Bildsprache - Februar 12

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15. Ausgabe Februar 2012

B I L D S P R ACHE

07 Medienvielfalt mit F端ssen getreten

Die "big four" kontrollieren die Medien nach ihrem Gusto.

13 Kult in Kunst und Kultur Was bleibt, wenn Alles Kult ist?

16 Attraktiver Akademiker sucht... Was Mann wirklich will.


INHALT

15. Ausgabe, Februar 2012

EDITORIAL

IMPRESSUM

seite 03: bildsprache - ein schwarzer schimmel

REDAKTION dieperspektive, simon jacoby, conradin zellweger, manuel perriard, bremgartnerstrasse 66, 8003 zürich TEXT

HINTERGRUND

s.a.j. | p.w. | m.s. | c.b. | k.l. | c.g. | k.f. | c.j. | a.h.b.| t.b. | o.b. | a. | m.b. | m.k. | c.z. ILLUSTRATION / BILD

e seite 04: das duell #5 mn seite 05: verpasste chance kolu seite 06: freie schulwahl seite 07: medienvielfalt mit füssen getreten seite 08: swiss innovation forum seite 09: verein for children

sif | f.c. | c.b. | s.k. | d.r. COVER / UMSCHLAGSSEITE b&w advertisement für «kellogg's» / «We can do it!» Westinghouse, Geraldine Doyle (1942) LAYOUT per rjard LEKTORAT mara bieler & daniela bär WEBDESIGN

KULTUR

timo beeler | timobeeler.ch REDAKTIONSMITARBEITER

seite 10: zürichs hauptschlagader e seite 11: die metaphorik mn u l seite 12: cxt ko seite 12: gender correctness seite 13: kult in kunst und kultur - eine unkultur seite 14: hb vorher/nachher seite 14: das imperium schlägt zurück seite 15: fred

jonas ritscher & konstantin furrer DRUCK

u kol

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zds zeitungsdruck schaffhausen ag

e

AUFLAGE 4000 ARTIKEL EINSENDEN artikel@dieperspektive.ch WERBUNG conradin@dieperspektive.ch ABO

BILDSPRACHE

abo@dieperspektive.ch LESERBRIEFE

seite 16: attraktiver akademiker sucht... seite 17: bildsprache seite 18: a-rt seite 20: bildlich gesprochen

leserbriefe@dieperspektive.ch THEMA DER NÄCHSTEN AUSGABE horizont GÖNNERKONTO pc 87-85011-6, vermerk: gern geschehen REDAKTIONSSCHLUSS

KREATIVES

mittwoch 15. februar 2012, 23.55 uhr

seite 21: pause

«Was nützt es dem Menschen, wenn er Lesen und Schreiben gelernt hat, aber das Denken anderen überlässt?» Ernst R. Hauschka

Beiträge einsenden an artikel@dieperspektive.ch

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EDITORIAL

15. Ausgabe, Februar 2012

Bildsprache - ein schwarzer Schimmel Versuch eines philosophischen Kommentars

Oberflächlich betrachtet: Wir nehmen Sprache mit den Ohren wahr, Bilder mit den Augen. Wie verhält es sich jedoch hinter den Kulissen mit dem Verhältnis von Bild und Sprache? Es sind äusserst spannende Gedanken, welche sich in der Sprachphilosophie und den berühmten Zeichentheorien verbergen. Zur Zeit der Aufklärung stellte Gotthold Lessing eine interessante Überlegung zu Bild und Sprache an. Er erläuterte in seinem Text «Laokoon» die Grenze der Malerei und der Poesie. Die Aufgabe der Malerei sei es, Gegenstände darzustellen. Demgegenüber beschreibe die Poesie Handlungen. Lessing spricht der Sprache die Fähigkeit ab, aussagekräftige Bilder zu erschaffen. Versuche man trotzdem, mit Sprache Bilder zu kreieren, gehe dies nur, wenn wir jene «vor unseren Augen nur Stück vor Stück zusammensetzen». Das Verwenden von Sprache, um Bilder vor den Augen zusammenzusetzen, lässt es uns erahnen. Die Beziehung zwischen Bild und Sprache ist komplex. Die Sprachphilosophie der Moderne machte die trennscharfe Unterscheidung zwischen Bild und Sprache zunichte. Mit dem Modell des «Semiotischen Dreiecks» wurde die Beziehung eingeführt, welche Zeichen im Allgemeinen an sich haben. Dies gilt sowohl für Bildzeichen als auch für Sprachzeichen. Dabei wird die wichtige Unterscheidung zwischen Bedeutung und Bezeichnung gemacht. Um mich eines prominenten Beispiels zu bedienen: «Ceci n’est pas une pipe» (vgl. Abbildung). Nein, es ist wirklich keine Pfeife, sondern nur ein Bild einer Pfeife. Auch ein Zweites können wir anhand dieses Bildes bemerken. Die Verbindung von Bild und Sprache ist nur bedingt möglich. Denn die Schrift(Sprache) und das Bild verstehen wir über unterschiedliche Vorgänge. Den Satz verstehen wir, aber das Bild erkennen wir. ANZEIGE

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Verbinden wir den Gedanken Lessings mit der modernen Zeichentheorie, ergibt sich Folgendes: Bilder dienen, um Gegenstände darzustellen, wobei wir mit Sprache Handlungen erzählen können. Sowohl Bild als auch Sprache sind jedoch nur Zeichen, welche für eine Bedeutung, einen Gedanken stehen. Was ist also Bildsprache? Eine Mischform aus Sprache und Bildern? Also die optimale Möglichkeit, einen Gegenstand und eine Handlung aufzuzeigen, alles aufzuzeigen? Aber wie kann man Bild und Sprache in einem ausdrücken? (Ich wage zu behaupten, dass auch der Film diese Verbindung nicht wirklich zustande bringt.) Es scheint, als ob sich die Gleichzeitigkeit von Bild und Sprache unseren Sinneswahrnehmungen vollkommen entzieht. Nicht umsonst haben wir Ohren und Augen getrennt. Bild und Sprache sind unvereinbare Begriffe. Gegenteile. Bildsprache ist ein schwarzer Schimmel. Da helfen nur die Gedanken weiter. In meinen Gedanken bleibt am Ende nur die Frage übrig: WAS ZUR HÖLLE IST NUN BILDSPRACHE? Conradin Zellweger Für die Redaktion

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HINTERGRUND 15. Ausgabe, Februar 2012

Das Duell #5 {Text} * Simon A. Jacoby und Peter Werder

Simon A. Jacoby

Peter Werder

Lieber Herr Werder, dieses Mal schreibe ich Ihnen direkt aus Südostasien. Und da ist mir etwas aufgefallen, das Sie mit Ihrer Liebe zur Schweiz wohl niemals bemerkt hätten. Um meinen Punkt zu machen, muss ich etwas ausholen. Im letzten Frühjahr, im Wahlkampf für die kantonalen Wahlen im Kanton Zürich, lancierte die FDP die von Ihnen mitgestalteten Plakate. Fast ununterbrochen bis zum nationalen Wahltag am 23. Oktober klebte Ihre Partei die Schweiz voll mit «Aus Liebe zur Schweiz», «Leistung muss sich lohnen», «Einwanderung hart aber fair», «Absurde Bürokratie stoppen» und so weiter. Und all diese äusserst kreativen und aussagekräftigen Sprüche waren angerichtet auf blau-weissen Plakaten, die doch ziemlich stark an eine Werbung des Anti-Schuppen-Shampoos Head and Shoulders erinnerten. Will Ihre Partei, Herr Werder, mit der Anti-Schuppen-Plakatkampagne nochmals unterstreichen, dass sie die offizielle Vertretung der Pharmaindustrie in der Schweizer Politik ist? Zurück zum Punkt, der mir in Südostasien aufgefallen ist. Medikamente sind in Vietnam saubillig. Die freundliche Apothekerin in Saigon verlangt für die Novartis-Crème oder das Head and Shoulders-Shampoo nur einen Bruchteil des Schweizer Preises. Das müsste nicht so sein. Mit einer konsumentenfreundlichen Anpassung der Medikamentenpreise könnten auch die Schweizer ihre Pillen, die sogar in der Schweiz entwickelt und hergestellt werden, günstiger schlucken. Ihre liebe FDP schimpft sich die liberale Partei. Und will am liebsten dauernd irgendetwas liberalisieren. Da etwas dem Markt überlassen und dort etwas wegrationalisieren. Völlig verquer und unverständlich liegen Sie, lieber Herr Werder, in diesem Punkt der Medikamentenpreise. Finden Sie es nicht peinlich und falsch, einen derart grossen und erfolgreichen Industriezweig auf Kosten der Konsumenten übermässig zu schützen? Und bitte, kommen Sie mir nicht damit: «Wenn der liebe Vasella seine Tabletten nicht völlig überteuert verkaufen könnte, wandert er mit seiner Firma ins Ausland ab.» Glauben Sie mir, die Schweiz wäre kein schlechterer Ort ohne Novartis, Roche und deren Freunde. Und glauben Sie mir, auch wenn damit grosszügige Unterstützer Ihrer lieben FDP wegfallen würden, wäre das nicht so schlimm. Nehmen Sie sich ein Beispiel an meiner Partei: Die wenigen grossen Spender werden offengelegt. Und die SP fährt gut damit.

