Wenn es dich stört, warum tust du nichts?

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kunst, kultur & politik

Wenn es dich stört, warum tust du nichts? Nummer 33 | Juni | Juli | 2014


Juni Juli

Editorial

INDEX//

Liebe Unzufriedene, Als die Themenwahl für diese Ausgabe anstand, wurde gerade die Masseneinwanderungsinitiative angenommen. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis herrschte ein grosser Aufschrei und Entsetzen über die Annahme der Initiative. Genervt von dem ständigen Gejammer der achso-politischen Zürcher Jugend habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, die Motzer zu fragen, ob sie denn abgestimmt hätten. Die Antworten waren erschreckend. Von « ich musste meinen Kater ausschlafen » bis zu « ich war im Ausland » bekam ich alles zu hören. Klar, auch ich habe an einem Sonntagmorgen besseres zu tun, als zum Kreisbüro oder Gemeindehaus zu rennen um meine Stimmunterlagen in die Urne zu werfen. Aber es ist ja nicht so, als ob das Stimmcouvert erst drei Tage vor der Abstimmung bei uns eintreffen würde. Wir alle hatten genug Zeit, uns angemessen zu informieren und unsere « Ja » und « Nein » mit Bedacht zu setzen. Sogar für ein wenig Politisieren wäre sogar noch Zeit geblieben, indem man auf Facebook weniger Büsivideos und YOLOs postet, dafür eine anständige Wahlempfehlung, damit auch die Primarschulkollegen aus dem ländlichen Heimatdorf überzeugt werden. Leider ist das kaum passiert, darum auch unser Thema für diese Ausgabe: Wenn es dich stört, warum tust du nichts? Ja warum eigentlich? Bei diesem Thema soll es eigentlich nicht nur um die Politik gehen, diese Frage zieht sich bis weit in unseren Alltag. Wenn dich deine Horn spielende Nachbarin stört, warum sagst du es ihr nicht? Oder wie es Leonie Müller in ihrem Text auf Seite 28 sagt: Warum machst du nicht mehr Komplimente, wenn dich deren geringe Anzahl stört? Somit ist die Frage eigentlich eher: Warum beklagst du dich lieber im Nachhinein, anstatt im störenden Moment zu ändern, was dir nicht gefällt? Ich halte mich nicht für besser.

HINTERGRUND//

Auch mir fällt es oft schwer, im Moment jenes anzusprechen was mich stört. Wäre es nicht einfacher, wenn man jedes Problem direkt anspräche? Vielleicht könnten der Politiker von Welt auf diese Weise sogar den einen oder anderen Krieg verhindern… Darum mein Vorsatz: Mehr die Klappe aufreissen und mehr für das Einstehen, was ich will. In diesem Sinne hoffe ich, dass alle Motzer aus der Masseneinwanderungsinitiative gelernt haben und bei der letzten Abstimmung ihr Couvert ein bisschen früher eingeworfen haben. Oder zumindest vom Hive am Sonntagmorgen direkt ins Kreisbüro sind.

Andrea Schweizer

Anmerkung der Grafik: Das Lesen dieser Ausgabe wird mühsam. Es wird dich stören, es soll dich stören, muss dich stören. Hoffentlich so fest, dass du was tust: Und durchdrehst.

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THEMA//

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kolumne

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Illustrator der Ausgabe//

Für die Redaktion,

Nummer 33 02 Editorial / 02Impressum

Tymen Goetsch, 20, lässt sich nicht gerne beim zeichnen stören. Wenn du dich getraust wirst du sehen, dass nicht alle Menschen nichts tun, wenn Sie was stört... Seine Illustrationen zu den Texten findest du auf den Seiten: 8 | 10 | 12 | 16 | 18 | 19 |

IMPRESSUM KONTAKT verein dieperspektive, zentralstrasse 167, 8003 zürich REDAKTION simon jacoby & conradin zellweger & manuel perriard & konstantin furrer & marius wenger & andrea schweizer LAYOUT isabella furler COVER isabella furler LEKTORAT konstantin furrer DRUCK nzz print AUFLAGE 4000 ARTIKEL EINSENDEN artikel@dieperspektive.ch WERBUNG simon@dieperspektive.ch ABO abo@dieperspektive.ch LESERBRIEFE leserbriefe@dieperspektive.ch GÖNNERKONTO pc 87-85011-6, vermerk: gern geschehen THEMA DER NÄCHSTEN AUSGABE dein leben ist eine app. REDAKTIONSSCHLUSS donnerstag, 3. juli 2014, 23.55 uhr

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Das Duell

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Inhalt/

Polit–

Die Grüne Nationalrätin Aline Trede ist unsere neue Politik-Kolumnistin. In ihrer ersten Kolumne geht sie mit sich selber hart ins Gericht.

Das Streitgespräch zwischen Links und Rechts. Scheiss Arbeitsbedingungen bei Apple? Wie weit ist man als Individuum für Kinder– arbeit & Co. verantwortlich?

Wie kommt Krieg in die Köpfe?/ Paintball, Ballerspiele und Kriegsberichte. Wir sind vom Krieg umgeben, obwohl wir noch nie tatsächlich auf einem Trümmerfeld standen. Ist das eigentlich normal?

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Die Kunst, kein Interesse zu haben

Ein Essay über das ewige Hin und Her zwischen dem Aufgeben und Verwirklichen seiner Träume. Die bürgerliche Ohnmacht überkommt uns jeden Morgen im überfüllten Zug.

Empörung ist Liebe

/ 18Tatort Bahnhofsplakat/

Mit einem Text Liebe zu beschreiben ist fast unmöglich. Aber wenn es gelingen sollte, dann vielleicht auf poetische Weise. Die Schlussfolgerung ist erstaunlich. Liebe ist nicht ein Schwarm von rosa Schmetterlingen.

Wie die Studentin D.F. am Bahnhofsplakat vorbeiging und zur Täterin wurde. Das Vergehen: Unterlassung von Meinungsäusserung

Wie ein Glückskeks mein Leben veränderte/ Ob die asiatischen Weisheiten in unserem Alltag etwas taugen? Ein Selbstversuch.

Seelenspiegel

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tust du nichts?

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Wer kennt das nicht? Die Gedankengänge kurz vor dem Einschlafen. Ist man schon am Träumen oder ist das noch selbstständiges Denken? Eine Reise in den Schlaf.

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Immer plumpe Anmachsprüche. Aber ernst gemeinte Komplimente? Auch die Autorin traut sich nicht - denn oft werden Komplimente falsch verstanden.

Ausweichen ist keine Option

Der Schreiberling berichtet von seinen Erlebnissen in der Jugendpsychiatrie. Er hatte im Umgang mit den Patienten Erstaunliches herausgefunden.

Nächtlicher Stadtfuchs

Eine nächtliche Begegnung eines betrunkenen Zweibeiners mit einem Vierbeiner endet in Tränen.

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Wenn es dich stört, warum

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Sie nannten sie Eine Kurzgeschichte über Freundschaft und die Eigenarten verschiedener Kulturen.

Unangenehmes Aufeinandertreffen Eigentlich sollten wir ein Kennzeichen für unseren momentanen Gemütszustand tragen. Das würde uns einige mühsame Gespräche ersparen.

Was tun?

Eine Anleitung für ein besseres Leben.

TIVES:

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Nous nous indignons!

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Wir Schweizer sind immer neutral, auch wenn wir innerlich kochen vor Wut. An der Urne lassen wir dafür die Sau raus. Eine Abrechnung mit der Schweizer Korrektheit.

Laurin Buser

Man lese und staune! Wortakrobat Laurin Buser findet, der griechische Philosoph Permides war der bessere Marketing-Experte als Steve Jobs.

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KREA–

Rolansky

Die Geissel der Ökonomie hält uns im Hamsterrad. Kolumnist Rolandsky sagt allen Materialisten ein Leben in Abhängigkeit voraus. Um 20 Uhr muss der Goldfisch gefüttert werden.

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HINTERGRUND /DAS

/DAS DUELL

Heute: Simon Jacoby vs. Peter Werder

14:59 PW: Da bin ich ausnahmsweise einverstanden: Handeln oder schweigen. Und es tut mir leid, dass sie am 18. Mai keine gesetzlich verordnete Lohnerhöhung erhalten haben. Sie müssen sich offensichtlich weiterhin dem Markt stellen. 14:53 SJ: Es ist doch eine Frage der Konsequenz und der Integrität: Wenn mich etwas stört, muss ich es ändern. Oder aber nichts tun und schweigen. Ich darf motzen, weil am 18. Mai der Mindestlohn begraben wurde, weil ich abgestimmt habe. Alle anderen sollten das nicht tun.

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Simon Jacoby

14:31 SJ: Jaja, das glauben Sie ja selber nicht. Mit dieser Aussage verhöhnen Sie alle, die unter diesem System leiden. Aber es gibt ja noch andere Dinge, die Sie stören könnten. Massentierhaltung,

14:52 PW: Nochmals: Wenn der Energieaufwand gross, der Impakt aber klein ist, entscheide ich mich, nichts zu tun. Das machen die meisten Menschen so. Das ist eine Form der Abgrenzung. Ethisch ist es, wenn man dieses Nicht-Handeln ergänzt mit einem Fokus des Handelns. Lieber fokussieren, als überall ein bisschen helfen ohne Impakt.

Es ist doch eine Frage der Konsequenz und der Integrität: Wenn mich etwas stört, muss ich es ändern. Oder aber nichts tun und schweigen.

14:29 PW: Es stört mich, wenn ein fünfjähriges Mädchen meinen Pulli nähen muss. Da bin ich nicht der einzige. Deswegen kümmern sich - das weiss ich ganz direkt - die Importeure darum, das Problem zu lösen. Aber nicht einfach, indem alle Kinder entlassen oder diese Fabriken geschlossen werden, sondern indem man dieses System langsam und strategisch überführt.

14:45 SJ: Wo sehen Sie da die Ursachen? Wir sind in unserem Handeln unglaublich frei – privat, politisch und ökonomisch – trotzdem tun wir nicht immer, was unseren Präferenzen entspricht. Warum? Gibt es diese schreckliche Generation Maybe trotzdem?

Das Duell: Beim Duell stehen sich in jeder Ausgabe Peter Werder und ein Mitglied der Redaktion zum aktuellen Thema der Ausgabe gegenüber.

Peter Werder

14:24 SJ: Ok, dann stört es Sie aber nicht genug, dass ein fünfjähriges Mädchen ihren Pulli genäht hat. Für wenige Rappen Lohn. Was natürlich schon stimmt und ich gar nicht verstehen kann: Warum müssen viele der Fairtrade-Sachen so komisch aussehen?

* Simon Jacoby: Hmm, was gibt es da zu sagen? Ich schreibe und lese wahnsinnig gerne. Vor allem Politik und Gesellschaft und Kultur und YOLO interessieren mich sehr fest. Auch Häschtägs mag ich. Mitgründer und Co-Redaktionsleiter von dieperspektive

Nochmals: Wenn der Energieaufwand gross, der Impakt aber klein ist, entscheide ich mich, nichts zu tun. Das machen die meisten Menschen so.

14:21 PW: Der Unterschied ist reine Psychohygiene, so lange sie damit keine flankierenden Massnahmen ergreifen. Da spende ich lieber 100 Franken direkt in ein Projekt, als dass ich Pullis nicht mehr nach Ästhetik kaufe.

14:43 PW: Moment. Das ist genau die linke emotionale Art, sich in sachlicher Problemlösung zu versuchen. Analysieren Sie die Situation der Kinderarbeit, verstehen Sie, was damit zusammenhängt, und versuchen Sie dann, das Problem zu lösen. Ich weiss aus meinem direkten Umfeld im Bereich des Textilhandels, dass das Problem schon lange erkannt wurde und dass man die Situation laufend verbessert. Der Druck des Marktes (zum Beispiel über einen Social-Media-Shitstorm) ist gross. Es braucht die mit dem schlechten Gewissen aus Ihren Reihen nicht. Und auch Sie kaufen nach dem Preis ein, seien Sie nicht naiv. 14:43 PW:Und, um Ihre Frage zu beantworten: Ja, ich handle – wie anfangs erklärt – nicht immer, wo mich etwas stört.

* Dr. Peter Werder ist bürgerlicher Politiker, Dozent an der Universität Zürich und leitet die Kommunikation eines Konzerns im Gesundheitswesen.

14:19 SJ: Das ist ja eben der Punkt! Sicher macht es einen Unterschied, ob Sie und ich den Pulli von Switcher oder von H&M kaufen. Da wo es faire Alternativen gibt, können wir auch etwas ändern.

14:41 SJ: Der Markt wird keinen Druck aufbauen, weil wir westlichen Konsumenten immer nur nach dem tiefsten Preis greifen. Damit sind wir zurück bei der anderen Frage: Funktioniert bei Ihnen Eigenverantwortung? Oder haben Sie noch andere Mankos, wo Sie etwas tun, obwohl es Sie stört?

