Gentrifizierung

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MEH!

USGAB NR. 35

NOVEMBER DEZEMBER 2014

THEMA: GENTRIFIZIäRIG

NEI ABER IM CHREIS DRÜ ODER VIER.

JA.

ICH SCHAFFE DRA.

PLUS 5 STUTZ FÜR EN KAFI IM RESTI NäBEDRA.

JA.

NÖD ICH, MAMI UND PAPI.

JA, SO VOLL URBAN WEISCH.

NEI, ICH BIN MEH SO HOHLSTRASS.

JA.

KEI AHNIG, ICH HAN ES VELO VO DE VELOBÖRSE.

äH, JA?

ALLES USSERHALB VOM ERISMANNHOF ISCH AGGLO.

JA

WA ISCH DA?

NEI.

NIEMERT (FREIE MARKT UND SO)

PRAKTISCH.

SBÜNZLIGSCHTE äPP EVER.

NO NIE VO DEM äPP GHÖRT.

JUNGI FAMILIE

DRÖGELER

SINGLE BäNKER (DIE HEND SUSCHT SCHO GNUEG PROBLEM)

WAS

LABASCH

DU

dieperspektive Ich han sit zwei Jahr e Wohnig ade Weststrass. Ich zahl 1000 Stutz für es Zimmer ide Stadt. Ich wohn jetzt so voll bidä Gleis, huerä geil! Roti Fabrik isch u lässig. Aber brucht mer da scho es Aschlussbillet? I mim Herz zellt Oerlike zu Züri. Mittwuch is Longstreet. Mitem äpp « Züri wie noi » verpetzi amigs mini Nachbere wenns luut Sex hend. Wer het am meischte e günschtigi, subventionierti Wohnig verdient? Rithauue z Bääärn fägt huuuere. I be scho mau dörte gsi. ZAHL

GENAU, NÖD IDE STADT

Wo sind eigentlich alli individuelle, bezahlbare Läde anecho?


Thema

Wenn du weisst, was Gentrifizierung bedeutet, bist du Teil davon. I

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IMPRESSUM KONTAKT verein dieperspektive, zentralstrasse 167, 8003 zürich REDAKTION simon jacoby & conradin zellweger & manuel perriard & konstantin furrer & marius wenger & andrea schweizer LAYOUT isabella furler COVER isabella furler LEKTORAT konstantin furrer DRUCK nzz print AUFLAGE 4000 ARTIKEL EINSENDEN artikel@dieperspektive.ch WERBUNG simon@dieperspektive.ch ABO conradin@dieperspektive.ch LESERBRIEFE leserbriefe@dieperspektive.ch GÖNNERKONTO pc 87-85011-6, vermerk: gern geschehen THEMA DER NäCHSTEN AUSGABE scheitern REDAKTIONSSCHLUSS donnerstag, 27. november 2014, 23.55 uhr

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EDITORIAL

Nummer 35

04

Inh Alt Eine Stadt hat soviele Meinungen wie Einwohner. Wie soll das gut kommen? Ein Gedankenspiel.

06

06

DAS DUELL Peter Werder ist noch Seite 25 immer der Ansicht, dass der Markt alles regelt. Auch die Gentrifizierung. Simon Jacoby hingegen will, dass die Stadt den Menschen gehört, die darin leben. Seite 25

DAS DUELL Peter Werder ist noch immer der Ansicht, dass der Markt alles regelt. Auch die Gentrifizierung. Simon Jacoby hingegen will, dass die Stadt den Menschen gehört, die darin leben.

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GEN, WAS? Ist Nationalrätin Aline Trede ein Teil der Berner Aufwertung? Nur weil sie in einem Seite 28 Quartier voller Doppelverdiener wohnt? Hmmm...

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POLITKOLUMNE Ist Nationalrätin Aline Trede ein Teil der Berner Aufwertung? Seite 28 Nur weil sie in einem Quartier voller Doppelverdiener wohnt? Hmmm...

09

Seite 06

A

u s a g b e

Seite 06

Politisch linksorientiertes Generation-Y-Kind mit dem (unvorteilhaften) Jahrgang

Ein Dankeschön auch an

Seite 23

Seite 13

10

LOST PLACES Wir haben eine Industrieruine besucht, welche der Gentrifizierung seit über dreissig Jahren trotzt.