Sie haben die klassische Links-und-Nett-Sozialisten-Falle aufgestellt, aber keine Angst: Ich falle nicht hinein. Jedes Kind würde Ihnen zustimmen: Jaja, klar, das ist ganz böse. In der Schweiz ist alles so teuer. Eigentlich fehlt in Ihrem schönen Reiseberichtli nur, dass Sie sich darüber beklagen, dass sich dort viele Menschen die Medikamente nicht leisten können. Auf den ersten Blick haben Sie ja so Recht. Aber eben nur auf den ersten. Auf den zweiten Blick sieht alles etwas anders aus. Natürlich sind die Preise in der Schweiz höher als im umliegenden Ausland, sie sind auch etwas höher als in Vietnam. Aber wir verdienen hier auch etwas mehr. Was Sie in dieser Diskussion fokussieren müssten, wäre die Kaufkraft. Als die Schweizer im Herbst in Massen im benachbarten Ausland Autos, Möbel und Kleider einkauften, da spielte plötzlich der Markt. Die einen Anbieter senkten in der Schweiz die Preise, die anderen schliefen. Wenn Sie als Konsument Ihre Macht spielen lassen, dann sinken in der Schweiz die Preise. Es wird hier immer etwas teurer sein – und so fair müssen wir sein, denn unsere Löhne sind auch höher. Aber das Verhältnis – eben die Kaufkraft – muss stimmen. So gesehen sind die Medikamente in Vietnam wahrscheinlich viel teurer als hier. Mich irritiert noch viel mehr ihr ideologischer Widerspruch: Sie kritisieren den Schutz der Pharmaindustrie (was auch immer Sie damit genau meinen – wohl Kartelle oder irgendwelche Absprachen), woraus ich schliessen muss, dass Sie eigentlich mehr Wettbewerb wünschen. Nur zu! Da bin ich voll auf Ihrer Linie. Wettbewerb reguliert man mit Rahmenbedingungen, mit Spielregeln – aber nicht, indem man ins Spiel eingreift. Willkommen in der liberalen Welt – auch im Gesundheitswesen! Da wären wir denn auch bei der Frage, ob man Parteispenden offenlegen soll. Aus meiner Sicht ist das völliger Blödsinn. Erstens wollen viele Spender anonym bleiben, die steigen aus, wenn sie sich öffentlich dazu bekennen müssen. Zweitens kann man so was sehr einfach umgehen. Parteien sind meist auf drei bis vier Stufen organisiert – Gemeinde, Bezirk, Kanton, Bund. Hinzu kommt die Tatsache, dass Sie nicht nur Parteien, sondern auch Personen (und damit indirekt Parteien) in Wahlen unterstützen können. Auf welcher Ebene wollen Sie das denn kontrollieren? Auf der Ebene der Gemeinde wohl kaum. Und genau da kann man anonym bleiben. Wer kontrolliert das – und wer bezahlt diese Kontrollen? Die Idee der Offenlegung von Parteispenden klingt gut und nett – aber in der Realität ist das untauglich. Ach ja, und dann war ja noch der Vergleich mit der Anti-Schuppen-Shampoo-Werbung. Eigentlich gefällt mir der Vergleich: Wer die sozialdemokratische Politik hinterfragt, dem fällt es tatsächlich wie Schuppen von den Augen. Aber abgesehen davon ist die Ähnlichkeit mehr durch die Wirkung der Farbe Blau bedingt: Sie wirkt seriös und harmonisch. Harmonisch, da sollten Sie sich ja wieder finden.

* Simon A. Jacoby, 22, Co-Chefredaktor von dieperspektive, Student der Politologie und Publizistik- & Kommunikationswissenschaft und aktiver Politiker, aus Zürich

* Dr. Peter Werder ist bürgerlicher Politiker, Dozent an der Universität Zürich und leitet die Kommunikation eines Konzerns im Gesundheitswesen

DAS DUELL Beim Duell stehen sich jeden Monat Peter Werder und ein Mitglied der Redaktion zum aktuellen Thema der Ausgabe gegenüber. Abwechslungsweise schreibt einer zuerst, worauf der andere eine Replik verfasst.

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HINTERGRUND 15. Ausgabe, Februar 2012

Verpasste Chance {Text} * Mario Senn

In der Dezember-Session hat der Nationalrat die Mehrwertsteuer-Reform definitiv versenkt. Begründet wurde dies mit sachlich unhaltbaren Erklärungen. Damit verpasste die Volkskammer eine Chance, die Schweiz attraktiver zu machen, ohne die Steuern zu senken. Das Prinzip der Mehrwertsteuer (MWST) ist an sich sehr einfach: Besteuert wird der im Rahmen eines Produktionsschrittes generierte Mehrwert und eingetrieben wird die Steuer durch die Unternehmen. Damit nur der Mehrwert besteuert wird, können die Unternehmen die Steuern auf den Vorleistungen jeweils abziehen; diese Vorsteuern hat der jeweilige Lieferant bereits entrichtet. Die MWST ist auch aus Sicht der Volkswirtschaftstheorie eine der sinnvollsten Steuerarten, da sie aufgrund geringer Verzerrungen als relativ effizient gilt. In der Schweiz wurde die MWST in den 1990er Jahren eingeführt. Allerdings handelte es sich dabei nicht um eine reine MWST, welche den genannten Vorteil entfalten könnte, sondern um eine unsaubere Lösung mit drei verschiedenen Steuersätzen und 29 Steuerausnahmen. Dafür wurde ein Bürokratie-Koloss geschaffen. Der Bundesrat schlug deshalb vor, die MWST rund zehn Jahre nach ihrer Einführung einer gründlichen Revision zu unterziehen. Einerseits sollten die drei Steuersätze durch einen Einheitssatz von 6.1% ersetzt werden. Darüber hinaus sollten 21 der 29 Ausnahmen beseitigt werden. Ausnahmen sollten nur dort bestehen bleiben, wo die Bemessung der Steuer unmöglich oder mit enormem administrativem Aufwand verbunden wäre. Heute kennen wir in der Schweiz drei verschiedene MWST-Sätze: Den Normalsatz mit 8%, den reduzierten Satz für Beherbergungsdienstleistungen in der Höhe von 3.8% sowie den Satz für «Güter des täglichen Bedarfs» in der Höhe von 2.5%. Wird für ein bestimmtes Gut oder für eine bestimmte Dienstleistung ein reduzierter Satz angewendet, kommt dies einer Subventionierung gleich. Diese Subvention ist indessen nicht gratis zu haben: Entweder ist der gesamte Steuerertrag geringer oder der Steuersatz für andere Güter und Dienstleistungen muss erhöht werden (er beträgt 8% statt der möglichen 6.1%). Mit dem reduzierten Satz für «Güter des täglichen Bedarfs» wollte man einen sozialen Ausgleich schaffen. Güter, die alle – auch Einkommensschwächere – kaufen müssen, sollten tiefer besteuert werden. So die Theorie. In

der Praxis führte dies jedoch zu einer bürokratischen Riesenübung sondergleichen. Ein Blick auf jede Migros-Rechnung offenbart, welche Güter unser Staat als förderungswürdig betrachtet (die kleine Ziffer nach dem Betrag gibt über den MWST-Satz Auskunft: Die Nr. 1 steht für 2.5%, die Nr. 2 für 8%). Wenn schon mit der MWST Sozialpolitik betrieben werden soll, leuchtet mir nicht ein, weshalb Trüffel wie Milch gleich tief besteuert wird, Spülmittel hingegen mit dem höheren Satz. Auch nicht klar ist mir, weshalb in Zeiten bevormundender

«Heute existieren 29 MWSTAusnahmen, vor allem in den Bereichen Kultur, Sport, Bildung und Gesundheit.» Präventionskampagnen gegen Übergewicht Schokolade-Produkte mit dem tieferen Satz subventioniert werden. Aber das nur nebenbei. Nicht zu unterschätzen sind auch die Abgrenzungsschwierigkeiten. Die Frage im McDonald’s, ob man den Hamburger mitnehmen oder im Restaurant essen möchte, hat nicht nur mit der Verpackung zu tun. Nimmt man ihn mit, gilt er als Gut «des täglichen Bedarfs» und wird mit 2.5% besteuert; verzehrt man ihn vor Ort, werden 8% fällig. Es ist klar, dass diese feinen Unterschiede für kleine Unternehmen nicht einfach zu handhaben sind. Eigentlich gut gemeinte Ausnahmesätze können da schnell zur steuerrechtlichen Falle werden. Das Paradebeispiel ist ein kleines Hotel, welches Zimmer (3.8%) anbietet und neben einem Restaurant (8%) auch einen Glacé- und Sandwich-Stand (2.5%) für die Laufkundschaft betreibt. Heute existieren 29 MWST-Ausnahmen, vor allem in den Bereichen Kultur, Sport, Bildung und Gesundheit. Ausnahmen wirken ähnlich wie die reduzierten Sätze, wobei eine MWST-Befreiung nicht heisst, dass keine MWST bezahlt werden muss. Denn auf dem Sachaufwand, der für die Produktion eines Gutes oder einer Dienstleistung nötig ist, muss unter Umständen MWST entrichtet werden. Ein Beispiel: Ein Spitalaufenthalt ist von der MWST befreit. Für die Mahlzeiten, die man während dieser Zeit einnimmt, muss das Spital beim Einkauf MWST entrichten. Dieser Betrag ist in der Schlussabrechnung für den Patienten nicht ersichtlich, er wird aber auf ihn ab-

gewälzt. Man spricht dabei auch von Schattensteuer oder «Taxe occulte». Neben diesen unechten MWST-Befreiungen gibt es wiederum Abgrenzungsschwierigkeiten. So unterliegt ein Aerobic-Kurs der MWST-Pflicht, ein Ski-Kurs hingegen nicht. Eine psychologische Beratung ist steuerbar, eine Psychotherapie nicht. Da Psychologen in der Regel nicht auch noch Steuerexperten sind, leuchtet ein, dass diese Regelung in der Praxis einen nicht unerheblichen administrativen Aufwand verursachen dürfte. Leider hat der Nationalrat mit seinem Entscheid in der Wintersession 2011 eine Beseitigung dieser bizarren Regeln verunmöglicht. Zu stark hat das vom SVP-Fraktionspräsidenten (!) vorgebrachte Argument, der Ferrari werde billiger, das Brot teurer, gewirkt. Diese Argumentation verkennt jedoch zweierlei. Erstens hatte der Bundesrat vorgeschlagen, den einkommensschwächsten Haushalten gezielte Entlastungen zukommen zu lassen («sozialpolitisches Korrektiv»). Dieser Ausgleichmechanismus wäre sehr viel besser in der Lage, umzuverteilen. Zweitens würden ganz viele Produkte günstiger werden, die auch von einkommensschwächeren Haushalten konsumiert werden: Der öffentliche Verkehr, Möbel, Telefonie, Kleider etc. wären nicht mehr mit 8%, sondern mit 6.1% besteuert worden. Die Schweiz hätte – europaweit einmalig – die einfachste und unkomplizierteste MWST haben können. Der Bundesrat hat errechnet, dass der administrative Aufwand aller Unternehmen um 22% hätte gesenkt werden könnten. Die Reform hätte das Wirtschaftswachstum um 1% erhöht. Es leuchtet ein, dass der oben erwähnte Psychologe produktiver ist, wenn er seine Energie nicht mit Steuerfragen verschwendet. Oder wenn ein Hotelier nicht in einer Nebenverordnung herausfinden muss, welchem Steuersatz Zimmerservice-Leistungen unterliegen. Dieser Entscheid ist unverständlich. Er offenbart einen bedenklichen Mangel an ökonomischem Wissen unserer politischen Entscheidungsträger. Der Nationalrat hat die einmalige Chance verpasst, die Schweiz attraktiver zu machen, ohne auch nur auf einen Franken Steuereinnahmen verzichten zu müssen.