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14:18 PW: Dann bleibt Ihnen die Entscheidung, die Arbeitsbedingungen zu akzeptieren (oder zu ignorieren), oder auf das Smartphone zu verzichten. Hier überlege ich: Wie viel bringt es, wenn ich verzichte, und wie gross ist mein Aufwand dafür für den Verzicht. Verändern würde ich damit mit einem Verzicht nichts, aber es würde mich einschränken. Also kaufe ich das Smartphone.

Verein Stolzewiese und QVO prasentieren:

14:07 Simon Jacoby: Weil ich immer wieder – auch bei mir – feststellen muss, dass es bei vielem gar nicht so einfach ist, es zu verändern. Beispiel Smartphone: Ich will zwar ein iPhone, aber bin mit den Arbeitsbedingungen bei der Herstellung nicht einverstanden.

Umweltverschmutzung und so weiter. Weil Eigenverantwortung bei diesen Themen oft nicht funktioniert, bin ich eher für Gesetze, die das Schlimmste regeln sollen. 14:37 PW: Nein, ich verhöhne sie nicht. Aber ich finde es verantwortungslos, Kinderarbeit einfach zu verbieten und, die Fabriken zu schliessen. Das tut man nur aus dem politischen Druck heraus, weil die Daueraufgeregten auf Ihrer Seite mit dem grossen moralischen Zeigefinger durch die Gegend rennen. Sie leiden an einem Priapismus des Zeigefingers, ohne die Sache zu verstehen. Es braucht den Druck des Marktes, damitss die Herstellung solcher Produkte besser verläuft. Und für eine solche Umstellung braucht es etwas Zeit.

Stolzewiese

13:55 Peter Werder: Ich überlege mir, ob ich es ändern kann oder will. Wenn ja, tue ich es. Wenn es mich stört und ich kann oder will es nicht ändern, dann suche ich einen Weg, damit umzugehen. Die Unterscheidung zwischen Verändern und Akzeptieren ist für mich zentral. Wieso fragen Sie?

stolze - openair.ch

Lieber Herr Werder, was machen Sie, wenn Sie etwas stört?


HINTERGRUND

HINTERGRUND

/Politkolumne

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Ich will es schaffen, dass die Jungen an die Urne gehen!

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KOLUMNE

ie Debatte um die stimmfaule Jugend war eine grosse. Doch so schnell sie hochgekocht war, so schnell war sie gar nicht mehr ganz wahr. Nehmen nun wirklich so wenig Junge an Abstimmungen teil oder nicht? Wie gross ist der Fehler? Müssen wir aktiv werden oder nicht? Die VOX-Analyse wird nach jeder Abstimmung veröffentlicht. Da wird aufgezeigt, wer überhaupt abgestimmt hat, wer wie abgestimmt hat, wer welcher Partei nahesteht und so weiter. Die nach der Abstimmung vom 9. Februar veröffentlichte Studie zeigte, dass nur 9 Prozent der Menschen unten 30 abstimmen gingen. Der Aufschrei war gross, auch bei mir. Ich dachte, wir jungen Politikerinnen und Politiker versagen völlig, erreichen die Jungen nicht. Ich war auch hässig, dass sich die Jungen nicht für die politische Zukunft dieses Landes interessieren, welche sie mehr betrifft, als die älteren Menschen. Dann die Wende. Kantone, welche absolute Zahlen zum Wahlverhalten erheben, veröffentlichten, dass bis zu 40 Prozent der Jungen an der Abstimmung teilgenommen haben. Das sind Fakten, keine Befragungen, welche von Politologen hochgerechnet werden. Da war ich dann wieder hässig, weil ich mich so in was reingesteigert hatte und dann stimmte das alles gar nicht. Und nun? Welche Zahlen stimmen denn nun und welche Massnahmen müssen nun ergriffen werden? Was wir mit Sicherheit sagen können: Wir haben in unserer direkten Demokratie mehr Angaben zu jeder einzelnen Kuh in diesem Land, als zum Wahlverhal-

/Wie kommt Krieg in unsere Köpfe?

Wie kommt der Krieg in die Köpfe – und die

Aline Trede ten unserer Bevölkerung. Das ist doch nicht normal. Also formulierte ich eine Anfrage an den Bundesrat zu politischer Bildung und Partizipation in der Schule. Diese schadet nie und ist immer aktuell. Der zweite Vorstoss geht in die Datenerhebung. Wir brauchen eine gesamtschweizerische Statistik, wer an den Abstimmungen teilnimmt und wer nicht. Das ist anonymisiert und datenschutzsicher möglich. Manchmal ist es schwierig, gerade was zu ändern, was dich stört oder hässig macht. Aber Emotionen helfen mir immer, im Hirn zu einem Lösungsvorschlag zu kommen. So hoffe ich doch, dass meine Vorstösse durchkommen und die Jungen wirklich an die Urne gehen – das ist mir wirklich ein grosses Anliegen.

TEXT

Heinrich Frei

Die Ausstellung im Schweizer Landesmuseum in Zürich lässt die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auferstehen, « das Glück vor der Katastrophe » . 1914 begann der Erste Weltkrieg der Millionen Menschen das Leben kostete. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden den Menschen durch Kultur und Politik die Gewalt und die Lust auf Zerstörung, und der Glaube an gerechte Kriege in die Köpfe eingehämmert. – Sonst wären sie 1914 nicht hüben und drüben mit ihren Feldpredigern in den Tod marschiert. –

Aline Trede ist grüne Nationalrätin aus dem Kanton Bern. Nicht alles an ihr ist aber grün: Sie hat fünf verschiedenfarbige Brillen, keine einzige davon ist grün. Weil sie Politikerin ist, schreibt sie für uns immer über Politik.

Ist es jetzt harmlos, wenn jetzt sogar auf den Handys mit dem Apps « First Strike » Atomkrieg « gespielt werden kann? Ist es « normal », wenn die Gratiszeitung « 20 Minuten » und der « Blick am Abend », und auch konservative Tageszeitungen laufend die neusten Killer Games vorstellen, den Jugendlichen Kriege so schmackhaft machen? Diese Games sind übrigens ein Milliardengeschäft… Es gehört zu unserer « Kultur » ( w ie der Hafenkran ), dass in Zürich-Seebach Menschen durch Actionspiele mit pistolenähnlichen Infrarot-Signalgebern in einem Gebäude gegen einander kämpfen. In Wäldern wird mit Paintball gespielt, auf einander geschossen. – Unsere Pfeilbogen unsere Steinschleudern waren natürlich gefährlicher, muss man auch noch sagen. Killergames werden wie Kriegsfilme oft in Zusammenarbeit mit Armeen produziert. Das Ziel: Die Akzeptanz für den Kriegsdienst soll so gefördert und die Rekrutierung erleichtert werden. Das Videospiel « Doom » (Schicksal, Verhängnis), verwendete das US-Marine Corps in abgewandelter Version mit dem Namen « M arine Doom », um seinen Rekruten das Töten beizubringen. Auch die Rüstungsindustrie ist bei der Games-Industrie mit ihren Geräten dabei. Die Softwareentwickler bei der virtuellen Darstellung der Games greifen gern auf reales Militärgerät zurück, in Deutschland auf den Panzer « Leopard 2A5 », den « Eurofighter » usw. Heinrich Frei

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WENN ES DICH STÖRT, WARUM TUST DU NICHTS? /Die Kunst, einfach kein Interesse zu haben

/Die Kunst, einfach kein Interesse zu haben

Lethargie, Apathie, Akzeptanz und Prokrastination Oder: die Kunst einfach kein Interesse zu haben

Plätzchen nieder, doch ehe man die Augen schliessen kann, um in Frieden etwas zu dösen, wird die Ruhe durchbrochen von dem jungen Mann, mit AugenbrauenPiercing und Chinesischen-SchriftzeichenTattoo am Nacken, der laut Techno aus seinem Handylautsprechen dröhnen lässt. Die Wut im Bauche steigt abermals rasant an und das Abwägen der Optionen beginnt: neuer Platz suchen, den Idioten höflich bitten den Lärm zu drosseln oder einfach abwarten und erbosen. Man bleibt, zürnt und hofft, denn einen neuen Platz suchen ist zu mühsam, vor einem Gespräch hat man zu sehr Angst und im Akzeptieren hat man zu wenig Übung. Aber es sind nicht nur die portionierten Momente im Leben, welche einem plagen und schäumen lassen. Es ist ein ewiges Hin und Her zwischen dem Aufgeben und dem Verwirklichen, der eigenen Träume. Und obwohl die meisten fluchend entrüsten – denn jedes System strebt nach dem energetisch günstigsten Zustand – gibt es dennoch ein paar wenige Krieger, die sich tatsächlich für die eigenen Ziele einsetzen, mit festem Glauben alles erreichen zu können, wenn man nur will. In Vereinen, Parteien oder als Einzelkämpfer ringen sie für ihre Anliegen, verbreiten medial ihre Propaganda und suhlen sich in ihrem selbsterarbeiteten Leiden, um ihre leeren Leben mit Sinn zu erfüllen. Wie Don Quijote reiten sie mit glänzendem Panzerkleid gegen die Windmühlen, die sie selbst als Riesen sehen wollen, schwitzen und heulen unter der Belastung, nur um sich mit Selbstlob zu überhäufen und um Held der eigenen Geschichte zu werden. Sie streiten und polemisieren in Wort und Tat, mit der Erwartung die Welt zu verbessern, denn wer nicht kämpft, hat schon verloren, und vergessen dabei völlig, dass es nichts zu gewinnen und auch nichts zu verlieren gibt, denn sämtlicher Aufwand, der über das Stillen der Grundbedürfnisse hinausragt, ist nur bedeutungsschwangere Beschäftigungstherapie. Doch sie lassen nicht ab und fragen nicht wozu, sondern verfolgen ihre Ideologie mit der Überzeugung, dass jedes Scheitern eine neue Chance ist.

Dominik Wolfinger

Es bleibt das Scheitern als einzige Perspektive des Kämpfenden, denn wenn auch eine Gesellschaft ist nur so stark, wie die Leistung jedes Einzelnen, so ist es eben genau dieser, der den ideal Zustand verunmöglicht. EIN ESSAY VON ILLUSTRATION

Dominik Wolfinger Tymen Goetsch

s waren einmal drei Männer, die lebten in einem Raum. Eines Tages brannte die Glühbirne, welche baumelnd von der Decke den Raum beleuchtete, durch, sodass sich der Raum komplett in Dunkelheit hüllte. Die drei Männer wurden der neuen Lage gewahr; der Erste fing an zu beten, in der Hoffnung, Gott sende neues Licht, der Zweite verliess den Raum, um eine neue Birne oder andernfalls einen neuen Platz zu finden, der Dritte blieb da, sass legere im Dunkeln und akzeptierte die ungewohnte Gegebenheit. Nur der dritte Mann lebte ein Leben, so glücklich und zufrieden wie eben nur möglich. Wer kennt nicht die alltägliche, bürgerliche Ohnmacht? Es beginnt jeden Montagmorgen auf dem Weg zur heissersehnten Arbeit. Man schleppt den müden Körper in die überfüllte Bahn, nimmt einen Schluck von dem lauwarmen Kaffee und bevor man die überteuerte Brühe schlucken kann, steigt bereits der Puls vor Ärgernis, da neben dem einzig freien Platz ein nach Alkohol stinkender Typ liegt. Man zieht suchend weiter und lässt sich schliesslich auf dem nächst besten

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irgendeines anderen. Wo bleibt denn nur die Liebe zur Gemütlichkeit mit einem leichten Hauch von Ignoranz, wo das simple Befriedigen der kleinen Bedürfnisse und wo die Zufriedenheit mit dem was man bereits besitzt? Noch nie war der Müssiggang so süss und so reich an Unterhaltungsmöglichkeiten. Noch nie war es so einfach die romantische und hoffnungsvolle Vorstellung einer schönen, neuen Welt zu verdrängen. Schliesslich ist nichts angenehmer und behaglicher als die Akzeptanz der täglichen Barrieren, der allmächtigen Ungerechtigkeit und der Absurdität von so ziemlich allem; Oder wie es einst Michael Ende der Uralten Morla – das einzige intelligente Wesen aus der unendlichen Geschichte – in den Mund legte: « Alles wiederholt sich ewig, Tag und Nacht, Sommer und Winter, die Welt ist leer und ohne Sinn. Alles dreht sich im Kreis. Was entsteht, muss wieder vergehen, was geboren wird, muss sterben. Hebt sich alles auf, das Gute und das Böse, das Dumme und das Weise, das Schöne und das Hässliche. Ist alles leer. Nichts ist wirklich. Nichts ist wichtig. Wenn du alt wärst wie wir, dann wüsstest du, dass es nichts gibt als die Traurigkeit. Warum sollen wir nicht sterben, du, ich, die Kindliche Kaiserin, alle, alle? Ist doch alles nur Schein, nur ein Spiel im Nichts. Ist alles ganz gleich. Du musst geschehen lassen, was geschieht. Alles muss dir gleich gelten, das Böse und das Gute, das Schöne und das Hässliche, das Törichte und das Weise [...] Du darfst nur suchen und fragen, aber nicht urteilen nach deinem eigenen Urteil. » Daher ein Dreifach-Hoch auf die Lethargie, Apathie, Akzeptanz und Faulheit; die Prokrastination, den Stoizismus und Laissez-faire. Und nicht zu vergessen ein freundschaftlicher Schulterklopfer für alle, die sich tatsächlich für etwas in der Welt einsetzen. Dominik Wolfinger. Jahrgang 88. Liechtensteiner. Dramaturgiestudent.

« Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern. » Samuel Beckett Es bleibt das Scheitern als einzige Perspektive des Kämpfenden, denn wenn auch eine Gesellschaft ist nur so stark, wie die Leistung jedes Einzelnen, so ist es eben genau dieser, der den ideal Zustand verunmöglicht. Die einzige Gemeinsamkeit aller Individuen ist das gottgegebene Elend, das man die eigene Misere verbessern will und das gezwungenermassen auf Kosten

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WENN ES DICH STÖRT, WARUM TUST DU NICHTS? /Empörung ist Liebe

Empörung ist Alles brüllt in dieselbe Richtung, nur niemand weiss wohin. Parolen fallen flach; die Klagen sind nicht neu. Fahnen kreisen, Menschen stampfen vor sich hin. In der Masse ja da trabt sich’s schön. Kann man überhaupt noch eigene Wege gehen?

dieperspektive.ch | facebook.com / dieperspektive Beat Ospelt, 22, glücklich träumender Student mit Schlafmangel

aus unzähligen perspektiven

fluss, der uns entfremdet und all das Schöne erstickt – Überdruss! Und all die kleinen Hässlichkeiten, die wir nicht zu ernst nehmen dürfen, hinsehend und doch wegsehend, denn wir sind geil darauf und unser stumpfer Blick spiegelt sich in der platten Scheibe. Starre Gesichter, stumm, abgestumpfter Mensch oder Figur. Nur ein Flimmern... Ich spüre Empörung: ab mir, ab euch und der Art und Weise, wie wir unser Leben vergeuden. Und genau dieses Gefühl ist es, welches die nicht-gewählten Widersprüche schliesst, nicht versöhnt aber denkbar handlungsfähig macht. Es verweist permanent gedacht die Richtung. Empörung ist Liebe, denn sie bejaht, was sie nicht verneint sehen will. Liebe zum Leben, wo auch immer es negiert wird. Empörung gibt Anstoss, doch kann nicht wirklich lenken, nur verschwommen leiten. Herumgeschubst auf der Suche nach Balance straucheln wir. Es stimmt etwas nicht: so lasst die Tauben sprechen und die Stummen hören! Damit wir Blinden vielleicht sehen... und die Taubstummen begreifen. Es braucht nicht viel zur Vermittlung, doch Worte bleiben zumeist leer. Das Unsagbare kann nur gefühlt und getan werden. Über Liebe kann man nicht sprechen.

themen

brennt. Unterm Rad und trotzdem – Was tun? Stumme Worte schreien schweigend, angesichts des Unverstehbaren... Warum tun wir nichts? Lähmende Ohnmacht hält mich fest. Die Kluft überwinden, so scheint, kann nur ein starkes Gefühl. Doch diese können blenden, hetzen und vernichten. Man muss gut hinhören, horchen um ihre Stimme im Wirrwarr der Gedanken und Phrasen des Alltags zu hören. Nur manchmal sprechen sie ziemlich laut und deutlich, kurz und hemmend, wenn wir uns vermeintlich gewiss werden, was alles unbemerkt geschieht. Wir haben uns daran gewöhnt, sind hineingewachsen in diese Mühlen. Ich lache manchmal darüber, welch blutig Mehl wir mahlen, um mich nicht selbst zu verlieren. Tausend verschiedene Chöre singen der Betäubung. Vielleicht ist es auch gut so, wollen wir unser zerrissenes Selbst nicht vollends aufgeben. Doch durch Lachen tötet man Gefühle. Und was für Worte können von Geburt an fast Taube schon sprechen? Es ist mehr ein Stammeln, das manchmal über meine Lippen läuft, unfähig Gefühle in Worte zu fassen, unfähig Sinn zu erfassen, noch zu vermitteln. Aber ich spüre etwas; unabweisbar legt es sich in mich, durchfließt meine pochenden Adern und treibt mir abscheulichen Ekel in die Stirn, Hass auf diesen falschen Über-

kunst, kultur und politik

Beat Ospelt Tymen Goetsch

enn alle mit dem Kopf nicken, läuft immer etwas falsch! Sich orientieren, kann nur jeder für sich selbst. Was tun, will man nicht das Falsche tun, ohne zu wissen, was das Richtige wäre? Ohne richtig oder falsch läuft der Zweifel traurig vor sich hin. Die freien Strassen des Nachtens menschenleer: Schaufenster als Sinnbilder der modernen Welt glitzern hämisch lockend und doch so abstossend. Starre Puppen, tote Gesichter, die doch Freude suggerieren, tragen Abglanz von Wirklichkeit. Falsches Lachen und künstlich Licht flimmert durch die Gassen. La vie est ailleurs... « Was nicht wahr sein darf, ist es auch nicht » – und weiter geht die Höllenfahrt. In der Tram leckt sich das Gewissen, sitzt vor sich selber da und schaut apathisch durch dicke Scheiben. So viele Dinge, die ich nicht brauche... « heraus, heraus! » – steht an die nächste Wand geschrieben und das blasse Schema wiederholt sich. Widersprüche, überall wohin man sieht: in sich, der Welt und nebendran. Konsequenz im Leben unmöglich – zumindest für diejenigen, die genügend denken. Selbstbetrug ist weit verbreitet und der Alltag macht stets davon Gebrauch. Gezwungen zu handeln, bilden sich fortwährend kleine Risse im Selbst und langsam aber unbemerkt dreht sich das Rad in seinen Fugen. Es muss weiter gehen. Dazwischen stecken sie und verweisen auf das unausgesprochene Wort. Es tut weh. Die Kluft zwischen Denken und Tun schneidet tiefer, je mehr man überlegt. Es

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die interaktive zeitschrift für

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beleuchtet

TEXT ILLUSTRATION


WENN ES DICH STÖRT, WARUM TUST DU NICHTS? /Wie ein Glückskeks mein Leben veränderte

/Wie ein Glückskeks mein Leben veränderte

«W

Meinem Bürokollegen wünschte ich einen, aus dem exzessiven Kaugummikauen resultierenden, ausgerenkten Kiefer; meine Sekretärin sollte bei Gesprächen fortan den angemessenen Meter Abstand halten, damit ich ihre Spucke nicht mehr auf meinem Antlitz spürte; meinem Chef schrieb ich eine alphabetisch geordnete Liste mit 26 Schimpfwörtern. weg um meine Zigaretten zu kaufen. Wenn man so viel raucht wie ich, ist das beschwerlich. Ich wünschte, du hättest nach unserem Treffen nicht ‚bis zum nächsten Mal’ gesagt ohne es auch zu meinen. Aber das tut man wohl, um sich Abschiede zu erleichtern. Na dann: Bis zum nächsten Mal.» Ich hatte kurzweilig Mühe mit dem Schlucken und ein etwas vernebeltes Sichtfeld, spülte Frau Melancholie jedoch mit etwas Whiskey hinunter.

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Exfreundin zuerst: « Ich bin hier, du nicht. Mein Schnauz ist weg, deiner nicht. » Mehr zu sagen gab es nicht. Ich entfernte den ersten Papierbogen aus der Schreibmaschine und unterzeichnete locker aus dem Handgelenk. Um gleich bei den Personen zu bleiben, denen ich weniger bedeutet hatte als sie mir, schrieb ich der Kioskfrau am Bahnhof. «Ich gehe jetzt den zehnminütigen Um-

Meinen verliebten Nachbarn schrieb ich, dass sie sich doch mit dem Sex so lange zurückhalten mögen, bis ich selber wieder welchen hatte; der Hooligan unter mir sollte damit aufhören, sein fragwürdiges Erbgut in den Hausflur zu spucken; meine Nachbarin von nebenan sollte endlich nicht mehr nach Mehl fragen, wenn ich nie beschissenes Mehl habe. Indisch sollte man nur noch einmal in der Woche kochen dürfen.

TEXT Jasmine Helbling ILLUSTRATION Tymen Goetsch

Ich schrieb auch der Stadt Zürich, der Migros, SBB, Weltwoche und einer Reihe weiterer Medien und Stellen öffentlichen Ärgernisses. Als die ersten Sonnenstrahlen durch mein Fenster drangen, klebte ich den letzten Umschlag zu, entledigte mich der Briefe bei der nächstgelegenen Poststelle und schlief den Schlaf des Gerechten. Das ist nun eine Woche her. Meine Bananen sind verfault, das letzte Fertiggericht gespiesen, die Zigaretten geraucht und der Whisky – nun ja, wenn ich das nur wüsste. Ich habe Hunger, stinke und bin wieder unrasiert. Ich bin weder zur Arbeit gegangen noch habe ich das Haus verlassen. Ich sehne mich nach dem Duft von Curry; nach meiner Kioskfrau, die ich zwar nicht mehr aus der Nähe, doch aber von der Ferne zu betrachten wagte; nach Sexgeräuschen, die, wenn auch nicht schön, doch noch besser als Stille sind; ja, sogar die Spucke im Gesicht vermisse ich. Ich weiss nicht, was ich erwartet habe, doch vielleicht wenigstens eine Reaktion. Ein Anzeichen dafür, dass auch ich Gefühlsregungen auslösen kann – bei den Menschen, welche mir tagaus tagein im Kopf herumschwirren. Am achten Tag erhielt ich einen Brief. Die Migros teilte mir mit, dass ich nicht der erste Konsument sei, der sich beschwere und dass der alpine Kräutereistee, dank einer alle Erwartungen überschreitenden Nachfrage, wieder ins Sortiment aufgenommen werde. Mit Gutschein. Schade nur, dass ich mich nicht mehr aus dem Haus getraue.

Ja, es stimmt: Ein Gücksbringer aus Waffelteig hat mein Leben in neue Bahnen gelenkt. Man mag zwar getrost behaupten, dass ich dasselbe schon Monate zuvor mit eigenen Kräften versucht hatte, dass aber schliesslich ein beinahe vertrockneter Glückskeks aus dem anspruchslosen asiatischen Restaurant neben meiner noch viel anspruchsloseren Wohnung die in Kürze erzählte Geschichte ins Rollen gebracht hat.

Jasmine Helbling, 24, ist Journalistin,

Wie ein Glückskeks mein Leben

Ich musste etwas ändern:mein Leben. Da sich das Leben aber nicht von der einen auf die andere Minute ändern lässt, bedurfte es einiger Vorbereitungen, welche ich sobald als möglich einleitete. Zuerst möchte ich den Leser jedoch in meinen Plan einweihen: Mein sich zum Bessern änderndes Leben sollte damit beginnen, dass ich jeder Person einen Brief zukommen liess, über welche ich mich in der letzten Woche aufgeregt hatte. Eine Ausdehnung auf die davorliegenden Wochen oder gar Monate hätte eine beträchtliche Papierverschwendung zur Folge, die ich meinem bescheidenen Geldbeutel mit Blick auf die Zukunft nicht antun wollte – schliesslich sollte das Leben besser werden. Was ich mir von den brieflichen Anschuldigungen erhoffte, wusste ich nicht, war auch nicht wichtig. Vielleicht träumte mein in der Nacht vor dem grossen Tag verklärter Geist von einer nicht vorauszuahnenden Metamorphose, in der sich alles – oder in meinem Fall jeder – zum Guten wandelte, was zweifelsohne direkte Konsequenzen auf mein kümmerliches Leben hätte. So weit, so gut. Als Erstes kaufte ich mir Briefpapier. Nachrichten, in denen sich herausstellt, dass man das Übel eines anderen Menschen Leben war, liest man nicht gerne, so vermutete ich. So sollte man solche Hiobsbotschaften wenigstens auf schönem Briefpapier erhalten. Blumen mögen die meisten Menschen. Da ich unmöglich erahnen konnte, in welchem Ausmass sich meine Anklageschriften ausdehnen würden, kaufte ich ein neues Band für meine Schreibmaschine und mehrere Dutzend Briefumschläge. Auch naiv war ich nicht: Ich wusste, dass ich nach dem Versand meiner Nachrichten wohl einige Tage hinter sicheren Türen verbringen sollte und besorgte mir einen Vorrat an Zigaretten, Mikrowellengerichten, Bananen und zuguterletzt Whiskey – nicht weil ich ihn mochte, sondern damit ich mir tollkühn vorkam. Es kam mir passend vor, meine Mission mitten in der Nacht zu beginnen, während meine noch nichts ahnenden Freunde, Verwandten und Bekannten sich in tiefem Schlaf wiegten. Ich setzte mir meine Brille auf, strich über das frisch rasierte Gesicht, nahm einen ersten Schluck Whiskey und hiess die Inspiration freudig willkommen, als sie mir ins Gesicht klatschte.