13 SAGE VOM VERFALL Eine Kurzgeschichte über Vögel, kahlrasierte Köpfe und ein besetztes Areal.

HINTERGRUND

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EINE PHILOSOPHISCHE ANNäHERUNG AN DIE EU UND DEN UKRAINE-KONFLIKT Wer den aktuellen Ost-West-Konflikt verstehen will, muss Habermas, Keynes, Steiner, Newton, Kant und Goethe gelesen haben. Mindestens. Oder diesen Essay.

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14

SCHON GEIL HIER, IRGENDWIE.. Jaja, an der Langstrasse wohnen, im schönen Kafi am iBook arbeiten und über die Aufwertung jammern? Irgendwie ein bisschen schizophren.

EIN HANDBUCH ÜBER OB-DACH-LOSIGKEIT Wie gerät jemand in die Obdachlosigkeit? Unsere Autorin zeigt es auf: In vier Schritten.

16 ZU BESUCH BEI Seite 11 DER ALTEN DAME Wer könnte besser über die Gentrifizierung berichten als ein altes Haus? Das Exklusiv-Interview.

Seite 12

18 SCHNECKENHAUS & GOLDFISCH Was ist das Problem des Schnecken? Dass sein Haus dem Goldfisch gehört. Typisch für die Gentrifizierung. Die Häuser denen, die sie brauchen!

Seite 35

Daniela Meier Fabio Parizzi Selina Grass Seite 10

für die eingesandten Illustrationen.

Seite 05

ANDERE GRÜNDE, DIE WESTSTRASSE ZU LIEBEN In Züri-Wiedikon wohnen viele Juden. Wie sind sie betroffen von der Still-Legung der Weststrasse? Kämpfen sie auch gegen die Gentrifizierung?

Poster Seite 21,22

GENTRIFIZIERUNG Zürich und die aktuelle Stadtentwicklung. Eine Angelegenheit des Geldes, wie unser Autor findet.

SIMONE HÖRLER SI (19)88, studiert Visuelle Seiten Kommunikation an der HGK Basel. Hat schon als Kind 13 das Abholzen der Bäume vor14 angetrieben, da sie jedes 16 auffindbare weisse Blatt vollgekribbelt hat. Mit ihren 23 Illustrationen und Grafiken 28 unterstützt sie heute unter anderem Hilfsorganisationen, um ihr Karma wieder aufzubessern.

22

Seite 07

Seite 15

THEMA

Seite 25

Seite 16

Seite 18

Seite 11

Seite 12

34 TOMORROW IS THE BEST DAY TO CHANGE MY LIFE Er liegt an der Sonne, denkt an Mädchen, rauchen und Liegestützen. Laurin Buser hatte offensichtlich schöne Sommerferien.