* Mario Senn ist Volkswirt und liberaler Politiker in Adliswil ZH, er schreibt monatlich zum Thema Politik Antworte Mario Senn auf leserbriefe@dieperspektive.ch

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HINTERGRUND 15. Ausgabe, Februar 2012

Freie Schulwahl {Text} * Christian Besmer

Um der Initiative «Ja! Freie Schulwahl für alle ab der 4. Klasse» in Zürich zum Durchbruch zu verhelfen, hat sich ein links-grünes Komitee gebildet, das die sozialen Aspekte in diesem bildungspolitischen Feld beleuchtet. Im links-grünen Unterstützungskomitee sind viele aktive Mitglieder der SP: In der Langnauer SP-Sektion sind der Präsident Lorenz Rey sowie die Hälfte des Vorstandes Steinerschule-Eltern, Simon Jacoby ist Präsident der SP Adliswil und dort Gemeinderat, zahlreiche ehemalige SteinerschülerInnen und/oder deren Eltern sind Mitglied der SP oder GP und GewerkschafterInnen. Die Liste der Mitglieder des links-grünen Komitees für die freie Schulwahl umfasst momentan etwa 40 Personen aus SP, GP und Gewerkschaften. Sie alle sind bereit und interessiert, die Diskussion um die freie Schulwahl aus sozialpolitischer Sicht zu führen. Was bezweckt die Initiative und wieso erst ab der 4. Klasse? Die Initiative will Artikel 14 der Kantonsverfassung mit lit. 3 ergänzen (siehe Kästchen 1). Der Zusatz «ab der 4. Klasse» ist ein Kompromiss innerhalb des Initiativkomitees wegen des Vorwurfs, die freie Schulwahl fördere den Schultourismus und schade den Quartierschulen. Ob er notwendig war, bleibe dahin gestellt. Aber wir können davon ausgehen, dass die freie Schulwahl ab der 4. Klasse auch positive Auswirkungen auf die unteren Klassen haben und die heutige Situation verbessern wird. Der eigentliche Sinn der Initiative ist nicht Konkurrenz zu den allgemeinen öffentlichen Schulen, sondern eine Ergänzung. Je breiter das pädagogische Angebot, umso mehr Kindern kann die ihnen entsprechende Pädagogik angeboten werden. Richtig ist natürlich, dass in der Re-

gel die Eltern entscheiden, was sie für ihre Kinder als richtig erachten. Persönlich bin ich der Meinung, dass die meisten Eltern für ihre Kinder bessere Entscheidungen treffen können als Behörden, die die Kinder nicht kennen. Diese Entscheidung sollte aber unabhängig von der ökonomischen Situation erfolgen können. Die freie Schulwahl existiert eigentlich bereits heute. Für jene, die es sich leisten können. In dem Sinne besteht in diesem Punkt ein Zweiklassenmodell. Aus der pädagogischen Vielfalt von Lernstudio über Steiner bis Montessori kann frei wählen, wer die teils happigen Schulbeiträge bezahlen kann. Den Initianten einer freien Schulwahl für alle geht es eindeutig nicht darum, dass irgendeine dieser Schulen besser oder schlechter sein soll. Bei der freien Schulwahl ist es die Breite der Auswahl, welche die Schule insgesamt um eine zusätzliche Qualität bereichert. Die sozialen Aspekte der Initiative gehen uns etwas an Dem links-grünen Komitee geht es erstens darum, den sozialen Aspekten der Initiative zum Durchbruch zu verhelfen und zweitens, dass seitens der SP und der GP auf politischer Ebene in diese Richtung lobbyiert wird. Auch gewerkschaftlich birgt die freie Schulwahl bedenkenswerte Aspekte. Wenn Lehrerinnen und Lehrer künftig vermehrt zwischen der öffentlichen Schule und «Freien Schulen» auswählen können, ohne Nachteile beim Lohn befürchten zu müssen, ist auch hier eine interessante Ausgangslage auszumachen. Ob und wie beim Lohn und anderen arbeitsrechtlichen Gegebenheiten ein Minimalstandard festgelegt werden kann, ist sicher eine spannende Frage, die es ohnehin zu bearbeiten gilt. Jedenfalls besteht

schon heute gerade im Bereich der freien und privaten Schulen ein grosses Potential möglicher Mitglieder. Gesamtarbeitsverträge gibt es in diesem Bereich bis jetzt kaum. Erinnern wir (älteren) dieperspektiveLeserInnen uns an die Aufbruchstimmung vor 40 Jahren. An die Gründung von selbstverwalteten Betrieben, autonomen Krippen und Schulen. Viele sind leider ausschliesslich wegen finanzieller Probleme eingegangen. Die freie Schulwahl wird Impulsen in diese Richtung wieder Auftrieb geben, weil die Gefahr eines Scheiterns wegen Geldmangels grösstenteils wegfällt. Wichtig ist die Tatsache, dass Schulen, die kommerziell ausgerichtet sind, keine öffentlichen Beiträge erhalten, sondern nur die «Freien Schulen» (siehe Kästchen 2). In den Gesetzesbestimmungen muss zwingend darauf geachtet werden, dass «schwedische Verhältnisse», die Sponsoring von Firmen zulassen, verhindert werden. Letztendlich ist die freie Schulwahl formell ein Menschenrecht. Im 1. Zusatzprotokoll der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht: «Das Recht auf Bildung darf niemandem verwehrt werden. Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiete der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.» Ratifiziert haben das 1. Zusatzprotokoll ausser Monaco und der Schweiz alle europäischen Länder.

* Christian Besmer, Mitglied SP Langnau a. A., AL, vpod und Unia

Art. 14 Recht auf Bildung Abs. 1 und 2 unverändert. 3 Der gleichberechtigte Zugang beinhaltet ab dem 4. Schuljahr die freie Wahl innerhalb der öffentlichen Schulen und eine öffentliche Finanzierung des Unterrichts an bewilligten Freien Schulen gemäss den Durchschnittskosten der öffentlichen Schulen, wenn sie wie diese allgemein zugänglich sind.

Freie Schulen Freie Schulen sind Schulen in freier Trägerschaft, haben eine freie Pädagogik und sind frei zugänglich. Sie sind gemeinnützig und nicht elitär. Alle Kinder werden aufgenommen ohne finanzielle, religiöse und ethnische Einschränkung. Da sie für die gesamte Öffentlichkeit zugänglich sind, sollen sie von der Öffentlichkeit mit durchschnittlichen Pro-Kind-Pauschalen finanziert werden, entsprechend dem Skandinavischen Vorbild. Sie sind in den Schulwahl-Initiativen der elternlobby.ch enthalten. Dieser Name ist neu für die Schweiz und soll in Zukunft eingeführt werden. Privatschulen, die nicht für alle Kinder offen sind, sind nicht in der Schulwahl-Initiative enthalten.

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HINTERGRUND 15. Ausgabe, Februar 2012

Medienvielfalt mit Füssen getreten {Text} * Simon A. Jacoby

Das Chaos um Blochers Teilhabe an der Basler Zeitung lässt die weiteren unschönen Entwicklungen in der Schweizer Medienszene zu Unrecht erblassen. Vor Jahresfrist kündigte das grösste Schweizer Verlagshaus Tamedia an, sich wieder ausschliesslich auf ihr Kerngeschäft, die Printmedien, zu konzentrieren. Die beiden von Roger Schawinski gegründeten TV- respektive Radiosender und Tele Bärn mussten folglich aus dem imposanten Portfolio entfernt werden und gingen allesamt in den Besitz von Herrn Wanner von der AZ. Herr Wanner war in diesem Deal aber nicht nur Käufer, sondern auch Verkäufer. Im Gegenzug verkaufte er den Herren von Tamedia eine grössere Lokalzeitung. In der (Tamedia-) Zeitung 20 Minuten liess sich der neue Chef von Radio 24 und Co. als Retter der Medienvielfalt in der Schweiz feiern. Roger Schawinski jammerte, weil er sein altes Kind nicht zum gewünschten Preis zurückkaufen konnte. Nur die Tamedia äusserte sich nicht aufschlussreich zum Geschäft – unzufrieden konnte sie nicht sein, da es ja ihre (und nicht Schawinskis) Idee war. Die Situation war verquer.

Man stelle sich das mal vor. In der freien schweizerischen Marktwirtschaft herrschen abstruse Verhältnisse. Vor kurzer Zeit fusionierte die Tamedia mit der Edipresse. Damit haben wir vier private Verlagshäuser, die die Schweizer Medienszene nach ihrem persönlichen Gu-

«Diesen Medienhäusern gehören nicht nur klassische Medien, sondern auch online Jobportale, grosse und bekannte Ticketverkaufstellen und Vermarktungsrechte an lokalen und nationalen Stars.» sto kontrollieren: Tamedia (20 Minuten, Tagesanzeiger, diverse Lokalzeitungen), NZZ Verlag (NZZ, diverse Lokalzeitungen), Ringier (Blick, Blick am Abend) und AZ Medien (Aargauer Zeitung, Radio 24, Tele Züri, Tele Bärn, Lokalzeitungen). Ein kleiner Exkurs: Diesen Medienhäusern gehören nicht nur klassische Medien,

sondern auch Online-Jobportale, grosse und bekannte Ticketverkaufstellen und Vermarktungsrechte an lokalen und nationalen Stars. Tatsächlich sind sie der Meinung, zur Medienvielfalt beizutragen. Daneben gibt es noch einzelne kleine Verleger, die sich mit grossem Engagement und in Marktlücken zu behaupten versuchen. Die bekanntesten sind sicher Roger Köppel mit der Weltwoche, das Kollektiv um die WOZ und 3+-Besitzer Dominik Kaiser. Diese und die noch kleineren Verlage – wie zum Beispiel der Verein dieperspektive – sowie die wichtige und nicht zu vergessende Medienvielfalt werden mit Füssen getreten. Die aktuellen Wirren und die Entwurzelung des Verlegers Martin Suter der Basler Zeitung in nur einem Tag sind nur ein Symptom. Ein Symptom für die kaputte und verwirrte Medienlandschaft in der Schweiz. Damit wieder die Qualität im Vordergrund stehen kann, wird der Ruf nach einer an Auflagen gebundenen, direkten Presseförderung zu Recht wieder lauter. * Simon A. Jacoby, 22, Co-Chefredaktor von dieperspektive, Student der Politologie und Publizistik- & Kommunikationswissenschaft und aktiver Politiker, aus Zürich

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am Helvetiaplatz, Tel. 044 242 04 11, www.xenix.ch thema der nächsten ausgabe: horizont | beiträge bis 15. februar an artikel@dieperspektive.ch

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HINTERGRUND 15. Ausgabe, Februar 2012

