Grosseinsatz für die Kleinsten
So viel Liebe für Mikropflänzchen: Wie die Familie Amstutz winzigen Kräutern und Sprossen zum grossen Auftritt verhilft
Nina Kobelt
Vielleicht ist Ihnen das ja auch schon passiert: ein schönes Restaurant, ein hübscher Teller, ein gutes Essen mit einer herzigen Deko. Ein Blättchen oder eine Handvoll Sprossen. Und die schmecken so gut, dass sie sich wünschen, es gäbe noch mehr von dem Grünzeugs.
Microgreens, also Mikrokräuter, sind vor allem bei Hobbygärtnerinnen und -gärtnern sehr beliebt. Weil sie – die Pflänzchen –auf der eigenen Fensterbank gezogen kaum Pflege brauchen Microgreens sind Keimlinge, die einfachste Form von Pflanzen Man erntet sie jung, und sie sind deshalb so geschmacksintensiv (und gesund!), weil sie noch die ganze Energie in sich tragen, die eine Pflanze braucht, um gross zu werden
Frédéric Amstutz’ Fensterbrett ist ein wenig grösser als das in einer Privatküche. Ein Gebäude im Industriegebiet von Thun, im Vorraum eine Bar, ein Büro, keine Spur von Grün. Hinter einer schweren Tür dann aber das Pflanzenparadies: An den Wänden klebt Reflexionsfolie aus der Raumfahrt, der Geruch von Wald zuerst und dann von einem Treibhaus, je nachdem, in welchem Raum man sich befindet Die Firma Espro produziert als eine von wenigen in der Schweiz im grossen Stil Sprossen, Keimlinge und Mikrokräuter 120 Produkte sind es, Spektakuläres, zum Teil, Bekanntes und Überraschendes: Die Sonnenblume, das möchten wir vorausschicken, ist ein Hit Wir meinen die Blätter, auf denen wir begeistert herumkauen, sie schmecken erdig, ölig, sollen viel Eisen enthalten, was uns egal ist, und sie sind grossartig Weil Mikrokräuter grossartig sind. Minimaler Aufwand, sozusagen, mit maximalem Ergebnis Es sind kleine Geschmacksraketen. Spitzenköche lieben sie
Abnehmer sind Spitzenköche in der ganzen Schweiz
Vielleicht erinnern Sie sich auch an die Wattepads, auf denen man früher Kresse zog Auch Fréderic Amstutz, einst Landwirt, ging von diesem Experiment aus. Der Anfang war schwierig, aber er gab nicht auf und hat sich ein Reich geschaffen, in dem (fast) alles möglich ist In seinen Räumen kann er zum Beispiel fast alle klimatischen Bedingungen derWelt simulieren
Und den Sonnenauf- und -untergang Bei der Kresse blieb er allerdings nicht: Seit 30 Jahren zieht er alles Mögliche heran, Emmentaler Rottannen zum Beispiel, Amarant oder Piso Wie genau, konkret: auf

welchem Substrat, verrät er nicht Letzteres, Piso, verkauft sich übrigens blendend Es sind ErbsenMicrogreens, und sie schmecken ein bisschen scharf, ein bisschen nach Gurke und haben eine schon fast suchtähnliche Wirkung Espro beliefert hauptsächlich den Grosshandel. Und Spitzenköche in der ganzen Schweiz. Der Handel mit Mikrokräutern ist Trendsache. Sie hätten verschiedene Orte, an denen sie jeweils ablesen könnten, was gefragt sein werde. «Diesen Frühling drehten sie etwa durch wegen Basilikum», sagt Amstutz, «keine Ahnung, warum.» Vor Corona sei die Haute
Zwiebelsprossensuppe
Ablöschen mit 250 ml Weisswein und 1 l Gemüsebrühe auffüllen.
1 Lorbeerblatt 5 weisse Pfefferkörner dazugeben, 20 Min. köcheln lassen Durch ein Sieb passieren. 200 g Zwiebelsprossen hinzufügen, 5 Min. mitköcheln.
In einen Mixer geben und pürieren. 250 ml Rahm dazugeben, nochmals aufkochen, abschmecken, servieren.
Cuisine auf Amaranth abgefahren Noch früher auf Sprossen, doch die sind jetzt nicht mehr so in Dabei wären sie so schön anzusehen: Im Lärchenholzrahmen werden sie in die Küchen gebracht Das ist nicht nur nachhaltig (so ein Rahmen hält vier bis fünf Jahre), sondern auch recht praktisch für Köchinnen und Köche.
Espro ist ein Familienbetrieb, Vater Frédéric, Tochter Valérie und Sohn Alain führen ihn gemeinsam
Die Mutter ist Lehrerin, ist aber auch zugegen und besprüht Pflanzen und trägt Kisten herum, heute, an diesem Tag Anfang Juni.
