necháme v prasklině pracovat chemický proces. Uvědom si, že i naše těla jsou z kyslíku a uhlíku pradávných hvězd. Dalekých, osamocených hvězd. Mluvíš o mamince. Tak polož prst na smyčku, slepenou podrážku stáhneme tkanicemi. Svištící noc, bláznivě svázaná bota. Poslední dětské číslo.

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Tochter

Ich hoffe, ich werd auf dem Weg zum Bäcker überfahren! schriest du in die Stube hinein Die ganze Zeit bis du zurückkamst stand das Leben in mir starr in dorischer Ordnung Jetzt setz dich hin nimm Butter hart und weiß wie die Wand und sei bereit – wir werden lange essen

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Dcera

Doufám, že mě po cestě pro ten chleba srazí auto! křikla jsi dovnitř domácnosti Celou tu dobu než jsi přišla stál ve mně život stroze v dórském slohu Teď sedej ke stolu ber máslo tvrdé a bílé jako stěna a připrav se – budeme dlouho jíst

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Meine Mutter

Blut sah sie sich immer sehr bedachtsam an. Nein sie schaute nicht weg, aber auch nicht einfach nur hin, neugierig oder sachlich. Menschen standen auf Linoleum, hielten Hände, saßen auf Liegen, irgendwo lief es, und meine Mutter wischte es fort, sagte etwas und schaute so bedachtsam, als könnte alles jederzeit kippen in eine schlimme Lächerlichkeit. Meine Mutter ist sehr müde, man findet sie hinten, sie liegt bei den Nachmittagsserien.

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Moje matka

Na krev se vždycky dívala opatrně. Ne, neubíhala pohledem, ale ani nepřihlídala, zvědavě nebo věcně. Lidi stáli na linu a drželi si ruce, seděli na lehátku, někde to teklo a moje matka to otírala, něco říkala a dívala se tak opatrně, jako by mohla všechno snadno zvrhnout do hrozné směšnosti. Moje matka je velmi unavená, najdete ji vzadu, leží u odpoledních seriálů.

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Verstummt

Das ist er. Manchmal kommt es vor. Mutismus, sagen die studierten Leute, ein plötzlicher Verlust der Sprache. Von heute auf morgen, man zieht die Arme heran, formt den Mund zum Strich, lässt kein Wort mehr heraus, kein Schluchzen, kein Seufzen. Statt des Lachens nur manchmal ein schiefes Grinsen. Weinen ohne Tränen. Nicht einmal im Traum spricht er. Er steht bei den anderen, sticht hervor wie ein Schreck oder eine Drohung. Ursache unbekannt. Die Ärzte empfehlen nicht zu drängen, und die anderen werden meist heftiger, schwenken die Arme und reden jetzt lauter und mehr, auch für ihn.

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Mlčící

To je on. Stává se to. Mutismus, říkají tomu studovaní lidé, náhlá ztráta řeči. Ze dne na den, člověk přitáhne ruce k tělu, ústa promění v linku, už nevydá slovo, vzlyk, ani vzdech. Místo smíchu jen výjimečně němé cenění, pláč bez slz. Nemluví ani ze snu. Postává při ostatních celý podélný jak úlek nebo hrozba. Příčina neznámá. Doktoři radí nenaléhat, a tak ostatní většinou jen přidají na síle, rozhazují ruce a mluví teď úporněji a víc, i za něho.

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Kammer

Einst begegnen wir uns in der dämmrigen Kammer erwischen einander – mit Gänseblut und Petroleum, in geschürzten Hemden, mit den sich abzeichnen­den Geschwüren von Kartoffeln. Gekommen um zu ­nehmen. Ertapptes Atmen, ein dünner Lichtfaden vom undichten Fenster liegt beschämend zwischen uns.

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Komora

Jednou na sebe narazíme v přítmí komory, navzájem dopadeni — s husí krví a petrolejem, vyhrnutými košilemi na doma, rýsujícími se nádory brambor. Přišli jsme brát. Je slyšet přistižené oddechování, hubená nit světla z netěsnícího okénka trapně leží mezi námi.