Swiss Innovation Forum {Text} * Karin Linxweiler {Foto} © SIF 2011

Zum sechsten Mal in Folge fand dieses Jahr das von Kurt Aeschbacher moderierte Swiss Innovation Forum auf dem Novartis Campus in Basel statt. Am 3. November angesetzt, lässt es jeweils auf ein weiteres Geschäftsjahr zurückblicken, welches dieses Jahr bekanntlich rund um den Globus mit einigen unerwarteten und einschneidenden Turbulenzen konfrontiert war. In Anbetracht dieser von Krisen und Wandel durchschüttelten Wirtschafts- und Gesellschaftslage ist vielleicht augenfälliger als sonst, dass Änderungen im Business unausweichlich sind und Innovation für künftigen Bestand zum festen Bestandteil gehören sollte. Doch unabhängig von fremdbestimmtem Aufrütteln verlangt Innovation immer auch eine Art Aufbrechen von Innen, weshalb das diesjährige Forum als Leitthema «Rulebreaking» durch die gesamte Konferenz zog. Änderungen und Andersartigkeit sind schier unerschöpflich und erlauben, alle möglichen Facetten zu thematisieren. Die Zusammenstellung der Speaker deckt denn auch eine interessante Bandbreite ab. Gestartet wird mit dem Wesentlichen: Andere Taten brauchen andersartige Menschen und eigene Wege. Denn Rulebreaker ticken anders, wie gleich in der ersten Rede vom Keynote-Speaker Sven Gabor Jànzsky, Leiter vom 2b AHEAD ThinkTank, eröffnet wird. Entscheidend sei eine ganz andere Charakterstruktur, als sie üblicherweise

von Managern erwartet werde. Der Trendforscher veranschaulicht dies mit dem Vergleich von Schnellbootfahrern, die keck und wendig, so ganz anders als konforme Kapitäne der grossen Schiffe, unterwegs sind. Dabei stellt er insbesondere das Menschliche und Visionäre als entscheidende Innovationstreiber in den Vordergrund. Auch Wirtschaftsprofessor Hermann Simon, Chairman von Simon-Kucher & Partners, verrät aus seiner Beratungserfahrung, dass

«Gerade in turbulenten Zeiten sind wir wohl eher bestrebt, uns an messbare Fakten zu klammern.» immer mehr Erfolge bei den Hidden Champions statt in Grosskonzernen erzielt werden. Als bedeutenden Schlüssel zum Erfolg nennt er das Finden des eigenen Weges, der nicht nur über Marktforschung führe, sondern massgeblich von visionärem Anführen des Marktes geprägt sei. Ein zitiertes Beispiel dafür ist Apple, eine Firma, die entgegen dem sonst immer stärker zunehmenden daten- und info-orientierten Business-Verhalten anderer keine Marktfor-

schung betreibe, sondern eigene Visionen als Massstäbe setze. Diese wie andere Vorträge lassen erkennen, dass Smart Profit Growth ein Stück weit von kreativen Aspekten geprägt wird. In unserer rational geprägten und technologisch fortschrittlichen Kultur sind wir jedoch nicht mehr gewohnt, uns mutig von Visionen tragen zu lassen. Gerade in turbulenten Zeiten sind wir eher bestrebt, uns an messbare Fakten zu klammern. Wie andere das anpacken und welche Erfahrungen dabei in der Praxis gemacht werden, zeigen diverse ‚Best Case’-Fallbeispiele. Es sind vor allem solche Einblicke hinter die Kulissen und der Meinungsaustausch – sei es in Podiumsdiskussionen oder in Pausengesprächen – zwischen den rund 650 teilnehmenden Firmenchefs, Entscheidungsträgern und Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung, die ein Forum so wertvoll machen. Dabei ist klar, dass Innovation mit Risiko einhergeht und schon mal Wellen schlägt, die einen herunterreissen und überspülen. Nicht, dass das per se eine neue Erkenntnis wäre – aber dass das heikle Thema in der risikoaversen Schweiz derart betont und vor Augen geführt wird, ist doch eher ungewöhnlich: Auf der Speakers List ist nämlich auch ein Redner aufgeführt, den man fast auch als ‚Fallen Angel’ bezeichnen könnte. Morten Lund, Mitbegründer von Skype und einer der bedeutendsten Seed-Money-Investoren Europas, ist nach mehr als 40 erfolgreichen Business-Gründungen und Co-Investitionen als ‚Business Angel’ mit einem Portfolio von mehr als 80 Firmen letztlich doch gescheitert und musste 2009 Privatinsolvenz anmelden. Schon ein Jahr später konnte der Däne twittern, dass er wieder schuldenfrei ist, und hat sich heute, zwei Jahre später, wieder davon erholt. Inhalt seiner Rede ist eben gerade sein Bankrott-Gehen, und wie er sich wieder aufgerappelt hat. Auch wenn sich der Speaker sowieso gerne als eigenartiger Rebell gibt und seine Rede mehr wirr als schlüssig oder lehrreich ist, so ist schon die Tatsache alleine, dass die Schmach vom Bankrott zu einem Themenpunkt gemacht wird, doch aussergewöhnlich. Und mutig. Besonders vom Redner, weil er sich im Plenum exponiert. Das ist eine bislang verkannte Vorbildrolle, von der man letztlich vielleicht genauso lernen kann.

* Karin Linxweiler hat ihren MBA in Sydney erlangt und ist spezialisiert auf Product Design und Innovation Entrepreneurship. Sie liebt Pâtisseries und ist vermutlich die einzige Schweizer Kommunikationsexpertin und Kunsthistorikerin, die als Crew angeheuert und eine Segelyacht von Australien ins Königreich Tonga überführt hat. Da wird klar, woher die moderne Nomadin, die schon 44 Länder bereist hat, ihre Passion für elegante Ästhetik und Natur-taugliche Funktio-

Morten Lund am Swiss Innovation Forum 2011.

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nalität hat

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HINTERGRUND 15. Ausgabe, Februar 2012

Verein For Children {Text} * Christine Glauser {Foto} © For Children

Der Verein For Children wurde von sechs Personen gegründet, welche ihre Zeit und ihr Wissen einsetzen wollen, um die Lebensumstände von Kindern in Entwicklungsländern nachhaltig zu verbessern. For Children ist ein gemeinnütziger Verein, welcher Projekte in Schwellen- und Entwicklungsländern mit dem Ziel, die Lebensumstände von Kindern zu verbessern, unterstützt. Die Projekte werden von einheimischen Personen durchgeführt. Es sind nachhaltige Projekte, welche die soziale Gerechtigkeit erhöhen. Bei der Durchführung der Projekte wird der Genderaspekt berücksichtigt und grosser Wert auf Empowerment gelegt. Zur Zeit unterstützt For Children zwei Projekte in Südafrika. Forster Care Program in Swaymane, Kwa Zulu Natal Ein Projekt von Zimele

Zimele ist eine NGO, welche in der Region Kwa Zulu Natal tätig ist. Kwa Zulu Natal ist eine ländliche Region, welche besonders stark von HIV und Aids betroffen ist. Der Anteil der schwangeren Frauen, welche infiziert sind, beträgt 36.5 % (Schumacher 2004, S. 16). Zimele setzt sich für die Kinder, welche von der Krankheit betroffen sind, ein. Die Vision von Zimele sind selbstständige und sichere Gemeinden, in welcher Waisen und andere gefährdete Kinder unbeschwert leben können. Zimele fördert die Selbstständigkeit von Gemeinden in Kwa Zulu Natal mit verschiedenen Projekten, wobei die Gemeindemitglieder, insbesondere die Frauen, mit einbezogen werden. In der Gemeinde Swaymane hatten einige Frauen den

Wunsch, ein Betreuungsprogramm für Waisen und gefährdete Kinder aufzubauen. Ihr Ziel ist es, dass alle Kinder eine adäquate Betreuung erhalten, genügend Essen bekommen und die Schule besuchen können. Als erstes sollte eine Gruppe von Frauen in pädagogischen und in gesundheitlichen Belangen geschult werden. Zu einem späteren Zeitpunkt können diese Frauen ihr Wissen an weitere Frauen vermitteln. Zimele unterstützte die Idee dieser Frauen. Anfang 2010 wurden ein Projektplan erstellt und Projektziele formuliert. Die beteiligten Frauen sollten lernen, wie Projekte aufgebaut und durchgeführt werden, dazu gehört auch der Umgang mit Spendegeldern und mit Spende-Organisationen. Für die finanzielle Unterstützung wurde For Children angefragt. Einerseits mussten die Schulungen finanziert werden, andererseits wurden finanzielle Mittel für die Nahrung der Kinder benötigt. Diese sollten die Nahrungsversorgung der Kinder während des ersten Jahres sicherstellen. In dieser Zeit werden die Frauen darin unterstützt, die finanziellen Hilfeleistungen des Staates für die Kinder zu beantragen. Zur Zeit beteiligen sich dreizehn Frauen an dem Projekt. Sie besuchten im Sommer 2010 mit grossem Interesse ein mehrtägiges Training. Dort wurden ihnen von Fachpersonen Inhalte zu den Themen Betreuung von Kindern, Entwicklung der Kinder, Beziehungsaufbau, Kommunikation mit Kindern, Erziehung, Verlust und Tod, Missbrauch, HIV/Aids, rechtliche Rahmenbedingungen sowie Selbstkompetenzen und Umgang mit eigenen Bildern und Vorstellungen vermittelt. In der ersten Phase des Projektes unterstützen die Frauen Kinder aus zehn Familien. Die Frauen arbeiten mit den Familien, in denen

die Kinder untergebracht sind, zusammen. Sie unterstützen die betreuenden Personen dabei, den Antrag auf finanzielle Hilfe des Staates für die aufgenommen Kinder zu stellen. Die Familien, welche oft selber unter Armut leiden und zudem verwaiste Kinder bei sich aufgenommen haben, bekommen Geld für Nahrungsmittel, bis die finanzielle Hilfe des Staates gewährleistet ist. Zudem werden sowohl die betreuenden Erwachsenen wie auch die Kinder in Alltagsfragen und -problemen beraten und unterstützt. Auf der anderen Seite arbeiten die Frauen des Projektes mit verschiedenen Fachpersonen zusammen. Durch ihre Zusammenarbeit mit den Schulen und die Anschaffung von Schuluniformen wird den Kindern der Schulbesuch ermöglicht. Die Zusammenarbeit mit der staatlichen Sozialarbeiterin ermöglicht zusätzliche Unterstützung für speziell gefährdete Kinder. Weitere Informationen zu Zimele finden sich unter www.zimelecommunity.org.