40 DANKE!


Editorial

Unsere Stadt wird gleicher VON

CONRADIN ZELLWEGER

A

m Anfang stand da das sperrige Fremdwort, das wir alle schon oft gehört haben, aber trotzdem nicht so recht wussten, was es für eine Bedeutung hat: Gentrifizierung. An dieser Stelle könnte ich den Wikipedia-Artikel über die Gentrifizierung kurz zusammenfassen und die Worte leicht abändern, sodass die Wissenslücke nicht allzu offensichtlich ist. Aber das ist nicht besonders spannend, zumal wir keine Ökonomen, Architekten, Demografen oder Stadtentwickler sind. (Bei Interesse schnell das Smartphone zu zücken und die Definition online lesen.) Stürzen wir uns also rein ins Thema. Denn Gentrifizierung geht uns alle etwas an. Es geht besonders auch uns, als Zeitung mit sehr kleinem Budget etwas an. Wir sind nämlich im letzten Jahr zweimal umgezogen. Zuerst waren wir im Karussell – eine Galerie und Bar mit befristetem Mietvertrag. Danach hat uns die Zitrone Asyl gewährt. Die Zitrone war ein grosses Haus mit Künstlerateliers. Auch die Autonome Schule Zürich war darin untergebracht. Eine Schule, welche hauptsächlich Leuten mit Migrationshintergrund und Sans-Papiers Bildung ermöglicht. Vor wenigen Wochen haben wir unsere Redaktionsräumlichkeiten ins Karl der Grosse verlegt. Ein Ort des politischen und kulturellen Diskurses. Unsere Anlässe werden von nun an oft im Karl stattfinden. Wir als Redaktion haben kein Problem damit, öfters unseren Standort zu wechseln. Aber wir sind nicht die Einzigen, die von der Aufwertung, von Neubauten, von teuren Mieten in Bewegung gehalten werden. Problematischer wird es, wenn das Familien mit Kindern geschieht. Irgendwann müssen die Kinder ihre neu gewonnenen Freunde hinter sich lassen und in die Agglomeration ziehen, weil sich die Eltern die teure Wohnung in der Stadt nicht mehr leisten können. Das geschieht nicht nur mit Familien, mit Läden passiert das Gleiche. Was gab es für einen Aufschrei, als das Schweizer Warenhaus Manor bekannt gab, den gestiegenen Mietzins an der Bahnhofstrasse nicht mehr bezahlen zu können. Sogar eine der weltweit teuersten Einkaufsstrassen ist von der Gentrifizierung betroffen. Ein vergleichsweise kleines Kaufhaus soll weichen, eine internationale Kette rückt nach. Unsere Rolle in der ganzen Entwicklung ist nicht unwichtig. Ich frage mich immer wieder, wie sich Jugendliche und Schüler im Starbucks einen überdimensionalen Kaffee leisten können. Und dass sie es können, steht aufgrund der besetzen Sitzmöglichkeiten ausser Frage. Und warum kostet der Kaffee im Café der viel gelobten Kalkbreite-Genossenschaft etwa gleichviel wie in jedem anderen Café? Und warum sitze ich trotzdem da und fördere den hohen Preis? Eigentlich sollte ich versuchen, die Stadt Zürich mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Das App «Züri wie neu» erlaubt es, Mängel in der Stadt zu melden. Von herumliegenden Matratzen über falsch parkierte Autos und kaputten Strasselaternen kann Frau und Herr Zürcher die Stadt auf Mängel hinweisen. Vielleicht sollte ich einfach einen Eintrag über die fehlende Durchmischung der Stadt machen. Jetzt bitte ich euch, das Smaprtphone noch ein zweites Mal zu zücken und beim Lesen dieser Ausgabe gleich vorne zu lassen. Wir wollen die Texte unserer Zeitung mit vielen Leuten diskutieren, denn wir sind überzeugt, es gibt so viele Meinungen zur Gentrifizierung, wie es kritische Mitdenker gibt. Sag uns deine Meinung zu jedem Text mit dem jeweiligen Link.

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Ich frage mich immer wieder, wie sich Jugendliche und Schüler im Starbucks einen überdimensionalen Kaffee leisten können. CONRADIN ZELLWEGER

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FÜR DIE REDAKTION, Conradin Zellweger gib din sänf dazue:

dieperspektive.ch/edito-gen

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ARTWORK 5

SELINA GRASS


Das Duell

– Peter Werder vs. Simon Jacoby –

Beim Duell stehen sich in jeder Ausgabe Peter Werder und ein Mitglied der Redaktion zum aktuellen Thema der Ausgabe gegenüber. Heute: Über das LabitzkeAreal, Yetis und Gentrifizierung.

M 16.04

Peter Werder:

ussten Sie auch fest «brüele», als die Labitzke-Areal-Blase platzte? Simon Jacoby aja, «gebrüelet» habe ich nicht, aber schade ist es schon, dass einer der kreativsten Orte der Stadt plötzlich nicht mehr existiert.

N 16:06

Sänf d. Grafik: «gebrüelet» wie ein Schlosshund.

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Wollen Sie ums Verrecken, dass ein Soziologiestudent im 48. Semester im Seefeld eine 5-ZimmerWohnung kriegt? PETER WERDER

PW as stimmt. Kreativ war der Ort. Wieso mieten die Leute denn jetzt nicht ein eigenes Areal? Oder ist es dann nicht mehr lustig, wenn man es legal besitzt? Ist es dann – huiiiiiiii – nicht mehr kreativ? Man kann sich ja dann immer noch als Yeti verkleiden und auf die Hohlstrasse hocken. Oder sich einbetonieren.

