Die Grünen kommen

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Klein und fein: Mit diesen winzigen Tannensprösslingen zaubert Sternekoch Stefan Wiesner vom Restaurant Rössli in Escholzmatt den Wald auf den Teller.

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DIE GRÜNEN KOMMEN

Im Food-Bereich ist eine grüne Revolution im Gang. Die Kräuterküche ist nicht mehr länger nur die Spielwiese von Spitzenköchen: Nach den Gourmettempeln erobern die Botanicals zunehmend auch «normale» Restaurants – und Bars. Eine Feldforschung.

Ohne sie geht es nicht. Jedenfalls nicht in den Küchen von Ausnahmekönnern wie Andreas Caminada (Schloss Schauenstein in Fürstenau GR), Tanja Grandits (Restaurant Stucki in Basel) oder Stefan Wiesner (Gasthof Rössli in Escholzmatt-Marbach LU). Letzterer betreibt alchemistische Naturküche. Nur logisch, liegt sein Restaurant doch mitten im Unesco-BiosphärenReservat Entlebuch.

So erstaunt es nicht, dass der Sternekoch eines Tages mit einem besonderen Anliegen an Frédéric Amstutz gelangte: Er solle ihm etwas Essbares bringen, das es bereits vor 10 000 Jahren gegeben habe. Amstutz, Chef der Firma Espro, tüftelte drei Jahre lang. Dann lieferte er eine klitzekleine Rottanne, die sich wie ein Kraut verwenden lässt und intensiv nach Wald schmeckt. «Manche unserer Produkte sind weltweit einmalig», sagt der Kreateur. Tatsächlich pröbelt er schon seit

über 30 Jahren – inzwischen unterstützt von seinem Sohn Alain und Tochter Valérie. Das blieb in der Szene nicht unbemerkt: Familie Amstutz arbeitet mit vielen Schweizer Spitzengastronomen zusammen. Anfang 2020 bezog sie das neue Firmengebäude in Uetendorf BE, wo die gesamte Produktionshalle mit Nasa-Folie ausgekleidet ist und kein Sonnenstrahl hineindringt. Innen regiert Hightech, dank der sich Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Licht und Wind so regulieren lassen, dass jedes Klima der Welt simuliert werden kann. So «denken» die Kräuter und Sprossen, sie seien zu Hause beziehungsweise in ihrem natürlichen Lebensraum. Neben Sprossen gedeihen auf rund 700 Quadratmetern Millionen von Microgreens. Dank des regulierten Klimas wachsen diese nicht in die Höhe, sondern sie geben all ihre Energie in den Geschmack. Geerntet werden sie jung, denn im frühen Wachstumsstadium

SEPTEMBER 2020 | marmite professional 27 TEXT: SUSANNE STETTLER HERBS / FOOD

enthalten sie besonders viele Vitamine und Mineralstoffe. Am beliebtesten sind bei den Espro-Kunden derzeit die Mikrokräuter Veine, Piso, Shiso purpur, Zitronelle, Basilikum, Thaibasilikum und Amaranth. Dazu kommen Zwiebel-, Brokkoli-, Randen- und Rettichsprossen. Doch die Familie Amstutz sucht unablässig nach neuen Mikrokräutern – und so bereichern seit kurzem Lärche, Himalaya-Bäume, Buche, Vogelmiere oder Oxalis (Sauerklee) das Angebot.

Weltweiter Trend

Während Espro nur Frischware verkauft, hat sich Swiss Alpine Herbs in Därstetten BE auf getrocknete Kräuter und Gewürzmischungen spezialisiert. Doch auch sie bietet Exotisches aus der Schweiz. «Im Trend sind unser Alpen-Chili sowie Schweizer Curry-Mischungen. Salatkräuter und Dekor-Blütenmischungen laufen ebenfalls sehr gut», sagt Martin Lüdi, Geschäftsführer von Swiss Alpine Herbs. Zudem liege Ingwer im Trend. Bei Kräuter Lötsch – dem Schweizer Generalimporteur von Pfeffersack & Söhne – sind Ras el Hanout, Za’atar, Madras-Curry, Cumeo-Pfeffer aus Nepal, Urwald-Pfef-

fer aus Madagaskar, Hibiskusblütensalz, Zimtblüte und Murray River Salt besonders gefragt. Weltweit in sind erdige Aromen wie Kurkuma, Maca, Ginseng, Grüntee, Zimt, Hanf, Kardamom oder auch Ashwaganda (Schlafbeere).

Viele Gewürzmischungen enthalten den Geschmacksverstärker Glutamat, bei Swiss Alpine Herbs ist das allerding tabu. «Kräuter können Glutamat gänzlich und überall ersetzen», sagt Martin Lüdi. «Es fragt sich, warum es überhaupt eingesetzt wird. Die Gerichte werden mit dem Umami-Zusatzstoff geschmacklich künstlich aufgeputscht.» Ihre Kunden würden Wert auf Regionalität, Qualität und Ökologie legen. Dem schliesst sich Frédéric Amstutz an: «Kräuter kann man überall anstelle von Glutamat verwenden.» Dem Wunsch nach Regionalität kommt er während 365 Tagen im Jahr nach. Fabian Lötsch, Geschäftsführer von Kräuter Lötsch: «Glutamat kann ich niemandem empfehlen. Für eine ordentliche Gewürzmischung benötigt man jahrelange Erfahrung, Feingefühl, beste Rohstoffe in Bio-Qualität und Liebe – kein Labor der Lebensmittelindustrie.»