Die am Forster Care Program beteiligten Frauen sind alle Mitglieder einer selbst organisierten Gruppe, in welcher sich die Mitglieder mit Mikrokrediten gegenseitig unterstützen. Auf diese Weise wird den Frauen der Aufbau von kleinen Geschäften ermöglicht. Die von ihnen unterstützten Jugendlichen beziehen die Frauen in diese Gruppe ein und ermutigen sie, eigene kleine Projekte zu lancieren. Nachhaltige Mitteln

Entwicklung

mit

einfachen

Beide Projekte zeigen auf eindrückliche Weise, wie die Chancengleichheit von Kindern mit einfachen Mitteln nachhaltig gefördert werden kann. Damit solche Projekte möglich sind, braucht es einerseits die grosse Motivation, die guten Ideen und die hohe Einsatzbereitschaft der Projektleitenden und Mitarbeitenden vor Ort, andererseits die Unterstützung, im Fall von For Children, durch Menschen in der Schweiz. Diese Art von Zusammenarbeit von Menschen auf verschiedenen Kontinenten wurde erst durch die Globalisierung möglich. Aber vielleicht wurde sie gerade durch die Globalisierung erst recht notwendig? Die beiden Projekte, welche For Children unterstützt, sind kleine Projekte und erreichen nur einige Kinder. Vielleicht sind sie jedoch gerade deshalb so erfolgreich? Es ist wünschenswert, dass For Children wächst und dadurch noch mehr Kinder unterstützen kann. Ob die Unterstützung dann weiterhin mit so einfachen Mitteln machbar ist, wird sich zeigen.

* Dies ist ein Auszug aus der Qualifikationsarbeit für die Hochschule Luzern Soziale Arbeit, im Rahmen des MAS-

Das neue Schulhaus der Gemeinde Swaymane.

Studienganges Managing Diversity von Christine Glauser.

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KULTUR 15. Ausgabe, Februar 2012

Zürichs Hauptschlagader {Text} Konstantin Furrer {Foto} Urban Zellweger

Die Langstrasse auf und ab. Anfangs nüchtern, später mittendrin. Wieder einmal an der Langstrasse. Die sagenumwobene Strasse im Herzen Zürichs. Der Text wird in Kapiteln erzählt. Die zwei Kapitel beinhalten jeweils den Weg von der Militärstrasse bis zum Helvetiaplatz. Erstes Kapitel Die Nacht auf Samstag. Nüchtern. Bereits als ich die Militärstrasse hinaufgehe, hin zur Langstrasse, begegne ich den ersten Ausläufern der Langstrasse. Eine leere Bierflasche fliegt durch die Luft. Eine Frau stampft die Strasse hinunter. Scheinbar ohne Ziel. Sie macht einen betrunkenen Eindruck. Ein Mann rennt ihr hinterher. Er versucht sie zu beschwichtigen, doch sie hört ihm nicht zu. Schliesslich verschwinden sie in einer Seitengasse. Kurz später heult ein Automotor auf. Ich komme der Langstrasse immer näher. Hier findet man die ersten Bars. Gruppen junger Menschen bilden Trauben vor den Eingängen. Rauchen als soziale Interaktion. Ich erreiche die Langstrasse. Es herrscht ein wirres Durcheinander. Autos zwängen sich durch die Strasse. Immer wieder rennt jemand über die Strasse, was mit einem Hupkonzert beantwortet wird. Ein älterer Herr wischt Zigarettenstummel weg vor dem Eingang seines 24-Stunden-Ladens. Er strahlt eine unbeirrbare Ruhe aus, während um ihn herum Betrunkene durch die Strasse torkeln. 20 Meter vor mir liegt das Erotikkino

Langstrasse Zürich.

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«Roland». Zwielichtige Gestalten in langen, dunklen Mänteln schleichen um den Eingang herum. Ich fühle mich unwohl und schreite raschen Schrittes vorwärts. Bei der Dienerstrasse steht ein Polizeiwagen mit Blaulicht. Polizisten durchsuchen zwei junge Afrikaner. Neben ihnen stehen zwei Afrikanerinnen, die hysterisch kreischen. Eine Polizistin versucht sie zu beschwichtigen. Um den Polizeiwagen ist in der Zwischenzeit eine Art Niemandsland entstanden. In einem Radius von 10 Metern um den

«Kitschige Bilder von jungen Paaren, die küssend im Regen stehen, sind hier die Norm.» Polizeiwagen herum ist die Strasse menschenleer. Wie ein Magnet stösst die Präsenz der Polizei die Menschen auf das gegenüberliegende Trottoir. Auch ich wechsle die Seite. Kurz später fragt mich jemand nach einer Zigarette. Während ich meine Jacke nach Zigaretten durchwühle, beäugt er mich aufmerksam. Endlich gefunden, strecke ich ihm eine Zigarette entgegen. Er bedankt sich und fragt im selben Atemzug, ob ich was bräuchte. Ich lache nervös und mache mich davon. Schliesslich erreiche ich den Helvetiaplatz. Hier spielen sich Beziehungskonflikte ab. Ein Mann redet auf eine weinende Frau ein. Nebenan schreien sich zwei an, nur um sich wenig später wieder in die Arme zu fallen. Ich verabschiede mich von der Langstrasse. Biege links ab. Kurz

später hält ein Auto neben mir an. Eine Frau lässt das Fenster hinunter und fragt, ob ich nicht einsteigen möchte. Mobile Prostitution. Was ganz Neues. Ich gehe nach Hause. Zu Fuss. Zweites Kapitel Nächstes Wochenende. Wieder an der Langstrasse. Aus sozialen Gründen bin ich heute mit Begleitung unterwegs. Zu zweit machen wir uns auf den Weg in die erste Bar. Es ist noch früh am Abend und die Langstrasse ist noch ruhig. Unsere erste Destination ist die Cafeteria «Memphis». Doch anstelle von Country schallt thailändische Musik aus den Lautsprechern. Wir setzen uns an einen Fensterplatz, um die Langstrasse im Blick zu behalten, und bestellen ein Bier. Die Bedienung asiatischer Abstammung kichert uns an, während wir bestellen. Im Hintergrund klimpert die thailändische Musik weiter vor sich hin. Neben uns projiziert ein Beamer das dazugehörige Musikvideo auf eine Leinwand. Jedes Lied handelt den Musikvideos zufolge von Herzschmerz. Kitschige Bilder von jungen Paaren, die küssend im Regen stehen, sind hier die Norm. Es herrscht nur wenig Betrieb und die Bedienung vertreibt sich die Zeit mit Dart. Ein älterer Herr mit Schnurrbart versucht mit der Bedienung zu flirten. Sie kichert und spielt weiter Dart. Wir bestellen weiter Bier. Draussen auf der Strasse sind sich zwei Prostituierte in die Haare geraten. Ein muskulöser junger Mann beendet den Streit kurz später. Nach einem weiteren Bier zahlen wir und lassen die Musik und die kichernde Bedienung hinter uns. Inzwischen ist es Nacht geworden. Die Langstrasse erwacht langsam. Wir laufen über die Strasse und treten in die legendäre «Lugano-Bar» ein. Bereits beim Eingang begutachtet uns eine festere Afrikanerin. Wir setzen uns an den Tresen und bestellen Bier. Weiter hinten in der Bar spielt ein älterer Herr an einem orgelähnlichen Gerät und singt dazu melancholische Lieder. Neben uns trinkt eine Prostituierte Weisswein. Sie scheint Pause zu haben, denn sie ist in keiner Weise an uns interessiert. Ganz im Gegenteil zu den anderen anwesenden Prostituierten, die uns seit unserer Ankunft verheissungsvolle Blicke zuwerfen. Wir ignorieren sie so gut, wie es geht, und nuckeln weiter an unserem Bier. Ein paar Bier später treten wir wieder hinaus auf die Langstrasse. Es ist nach Mitternacht und das Treiben auf der Langstrasse ist in vollem Gange. Während ich mich letzte Woche noch als Beobachter gefühlt habe, der nicht wirklich dort hinpasst, fühle ich mich jetzt im angetrunkenen Zustand als Teil der Langstrasse. Wir lassen den Abend im Xenix beim Helvetiaplatz ausklingen.

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KULTUR 15. Ausgabe, Februar 2012

Die Metaphorik {Text} * Carl Jauslin

Gottfried Gabriel (*1943, ist ein deutscher Philosoph. Von 1995 bis 2009 war er Professor für Philosophie und hatte den Lehrstuhl für Logik und Wissenschaftstheorie an der FriedrichSchiller-Universität in Jena inne) plädiert in seinem Text1 über die Bedeutung der Literatur für den ästhetischen Wert der Dichtung, der zu Erkenntnissen führen soll. In diesem kurzen Essay sollen diese Argumente aufgenommen und soll darüber hinaus überprüft werden, inwiefern diese auch im Speziellen für die Lyrik gelten, um abschliessend zu einer eigenen Meinung zu gelangen. Die erste grosse Unterscheidung, die Gabriel in seinem Text vornimmt, ist die zwischen dem Emotivismus, der die ästhetische Erkenntnis in der Literatur negiert und ihr nur einen Wert auf emotionaler Ebene zugesteht, und dem Kognitivismus, der sich in dieser Hinsicht für eine Erkenntnismöglichkeit über die Ästhetik und Bildsprache der Literatur ausspricht. Daraus entsteht dann die dazugehörige Wortpaarung von Gefühl und Erkenntnis. Hier wäre meiner Meinung nach einzuwenden, dass es vielleicht auch eine Art «emotionale Erkenntnis» gibt. Unter der ästhetischen Erkenntnis versteht Gabriel eine Art Erkenntnis, die nur mittels Bilder dargestellt werden kann, und nicht in Form von aussprechbaren wissenschaftlichen Fakten vermittelt wird. Im weiteren Verlauf taucht in Bezug auf die Erkenntnisgewinnung die Wortverbindung «Dichtung und Wahrheit» auf. Hier fragt sich Gabriel, inwiefern die Fiktionalität der Literatur den Erkenntniswert der Literatur beeinflusst oder beeinträchtigt. Eine weitere Unterscheidung, die er vornimmt, scheint mir die der Wahrheit und der Aussagewahrheit. Bei der Aussagewahrheit geht es um singuläre Wahrheiten oder – wie ich sie nennen würde – Fakten, die beispielsweise in Form von Ort- und Zeitangaben oder Na-

men in einem Roman genannt werden. Wichtig ist hier, dass auf die Ganzheit und nicht auf Singularitäten abgezielt wird. Der Kontext und die unausweichliche Interpretation des Lesers stehen im Zentrum. Ich würde diese Art von Wahrheitsausdruck, die wir in der Literatur finden, als metaphorische Wahrheit bezeichnen, die im übertragenen Sinn zu verstehen ist. Es geht um den Menschen an sich und nicht direkt um die Romanfigur, die eine spezifische Situation durchlebt. Somit wird hier auch die Frage nach der Bedeutung der Fiktionalität gelüftet,