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Vollmond

Für morgen ist alles geklärt sie schauen sich an die Nacht drängt heran wie ein Tanker über den Häusern Sie stehen auf gehen schlafen beide durchfährt es so vollkommen liegen auf der Decke die Hände des kranken Kinds

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Úplněk

Zítřek je domluven podívají se na sebe noc se hrne jako tanker nad baráky Vstávají a jdou si lehnout s oběma trhne jak úplně jsou položeny na peřině ruce nemocného dítěte

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Sonntag

Der Vater so hager da oben neben dem großen Kalender mit Rehen Die Treppe hinuntersteigend reichte mir Mutter Suppe im Glas wie eine Blinde starrte die Möhre daraus auf ihre viel zu kräftigen Hände

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Neděle

otcova hubenost tam nahoře vedle velkého kalendáře se srnami cestou se schodů mi matka předávala sklenice s polévkou mrkev z nich slepecky zírala na její přehnaně silné ruce

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7 8/9 10/11 12/13 14/15 16/17 18/19 20/21 22/23 24/25 26/27 28/29 30/31 32/33 34/35 36/37 38/39 40/41 42/43

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I. Zuhaus Der Schuh / Bota Tochter / Dcera Meine Mutter / Moje matka Verstummt / Mlčící Kammer / Komora Vollmond / Úplněk Sonntag / Neděle Einen ordentlichen Thunfisch / Pořádného tuňáka Beim Bücken / Při sehnutí Letztes Jahrhundert / Minulé století Engel / Anděl Er war froh / Měl radost Sitzen / Sezení Während wir in der Küche sitzen / Zatímco jsme v kuchyni * * * (Und ich sah ...) / * * * (A viděl jsem ...) Nacht / Noc Zuhaus / Doma Baum / Strom

II. Schon wieder wir Auch Liebe / I láska Autos rollen in das Schiff / Auta vjíždějí do lodi Deck in der Normandie / Paluba v Normandii Nachtlager / Nocleh Diebstahl / Krádež Alkenvögel /Alky Milchlinge / Ryzce Opel / Opel Kratzen / Škrábnutí Nieren / Ledviny Man sieht noch lange / Je vidět dlouho Schabbes / Šábes


70/71 72/73 74/75 76/77 78/79

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Vermutlich / Podle všeho * * * (Aus dem nassen Lappen des Vorfrühlings ...) / * * * (Z mokrého hadru předjaří ...) Vor dem Baden / Před koupelí Schon wieder wir zwei / Zase my dva Strichziehen / Škrt

III. Ringsum Ostrava Ringsum Ostrava (Ich habe recht ...) / Kolem Ostrava (Mám pravdu ...) Gebell / Štěkot Ostrava – Marienberg / Ostrava – Mariánské Hory Partisanenplatz / Partyzánské náměstí Juli (Nachts am Schlafzimmerfenster …) / Červenec (U okna noční ložnice ...) Juli (Dieser ganze Schnaps ...) / Červenec (Toho chlastu ...) Juli (Der grüne Pullover ...) / Červenec (Zelený svetr ...) Juli (Mittag Essenszeit ...) / Červenec (Bude oběd ...) Juli (Nach einer Regenwoche ...) / Červenec (Po deštivém týdnu ...) Juli (Da unten Ostrava ...) / Červenec (Dole Ostrava ...) Gegen Abend / Navečer Brennstoff / Palivo Basecaps / Kšiltovky Ringsum Ostrava (Scheißwichser ...) / Kolem Ostrava (Kurvy zasraný ...)

IV. Die Tür ging immer von alleine zu Tür / Dveře Vögelchen / Ptáčci Der ganze Park / Veškerý ten parčík Meise / Sýkora


120/121 122/123 124/125 126/127 128/129 130/131 132/133 134/135 136/137 138/139 140/141 142/143

Ort / Místo Eine Reproduktion der Madonna von Raffael / Reprodukce Raffaelovy Madony Fünf / Pět Vor dem Klo / U Hajzlu Inversion / Inverze Nach dem Unglück / Po neštěstí Blumenladen in Livorno / Květinářství v Livornu Bank in Amsterdam / Banka v Amsterodamu Geschäft im Frankfurt / Obchod ve Frankfurtu Nackte Schultern / Nahá ramena Feuer / Oheň Du siehst / Uvidíš


Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert mit Mitteln des tschechischen Kultusministeriums. Die Übersetzerin bedankt sich bei der Mährischen Landesbibliothek Brünn (Moravská zemská knihovna v Brně) für die Unterstützung in Form eines Arbeitsaufenthaltes in Brno.

Erstausgabe © Petr Hruška © HOST – vydavatelství, s. r. o © für die deutschsprachige Übersetzung: edition AZUR, 2019 www.edition-azur.de Gestaltung: Kraft plus Wiechmann, Berlin Druck: PBtisk, Příbram ISBN: 978-3-942375-38-2


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