D 16:08

SJ as mit dem einbetonierten Arm ist übrigens eine Erfindung der Stadtpolizei. Der junge Mann hat sich nur festgehalten. Klar, sie könnten auch was mieten, wie in der Zitrone in Altstetten. Aber selten klappt das. Auch die mussten vor Kurzem ausziehen, weil das Haus umgebaut wird. Das Problem: Was diese Leute in diesen Freiräumen machen, bringt meistens kein Geld ein. Darum ist es schwierig mit der Miete. Diese steigen ja bekanntlich dauernd an. Nicht wegen den Mietern...

PW och. Erlauben Sie mir einen kurzen ökonomischen Einschub: Mieten steigen, weil die Nachfrage an einem bestimmten Ort steigt. Das nennt man Markt – dort, wo sich Mieter und Vermieter treffen. Gewisse Quartiere sind begehrter als andere, darum sind da die Mieten höher. Also nochmals die Frage: Wieso mieten die Leute vom Labitzke-Areal nicht ein anderes Areal – vielleicht an einem Ort, wo es günstiger ist?

D

16:13

D 16:11

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SJ rlauben Sie mir eine Gegenfrage: Wollen Sie eine Stadt, die nur aus wohlhabenden Menschen besteht? Kaum, darum braucht es solche Orte, die ohne viel Geld möglichst viele schräge Dinge machen. Zudem: Markt hin oder her. Es ist eine Sauerei, dass der Markt die Bewohner der Stadt vor sich hertreibt. Wem gehört Zürich? Nicht dem Markt. Den Menschen. So sollte es zumindest sein.

E

16:15


" PW er Markt treibt die Bewohner nicht vor sich her – oder sehen sie verlassene Häuser? Dass die Attraktivität einzelner Quartiere zunimmt und damit die Preise in die Höhe treibt, gehört zum Zyklus einer Stadt und die Stadt wiederum ist Teil eines überregionalen Zyklus. Das kann auch mal in die andere Richtung gehen – und die Mieten sinken wieder. Die Stadt «gehört» politisch gesehen zum Kanton Zürich und damit zur Schweiz – und das Land gehört jeweils denen, die es besitzen. Wo liegt das Problem? Haben wir zu viele Obdachlose?

Wem gehört Zürich? Nicht dem Markt. Den Menschen. So sollte es zumindest sein.

D 16:21

SJ einen Sie das eigentlich ernst, was Sie da von sich geben? Doch, der Markt treibt die Mieter vor sich her. Und verschärft zudem das Platzproblem – Dichtestress und so... Natürlich werden nicht alle Mieter vertrieben, aber die, die sonst schon eher kürzer kommen. Beispiel Idaplatz: Vor wenigen Jahren gab es da noch günstige Wohnungen. Heute kostet eine 2,5-Zimmerwohnung gut und gerne 3000 Franken. Das ist doch ein Witz.

M 16:24

– Peter Werder vs. Simon Jacoby –

SIMON JACOBY

PW timmt. Das ist zu viel. Würde ich nie bezahlen. Also suche ich mir da keine Wohnung. Ich verstehe ihr Problem nicht. Wollen Sie ums Verrecken, dass ein Soziologiestudent im 48. Semester im Seefeld eine 5-Zimmer-Wohnung kriegt?

S

"

SJ enn der Bodenbesitz dazu führt, dass sich viele die Miete nicht mehr leisten können, dann nein. Das ist ja so ein Ding mit den Zwangskonsumgütern: Wasser, Luft, Boden, Essen. Wer damit spekuliert, hat einen Schaden.

W 16:59

in allen Richtungen. Aber doch nicht in Zürich! Und: Selbstverständlich müssen Häuser mit Gewinn verkauft werden können. Nur so funktioniert der Markt. Aber ich weiss, Sie halten Menschen, die für den Staat arbeiten, immer für fähiger als die andern. Darum weiss es der Staat ja auch immer besser. Darum sollte der Staat die Gewinne verbieten und mit hohen bürokratischen Kosten die Einhaltung solcher Vorschriften kontrollieren. Somit fliesst dann ein allfälliger Gewinn einfach zum Staat. Weil das Geld da besser aufgehoben ist. Stimmt‘s?