Germanistik-Studentin und Bücherwurm.

enn es dich stört, warum tust du nichts», stand da. Buddha oder Dalai Lama – ich kann die beiden nie unterscheiden. Eine Offenbarung in Waffelteig. Ja, wieso, fragte ich mich, und plötzlich schien das Leben federleicht. Noch vor Ort begannen sich meine Gedanken zu entfalten. Gerne hätte ich sofort gehandelt; bei meinem Bart begonnen und mich seiner, mithilfe des stumpfen Plastikmessers und der zu sauren Sojasauce, entledigt. Das trägt man jetzt so, deklarierte meine jetzt-nicht-mehr-Freundin und verwies auf eine Reihe bekannter Hinze und Kunze, deren Namen ich gleich wieder vergass. Exfreundin, Exbart. Ich schrieb in Gedanken ein Memo und widmete mich den dringlicheren Problemen des Lebens: Ich hasse meinen Job und ich hasse meine Wohnung. Mein Chef ist ein Arschloch und mein Wohnblock die Anlaufstelle weiterer Ausgeburten dieses Typus. Schnell begriff ich, dass der Ursprung jeglichen Übels nicht bei mir lag, sondern bei allen anderen. Natürlich sollte ich mir eine neue Wohnung und einen neuen Job suchen, doch feststand, dass mir das Schicksal in den erwarteten Utopien nur wieder auf dieselbe feixende Art auf die Schuhe kacken würde.

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Daniela Meier

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WENN ES DICH STÖRT, WARUM TUST DU NICHTS? /Seelenspiegel

Joy Tieg

TEXT ILLUSTRATION

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Joy Tieg Tymen Goetsch

tille, ab und zu ein Husten aus dem Zimmer von nebenan. Kein Regen, der auf das Dachfenster prasselt, kein Gejohle von draussen, denn da ist kein Platz um zu johlen, keine Musik und auch sonst kein Laut, der hinderlich sein könnte. Das Zimmer ist dunkel, kein Tageslicht, das durch den Rollladen blinzelt, denn es ist ein Uhr morgens. Keine angeknipste Lampe, keine Kerzen und auch sonst keine Helligkeit bringende Quelle. Die Temperatur ist angenehm, keine den Tag durch angestaute Hitze, die nicht entweichen kann und auch keine Eiseskälte wie manchmal im Winter… und doch, etwas stört, etwas hindert, etwas nervt und zwar gewaltig. Es ist das Ich oder ein Teil von eben jenem mysteriösen Ich. Besser gesagt, es sind die Gedanken. Sie rotieren. Ist es wegen zu grossem Stress bei der Arbeit? Nein, denn momentan sind Ferien. Vielleicht, wegen zu wenig Beschäftigung? Auch hier: Fehlanzeige. Der Grund liegt ganz einfach bei der Person, die hier liegt, versucht die Tür zu dieser vermaledeiten Traumwelt zu finden und sich dabei aber immer wieder verrennt, so, dass sie von vorne beginnen muss. Sie ist müde, da gibt es keine Frage, schon die Nacht davor und auch der Vorgänger jener Nacht verlief wenig befriedigend: viel Denken, viel Hinterfragung, wenig Ergebnisse und noch weniger Ergebnisse, die dann auch wirklich geblieben sind. Sie könnte eine Schlaftablette besorgen, vielleicht am kommenden Tag, sie könnte einen Beruhigungstee trinken oder Schafe zählen aber dazu hat diese Person keine Lust. Wieso auch? Die Gedanken hindern sie ja trotzdem am Schlafen und mit einer Schlaftablette kann sie zwar vielleicht abdriften (kann man davon high werden?), dafür ist sie am folgenden Tag und somit auch am Abend weniger müde, damit ist die Chance kleiner, dass sie Schlaf findet und dann müsste sie wieder eine Tablette nehmen und am darauf folgenden Abend würde sich das Ganze wiederholen und dann wieder. Die Müdigkeit verhält sich gleich wie Cumulus-Punkte: Man muss sie sammeln, bis sie sich in unerhörter Großzahl angesammelt hat und dann, bei geschätzten 100 000 Punkten kann man sich einen Einkaufskorb voll Schlaf leisten, der sich auch lohnt. Worüber sinniert jene Person im Bett liegend, in diesem wohl temperierten, lärmfreien Raum mit perfekt lichtlosen Schlafzimmerverhältnissen? Über Freundschaft, Karma, das Glück und wie schwer es doch ist, dieses in der heutigen Welt zu finden. Über Bekanntschaften und den Fakt, einfach nicht richtig im Kopf zu

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sein. So richtig falsch. Irgendwie nicht zu ihrer Generation passend und darüber, ob sie in ihre Generation passen würde, wäre sie vor dreihundert Jahren geboren worden. Dann wäre sie sozusagen eine alte Seele, die falsch recycelt wurde, so dass sie in der heutigen Zeit nicht richtig funktionieren kann, weil die Anschlüsse und Koppelungen im Hirn irgendwie falsch angelegt wurden. Mangelware. Oder wurde sie zu früh geboren? Eventuell würde sie in einer späteren Zeit, so in geschätzten 200 Jahren, wenn Embryonen eingefroren werden, um sie als Spender für alte Menschen, die Angst vor dem Tod haben, verwenden zu können, richtig sein. Die Embryonen wären dann sozusagen ungeborene Hülsen, die darauf warten, Seelen eingepflanzt zu bekommen. Nun lebt die Person aber in der heutigen Zeit. Was unterscheidet sie von anderen? Das ist es, was sie sich in diesem Augenblick fragt, denn findet sie das heraus, kann sie es vielleicht ändern. Liegt es in der Art, wie sie sich kleidet? Vielleicht, die Person legt vielleicht weniger Zeitaufwand in den Kleidereinkauf, als andere Individuen ihres Alters und doch unterscheidet sich ihr Look nicht groß von dem anderer. Vielleicht liegt es an ihren Interessen? Sie schaut gern Filme und Serien, nicht immer die klassischen Streifen aber auch diese ab und zu. Sie liest gern, geht gern raus, kocht gern zusammen mit anderen, auch wenn sie darin nicht besonders gut ist. Könnte es an ihrem Nachtleben liegen? Zugegeben, in Clubs trifft man sie nicht oft an, das liegt aber nicht an fehlendem Interesse, eher daran, dass sie nicht weiß, mit wem sie gehen sollte. Sich sporadisch den Rest geben ist ja ganz interessant, auch befreiend, aber nicht gehäuft. Das findet sie, ist vergleichbar mit Antibiotika, es tut ganz gut, sich zwischendurch so zu sagen auf eine « heilende Kur » zu setzen, bei zu regelmäßigem Gebrauch richtet es aber eher Schaden an und man wird resistent vor den guten Wirkungen. Auch den Trend, etwas zu trinken, das man nicht mag, kann die Person nicht wirklich nachvollziehen. Sich betrinken ist ja ganz schön, aber wieso sich quälen? Könnte das ein Grund sein? Eventuell. Vielleicht liegt es an ihrem zyklisch auftretenden Mangel an Selbstsicherheit und der damit verbundenen Zurückhaltung? Aber ist nicht jeder seiner selbst wegen unsicher? Es ist nichts so persönlich wie das Selbst, da ist es doch natürlich, dieses zu hinterfragen und manchmal eben auch zu verabscheuen. Könnte es daran liegen, dass die Person zu viel über sich selber spricht? Nein, das glaubt sie nicht, das hängt immer von den anderen ab. Worüber die sprechen, ob sie

Oder wurde sie zu früh geboren? Eventuell würde sie in einer späteren Zeit, so in geschätzten 200 Jahren, wenn Embryonen eingefroren werden, um sie als Spender für alte Menschen, die Angst vor dem Tod haben, verwenden zu können, richtig sein.

Seelen

/Seelenspiegel

die Person nach sich fragen, oder nicht. Spricht sie zu wenig über sich? Nein, eigentlich nicht. Okay, sie gibt nicht jedem einen richtigen Einblick in das Leben und die Gedanken aber wer tut das schon? Da muss der Kumpane zuerst auf das Fairtrade – Label geprüft werden. Wie geht er mit Informationen um? Behandelt er einen fair oder wird er plötzlich zu einem seelensaugenden Monster mutieren? Und vor allem, erzählt der andere von sich selber oder will er einfach nur über einen selber Bescheid wissen? All das muss die Person vorsichtig prüfen, abwägen und schauen, ob Vertrauen angebracht ist. Sonst ist das schlimm, sonst geht alles nach hinten los. Ändern will das die Person nicht, denn das handhabt sicher jeder so. Diese Sicherheit braucht man, die Person braucht sie.« Nein, ohne das funktioniert es nicht », denkt sich die Person. «Wenn es nicht an der Kleidung, den Interessen, der Art, sich zu geben liegt, woran könnte es dann liegen? » – ja, die Zweifel laufen verrückt in ihrem Kopf, türmen sich auf, bis sie sich in kraftvollen Wellen überschlagen und einen Sandwirbel auf dem Grund ihres Wesens auslösen. Ist sie eine falsche Person? Nein, eigentlich nicht. Darin, sich zu verstellen, ist sie nicht gut. Nicht mehr. Ist sie streitsüchtig, immer auf der Suche nach einem Haken, an dem sie einen Konflikt aufhängen könnte? Nein, außer in der Fiktion und der Musik mag sie Disharmonien nicht besonders. Bruch – die Person hält es nicht mehr aus, alleine, schlaflos in diesem Bett mit der gelb-blau gemusterten Bettwäsche. Ruckartig setzt sie sich auf. Zuerst den linken, dann den rechten Fuß aufsetzen, leicht mit den Handflächen Druck auf das Bett ausüben und sich aufrichten. Der Schwerpunkt verlagert sich vom Gesäß auf die Fußsohlen. Unruhiger, von Müdigkeit

durchtränkter Gang, Arm ausstrecken, Lichtschalter drücken, vor den Spiegel stellen. Da sind zwei Beine, weder O- noch X-förmig, ein relativ flacher Bauch, leicht vorgeneigte Schultern. Drehen. Waden, ein praller Po, ein durchschnittlicher Rücken. Drehen. Zwei Augen aus einem nachdenklichen Gesicht blickend. Eine normale Figur, keine Anomalien, die das Gefühl der mangelnden Zugehörigkeit erklären könnten. Vielleicht etwas pummelig, ein wenig Osterspeck, der dann zu Geburtstagskuchenspeck, zu Weihnachts- und Neujahrsspeck wird, aber auch andere dieser Zeit haben den, daran kann es nicht liegen. Die nackten Füsse tapsen über das Parkett, bringen den Körper zurück unter die wärmende Decke. Es liegt nicht am Körper. Könnte es an der politischen Einstellung liegen? Besonders bewandert ist sie nicht in Sachen Politik. Bei Abstimmungen informiert sie sich zwar immer und setzt ihre Jas und Neins, ansonsten weiss sie mit der Politik nicht viel anzufangen. Ist sie eher links, eher rechts, mittig? Vielleicht Mitte links mit leichten Abweichungen je nach Angelegenheit. Vielleicht liegt es an ihrer Unentschlossenheit? Naja, wirklich unentschlossen ist sie auch nicht, sie hat ihre Meinungen und steht dazu. Sie sind einfach nicht klar in eine Sparte einzuordnen. Das geht aber sicherlich weiteren Menschen so. Es liegt nicht an den politischen Einstellungen oder dem Körper, nicht an der inneren Einstellung oder daran, wie sie sich gibt, nicht an den Interessen und auch nicht daran, wie sie sich kleidet. Da liegt sie, die Person, verzweifelt und hinterfragt das eigene Wesen Faser für Faser. Vielleicht kann die Person gar nicht erkennen, was falsch mit ihr ist, weil ihr die nötige Distanz fehlt. Vielleicht kann sie noch so lange wach liegen bleiben und sich den Kopf zerbrechen, ohne eine Anleitung zu finden, die ihr den Weg zu einer normalen Persönlichkeit weist. Vielleicht ist es sinnlos, sich nach Veränderungsansätzen zu sehnen, weil ihr dann das Letzte verloren geht, das sie wirklich hat auf dieser Welt: das Selbst. Beruhigt von diesem Gedanken lässt die Person die Schwere endlich in sich, lässt es zu, dass der wartende Hades der Traumwelt sie in sein Bot lädt und durch das mächtige Tor in die Traumwelt führt. Ruderschlag um Ruderschlag um Ruderschlag… Joy pilgert momentan in Bern umher. Sie haust dort in einer romantisch angehauchten Mansarde, hat viele Rendezvous mit ihrer Computertastatur und foltert ganz nebenbei die Mit– bewohner mit ihrem Gitarrenspiel. Dieses steht nämlich noch in den Kinderschuhen.