Frédéric Amstutz von der Firma Espro züchtet im Berner Uetendorf Sprossen und Mikrokräuter wie beispielsweise Piso, Zitronelle und Veine (Bild rechts).

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Swiss Alpine Herbs verarbeitet seit 1991 mit viel Sorgfalt und Liebe biologische Alpenkräuter, die an den sonnigen Hängen des Berner Oberlands wachsen.

Frische oder getrocknete Kräuter, das ist hier die Frage. «Getrocknete Kräuter eignen sich besonders für die einfache Anwendung und zum Mischen», so Lüdi. «Frische Kräuter schlagen die getrockneten aber bei der Dekoration von Gerichten und Getränken.»

Der Einfluss der Krise Spitzenchefs schwören schon lange auf frische Kräuter, doch auch immer mehr «normale» Restaurants setzen zumindest teilweise darauf. «Einfache Küchen

bestellen bei uns hauptsächlich Sprossen und Piso», erklärt Frédéric Amstutz von Espro. «Die gehobenere Gastronomie arbeitet mehrheitlich mit Mikrokräutern, bei denen wir in der ganzen Schweiz eine steigende Nachfrage verzeichnen.» Die Corona-Pandemie scheint daran nicht unschuldig zu sein. Martin Lüdi: «Das Gesundheitsbewusstsein der Menschen hat in der Krise zugenommen, und damit auch das regionale Einkaufen.» In Sachen gesundheitliche Wirkungen von Kräutern ist Fabian Lötsch Experte: «Vor allem die

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Die Firma Kräuter Lötsch arbeitet im Einklang mit der Natur. Alle Kräuter werden von Hand gepflückt. Dadurch wird der Boden geschont und der Lebensraum von Insekten geschützt.

Zistrosen- und Artemisia-Extrakte und -Tropfen laufen aufgrund der Corona-Pandemie sehr gut. Tatsächlich wurde die Zistrose 2013 und 2014 erfolgreich auf ihre Wirkung gegen die Familie der Corona-Viren getestet.» Viele Kräuterinhaltsstoffe unterstützen das Immunsystem. «Wenn ich das ganze Jahr über mit Kräutern koche und mit ihnen Tee zubereite, bin ich im Winter parat», sagt Lötsch. Laut ihm werden viele Menschen krank, weil ihnen in der kalten Jahreszeit unter anderem saisonale Kräuter und Gemüse fehlen. Sein Tipp: Brennnessel- oder Kräuter-Pesto selbst herstellen und für den Winter einfrieren.

Ins Glas geschaut

Aber nicht nur Schweizer (Spitzen-)Köche fahren voll auf Kräuter, Blumen und Wurzeln ab. Zu den Trendsettern gehört beispielsweise die Crew des Noma in Kopenhagen (DK), das vier Mal zum besten Restaurant der Welt gewählt wurde. Auf dem Dach des Steirereck in Wien (A) wachsen Würzkräuter aus aller Welt, die dann in der Küche landen. Und Alex Atala, Chef des D.O.M. in São Paulo (BRA), verwendet Zutaten aus dem Amazonas-Tiefland. Kräuterkunde bietet ein grosses Experimentierfeld

und ist nicht nur in der Spitzengastronomie Teil des Basiswissens der Küchenchefs. Davon profitiert die Barszene, denn heute gehört dieses Know-how auch für jeden Bartender dazu. Fast schon Klassiker sind dabei Gin Botanicals. Zu den angesagten Getränkebeigaben gehören Lavendel, Rosenblüten, Orangenblüten, Jasmin und Hibiskus, häufig kombiniert mit Früchten. Passend zu den Olympischen Sommerspielen, die diesen Sommer in Tokio hätten stattfinden sollen, wären Kirschblüten die Trendzutat geworden. Nach der coronabedingten Verschiebung des Mega-Events bleibt abzuwarten, ob die Symbolblüte Japans 2021 tatsächlich zur Überfliegerin avanciert, wenn der zweite Olympia-Versuch gestartet werden soll. Und selbst Mineralwasser ist nicht mehr das, was es einmal war: Hip sind in diesem Bereich Infused Waters, die mit Obst, Früchten, Beeren, Kräutern oder gar Gemüse gepimpt werden.

Kräuter und Co. erobern zunehmend auch private Küchen zurück, nicht nur, wenn Gäste erwartet werden. Und wer eingeladen ist, kann ein cooles Gastgeschenk mitbringen: einen Mampf-Strauss – mitsamt Rezept für ein Gericht, in dem man die Blumen und Kräuter verarbeiten kann.

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