«Das ‹lyrische Ich› wie es in der Poesie genannt wird, dient als allgemeines Beispiel, das für Jeden gelten kann.» denn in der Fiktion können genauso metaphorische Wahrheiten stecken wie in der Realität. Das Verhältnis zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen ist auf diese Weise zu verstehen, dass das Besondere nur als ein Beispiel zu sehen ist, um das Allgemeine zu verstehen; diese Allegorie zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen verdeutlicht auch wieder den metaphorischen Sinn der Literatur. Es geht nicht wie bei den Wissenschaften um eine Mitteilung und Vermittlung von Informationen, sondern um eine Darstellung, wie sie Gabriel nennt. So ist auch die Richtungsänderung des Bedeutens zu verstehen: das Besondere zur Vermittlung des Allgemeinen, die Beispiele zur Erläuterung der grossen Zusammenhänge und die Fiktion zur Verdeutlichung der Metaphorik im Dienste der Wahrheit. Die Lyrik eignet sich hervorragend für einen solchen ästhetischen Wert des Bildes in der Erkenntnis, da mehrere oben genannte Komponenten sich in der Lyrik sogar noch

stärker wiederfinden. Die Metaphorik spielt eine wichtige Rolle: Wie oft werden minutiöse Details beschrieben, die nur dazu dienen, im übertragenen Sinn eine grössere Wahrheit zu veranschaulichen? Das Besondere steht im Dienste des Allgemeinen, die singulären Aussagewahrheiten stehen hinter der grösseren Wahrheit und die Beispiele von Einzelschicksalen sowie die Verwendung von Fiktion im Dienste der ästhetischen Erkenntnis. Das «lyrische Ich», wie es in der Poesie genannt wird, dient als allgemeines Beispiel, das für Jeden gelten kann. Am Beispiel des Gedichts «Die Möwe» von Donhauser wird anhand einer einzelnen Möwe die Unbekümmertheit der gesamten Tierwelt dargestellt, der Wechsel von einem Zustand in den anderen. Von der völligen Statik in die totale Dynamik der Bewegung. Das alles wird verkörpert durch ein einzelnes Bild der Sprache einer einfachen Möwe. Die Möwe Sie steckt auf ihren Beinen, auf ihre Beine gesteckt, und eingezogen trägt sie ihren Kopf, ins Gefieder geduckt, dreht ihren Schnabel, eine Art Nadel, gegen den Wind. So gestaucht sitzt sie in sich fest, im Schnee, scheint keine Irritation zu kennen ausser dem Wind, kein Ziel jenseits der Richtung ihres Schnabels. Dann streckt sie sich, reckt ihren Hals und weitet ihre Flügel, zu einer Möwe im Flug, folgt ihrem Schnabel, hinterlässt einen Schrei und kleine Rauten als Spuren im Schnee. 1

Gottfried Gabriel, Zwischen Logik und Literatur: Erkenntnisformen

von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft; Kapitel: Über die Bedeutung der Literatur zur Möglichkeit ästhetischer Erkenntnis, 1991

* Carl Jauslin, 19, Student der Philosophie und Rechtswissenschaft an der Universität Basel. Wohnhaft in Basel, hat römische Wurzeln und bereist und interessiert sich für die ewige stadt

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KULTUR 15. Ausgabe, Februar 2012

CXT {Text} * Apachenkönig Huntin’Beer

Ein Virus? SARS-Ersatz? Staatsaffäre? Ein Kompott? Vielleicht! Es handelt sich hier um eine amerikanische Crossover-Band. Die Band von Shifty Shellshock und Epic Mazur. Ihr kennt sie. Alle kennen sie. Die Ladies lieben sie und die Schmetterlinge auch. Yes! Thaz epic shizzle -> Thaz CRAZY TOWN! Hand auf’s Herz. Wer hat nicht heimlich mitgewippt, als Shifty und Epic come come my lady you're my butterfly sugar baby durch’s Radio gesäuselt haben? Nein, nein, natürlich nicht. Niemand hat das getan. Unverständlich, weshalb sie trotzdem in FÜNFZEHN Ländern Platz EINS in den Charts belegen konnten. Woher ich das weiss? Ein Whistler hat’s mir geblowt. Und die Riffs sind übrigens auch geklaut von den Red Hot Chilli Peppers. Ja, ja, ja, bla, bla, bla… Ich verlange eine PUK (Prominenten-Untersuchungskommission), damit das ein für alle Mal aufgeklärt wird! Am liebsten hätte ich Francine Jordi und Florian Ast. Wo kommen wir denn da hin, wenn dort ganz krumme Insidergeschäfte getätigt werden. Die

zarte Blume aka Musikbusiness muss gerettet werden. The answer is blowin' in the wind Anno 2001. Wir waren jung und wollten die Welt verändern. Wir hörten Limp Bizkit, Eminem oder The Strokes. Wir hatten alles und

«Bob Dylan hat uns alles genommen, bevor wir überhaupt wussten, was wir überhaupt wollen könnten. Er hatte alle Fragen bereits beantwortet.» wollten nur das Eine. Schwanz auf’s Herz. MTV hat uns damals mit seinen Softpornos getröstet. Viele Schlachten waren schon vor unserer Zeit geschlagen, gewonnen und verloren worden. Protest? Gegenwofürwasdenn? Bob Dylan hat uns alles genommen, bevor wir überhaupt wussten, was wir überhaupt wollen

könnten. Er hatte alle Fragen bereits beantwortet. The answer is blowin' in the wind. Da sage ich nur: «Klugscheisser!» Aber vielleicht hat’s ihm auch ein Whistler geblowt… Atomare Miezen Die Botschaften waren so gut versteckt und doch offensichtlich. So trällerten Anno Domini Atomic Kitten (you can make me) whole again. Ein Whistler hat mir geblowt, dass… Also das darf ich nun wirklich nicht ausplaudern. Aber es riecht doch ziemlich streng nach einem Komplott. Also jetzt ganz ehrlich. Wirklich sogar. Ein guter Komplott ist wie Kompott. Man benötigt viele Früchtchen und Schnaps. Einen Branntwein am besten. Den Branntwein von der Hilde. Ja genau. Einen Hildebrand. In Liebe und Ahoi Pivo Apachenkönig Huntin’Beer * Apachenkönig Huntin’Beer ist aus Zürich, deshalb schreibt er auch die Stadtkolumne. Antworte dem König auf leserbriefe@dieperspektive.ch

Gender-Correctness: Ein Plädoyer für die Abschaffung der weiblichen Schreibweise {Text} Titi Bonheur

Weshalb es an der Zeit ist, die weibliche Schreibform abzuschaffen. Und weshalb erst das zur Gleichberechtigung bzw. zur Gleichbehandlung führt. Wenn ich Gleichberechtigung fordere und bei jeder Gelegenheit auf den geschlechtlichen Unterschied aufmerksam mache, ist das nicht ein Widerspruch in sich? Ist das förderlich für das Erreichen des Ziels? Will die Emanzipation nicht, dass dem Geschlechterunterschied weniger Beachtung geschenkt wird? Keinesfalls sehe ich die Leistungen und Ziele unserer Mütter und Grossmütter als unbedeutend oder gar unnütz. Im Gegenteil – ohne den Kampf der Gleichberechtigung der letzten Jahre wäre dieses Plädoyer heute nicht möglich. Es braucht die Grundlage, die unsere Mütter gelegt haben. Es war sicher richtig, dass Forderungen nach sprachlicher Gleichnennung aufkamen. So werden in Texten heute die männli-

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che und weibliche Schreibweise berücksichtigt. Nicht immer in gleichem Masse – teilweise entledigt man sich mit einer bequemen Floskel der mühsamen Doppelnennung. Mache ich genauso. Nein, eigentlich gehe ich noch einen Schritt weiter – ich benütze auch für mich alleine die männliche Form. Oder soll ich sagen, die menschliche Form? Das hat natürlich seinen Grund: Egal, ob ich mich als Arbeiterin, als Bikerin, als Abonnentin, als Schreiberin, als Studentin oder als Freundin bezeichne – immer erwähne ich dabei neben der Funktion auch mein Geschlecht. Aber will ich denn das? Nein. Ich will, dass der Funktion die höchste Beachtung geschenkt wird. Ich will nicht gezwungen sein, dem Leser mein Geschlecht zu nennen. Wenn ich es für relevant erachte, dann ja. Ansonsten: nein. Wenn ich nur Frauen anspreche, dann sind das die weiblichen Leser, wenn ich nur Männer anspreche, dann halt eben die männlichen Leser. Und alle zusammen sind die Leser. Wer jetzt einwendet, dass Männer und Frauen aber tatsächlich verschieden sind, dem

sei gesagt, dass neben den biologischen Ausstattungen, die zur Reproduktion beitragen, und anderen äusserlichen Merkmalen das kaum zu erwarten ist. Sehr gut legt das Natasha Walter in ihrem Buch Living Dolls dar: Ob die neurologischen Unterschiede von der Sozialisierung herrühren oder tatsächlich biologischer Natur sind, ist unklar. Letztlich unterscheiden sich die Individuen – Männer und Männer sind verschieden, Frauen und Frauen sind verschieden. Die Unterscheidung von Mann und Frau finde ich diskriminierend. Im Berufsleben will ich nicht als Frau, sondern als Fachperson wahrgenommen werden, gleichgestellt mit meinen männlichen Kollegen. Das fordert, dass ich auch auf der sprachlichen Ebene gleich bezeichnet werde. Das hat nichts damit zu tun, dass ich mein Frausein verstecken will, sondern nur damit, dass es nur da erwähnt werden soll, wo es wesentlich ist. Die weibliche Form ist heute die Spezialform, die Ausnahme. In Zukunft hätte ich gerne eine Form für alle! Eine menschliche Form, eine menschliche Lösung.