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WENN ES DICH STÖRT, WARUM TUST DU NICHTS? /Tatort Bahnhofsplakat

/Tatort Bahnhofsplakat

Bahnhofsplakat Wenn dich etwas stört, wieso tust du nichts? TEXT ILLUSTRATION

D. Frey Tymen Goetsch

Bahnhof Rapperswil, Gleis fünf. Auf ein Plakat hat jemand mit schwarzem Filzstift « Deutsche Raus » geschrieben. « Deu.. tschee rau...ss. Papi,wieso schribed die das da druf ? »« Ich weiss nöd »« Das isch doch mega gemein, findschnöd? » Entrüsteter Blick nach oben. « Ja, doch. » Der Junge hat Recht. Das ist wirklich mega gemein. Durchstreichen, abreissen, antworten? Wie? Etwa so: « Liebe Deutsche, sorry für alle Schweizer, die so etwas denken, sagen oder auf Plakate schreiben. Wir sind nicht alle so. » Wieso auch nicht? Man müsste einen Edding haben. Oder man müsste wiederkommen. Auf Rapperswil. Man müsste sich die Zeit nehmen. Man müsste den Mut haben. Und überhaupt: Das liest doch sowieso keiner und es würde ja doch nichts ändern an der Einstellung gewisser Schweizer.Vielleicht mach ich es morgen. Oder so. D.Frey, 19 Jahre, Studentin

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Sarah Weishaupt


WENN ES DICH STÖRT, WARUM TUST DU NICHTS? /Ausweichen ist keine Option

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Marco Büsch

Es gibt viele Situationen, bei denen man Konflikten ausweichen kann. Sie zu lösen ist eindeutig besser. Das ist manchmal einfacher gesagt als getan. Aber wie schon der Erbauer des Sues-Kanals, Ferdiand de Lesseps, meinte: «Unsere Gegner sind Lehrer, die uns nichts kosten.» - und Konflikte manchmal besser als jedes Schulbuch. Ich bin kein sehr lauter Mensch und gehe Konflikten gerne aus dem Weg. Wobei das so auch nicht ganz stimmt, ich gehe vor allem denjenigen Konflikten aus dem Weg, welche mir nicht so wichtig erscheinen. Wie letztens, als ich mich im Tram neben eine Frau setzen wollte und sie höflich darum bat, sie solle doch bitte ihre Tasche vom Sitz entfernen und sie mir darauf entgegnete, dass dieser Platz schon besetzt sei für jemand anderen, da habe ich mich einfach auf einen anderen Platz gesetzt. Ich habe mir danach überlegt, dass es eigentlich eine Frechheit sei, im Tram Sitze zu reservieren, ausser man hat auch zwei Tickets dafür bezahlt. Aber gesagt habe ich nichts. So wichtig war es mir dann doch nicht. Mit dieser Vermeidungstaktik bin ich ziemlich weit gekommen bis jetzt. Aber in der Jugendpsychiatrie, in der ich zurzeit meinen Zivildienst leiste, habe ich gelernt, dass Ausweichen vielleicht eine bequeme, aber selten die beste Lösung eines Konfliktes ist und übe jeden Tag, gezielt in Konflikte hineinzugehen, um vielleicht mit einer guten Lösung heraus zu kommen. Im besten Falle. Es stimmt wirklich: Kinder sind grausam. Die lassen dich nicht erst zwei Wochen ankommen und alles kennenlernen, nein, niemals, die testen dich unverzüglich. Bist du streng, bist du locker, bist du konsequent, kennst du überhaupt die Regeln - alles wird sofort getestet. Und ganz wichtig: Wo sind deine Grenzen? Anfangs konnte ich gewissen Konflikten einigermassen ausweichen, aber wenn man ständig getestet wird, dann muss man auch einmal Gegensteuer geben und mit der Faust auf den Tisch klopfen und sagen, dass es nun reicht. Das ist für einen Zivildienstler manchmal doppelt schwer, weil

die Kids genau wissen, dass du nur der Zivi bist, derjenige, der kein Pfleger ist, nicht so viele Kompetenzen hat, keine Strafen aussprechen kann. Und wenn, dann nur mit Nachfragen bei der Pflege. Es geht daher viel mehr um Präsenz markieren, wirklich klarzumachen, dass das, was man nun sagt, auch so gemeint ist und auch wirklich gilt ohne Wenn und Aber. Und das ist schwierig, insbesondere, wenn man wie ich eher konfliktscheu ist. Aber es kommt dieser Moment, an welchem Ausweichen unmöglich wird. Oder wie es Mr. Smith in Matrix so treffend formulierte: Nicht unmöglich, unvermeidlich! Man stelle sich folgende Szene vor: Ich sitze im Wohnzimmer in der Sofareihe und lese. Dann setzen sich drei Mädels vis-à-vis von mir hin und beginnen ziemlich vulgär zu reden. Ich ermahne sie, dies bitte sein zu lassen. Sie ignorieren mich und reden einfach weiter und die eine legt auch noch die Füsse auf den Wohnzimmertisch. Ich hätte es ignorieren können, wie ich es öfters tue, denn wenn ich jedes Füsse-auf-den-Tisch-legen ahnden würde, dann hätte ich nichts anderes mehr tun als Jugendlich zu massregeln. Aber in diesem Fall wusste ich, dass ich etwas dagegen tun musste, denn hier wurde ich ganz klar getestet. Was sollte ich also tun? Mir war ziemlich unangenehm zumute, denn hier konnte ich nicht ausweichen ohne mein Gesicht zu verlieren. Ich weiss leider nicht mehr genau, was ich gesagt hatte. Ich weiss nur noch, dass es kaum Wirkung zeitigte. Wahrscheinlich hatte ich mich ein paarmal verplappert beim Reden, war nicht genug laut geworden, die Füsse blieben jedenfalls oben. Und ich drohte mit einer Strafe und lief zu den Pflegern, um mir die Absolution für die eben angedrohte Strafe zu holen. Und ich bekam sie nicht. Der Chef liess mich eiskalt auflaufen und meinte nur, dass ich jetzt gerade getestet werde und es deshalb ziemlich kontraproduktiv wäre, wenn er an meiner Stelle nun den Kampf austragen würde. Das müsse jetzt ohne Strafe gehen. Ich begab mich also zurück ins Wohnzimmer, leicht enttäuscht ob der Reaktion des Chefs, und baute mich vor den Mädels auf. Ich nahm all meinen Mut zusammen und wurde tatsächlich ein wenig laut. Ich bin zwar ziemlich ungeübt in dieser Art des Konfliktaustragens, aber das Gefühl, dass ich jetzt ohne Rückendeckung meinen Mann stehen musste, gab mir tatsächlich die nötige Kraft, um doch einen einigermassen passablen Auftritt hinzulegen. Ich wurde zwar ein wenig beschimpft und es wurde so getan, als würden die Mädels sich gar nichts von gar niemandem sagen lassen, aber am Ende waren die Füsse unten und das war alles, was ich wollte. Mein Herz pumpte zwar auf 180 und ich musste danach ein

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/Ausweichen ist keine Option

Glas Wasser trinken gehen, aber ich hatte es geschafft. Es war ein wenig, wie als Kind das erste Mal vom 10-Meter-Sprungturm zu springen. Mein Chef lächelte süffisant, doch die Feuertaufe war bestanden. Mittlerweile bin ich schon einige Monate in der Jugendpsychiatrie tätig und weiss nun, dass ich die Situation auch anders hätte regeln können. Ich hätte mich nicht unbedingt in die Situation manövrieren müssen, in der ich gar nicht anders konnte, als laut zu werden. Ein lässiger Spruch an der richtigen Stelle hätte es auch getan. Aber das ist reine Übungssache und auch eine Frage der Beziehung zu den einzelnen Jugendlichen. Die Situation blieb mir trotzdem im Kopf, weil es das erste Mal war, dass mir bewusst wurde, wie wenig geübt ich in Sachen Konfliktlösung bin und dass ich eigentlich viel besser darin werden wollte. Es gibt einige Jugendliche bei uns, welche Expositionstrainings absolvieren müssen, weil sie Angst vor dem Kontakt mit fremden Menschen haben oder Angst vor grösseren Menschenmengen; und in diesen Trainings geht es darum, zum Beispiel in der Migros einen Einkauf zu tätigen oder in der Apotheke etwas abzuholen und dabei in Kontakt mit den Verkäufern zu kommen. Ich dafür übe mich darin, präsenter zu sein, meine Worte bewusster zu wählen, Situationen besser entschärfen zu können. Das gelingt nicht immer, wie so oft, wenn man etwas bei sich ändern will, aber immer öfters. Und Jugendliche sind wirklich ein gutes Trainingsfeld, denn sie können sehr aufbrausend sein, aber auch schnell wieder Frieden schliessen und vergessen. Ich weiss mittlerweile, dass es nicht sehr sinnvoll ist, Konflikten immer auszuweichen und sie manchmal tagelang vor sich herzuschieben. Gelöst werden sie auf diese Weise selten - im Gegenteil: Sie bauschen sich auf und entladen sich dann viel explosiver als gewünscht. Insbesondere auf einer geschlossenen Station, welche nicht besonders gross ist, kann das dann sehr unangenehm werden. Ich bin jedenfalls froh, dass ich diesen Zivi-Dienst leiste, denn er bringt mir persönlich sehr viel. Ich habe vor allem gelernt, nicht mehr immer auszuweichen: Wenn mich etwas stört, dann tue ich nun etwas dagegen. Marco Büsch, 23, Politolgiestudent aus Zürich, Filmfan und Hobbyrapper. marcobuesch.wordpress.com

Ich weiss leider nicht mehr genau, was ich gesagt hatte. Ich weiss nur noch, dass es kaum Wirkung zeitigte. Wahrscheinlich hatte ich mich ein paarmal verplappert beim Reden, war nicht genug laut geworden, die Füsse blieben jedenfalls oben. Marco Büsch


WENN ES DICH STÖRT, WARUM TUST DU NICHTS?

WENN ES DICH STÖRT, WARUM TUST DU NICHTS?

/E(twa)s stört mich nicht mehr

/Nächtlicher Stadtfuchs

Nächtlicher

Meret Bachm ann TEXT Isabella Furler ATION ILLUSTR

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ie reiner Tau fällt eine Träne auf das Pflaster. Die Morgenstunden tapsen leise durch die dunkeln Gassen, doch ihre Zehennägel schlagen noch den Takt der Nachtschwärmer. Sie lassen sie nicht schlafen. Die letzten Barmänner haben die Kassen geschlossen. Der Frühstückstisch des Pöstlers ist noch einsam leer. Frische Luft schlängelt sich in einen Stadtfuchs mit glasigen Augen. Ein Seufzen legt sich ihm auf die Brust. Der Betrunkene vor ihm steht mit gesenktem Kopf. Er weht im Wind. Erschüttert hält er sich an seiner Dose. Er hat die Welt erkannt. Jetzt. In diesem Augenblick. Da alle schlafen. Die Träne bleibt auf dem Pflaster. Knirschend bricht ihm das Herz. Und bricht in Jubel aus. Aus seiner Brust in die dunklen Morgenstunden. Und er schaut seine Dose an und liebt sie, wie er noch nie etwas liebte. Und die Träne auf dem Pflasterstein glitzert und des Fuchses Gesicht . « Oder? », fragt der Mann in die glasigen Augen und fühlt sich verstanden. « Ja », schreit die Träne und dem Fuchs ist zum Weinen. Sie atmen gemeinsam in die hinein. Bis die Träne verLuft kalte dunstet. Die Dose fällt dem Mann aus der Hand. Er wendet sich nach Hause. Der Fuchs schnüffelt am ausgeleerten Bier. Meret Bachmann, 21, studiert Philosophie und deutsche Literaturwissenschaft und versucht sich gerne an Sprache.

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Alltag

Leute, die auf der Strasse einen Hamburger essen und den Rest wegwerfen, wenn sie satt sind, oder wenn das Tram einfährt.

Die Verkäuferin im Supermarkt entschuldigt sich bei mir drei Mal, weil abends keine Preiselbeeren mehr erhältlich sind.

Waren, die gerade noch mit 25% Rabatt verkauft wurden, werden mit Geschäftsschluss wie von Zauberhand unverkäuflich, und - und das stört mich noch viel mehr diese Lebensmittel werden zu einem erschreckend hohen Anteil überhaupt nicht mehr gegessen.

Wenn etwas ständig passiert, wird es irgendwann nicht mehr als befremdlich wahrgenommen. Was die Mehrheit tut, ist normal.

Menschen, die sich am Hotelbuffet einen vollen Teller aufladen, einen Teil davon essen, ihn abservieren lassen und sich einen neuen vollen Teller holen.

Ich alleine kann ja nichts bewirken.

E(TWA)S STÖRT MICH NICHT MEHR TEXT

Susanne Puchegger & Sonja Grässlin

Habe ich versehentlich ein falsches Produkt gekauft, kann ich mit diesem nichts anfangen und muss es letztendlich wegwerfen.

Mindestens ein Drittel (oder ist es vielleicht doch die Hälfte?) aller Lebensmittel in der Schweiz werden weggeworfen.

Wenn ich für Gäste eingekauft oder sogar schon gekocht habe, der Besuch aber absagt, weiss ich nicht, was ich mit all dem Essen machen soll, bevor es verdirbt.

Restaurants, die so grosse Portionen servieren, dass diese selten aufgegessen werden.

Halbvolle Bierflaschen, die im Zug zurückgelassen werden.