Die anderen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter sind immer noch auf Kurzarbeit So kommt es, dass wir allein mit der Familie Amstutz durch den Betrieb laufen können
Und das ist ein Abenteuer! Wegen dieser Familie Begeistert wird da und dort ein Blatt abgezupft, «da, probier», alle kauen mit und erklären gleichzeitig, wie, wo, warum und wieso Ja, es sei manchmal «ein Gliir» bei ihnen (sagt Alain), während Valérie darüber redet, warum einige Sprossenrahmen schon fertig gepackt im Kühlraum liegen (weil sie sie morgens um fünf ausliefern muss und keine Lust hat, so früh noch alles parat
zu machen). Der Vater referiert über asiatische Lichtverhältnisse und darüber, dass er die Schweizer Gourmetwelt bestens kenne Man nimmt es ihm sofort ab Auch, weil er und seine Kinder die Ware selber ausliefern So was bindet Die Köche rufen auch schon mal an und fragen, ob Frédéric etwas ausprobieren könne. Stefan Wiesner etwa, der «Hexer» und Sternekoch aus dem Entlebuch, wollte «eine Pflanze, die es vor 10’000 Jahren schon gegeben hat» Drei Jahre tüftelte Amstutz, bis er sein Mikrokraut «Epicéa» geschaffen hatte.Besser bekannt unter dem Namen Fichte, sie «hat was von Zitronengeschmack, nur ein wenig harzig. Gut geeignet zu Frischkäse und Desserts», das steht in «Frédérics Info», die er zu vielen Pflanzen auf seinerWebsite angelegt hat Am liebsten würde er jeden Tag etwas Neues ausprobieren Epicéa, die Fichte, finden wir, schmeckt auch nach Wald und Moos und nach Geborgenheit
Das Saatgut kommt aus Italien und Polen, und das hat einen Grund: Um alles in der Schweiz anzubauen, wäre eine Anbaufläche in der Grösse des Kantons Bern nötig, sagt Frédéric Amstutz. Das bedauert er sehr Am liebsten würde er sowieso jeden Tag etwas Neues ausprobieren Das sagt jetzt sein Sohn, in seiner Freizeit ein Jäger, der alle Bäume des Waldes kennt, über ihn Und: «Vätu, unser Vater, sieht die Pflanzen irgendwie anders als andere. Er versteht sie.» Der Vater umschreibt derweil seine Kundschaft: «Pinzettenköche, die auch mit der Lupe arbeiten. Andere, die mit Sprossen eine schöne Deko machen Und jene, die einen Zitronenschnitz aufs Schnitzel werfen Das sind allerdings noch nicht unsere Kunden.» Die Familie Amstutz «liiret» nicht nur, sie geht auch mit recht viel Witz an ihre Arbeit.
Private kaufen noch nicht so viele bei ihm ein, zumindest nicht bewusst (seine Sprossen waren in der diesjährigen Migros-Frühlingssalatpackung zu finden).Weil man zurzeit noch persönlich vorbeikommen muss in Uetendorf. Bald aber soll der Versand via Website starten. Ein schöner Service, nur: Wie «Lentille», das Linsenkraut, schmeckt (nussig) oder die Fenchelkräuter (leicht nach Anis) weiss man dann noch nicht. Wobei das ja eigentlich auch wieder egal ist. Eine Kräuterrakete kann man sich auch so vorstellen.
Espro ist täglich geöffnet. Microgreens gibts auch in Gärtnereien und im Grosshandel.
Verschlungen
«Einfaches» vom Sternekoch
Worum geht es? Es ist immer wieder dasselbe: Man betritt eine Brasserie, liest die Speisekarte –und möchte sogleich «einmal alles» bestellen. Wer will schon auf die Artischocke mit dreierlei Dips verzichten, nur damit der Hunger für eine Bouillabaisse reicht? Oder aufs Ratatouille damit das Bœuf bourguignon noch reingeht? Dieses Kochbuch widmet sich über sechzig solchen Brasserie-Klassikern zeitgemäss interpretiert.
Wer steckt dahinter? Tim Raue ist einer der bekanntesten Köche Deutschlands, wegen seiner Fernsehauftritte, aber auch wegen seines asiatisch inspirierten Sternerestaurants in Berlin. Was weniger bekannt sein dürfte: In der Brasserie Colette – in Berlin, München und Konstanz – widmet er sich der französischen Küche
Typische Passage aus dem Vorwort: «Die Brasserie-Küche ist keine Produkteküche, sondern
eine Aromenküche Eine Küche bei der Gewürze, Garmethoden und das Geschick des Koches massgeblich an dem Gelingen des Gerichtes beteiligt sind. Mit wenigen Zutaten begeistern und satt machen, darum dreht sich alles.»
Nachgekocht haben wir …zwei Vorspeisen. Einen gebeizten Lachs mit Kapern-SpeckVinaigrette und eine Tarte Tomate. Wir mussten schnell merken, dass Grundkenntnisse im Kochen von Vorteil sind und diese Gerichte nicht kinderleicht zuzubereiten
sind Wenn im Rezept steht, dass man ein «Lachsfilet mit Zucker, Salz und weissem Pfeffer 3½ Stunden beizen» soll ist das (trotz vorhandener Mengenangaben) sehr rudimentär erklärt. Und die Zutatenliste für die Vinaigrette, die sowohl Bauchspeck als auch Lardo enthält, ist auffällig komplex. Einfacher dünkte uns die Tarte, wobei wir sie wahrscheinlich zu tief im Backofen platzierten – der obendrauf gesetzte Blätterteig war nach vorgegebener Zeit noch nicht knusprig Der Aufwand lohnt sich aber: Geschmeckt hat beides fantastisch!
Bebilderung: Natürlich überlässt Tim Raue – ausser bei den Selbstporträts vielleicht – nichts dem Zufall Man möchte jedes aber auch wirklich jedes abgebildete Gericht probieren.
Was fehlt im Buch? Uns ist vor allem das «zu viel» aufgefallen.
Die Mengenangaben sind so portioniert dass man jeweils statt vier ebenso gut acht Personen sättigen kann.
Für wen ist es geeignet? Hauptzielgruppe dürften Männer um die 40, 50 Jahre sein Sie lieben
die französische Küche haben schon einen leichten Bauchansatz und stehen am Wochenende gern mal ein, zwei Stunden in der Küche – mit einem Glas Champagner. Den Abwasch? Um den können sie sich jetzt wirklich nicht auch noch kümmern oder?

Tim Raue: «Rezepte aus der Brasserie»
Callwey-Verlag, 208 S., ca. 55 Fr
In der Rubrik «Verschlungen» testen wir regelmässig Kochbücher.