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KULTUR 15. Ausgabe, Februar 2012

Kult in Kunst und Kultur - eine Unkultur? {Text} * Dr. oec. HSG Olivia Bosshard {Foto} © Archiv zwischengas.com

Spätestens seit ich im Mai 2011 einen eigenen Anlass zum Thema «Was ist Kult?» durchführte, habe ich das Gefühl, dass mir das Wort in Kunst und Kultur (und zunehmend auch in der Politik) mit inflationärer Häufigkeit begegnet. Wo es nicht zur Bezeichnung Star-Irgendwas (Star-Fotograf, -Regisseur, -Autor, …) reicht, sollte mindestens schon mal Kult- vorangestellt sein. Oder zumindest kultverdächtig. Ein kurzer Blick auf Google zeigt: St. Galler Bratwürste, Thonet-Stühle und der Sparschäler Rex sind Kultobjekte, genauso wie Teddybären, Blackberrys und Schwarz-WeissFotoautomaten. Der Tagesanzeiger prämierte vor kurzem die beliebtesten Kult-Autos der Leser. Auf Platz 4 lag beispielsweise der legendäre Lamborghini Miura (vgl. Bild) mit Muni (die mindestens so kultig sind wie Schwinger). Kult-Eisbär Knut ist leider schon gestorben und Heidi, das schielende Kult-Opossum aus dem Leipziger Zoo (laut Wikipedia 2008 in North Carolina, USA geboren und am 28. September 2011 in Leipzig gestorben) wurde auf Youtube besungen und hatte zu Lebzeiten über 290’000 Followers auf Facebook (was übrigens ebenfalls kultig ist). Was die real exi-

stierende Politkultur betrifft, so ist in der Tagespresse zu lesen: «Die politische Diskussion in der Schweiz leidet an einem positiven und einem negativen Blocher-Kult». Und zahlreiche Leserbriefe beklagen sich sogar über einen allfälligen Personenkult. Personenkult bezeichnet laut Wikipedia «die übergebührliche Verehrung und Glorifizierung einer in der Regel noch lebenden Person, die eine Vorbildfunktion einnimmt. Er tritt in allen gesellschaftlichen Bereichen auf, sehr häufig in Politik, Unterhaltungsindustrie, Sport und Kultur.» Der russische Regierungschef Wladimir Putin wiederum (so zu lesen auf news.ch) «hat den sowjetischen Kultregisseur Stanislaw Goworuchin zum Leiter seines Präsidentenwahlkampfes ernannt». Jede Menge Kult, Kunst, Kultur und Schnittmengen aus allem gibt es aber auch direkt vor der Haustür in Zürich zu sehen. An der Photo 12, der Werkschau für Fotografie, sind Werke diverser Kult-Fotografen ausgestellt. Hannes Schmid beispielsweise, der in früheren Jahren neben seinen weltbekannten Rockstar-Bildern auch deren ekstatisches Publikum verewigte, um damit zu spiegeln, wie der Kult um die Stars entstanden ist, zeigt an

der Photo 12 die sensationelle Installation «Momentous», eine «exklusive Pre-Show zu seiner Retrospektive im Kunstmuseum Bern im Jahr 2013» (sic!). Die ebenfalls in einer Sonderschau ausgestellten Bilder der Finalisten und Sieger des Hasselblad Masters 2012 sind nicht nur fast samt und sonders kultverdächtig, sondern ein visueller Hochgenuss in Reinkultur. Und wer das verpasst haben sollte, kann sich immer noch «Intouchables» anschauen, die Komödie mit Kult-Potenzial, 2011 erfolgreichster Film Frankreichs, oder ab 9. Februar 2012 die Mutter aller mehrteiligen Kultfilm-Epen in 3-D Version: The Phantom Menace-3D Re-Release in High-Res als Auftakt der legendären Star Wars Trilogie – was ich wohl tatsächlich tun werde. Auch wenn der Kult um den Kult langsam zur Unkultur wird und die Kunst dabei zu kurz kommt...

* Dr. oec. HSG Olivia Bosshard ist Leiterin der Zürcher Veranstaltungsplattform KION, sie schreibt monatlich zu den Themen Kunst & Kultur Antworte Olivia Bosshard auf leserbriefe@dieperspektive.ch

Lamborghini Miura mit Muni. thema der nächsten ausgabe: horizont | beiträge bis 15. februar an artikel@dieperspektive.ch

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KULTUR 15. Ausgabe, Februar 2012

HB vorher/nacher {Text} Anonym

Ideelle Wärme trifft auf gegenständliche Kälte. Eine geistige Grippe bahnt sich an. Hüttchen reiht sich an Hüttchen. Weisswellender Plastik, perfekte Illusion von Schnee. Hohe Hacken hüpfen über Koffer. Alles zugestellt, Raucher, Glühweintrinker, Touristen, Konsumfreudige. «...gottverdamminomal!» Die Spassgesellschaft trifft auf die heimwehende Arbeiterklasse. Good old fashioned Hit and Run. Rempeln, Fluchen, Drängeln. Kopfschütteln über verschütteten Glühwein. Klebrige Hände, nasse Hosenbeine. «Ui nai! Häsch mer äs Nastüechli?» Kläffende Tölen und Heilige Abende. Nichtzürcher fotografieren künstliches Kristall. Fast 50 Jahre lang ist sie gewachsen, saftig grün, hoch in den Himmel. Gefällt. Geschmückt, besprüht. Kein Platz für Natur, nur für ihre Inszenierung. «Biutiful!» Modeschmuck, Tirggel, Tee, PashminaSchals, Plastiklampen, Babuschkas, Drittweltinstrumente, Mützen, High-Tech-Nussknacker, Holzrätsel, Staubfänger, Windspiele, glibbrige Gummitiere, Gürtelschnallen, Handschu-

he, Olivenholzschüsseln. Hüttchen an Hüttchen. Kleinbürgerlicher Hippietand. «...häsch dä du scho öppis für dä Tobi?» Siedwurst und Schinken. Käse und Essig. Chai und Vanillesauce. Süsses Gebäck. Der Glühwein zerfällt zu Orangenessenz, Zimt, Nelke, Zitrone, Sternanis. Nasser Hund. Kifft

«Das Fest der Liebe ist abgezogen, wir dürfen einander wieder hassen.» da jemand? Beissender Schweissgeruch. Alkoholfahnen wehen im Windstillen. Gebackener Fisch. Lange liegengebliebene Zwiebeln. Punsch und Puderzucker, Frittieröl, alt. Ist mir jetzt schlecht oder gelüstet es mich? Nikis Engel steht über allem. Liegt. Hängt. Fliegt? Neonröhren, Zahlen, Vogel und Rentier an der Wand. Die Kunst kriegt Konkurrenz vom Künstlichen. Lichter in allen Farben. Ausgleich zur winterlichen Sonnenleere.

Alles glitzert, alles funkelt. Blau, gold, grün, rot, silber, orange, violett, gelb, lila, türkis, pink. Das Karussell dreht sich. Kinder kreischen. Babylonische Zustände bezüglich der Sprachen. Fetzen von Musik wabern über den Köpfen, verstümmelte Akkorde, es bimmeln die Glocken aus Lautsprechern. Süsser nie klingen? Das Pferd jagt dem Rennauto hinterher. «Mami, Mami, döff i nomal?» Einfach nur kalt und grausig. Absätze klappern laut. Die Halle hallt zurück. Leer, grau. Plattgetretene Kaugummis sprenkeln den Steinboden. Elektronische Durchsagen krächzen. Zug reiht sich an Zug. Das Fest der Liebe ist abgezogen, wir dürfen einander wieder hassen. Halbe Regenwälder liegen als zerfetztes Geschenkpapier im Müll, vom heimischen Holz sind nur spitze Nadeln übrig. In unserem Wohnzimmer stapelt sich Kram, nach welchem wir selbst im Geschäft nie gegriffen hätten. Fettgefressen wie Nikis Engel, nur nicht ganz so bunt, stolpern wir auch ohne Hindernis. Zurück ins Grau der Wiederholungen.

Das Imperium schlägt zurück {Text} * Marco Büsch

Wenn man in der Nähe einer Tramhaltestelle wohnt, welche zwischen der Drogenabgabestelle und dem Arbeitsamt liegt, hat man als Kolumnist ausgesorgt. Da wird getrunken, geschimpft, beleidigt und diskutiert über Gott und die Welt. Ausser, wenn jemand mitten im Gespräch einen Anruf entgegennimmt. So geschehen letzte Woche. Ich wartete auf mein Tram neben einer Bank, auf der zwei Alk... ich meine natürlich, auf der zwei Personen sassen, mit denen es das Leben nicht allzu gut gemeint hat. Sie hatten Migros-Säcke voller Kleider vor sich und diskutierten darüber, dass irgendjemand ein «ganz Guter» sei. Das Tram rollte heran und machte schrille Geräusche, weil der eine Alk.., ich meine die eine Person vor lauter Freude fast vors Tram getorkelt wäre. Wir stiegen alle ein und das Gespräch über diesen «wirklich ausserordentlich guten Menschen» wurde fortgesetzt. Bis das Handy des Einen klingelte und er den Anruf – ohne Vorwarnung! – entgegennahm. Der Andere schaute ihn fassungslos an darob, dass jemand die Diskussion mit IHM einfach unterbrechen konnte, um mit einer Per-

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son zu sprechen, die physisch nicht einmal anwesend war. Demonstrativ schrie er durch das ganze Tram: «Also Ciao! Dänn gang ich halt!» An der nächsten Haltestelle packte er seine Migros-Säcke und stampfte ohne den anderen ei-

«Wer nimmt sich schon Zeit für sein Gegenüber, wenn man auch jederzeit mit jemand anderem reden könnte.» nes Blickes zu würdigen aus dem Tram mit den Worten «Jetzt hol ich mir en Kebab und zwei Bier!» Ich war hell begeistert: Dieser Mann hatte getan, was ich immer schon einmal hatte tun wollen! Es gibt doch nichts Unhöflicheres, als mitten in einem spannenden Gespräch einen Anruf entgegenzunehmen und dann minutenlang mit der Person am anderen Ende der Leitung über unwichtige Dinge zu plaudern, während jemand gegenübersitzt, der sich dadurch saumässig blöd vorkommt. Wie bestellt

und nicht abgeholt. Vor allem, wenn man nicht raucht. Was soll man in so einer Situation tun? Man läuft eben leider nicht davon, man sagt nicht einmal etwas. Denn man ist ja verständnisvoll. Man steht da drüber. Man muss es ja nicht gleich persönlich nehmen. So ist halt unser Handy-Smartphone-Facebook-TwitterZeitalter. Wer nimmt sich schon Zeit für sein Gegenüber, wenn man auch jederzeit mit jemand anderem reden könnte. Und dann macht diese Person, was wir alle schon immer mal machen wollten, aber uns nie trauten, weil es gegen jede Konvention verstösst: Sie läuft einfach davon. Was für ein Befreiungsschlag! Ich war begeistert! Ich nahm mir fest vor, dies bei der nächsten Gelegenheit auch zu tun: Egal, ob im Hörsaal, bei der Arbeit, im Restaurant oder im Krankenhaus: einfach davonlaufen. Das Imperium schlägt zurück!