Ich habe Hemmungen, jemandem (auch - oder besonders - aus dem Bekanntenkreis) etwas von meinen überschüssigen Lebensmitteln anzubieten. Die andere Person könnte doch denken: „Für dich ist es nicht gut genug, aber für mich schon?“, „Sie glaubt also, ich hätte es nötig .“ oder „Vielleicht hat jemand etwas daran manipuliert? Susanne Puchegger, kommt aus Österreich, Sängerin und Musikpädagogin. Sprache, Natur und Kommunikation begleiten sie - neben der Musik - durchs Leben.

Wenn es auch Dich stört, warum tust Du nichts?

Sonja Grässlin, aus den Niederlanden, Botschafterin für “Foodsharing” und “Lebensmittelretten” in der Schweiz.

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WENN ES DICH STÖRT, WARUM TUST DU NICHTS? /Sie nannten Sie Alaska

Sie nannten Sie Eigent

l i c h ko misch ,v in der K lasse h on den And niema e nd de n N a m a t t e v o r h e r re n oder g e n elesen , auss Aleksa geh er nat ör t der Kl ü a seit A nfang ssenliste, w rlich auf o des Sc Fehler huljah er der Sc r es wie hulle hatte. ein Für m itung gesta i n c d h en wa r A ein leksa d e r m wa r m e r N a m einer Lieblin e, gstant e.

Unser neues Klassenzimmer unterschied sich kaum von dem im vorherigen Jahr: Ein Raum mit grauweissen Wänden, die kahl waren, abgesehen von ein paar Klebestreifenresten. An diesem Montag, eine Woche nach Beginn des Schuljahrs, machte der Raum jedoch einen befremdlichen Eindruck auf mich. Um den Geruch der Fünftklässler zu vertreiben, die hier die Doppelstunde vor uns Vertretung gehabt hatten, war das grosse Fenster geöffnet worden. Es klaffte wie eine Wunde zum dunstigen Himmel hin. Eine kühle Septemberbrise verirrte sich herein und brachte mich zum frösteln. Auch das Mädchen am Pult zog sich seinen Filzmantel enger um den Körper. Sie schaute, leicht angelehnt, aus dem Fenster, so dass ich ihr Gesicht im Profil sehen konnte. Es war still. Hinter mir diskutierte Lena halblaut mit zwei anderen Mädchen. Ich wusste nicht, worüber sie sprachen. Daneben döste Matze mit dem Kopf auf dem Tisch. Die Neue hatte ein rundliches Gesicht und ein kleines Ohr. Sie atmete kaum sichtbar, stand da wie eingefroren und nur der Wind bewegte eine Strähne ihres fahlen braunen Haares, die hinter ihrem Ohr hervorgerutscht war. Ich war erleichtert, als der Klassenlehrer endlich kam. Ein runder, schnaufender Mann mit dünnem Schweissfilm auf der Stirn und gelbem Hemdkragen unter grauem Pullover. Er blieb kurz im Türrahmen stehen und nahm die Gemengelage im Klassenraum mit Kennermiene wahr. (Er unterrichtete Geographie). Dann schaute er leicht irritiert auf seine Armbanduhr und verzog das Gesicht wie unter einem kurzen aber heftigen Schmerz, schnüffelte mit erhobener Nase und ging in Richtung Fenster. Ob die Klasse seinem Eintreten wohl je eine solche Aufmerksamkeit hatte zukommen lassen, wie an diesem Vormittag? Unsere Blicke schienen seine Arme und Beine als zähen Brei zu umgeben, während er mit trotzigen Schritten den Raum querte. An der Fensterseite angekommen, schloss er mit einer unerwartet ruckartigen Bewegung das grosse Fenster und drehte sich zu uns um. Auch Aleksa drehte ihren Kopf, so dass ich zum ersten Mal ihre beiden Augen sah. Neben dem Klassenlehrer stand ein Mädchen mit braunem, glatten Haar und einem etwas rundlichen Gesicht. Sie schaute an die Wand hinter uns und kniff die Lippen leicht zusammen. Der Platz neben mir war frei. Der Lehrer nickte ihr kurz zu und sagte mit fester Stimme: « Heute freue ich mich besonders, Aleksa in der Klasse begrüssen zu dürfen. » Eine Szene aus einem Kinderbuch – die kurze Stille, die darauf folgte, wollte gestört werden. « Alaska! », rief Matze, halblaut, es wirkte spontan, ohne grosses

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Nachdenken. Lena kicherte. « Sie kommt aus dem Ort Norden, », fuhr der Lehrer mit erhobener Stimme fort, « das liegt an der Nordsee. », ein paar lachten, manche laut, andere mehr in sich hinein - nicht, dass es einen Unterschied machte. Aleksa und der Lehrer lachten nicht, er sagte irgendwas von Wohlfühlen und Mitnehmen. Ich musste husten und wurde rot. Tante Aleksa war früher immer die einzige gewesen, von der ich mir gern über meine strähnigen blonden Haare hatte streicheln lassen. Sie war dabei nicht so grosszügig grob oder hilflos affektiert wie die anderen Erwachsenen. Ich hatte meinen Onkel Anton einmal sagen hören, dass Tante Aleksa ein Mensch mit Hand und Fuss wäre, ihre Argumente aber ein grosses Mitteilungsbedürfnis hätten. Meine Eltern nannten das einen Anton-Witz. Seit ich ihn verstand, mochte ich seine Aussagen, gerne verdrehte er seine Worte scheinbar achtlos, da durfte man nicht drauf reinfallen. Nur was daran witzig sein sollte, wusste ich nicht. Eigentlich fand ich, dass er die Sache durch seine Verdreher oft besser traf als die anderen. An diesem Montag im September sass ich still und fand das ganze verdriesslich. Auch weil ich Matze eigentlich mochte, und es mir peinlich war, dass er da gerufen hatte. Er brauchte das nicht, das wusste ich. Wir waren zusammen zur Grundschule gegangen, teilten auch später ein Stück Schulweg. Wenn ich mit ihm alleine war, war er ganz anders, manchmal fast schon nachdenklich und erschreckend humorlos, fast langweilig, und wenn er damals beim Kommunionsunterricht das einzige Kind gewesen wäre, hätte er die Erstkommunion wahrscheinlich auch nicht verweigert. Nicht, dass das mich gestört hätte... Ich lachte also nicht, auch weil Aleksa neben mich gesetzt wurde, mir zugewiesen. Ich schaute auf meine Hände, als sie sich neben mich setzte. Dann schaffte ich ein Lächeln, schaute auf ihre Nasenspitze und sagte: « Hi ». Sie nannten sie Alaska und ein wilder, eisiger Ruf wurde ihr mit dem Namen mit gegeben. Ich nannte sie Aleksa, auch wenn sie nicht dabei war, und allein schon deswegen ging eine Spur ihres Rufs auf mich über. Die anderen sagten, sie wäre rücksichtslos. Ich dachte: glücksuchend, und - was wir ihr alle neideten irgendwie freier als wir. Sie war kräftig, nicht im Sinne von dick, sondern stark. Zugleich dünn, aber nicht wie die Mädchen, die in der Pause auf den Heizkörpern am Fenster sassen, nicht wie Lena und ich. Onkel Anton hätte wahrscheinlich gesagt, dass Aleksa ein Mädchen mit rückgratiger Stärke war. Einmal versuchte ich, ihr Gesicht zu zeichnen. Aber auf der

/Sie nannten Sie Alaska Skizze wirkten ihre Backen und selbst die Nase und die Lippen irgendwie ausgebeult. Ich konnte ihre Geometrie nicht festhalten. Das Gesicht und die glatten Haare - das war alles nur Kulisse für ihre Augen, auch sie braun und ganz unbegreiflich. Sie gaben mir ein Gefühl, als könnten sie mich sehen; und all ihre Gesichtsausdrücke, ihre Worte, selbst die Körperhaltung waren wie mit dünnen Fäden mit diesen Augen verbunden, und entstanden und zerfielen nur für sie. Der Arzt hatte gesagt, ich sollte rudern. Das würde meinen Rücken stärken. Ich fragte Aleksa, und sie kam mit zum Training. Schnell entwickelte sie mehr Ehrgeiz als ich. Mit gleichmässigen Ruderschlägen stemmte sie sich gegen das dunkle Seewasser. Im Zweier hinter ihr sitzend bewunderte ich die rhythmische Bewegung ihres Rückens und ihr Haar, das haselnussbraun leuchtete, wenn es nass war. Manchmal dümpelten wir nach dem Training nahe des Ufers herum und planschten mit den Händen im Wasser. Ich sass hinter ihr im Boot und konnte ihr Gesicht nicht sehen. Wenn Aleksa sprach, versuchte ich, sie mir mit anderen Augen vorzustellen: mit wässrigblauen oder mit blinzelnden Rehaugen, oder ganz ohne. Einmal später, als wir bei mir im Zimmer sassen, schloss ich meine Augen, und versuchte ihre Stimme zu der einer Fremden zu machen. Dann berührte sie mich leicht an der Schläfe, strich mir eine blonde Strähne vor mein Gesicht und sagte: « Anna! Die Sonne ist aufgegangen. » Das alles natürlich nur, wenn wir alleine waren.

milien. « Meine Mutter », sagte Aleksa, « ist eine russische Adlige ». Sie sprach nicht von der wortkargen Frau, die uns später mit dem Auto vom Ruderhaus abholte. Das Spiel war einfach. Einige Wochen darauf zeigte Aleksa mir ihr neues Zelt, ein grünes Iglu. In diesem Moment begriff ich, dass es Aleksa ernst war mit der Kanutour. Ich fühlte mich krank, hatte ein Drücken im Bauch. Ich sagte ihr, dass mir schlecht wäre, und ging. Meine Eltern hatten die Ferienwohnung auf der Peloponnes bereits im März gebucht.

Sie erzählte mir eine Geschichte mit einem Stier und einer Biene. Ich konnte ihr nicht folgen, ich konnte ihr nicht in die Augen sehen.

Sie nannten sie Alaska. Alaska, sagten sie, hätte Lena im Sportunterricht die linke Speiche gebrochen, wahrscheinlich absichtlich, beim Aufwärmspiel. « Lena ist gegen die Wand gelaufen », sagte ich. „Beim Badminton hinterher wäre es schlecht gegangen », sagte Aleksa. Wir sassen auf meinem Bett. Sie mit meiner Gitarre auf dem Schoss, zupfte an den Saiten. Kein Ton passte zum nächsten. Ein wunderliches Netz aus Missklängen lag in der Luft. Wir lachten. Alaska, lernten wir im Englischunterricht, wurde im Jahr 1867 für 7,2 Millionen Dollar von Russland an die USA verkauft. Das Komma schien dem Referendar im gestreiften Wollpulli wichtig zu sein. Wir machten es ihm nicht leicht – die Klasse war unruhig. « Das kann man sich heutzutage kaum vorstellen », sagte er beschwichtigend, « das war eine andere Zeit. » Im Januar machte Lena den Vorschlag, mich Kanada zu nennen. Da war sie seit Silvester offiziell mit Matze zusammen und noch übermütiger als sonst, aber es setzte sich nicht durch. Auch, so bildete ich mir ein, weil Matze nicht darauf angesprungen war. Ich sah ihn kaum mehr ausserhalb der Schule, er ging einen anderen Weg, oder zu Lena. Aleksa meinte Mitte April, es wäre Zeit, über den Sommer nachzudenken. Es war nach dem Training und einer der ersten richtig warmen Tage. Wir schwammen noch eine Runde im See, der blau-weisse Zweier lag tropfend auf dem Holzsteg. Wir könnten mit Zelt und Kanu eine Flussreise machen, schlug sie vor. Man könnte von Berlin bis Hamburg fahren, ohne das Boot einmal umsetzen zu müssen. Ich nickte eifrig und strahlte. « Der letzte trocknet das Boot! », rief sie und drückte mich unter Wasser, ich kam prustend wieder an die Oberfläche und nahm die Verfolgung auf. Später lagen wir in der Sonne und redeten über unsere Fa-

In der Schule wurde es schlimmer. Um Aleksa wuchs eine Blase aus Angst und Achtsamkeit. Manchmal fühlte ich mich wie ein Eistaucher, wenn ich in der Pause mit ihr sprach. Um mich zu verabreden, schrieb ich ihr die Rudertermine lieber über Whatsapp. Ich schien von einem Traumzustand in den nächsten zu wechseln, von der Schule zum Rudern, vom Rudern nach hause. Die verschiedenen Teile meines Lebens waren durch eine unsichtbare Seifenhaut getrennt. Wenn ich hindurch ging, veränderten sich die Schatten, die Gedanken, wahrscheinlich auch meine Stimme. Ich wurde zu einer Person, um die man sich sorgen machte. Aus einem Gespräch der Anderen erfuhr Aleksa von Griechenland. Sie erzählte mir eine Geschichte mit einem Stier und einer Biene. Ich konnte ihr nicht folgen, ich konnte ihr nicht in die

Augen sehen. Die letzten Schulwochen vergingen, ohne dass ich viel davon mitbekam. Aleksa kam seltener zum Unterricht, nur noch ein oder zwei Mal zum Training. Ich ruderte wie verrückt. Beim Wettkampf fuhr ich Skiff und wurde Dritte. Im neuen Schuljahr stand ihr Name nicht mehr auf der Klassenliste. Niemand schien sich darüber zu wundern. Aleksa wäre mit ihrer Familie zurück an die Küste gezogen, erklärte der Klassenlehrer, ihrem Vater hätte das Klima hier nicht bekommen. Ein grauer Septembernachmittag. Ich ging mit Matze durch das Wäldchen neben der Schule, was wir schon lange nicht mehr gemacht hatten. An den Nadelspitzen der Fichten tanzten tausende kleine Wassertropfen und an unseren Schuhen klebte ockerfarben der Lehmboden. Er rauchte, was lächerlich aussah. Wir redeten nicht viel. Einmal blieb er stehen, um an einem bemoosten Stein den gröbsten Dreck von seinen Schuhen zu wischen. « Weisst du noch, » sagte ich und schaute dabei auf seine Füsse, « die Beichte bei der Erstkommunion: Ich hatte das Gefühl, Sünden erfinden zu müssen, damit der Pfarrer nicht enttäuscht ist. Jetzt -... », ich wusste nicht weiter und musste blinzeln. «Du spinnst », sagte er im Aufrichten und küsste mich leicht auf die Wange. Durch die Zigarette roch er alt. Dann lächelte er auf eine seltsam verwackelte Art und lief davon. Ein Junge, der den Bus nicht verpassen durfte. Nach einigen Schritten drehte er sich ohne anzuhalten noch einmal um und rief: « Ich kann dir ihre Adresse besorgen, dann kannst du ihr schreiben. » Ich grub meine Fingernägel tief in die Handflächen und schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich durch die Gipfel der Fichten verschwommen die Herbstsonne. Mehr nicht. Simsim Sesam, 25, studiert frische Winde und globales Fieber in Zürich.

