Best of Beobachter, No. 1 (Zusammenstellung von Stories)

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ir werden nichts anfassen, senschaft Majak» ent­halten. Für das Image auf Kredit», sagt er. Milya Kabirova leidet was wir nicht unbedingt der Schweizer Atomindustrie ist das Gift: unter der Strahlenkrankheit. Kinder kann anfassen müssen. Sollten Was im riesigen, hermetisch abgeriegelten sie keine bekommen. wir irgendwo eingeladen Atomkomplex mit seinen 14 000 Angestell­ werden, werden wir Essen ten in den vergangenen Jahrzehnten ge­ Zwei weitere Katastrophen werden publik und Getränke höflich ablehnen, frische schehen ist und vermutlich immer noch Die Gräber von Mylias Eltern stehen ganz Milch wird sowieso niemand trinken. Und geschieht, passt so gar nicht ins Bild der am Rand eines der fünf Friedhöfe in Mu­ sobald die Tagesdosis von 0,1 Millisievert angeblich sauberen Atomenergie. Hier im sljumovo in einem Birkenwald. Milyas Va­ er­reicht ist, verschwinden wir. Notfalls oh­ Südural, wo das Uran für die Schweizer ter Murmuchamet Schagiachmetow wur­de ne unsere Schuhe. Die würden wir vor unse­ Atomkraftwerke aufbereitet wird, zeigt sich bloss 44 Jahre alt. Er hatte 1961 eine Stelle als Aufseher an der Tetscha angetreten und rem Bus stehenlassen und wegfahren. die schmutzige Seite. Wir sind da, wo wir hinwollten, obschon Die Katastrophe, an deren Folgen Mu­ musste Kinder und Vieh vom Ufer des ver­ uns allen beim Gedanken ein wenig mul­ sljumovo mit seinen knapp 2000 Einwoh­ seuchten Flusses fernhalten. Kein Jahr spä­ mig war. Wir stehen auf der schweren, nern bis heute leidet, begann mit einer Ge­ ter starb er. Sein Blut sei gelb gewesen, er­ schlam­ migen Erde von Musljumovo, 55 heimoperation. Auf Geheiss Stalins wurde zählt Gosman. Heute weiss das Paar, dass Grad 36 Minuten Nord, 61 Grad 38 Minu­ 1948 in Majak innert 18 Monaten ein Pluto­ Schagiachmetow vermutlich an einer aku­ ten Ost, zweieinhalb Flugstunden von Mos­ niumreaktor aus dem Boden gestampft, ten Leukämie starb, obschon auf dem kau entfernt. Weil wir erfahren wollen, was um die sowjetische Atombombe zu bauen. ­Totenschein eine unverfängliche Krankheit Schweizer Atomkraftwerke mit einer ökolo­ Im beginnenden Kalten Krieg drängte die angegeben war. Krebs als Todesursache zu nennen war verboten. gischen und sozialen W ­ üs­te Was in Majak vor sich ging, im Südural zu tun haben. ­durfte niemand wissen. «Wir», das sind zwei Erst 1989, als sich Russ­ nalistinnen und drei Jour­ land gegenüber dem Wes­ Jour­nalisten, drei Fotogra­ ten zu öffnen begann, er­ fen, drei Atom-Campaigner fuhr die Welt von zwei wei­ von Greenpeace, ein Reise­ teren Atomkatastrophen, leiter, ein Übersetzer. Und die sich in der Anlage er­ Heinz Smital, Strahlen­ eignet hatten. 1957 war ein schutzexperte von Green­ Tank mit 250 000 Litern peace, der leicht erstaunt ­einer plutoniumhaltigen auf den Monitor seines De­ Flüssigkeit explodiert und tektors schaut. Am Morgen hatte eine Fläche von rund im Hotel in Tscheljabinsk, 10 000 Quadratkilometern 60 Kilometer entfernt, hatte im Nordosten der Anlage der Zeiger bei unbedenkli­ verseucht. Zehn Jahre spä­ chen 15 Einheiten gestan­ ter, im heissen Sommer den. Jetzt schwankt er zwi­ 1967, trocknete der Kara­ schen den Zahlen 5 und 10, tschai-See aus, den die nicht mehr als in jedem be­ liebigen Ort in der Schweiz. Das Haus ist nicht fertig: Venera Gaynetdinova soll bei Winterbeginn hier einziehen. ­Majak-Verantwortlichen ab 1951 als atomare Müllkippe «Hier ist nichts», sagt Smi­ tal, «nur Hintergrundstrahlung.» Wir a­ tmen Zeit derart, dass man während der ersten verwendet hatten. Die radioakti­ven Subs­ auf und sind zugleich überrascht. Nur na­ zwei Jahre die flüssigen hochradioaktiven tanzen, die sich am Seegrund abgelagert türliche Strahlung an einem der angeblich Ab­fälle ungefiltert in die Tetscha ableitete. hatten, wurden vom Wind aufgewirbelt am stärksten radioaktiv verseuchten Orte Am Fluss aber, der durch Musljumovo und und verstreut. Beide Gebiete, zusammen der Welt, das hatten wir nicht erwartet. viele andere kleine Dörfer floss, weideten halb so gross wie die Schweiz, gelten heute Noch ahnen wir nicht, dass sich der ato­ Kühe, es wurde gefischt, und Kinder bade­ als «Naturschutzgebiet», mit Sta­chel­draht­ mare Schrecken nicht bloss an der Skala ten ­darin. Die Tetscha war die Lebensader zaun und Bewachern. in einer kargen Steppenlandschaft. In Musljumovo hingegen leben weiter­ eines Geigerzählers manifestiert. Während man die umliegenden Dörfer hin Men­schen. Venera Gaynetdinova ist Bewohner waren Stalins Versuchskaninchen entlang der Tetscha evakuierte, liess man eine von ihnen. Noch wohnt sie mit ihren Wir sind hierhergekommen, weil wir nicht Mus­ ljumovo, 70 Kilometer flussabwärts zwei Söhnen und der Schwiegertochter in in den abgeriegelten Atomkomplex von von Majak, stehen. «Man brauchte uns als ihrem alten Haus im ursprünglichen Ort Majak können, um den es auf der Medien­ Versuchskaninchen, um die langfristigen nahe am Fluss. Bald soll die Familie in eins reise eigentlich geht, die Greenpeace orga­ Fol­gen der Strahlenbelastung zu untersu­ der neuen Häuser in Novomusljumovo nisiert hat. Die Umweltorganisation hat in chen», sagt Gosman Kabirov. Er und seine einziehen, bloss zwei Kilometer entfernt. den vergangenen Monaten mit hartnä­cki­ Frau Milya sind in Musljumovo aufgewach­ 60 Jahre nachdem die radio­aktiven Abwäs­ gen Recherchen nachgewiesen, dass in sen, heute wohnen sie in Tscheljabinsk. Im ser den Fluss verseucht haben, lässt die Re­ Schweizer AKWs Brennelemen­ te im Körper des Taxifahrers steckt die dreifache gierung das Dorf an der Tetscha räumen. ­Einsatz sind, die Uran aus dem «Födera­ Maximaldosis an radioaktiver Strahlung, Venera Gaynetdinovas neues Daheim tiven ­ Einheitsbetrieb Produktionsgenos­ die ein Mensch aufnehmen kann. «Ich lebe steht am Ende einer Strasse aus zäher,


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