* Marco Büsch, 21, Politologiestudent aus Zürich, Serienjunkie, Filmfan und Hobbyrapper marco.buesch@uzh.ch

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KULTUR 15. Ausgabe, Februar 2012

Fred

{Text} Manuel Kaufmann

Fred war komisch. Wenn er Musik hörte, ass er dazu Schnee. Fred war sonderbar. Wenn er auf die Uhr schaute, biss er in seine Hand. Fred war, man kann’s nicht anders sagen, ein merkwürdiger Mensch. Wenn er malte, urinierte er auf die Leinwand. Fred war kauzig. Wenn er mit der Kioskverkäuferin sprach, bewarf er sie mit Käse. Fred war eigen. Wenn er sich auf einen Stuhl setzte, rasierte er seine Handinnenflächen. Fred war, da gibt’s keinen Zweifel, aussergewöhnlich krude und schräg. Schief, besonders, ungewöhnlich und anders. Eigentümlich, kreativ, individuell und exzentrisch. Unabhängig, erfrischend, bunt und genial. Vorbildlich, weise, bewundernswert und ein Ideal. Doch Fred liegt schon lange in einem clownfischförmigen Sarg. Und der Alltag trägt wieder sein graues Gewand.

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Rauchen ist tödlich. Fumer tue. Il fumo uccide thema der nächsten ausgabe: horizont | beiträge bis 15. februar an artikel@dieperspektive.ch

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BILDSPRACHE 15. Ausgabe, Februar 2012

Attraktiver Akademiker, sportlich, open-minded, kultiviert sucht.... {Text} Titi Bonheur

Wow. Das wäre vielleicht ein Mann für mich. Gebildet, sportlich, open-minded und kultiviert. Was er wohl unter kultiviert versteht? Ich google und die Online-Brille führt mich zu Wikipedia:

von Gütern oder eine Gruppe von Tätigkeiten, z. B. die Esskultur, Umgangsformen, Kunstund Musikgeschmack sowie eine bestimmte Form, sich zu kleiden, die der gängigen eng begrenzten Vorstellung von Kultur entspricht.

Kultiviertheit (als Substantivierung des Adjektivs kultiviert) bezeichnet umgangssprachlich im sozialen Kontext eine verfeinerte, gepflegte Lebensweise, die sich an den Wertvorstellungen einer bestimmten sozialen Gruppe oder Schicht orientiert. Der Begriff impliziert indirekt eine nahezu vollendete Weiterentwicklung von bestimmten erwünschten Verhaltensweisen, die über das übliche Maß hinausgehen. Diese betreffen in der Regel (im Gegensatz zum Term «zivilisiert») die äußeren Lebensumstände, also zum Beispiel die Art des Verbrauchs

... die sich an den Wertvorstellungen einer bestimmten sozialen Gruppe oder Schicht orientiert... Innerlich lachend stelle ich mir alles Mögliche darunter vor: Kannibalen, HaremsBefürworter, SM-Anhänger, Zeugen Jehovas, Paint-Ball-Süchtige oder English Gentlemen mit Stock und Zylinder. Ich entscheide mich für ein gängigeres, unserer Kultur und der oberen sozialen Schicht zugehörendes Modell: Studiert, beruflich engagiert, sozial kompetent, manierlich, Diskussionen nicht abgeneigt und auch fähig, mal eine neue Betrachtungsweise in Erwägung zu zie-

hen. Frauen sieht er als ebenbürtige Menschen, er ist interessiert an einer ausgeglichenen Partnerschaft, darüber hinaus ist er sportlich. Er wird wohl mindestens eine der von mir aktiv betriebenen fünf Sportarten auch leidenschaftlich oder wenigstens auf gut durchschnittlichem Niveau betreiben. Ein Traummann. Denke ich. Ich lese die einzeilige Anzeige zu Ende: «Attraktiver Akademiker, sportlich, open-minded, kultiviert sucht hübsche, herzliche, schlanke Partnerin.» Schön, dass er sich auch für die inneren Werte seiner zukünftigen Partnerin interessiert. Und sich nicht nur eine Vorzeigepuppe (auch: Statusfrau), die bewundernd zu ihm aufblickt, an seiner Seite wünscht. Denke ich ironisch und lasse die Zeitung mit den Annoncen desillusioniert im Zug liegen.

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BILDSPRACHE 15. Ausgabe, Februar 2012

Bildsprache

carolebirou.ultra-book.com

* Carole Birou

{Illustration} * Carole Birou

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BILDSPRACHE 15. Ausgabe, Februar 2012

A-rt

{Illustration} Samuel Kaufmann

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Ruf Lanz

Da isst jeder gern vegetarisch.


BILDSPRACHE 15. Ausgabe, Februar 2012

Bildlich gesprochen {Text} Christian Zürcher

Ich habe oft Bilder im Kopf, wenn ich an Personen denke, die mir etwas bedeuten. Besonders dann, wenn diese Personen gerade nicht in meiner Nähe sind. Die Bilder sind völlig klar, und doch sind es nur Ausschnitte, es könnten genauso gut auch Illusionen sein. Wenn ich nämlich den Versuch unternehme, das, was ich sehe, in Worte zu fassen, gelingt mir das höchst selten. Schauen Sie mal im Sommer bei einem nächtlichen Gewitter aus dem Fenster und beschreiben Sie, was Sie gesehen haben, wenn es blitzt. Einmal vorausgesetzt, Sie kennen die Gegend nicht, werden Sie sich nur an Einzelheiten und Umrisse erinnern. Aber vielleicht werden Sie trotzdem das Gefühl haben, die Landschaft nun grob skizzieren zu können. Grundmerkmale, Wesentliches werden Sie sich vergegenwärtigen. Im Kopf, mit Bildern. Und mit Sprache? Auch wenn das Wort «unbeschreiblich» meiner Meinung nach viel zu viel gebraucht wird (man kann es ja zumindest versuchen!) – manchmal stimmt es doch. Und vielfach verweist es auf Gesehenes. Sonnenuntergänge, um das kitschigste aller Beispiele anzuführen. Die sind dann aber meistens nicht nur unbeschreiblich, sondern sogar unbeschreiblich schön. Ein neugeborenes Kind. Ein Gemälde. Manchmal sind es auch Dinge, die tatsächlich so ungewöhnlich sind, dass wir sie nicht einordnen können. Wie letztes Jahr, als aus einem amerikanischen Zoo eine ganze Horde exotischer Tiere entkam, die daraufhin von einem eifrigen Wildhüter mit dem Gewehr unschädlich gemacht wurde. Tote Löwen und Bären im Park, vor dem Burgerladen, vor der Oper. Unbeschreiblich. Und dann gibt es schwere Traumata, Schockzustände,

bei denen die Sprache total abhanden kommt. Bilder, so nimmt man zumindest an, sind aber noch da. Es ist nichts Neues, dass die Fähigkeit, sich gewählt auszudrücken, schwindet, wenn starke Gefühle im Spiel sind oder man verwirrt ist. Und doch erstaunt diese plötzliche, ergriffenheitsbeduselte Stummheit, wenn man bedenkt, wie viel Mühe wir uns sonst dabei geben, alles, was wir fühlen und denken, gleich sprachlich auszudrücken. Noch so eine viel bemühte Weisheit: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Stimmt diese Aus-

«Bilder können im Gegensatz zur Sprache keine Unwahrheiten verbreiten. Sie können selektionieren.» sage, liegt doch aber die Vermutung nahe, dass wir unser Verhältnis zur vermeintlich so mächtigen Sprache grundsätzlich überdenken müssen. Wenn die Ausdruckskraft von Bildern wirklich so stark ist, wie schmalbrüstig und handicapiert sieht dann im Vergleich dazu die Sprache aus? Warum heissen Zeitungen «Bild» oder «Blick» oder «Anzeiger», und nicht etwa «Wort» oder «Spruch» oder «Schrift»? Die Neigung, alles zu kommentieren, ist bei uns weit verbreitet. Kaum einmal schaffen wir es, etwas einfach stehen zu lassen und uns nicht weiter darum zu kümmern. Argumente, Meinungen und Überzeugungen müssen kundgetan werden. Erklärungsnotstände herrschen

Slam Poetry

Rote Fabrik Zürich 24. Februar 2012 Türöffnung: 20.00 Uhr Beginn: 20.30 Uhr slamzuerich.ch

(offenbar) allenthalben. Nicht, dass ich mich vollkommen gegen sprachliche Ausführungen wehren würde, schliesslich braucht es bei Komplexitäten und Missverständnissen immer Klärung. Und ich will schon gar nicht grossartige literarische Erzeugnisse in Zweifel ziehen. Nur dürfen wir uns nicht wundern, wenn uns vor lauter geschriebenem und geredetem Unsinn Augen und Ohren wehtun. Perspektiven, dass sich die Situation in näherer Zukunft ändern könnte, sind angesichts der grossen Popularität der neuen Medien kaum auszumachen. Wir leben in einer durchkommunizierten Welt. Lügen und Geständnisse, unbegründete Anschuldigungen und überhaupt allerlei Unfertiges und Unbedachtes kommen so ans Tageslicht. Wir sollten uns wieder vermehrt und im wahrsten Sinne des Ausdruckes vor Augen führen, wie einfach und vielsagend zugleich ein Bild manchmal ist. Und wie erleichternd es sein kann, etwas Visionäres und Träumerisches nicht gleich verworten zu müssen. Oft merkt man ja erst nachdem man etwas ausgesprochen hat, dass man es damit eigentlich zerstört. Bilder können im Gegensatz zur Sprache keine Unwahrheiten verbreiten. Sie können selektionieren, nur Ausschnitte zeigen, enttäuschen, aber nicht lügen. Nicht umsonst werden Menschen, die Stimmen hören, für verrückt erklärt und nicht Menschen, die Bilder vor sich sehen. Bilder sind stimmig. Sie bilden den Grundstein zum Verständnis. Es ist gut, dass es sie noch gibt, die Bilder ohne Sprache. Wenn ich nämlich die Bilder von meinen Liebsten in meinem Kopf so anschaue, gibt es nichts, das sie treffender beschreiben könnte.

Wieder einmal messen sich frische Gesichter und schonlangedabeiseiende Slamprofis, wilde Performance-Haudegen und relaxte Geschichtenerzähler in der alten Slamhochburg "Rote Fabrik" miteinander, um herauszufinden, wem die Gunst des Publikums gehört, wer Sieger des Abends wird und neben einer Flasche Hochprozentigem Ruhm und Ehre mit nach Hause nimmt. Selbstverständlich mit offener Liste, man möge sich melden bei Phibi Reichling unter: philipp_re@gmx.ch Ticketreservation: konzeptreservation@rotefabrik.ch

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um vergangenen Sommer in Wien beendet

seit einem halben Jahr in Zürich, Absolventin Grafikdesign und Medien- Filmstudi-

* Daniela Karin Raffl, freiberufliche Illustratorin, 27 Jahre jung, Österreicherin und

BILDSPRACHE 15. Ausgabe, Februar 2012

Pause

{Illustration} * Daniela Karin Raffl

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dieperspektive:Layout 1 23.01.12 14:35 Seite 1

15. Ausgabe, Februar 2012

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