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WENN ES DICH STÖRT, WARUM TUST DU NICHTS? /Wann hast du das letzte Mal ein Kompliment bekommen?

Wann hast du das letzte Mal ein Kompliment bekommen?

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Mich stört, dass wir so selten fremden Menschen Komplimente machen. Egal ob ich durch die Strassen gehe, in einem Café sitze oder im Club umherstreune - überall sehe ich elegante Körperteile, kecke Accessoires, wallende Haarprachten, höre zauberhafte Stimmen, ausgiebiges Lachen oder kluge Sätze. TEXT

Wo liegt das Problem?

TAG – DIENSTAG, SAMS UHR 13 – 21TAG, SONN UHR – 18 13 –1

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2014

Leonie Müller

Doch ich merke gerade selber, dass meine Ausreden ziemlich lahm sind. Mal ehrlich, wer hat keine Freude an Komplimenten, gerade von fremden Menschen, die man vermutlich nie mehr sieht? Sind nicht gerade diejenigen am schmeichelhaftesten? Aus eigener Erfahrung kann ich das nur bestätigen. Vor allem, wenn Menschen des gleichen Geschlechts komplimentieren. Dann kann ich mir nämlich eher sicher sein, dass es wirklich um die Sache geht. Zudem kann es mir ja ziemlich egal sein, wenn er von mir denkt, ich hätte ihn nur billig anmachen wollen, oder? Ich sehe ihn ja nicht wieder. Das dritte Argument ist ebenfalls Müll. Wenn mir jemand zum hundertmillionsten Mal ein Kompliment für mein Haar machen würde, hätte es für mich immer noch den genau gleichen Wert, wie als ich es zum ersten Mal hören durfte. Darum rufe ich dazu auf, mutig zu sein, all euren positiven Wahrnehmungen freien Lauf zu lassen und fremden Menschen ehrlich formulierte Komplimente zu machen. Es bereitet beidseitige Freude und erfrischende Momente. So, und jetzt entschuldigt mich. Ich muss noch ein Kompliment loswerden. Leonie Müller. Von den Menschen und der Umwelt, in der wir leben fasziniert, meistensentweder lachend oder fragend, am Tag wie in der Nacht. Am liebsten lebte ich ohne Schlaf. Schlüsselwörter: Imagination, Reflexion und Produktion

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Die Fabrikzeitung — Für den anderen Kommentar zu gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Themen. Das Abonnement gibt es hier: fabrikzeitung.ch

Vor einer Woche habe ich via Inserat ein Rennvelo erworben. Ich ging also zum abgemachten Zeitpunkt zur Wohnung dieses Typen, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Ich klingelte und wenig später kam ein junger Mann die Treppe runtergehüpft und öffnete mir. Nachdem wir uns begrüsst hatten, gingen wir mit dem Velo raus auf die Strasse, damit ich kurz probefahren konnte. Alles war gut, die Rennhaltung noch etwas ungewohnt, doch ich war begeistert vom alten, silbernen Fahrrad. Und - ich war hin und weg von den Augen des Typen. So klar und hellblau wie ein Eiswürfel in einem Bergsee an einem kalten Hochsommermorgen. Ich schwör es euch. Dass ich es ihm nicht gesagt habe, lag daran, dass « Du häsch wunderschöni Augä » erstens das klischeehafteste und wahrscheinlich meistgesagte Kompliment der Weltgeschichte ist (gibt es überhaupt unschöne Augen?), und somit nicht so persönlich erscheinen könnte, wie ich es meinte. Zweitens wollte ich den Typen nicht anmachen - ich war ja schliesslich wegen dem Velo da, nicht wegen dem Mann - was bei einem Kompliment leider meistens missverstanden wird. Ich meine nämlich, wenn ich jemandem sage, er oder sie hätte schöne Augen, dass er oder sie auch schöne Augen hat. Und nichts weiter. Weder, dass ich die Person jetzt heiraten, noch küssen, noch daten will. Drittens hat man das Gefühl, dass sich die Träger der Augen ihrer Schönheit bewusst sind und sie andauernd Komplimente dafür hören. Und viertens wollte ich ihm nicht das Gefühl geben, dass ich ein Gegenkompliment erwartete.

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17 22.JUNI


WENN ES DICH STÖRT, WARUM TUST DU NICHTS?

WENN ES DICH STÖRT, WARUM TUST DU NICHTS?

/KUNST

/Was tun?

tun?

Josiane Imhasly, 27 Projektmitarbeiterin Forum Schlossplatz, Herrin vom « hair of the dog », Soziologin, Kulturmanagerin. jo.imhasly@datazug.ch

sogar zu behaupten, dass der vegane, nachhaltige Lebensstil den man sich in unseren Breitengraden mit teurem Geld erkauft, niemandem zugute kommt ausser einem selbst. Nichts als moderner Ablasshandel. Wir glauben, etwas tun zu können, tun aber nichts. Also ab in die Politik? Aber da müsste man ja wieder zurück zu den kleinen Fragen, da müsste man ja so richtig aktiv werden. Ausserdem korrumpiert Macht sowieso irgendwann. Es ist hoffnungslos. Ich gehöre zu den linken Sofasozis die alles anklagen aber nichts tun. In letzter Zeit wurden mir zwei recht abstrakte, aber inspirierende Ansätze aus dem Dilemma angeboten. Einer kam von Milo Rau. Der andere aus einem Artikel über moralische Maschinen in der NZZ. Vielleicht kann man sie sogar kombinieren. Milo Rau plädiert in seinem Büchlein « Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft » dafür den Anarcho und den Realo zusammen zu führen um eine gerechte Weiterentwicklung unseres kapitalistischen Systems zu erreichen: einen besseren Realismus. Das « Sie » muss zugunsten eines « Wirs » dekonstruiert werden und ein realer gesellschaftlicher Raum entstehen, der nicht von den Siegern des Systems definiert wird. Weil der Mensch irgendwie unfähig ist so einen Raum zu schaffen, weil er immer wieder vergisst, dass er eigentlich « gut » sein will, könnten uns dabei Maschinen helfen. Maschinen denen wir in einem guten Moment ethisches Handeln einprogrammieren. Sie vollziehen eine vom Menschen programmierte Schaden-Nutzen-Rechnung und « entscheiden » sich dem Algorithmus entsprechend stets für den Nutzen. Den moralisch richtigen Nutzen, versteht sich. Wer diesen definiert – dieses Problem habe ich noch nicht gelöst und überlasse ich gern anderen. Er soll ja schliesslich ein bisschen kollektiv und basisdemokratisch zu und her gehen in diesem besseren Realismus.

TEXT Josiane Imhasly Man könnte die kleinen Fragen stellen. Da beginnt die Untätigkeit ja. Wenn man es falsch findet, dass manche Menschen in der Schweiz trotz Arbeit nicht von ihrem Lohn leben können, wieso hat man im Mai gegen sie und einen Mindestlohn von 22 Fr./Stunde gestimmt? Wenn es mich stört, dass der Schwarzafrikaner vor mir an der Kasse wie selbstverständlich in Schweizerdeutsch und auch noch sehr unhöflich abgefertigt wird, wieso stelle ich den Kassierer nicht zu Rede? Aber die grossen Fragen sind viel spannender. Dank ihnen kann man die kleinen und ihre vermeintliche« Unlösbarkeit » besser ignorieren. Was tun gegen den Welthunger? Was tun dagegen, dass unsere Erde vor die Hunde geht? Was tun gegen Tausende von Blindgängern in Südostasien, Verbleibsel aus dem Vietnamkrieg, die keinen Menschen interessieren? Was tun gegen Kinderarbeit, gegen unmenschliche Arbeitsbedingungen und Hungerlöhne? Diese Fragen lassen sich viel weiter wegschieben und deshalb viel besser diskutieren. Denn man kann nicht unmittelbar etwas tun. Dennoch gäbe es einige Möglichkeiten zu Handeln. Man kann zum Beispiel biologische und fair gehandelte und am besten regional produzierte Lebensmittel einkaufen. Man kann seine Kleider bei American Apparel oder Switcher kaufen statt bei H&M. Man kann protestierend durch die Strassen ziehen. Häuser besetzen. Auf einem Platz zelten und politische Botschaften verkünden. Man kann gesellschaftskritische Kunst produzieren. Man kann gegen die Ungerechtigkeiten anschreiben, man kann Geld spenden, man kann in den bewaffneten Kampf treten. Aber was bringt das alles? Die Spendengelder werden von der Korruption aufgefressen. Der Protest wird irgendwann unsichtbar. Der bewaffnete Kampf bringt nur Chaos und weiteren bewaffneten Kampf. Kunst erreicht sowieso nur die Menschen, die sich dieselben Gedanken machen wie man selbst. Man kauft ungern alle Kleider bei American Apparel, um nicht wie David Bowie zu Glam-Rock-Zeiten auszusehen. Und der Gutmenschen-Einkauf beim Bioladen mit Fairtrade-Label ist zwar doppelt so teuer und macht ein dreifach gutes Gewissen, spült das Geld aber am Ende vermutlich den Falschen in die Kasse. Ich wage

ARTWORK

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Daniela Meier

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WENN ES DICH STÖRT, WARUM TUST DU NICHTS? /Nous nous indignons

Nous nous indignons! Oder warum die Schweizer sagen:

Empörung beEinerseits ist die h, so tut man sic n ma reits eine Tat. Stört ich n stört sich. Zugle durchaus etwas: Ma . un tst ch Ni s nd lung da legitimiert diese Ha , en üb zu k iti Kr tut, als TEXT Sofie Gollob Indem man nichts k iti t Kr t Gefahr, sich sel bs Empört sein, das will und darf man! läuft man nich Alte Frauen beim Spazieren. Studenten in auszusetzen. izerischen EmDie Liste der schwe der Mensa. Mitarbeiter in den Kaffeepauweitern. dli h fast unen ch er sen. Ob es wirklich legitim ist, sich zu stö- pörung lässt sic t. Bürger dem Anschlagsbret ren, spielt keine Rolle – man tut ja schliess- Nachbarn auf ndspalten. Wochene in den Kommentar lich nichts. n. ne Ur n de Wähler an ausflügler im Bus. die ht ste e ati kr ekten Demo Es gibt diese wunderbare Schweizer In unserer dir m Prodrei Monate auf de e all ng ru Art, sich so richtig an etwas zu stören. Eine Empö eine eiz eint, als sei die Schw saftende, brennende, wühlende, ja sinn- gramm. Es sch ng ru pö Em pörten und die liche Leidenschaft, deren aggressive Passi- Bastion der Em errg Bü s de en hr st zu bewa vität bis hin zu unserem Sprachgebrauch ein dringlich s sie wa sen las d un n tu recht . Die EU kann allgegenwärtig ist. aktion ist stets die beste Re ng ru pö Em ll, wi Auf Schweizerdeutsch stört man nalgetio Na in unserem und bestätigt uns sich nicht mal an etwas Konkretem. Man schief g ni we zu hweiz fühl. Ob in der Sc sagt nicht: Ich störe mich am Lärm. Würde als ng ru pö Em t ein sch läuft? Momentan l man dies tun, so hätte man höchstwahrrea r ge ni hr oder we Reaktion auf die me scheinlich ein Gegenüber, das sich am GerBis n. ge nü ge tände zu bestehenden Misss manismus stören würde. Zudem würde diese untätige Hand es ad Gr em zu welch n. man mit einer solchen Aussage eine konge ägt, bleibt zu fra lung wirklich vertr krete Störquelle benennen, was wiederum dazu gezwungen be n an Sind wir irgendw n die Möglichkeit impliziert, etwas dagegen an dw en irg s en wir un ziehungsweise fühl uunternehmen zu können. Um diese zwei as zu tun? Achselz etw , tet ch fli rp dazu ve unangenehmen Konsequenzen zu umgejährigen. cken eines Sechzehn hen, sagt man: « Äs stört mich. » Was auch immer dieses neutrale Personalpronomen Sofie Gollob, alles zu bedeuten hat, in diesem Zusamnistik und der Studentin der Germa in letzter Zeit h menhang bedeutet es in erster Linie, dass sic rt Geschichte, stö grundsätzlich und wir selbst in unserer schweizerischen Emgerne in der Mensa el. ang nm oti Nik bei pörung neutral bleiben. Die wohl intensivste Form der Empörung tritt bei Herrn und Frau Schweizer zu Tage, wenn sie sich um ihr Recht, sich zu stören, betrogen fühlen. Verbietet man uns die Empörung, so stellt man unsere gesamte Kultur in Frage, da wir glauben, ein Anrecht auf die als Leidenschaft wahrgenommene Empörung zu haben. Das typisch Schweizerische an dieser Art der Empörung ist die Bestimmung derselben als Handlung und daraus hervorgehend als Nichtstun.

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WENN ES DICH STÖRT, WARUM TUST DU NICHTS? /Unangenehmes Aufeinandertreffen

Unangenehmes Aufeinandertreffen

G TEXT

Sandra Schudel

erade habe ich gelesen, dass in Finnland neuerdings die Geweihe von Rentieren mit Farbe besprüht werden. Diese leuchtet hellblau auf, sobald ein Scheinwerferlicht auf sie fällt. So soll die Zahl der Verkehrsunfälle reduziert werden, denn das ungewollte Zusammenstossen von Rentieren und Fahrzeugen ist dort weitverbreitet. Am Testlauf nehmen bislang 20 Tiere teil. Ungewolltes Zusammenstossen verhindern…da stellt sich mir die Frage: Wäre diese Methode nicht auch bei uns Menschen anwendbar? Je nach persönlicher Gemütslage könnten wir uns morgens ein Stirnband um den Kopf binden, dessen Farbe unseren Mitmenschen signalisiert, wie sie sich heute uns gegenüber zu verhalten haben. Alle wüssten sofort, woran sie beim Gegenüber sind. Ich habe mir hierzu gleich einige sinnvolle Kombinationen überlegt:

gib din

däzue

Weiss: Tutto posto! Sprich mich an, ich freu mich drauf. Gelb: Bin krank, betrübt oder allgemein liebesbedürftig. Schenk mir deine Aufmerksamkeit. Orange: Naja, bitte nur Dringendes. Bin in Eile. Schwarz: Lass stecken. Ich will mich heute nicht mit deinenVerdauungs- oder Beziehungsproblemen befassen. Im Büro wäre schnell klar, dass man ev. besser auf das morgendliche „Na, hattest wohl eine lange Nacht?“ verzichten sollte. Gesellige würden sofort zueinander finden und sich angeregt über die Freuden und Leiden des Alltags unterhalten können. Wer schlecht gelaunt ist, dürfte den ganzen Tag lang in Ruhe vor sich hin brodeln. Dieses Verfahren wäre bestimmt auch an Partys hilfreich. Ein grobes Grau für: „Bin nur hier, weil ich muss“ könnte unangenehme Gespräche und peinliches Schweigen verhindern. Allenfalls ein zartes Lila, das lächelnd zum Plaudern auffordert. Oder aber gleich ein knallendes Rot, das ungeniert fragt: „Ficken?“ Ich melde mich gleich freiwillig als Probandin. Stirnbänder finde ich ohnehin cool.

Sandra Schudel, Studentin Organisationskommunikation und Journalismus an der ZHAW, 25 Jahre. Ich schreibe über den Alltag, bin organisationsverliebt und tanze zum Kochen.

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KREATIVES /Kolumne

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Spirituelle Revolution! TEXT

Rolandsky

«It’s the economy, stupid!»,

sagte Bill Clinton 1992. Geld ist Macht. Was folgte war der linke und rechte Neoliberalismus. Er beschäftigt uns noch heute. Doch drehen wir an Charlie Chaplins Rad zurück. Im Mittelalter wäre Dein Urururururgrossvater Leibeigener gewesen. Dein Grossvater war Arbeiter in der Fabrik. Dein Vater musste eine Ich-AG gründen. Angestellter oder Kapitalist? Was für eine Frage! Die Alternative dazu ist: Gründe mit Deinen Freunden eine Firma. Das ist Kommunismus. Das sind die fünf Klassen einer Ökonomie nach Marx: Leibeigene, Arbeiterklasse, Selbständige, Kapitalisten und Kommunisten. Mit Freunden zu arbeiten macht glücklich. Darum war Marx für das Modell mit Freunden. Was tun? fragte später Lenin. Seine Antwort war sozialistisch, schrecklich und ohne Freunde. Du gründest mit Freunden eine Firma. Ihr sagt, wer wie viel verdient. Ihr macht es wie einige Startups in Silicon Valley… Wie einige Non-Profit-Organisationen (NPOs)… Wie die Social Enterpreneurs… Wie einige Genossenschaften… Wie einige Familienbetriebe… Sie alle sind kommunistisch. Sie legen ihre Löhne selbst fest. Und wer bekommt den Gewinn? Genau. Probiert es selbst aus. Dein Tag sieht in Zukunft so aus: Am Morgen früh gehst Du mit dem Hund spazieren*. Am Vormittag bist Du im Büro und erfindest etwas*. Über Mittag spielst Du Poker im Club*. Den Nachmittag verbringst Du mit Deinen Kindern*. Am Abend schreibst Du an einem Roman*. Um 20 Uhr fütterst Du Deine Goldfische*. Um Mitternacht machst Du*… Was ist Glück in einer materialistischen Welt? Die materialistische Gesellschaft, ob sozialistisch oder kapitalistisch, züchtet Unfähigkeit, Nichtwissen, Ahnungslosigkeit: Unglück heran. Unsere Schulen, Universitäten, Jobs, Manor-Schaufenster, iPhones und SonntagsZeitungen degenerieren uns zu blinden Passagieren unseres Glücks. Weil wir unfrei sind. Is it really the economy, baby? Was tun, baby? Der Materialist Karl Marx wusste das nämlich auch nicht so genau. Deshalb blieb er so merkwürdig unpersönlich und abstrakt. So unspirituell. Jeder muss sich das Glück selbst beibringen. Und das ist gut. Sei mutig und frei. Voller Schönheit, Wahrheit und Gerechtigkeit in Ewigkeit. Ômen. (OMG. Lass uns spirituell sein.)

Die materialistische Gesellschaft, ob sozialistisch oder kapitalistisch, züchtet Unfähigkeit, Nichtwissen, Ahnungslosigkeit: Unglück heran.

Stolze Openair: Dank eifrigem Spendensammeln des Vereins Stolzewiese findet auch dieses Jahr am 13. und 14. Juni auf der Zürcher Stolzewiese das legendäre Gratis-Openair schon in seiner 13. Ausgabe statt. Auch wenn das Line-up zu Redaktionsschluss noch nicht bekannt war, ist anzunehmen, dass die Organisatoren wieder ganz viele tolle Bands in petto haben. Wir gehen, du auch? www.stolze-openair.ch

Lass es raus!: « Lass es raus! » ist eine künstlerische Reaktion auf das globale Mega-Event « FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Brasilien 2014 ». Ein mehrspuriges, interdisziplinäres Performance-Projekt, welches die Auswirkungen der WM auf die Kultur der Stadt Zürich beobachtet und sich positioniert. dieperspektive gibt in Zusammenarbeit mit « Lass es raus! » eine WM-Sonderausgabe heraus. Wir freuen uns!

* … weil Du das gerne machst.

Rolandsky, mit bürgerlichem Name Roland Wagner, ist unser neuer Kolumnist. Nach dem Lesen seiner Kolumnen geht es den meisten so: verwirrt, betroffen, aha-so-ist-das, was soll das? Recht hat er...

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KREATIVES /Kolumne

Werbung - Wie die Griechen uns auch in dieser Hinsicht lange voraus waren

TEXT Laurin Buser FOTOGRAFIE Janick Zebrowski

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ereits im Jahre 468 vor Christi Geburt hat der griechische Philosoph Permides von Soli in seiner Schrift« Vom Handel zur Porynthäne » geschrieben: « Um einen Sack Gerste loszuwerden, sollte man dem Käufer nicht weismachen wollen, dass dies erstklassige Gerste sei, sondern man sollte dem Käufer das Gefühl geben, dass er Hunger hat. » Permides von Soli selbst stammte aus einer Handelsfamilie, die über viele Generationen erfolgreich davon lebte, dass sie das angeblich beste Getreide auf dem Markt verkauften. Als Permides das Familienunternehmen übernahm, versuchte er mit einigen Umstellungen in der Umwerbungstaktik den Gewinn noch weiter zu vervielfachen. Er studierte einige Jahre lang, verfasste unzählige Texte, die noch heute zum Kanon der Wirtschaftsliteratur gehören und begann schliesslich mit der praktischen Umsetzung seines Plans. Seine Strategie war es, die Marktbesucher mit einem Feuchtgebäck aus getrockneten Feigen, französischen Dörrpflaumen, Weizen und Gärwein zum Naschen zu verleiten. Anschliessend liess er bezahlte Schauspieler auftreten, die sich krümmend den Magen hielten und lauthals schrien, dass dieses Gebäck zwar köstlich, aber verseucht sei. Da stellte sich Permides hin, beruhigte die aufgebrachten Meute und erklärte ihnen, dass dies einzig und alleine an den französischen Dörrpflaumen liege, an welche sich der Magen erst bei häufigem Verzehr gewöhnen würde. Bis dahin aber sollte man unmittelbar nach Verzehr dieser köstlichen Süssigkeit weichgekochte Gerste verzehren, welche er hier zufällig gerade im Angebot habe. Er stopfte allen Schauspielern einige Löffel des Getreides in den Mund, worauf diese aufhörten zu schreien und langsam zu lächeln begannen. Einer der Schauspieler bemerkte dann noch beiläufig, dass die Gerste allem hinzu auch noch köstlich sei, erhob sich und kaufte Permides vor allen Schaulustigen drei Stück Kuchen und einen Sack Gerste ab. Und was geschah? Die Meute begann zu tuscheln und murmeln, bis sie schliesslich alle verstummten und Permides anstarrten. Es dauerte eine Weile bis ein bärtiger Herr mittleren Alters aus der Gruppe hervortrat, mit langsamen Schritten auf Permides zuging, die Hände aus den Ho-

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Der Mensch musste sich dafür erst das kritische Denken abgewöhnen und ein gewisses Mass an Dummheit aneignen. Glücklicherweise sind wir heute so weit.

sentaschen zog und ihm mit einem überraschenden, gezielten Schlag das Nasenbein brach, ihm daraufhin heftig in den Brustkorb kickte, sodass die Rippen krachten, währenddem er ihm mit dem Ellenbogen einen weiteren Schlag unters Auge verpasste. Die Meute feuerte dabei den Bärtigen an, denn sie fanden dies die durchwegs gerechte Strafe dafür, dass Permides sie alle versuchte für dumm zu verkaufen. Allerdings verstummte man nach wenigen Sekunden bereits wieder, da man bemerkte, dass Permides nach den drei Schlägen sofort gestorben war. Der Schlag hatte ihn ungünstig getroffen. Was von Permides von Soli bleibt, sind seine wegweisenden Theorien. Sein Gedankengut ist die Basis jeglicher modernen Werbung und die Menschheit wurde tatsächlich erst in den letzen hundert Jahren reif für die Umsetzung dieser Lehre. Denn es gibt eine grundsätzliche Eigenschaft, die sich der Mensch erst erarbeiten musste, um Permides‘ Pläne auch ausführen zu können: Der Mensch musste sich dafür erst das kritische Denken abgewöhnen und ein gewisses Mass an Dummheit aneignen. Glücklicherweise sind wir heute so weit.

Laurin Buser wohnt in Basel. Normalerweise steht er mit seinen Texten auf der Bühne und im Studio. Er ist Slam Poet, Schauspieler und Rapper. Wer mehr wissen will geht auf laurinbuser.ch. Für dieperspektive schreibt er in jeder Ausgabe aus seinem Leben.

Literaturempfehlungen: « Vom Handel zur Porynthäne » - Permides von Soli, Diognas Verlag, 1991 « Werbung im Alten Griechenland - Wie verlogen die Griechen sich gegenseitig abzockten » - Hermann Weilgut, Pattmoss Verlag, 2004 « Sex sells - Werbepraxis im Alten Griechenland » Paul Landitz, Dörfer Verlag, 1999

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