16:31

SJ leiben Sie doch bitte bei der Sache. Wir könnten ja jetzt schon vorbeugen und da eingreifen, wo es in absehbarer Zeit klöpft (oder es jetzt schon tut). Wir müssen doch nicht warten, bis wir Ghettos haben. Wer kam eigentlich auf die unsinnige Idee, Boden zu verkaufen? Oder zu sagen: Das gehört jetzt mir. Dort beginnt nämlich das ganze Übel der Gentrifizierung.

PW er das in Frage stellt, hat das System nicht verstanden. Wenn man nicht mehr Eigentümer von Boden sein kann, wenn es nicht mehr möglich ist, frei darüber zu verfügen, darauf zu investieren (was Gewinne voraussetzt), den Wohnort zu wechseln und dabei eine gewisse Auswahl zu haben, dann sind wir in einem Big-BrotherSystem. Wo ist nur Ihr Sinn für Freiheit geblieben? Was glauben Sie denn, wer für Bodenzuteilungen zuständig sein wird – der gute, liebe Beamte aus Ihrer Bilderbüechli-DDR mit treuem Hundeblick und selbstgestricktem Öko-Pulli?

W 17:10

B

16:51

SJ ein, natürlich nicht. Oder nur so halb. Wo bleibt der gutschweizerische Kompromiss? Es geht doch um die Mischung. Auch bei der Mieterschaft. Häuser dürfen keine Spekulationsobjekte sein. Die Marktkräfte sind zu extrem.

N

Stellvertreterdiskussion, denn es geht Ihnen um etwas völlig anderes: Wollen Sie überhaupt noch, dass man Eigentümer von Boden sein darf ?

16:35

PW s klöpft nicht, wenn sie nicht mit ihren «Psetzerli-Kollegen» ein Problem bewirtschaften, dass es gar nicht gibt. Ich glaube, Sie führen hier eine

E

16:54

PW aren Sie eigentlich schon mal im Ausland? Da würde ich Ihre Gentrifizierungs-Panikmache verstehen. In gewissen Grossstädten gibt es unsinnige Ghettos – sozialer Bias

W 16:48

SJ reiheit, ein grosses Wort, Herr Werder. Grad Ihre FDP vergisst leider je länger je mehr, was das bedeutet (klar, es gibt auch viele unsinnige Definitionen). Freiheit herrscht dann, wenn jeder tun und lassen kann, was er will. UND: ER DANN AUCH DIE KONSEQUENZEN TRÄGT! Das ist das Gegenteil von: Ach, treiben wir doch die Armen aus der Stadt, mich betrifft‘s ja nicht.

F

17:14

Simon Jacoby, hmm, was gibt es da zu sagen? Ich schreibe und lese wahnsinnig gerne. Vor allem Politik und Gesellschaft und Kultur und YOLO interessieren mich sehr fest. Auch Häschtägs mag ich.

Dr. Peter Werder ist bürgerlicher Politiker, Dozent an der Universität Zürich und leitet die Kommunikation eines Konzerns im Gesundheitswesen.

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dieperspektive.ch/duell-gen


Politkolumne Aline Trede

Gen, was? – Gen, was? –

V

or kurzem stand bei uns in der Zeitung, dass die Gentrifizierung in meinem Quartier angekommen sei. Ich dacht, ok, ist das nun gut? Ich bin immerhin mit von der Partie, aber möchte ich das überhaupt sein? Wenn ich heute auf der Strasse die Gentrifizierung erklären müsste, ganz einfach und volksnah, ich könnte es nicht. Wir brauchen das immer in Zusammenhang mit Wohnungsnot und billigem Wohnraum. Und wir Grünen sind gegen Gentrifizierung, das weiss ich. Und ich denke, da bin ich auf der sicheren Seite, denn es gibt vieles mit « Gen », was mir suspekt ist. Gen-

Aber klar, ja, die Eltern sind alles Doppelverdiener, haben ein Häusschen und einen guten Job und total anständige Kinder. Im Quartier gibt es auch Sozialwohnungen, die Bewohnerinnen und Bewohner nehmen am Quartierfest teil oder bleiben einen Schwatz Es gibt vieles mit « Gen », was mir suspekt ist: für mit ihrem Hund auf Gentechnologie, Genozid, Genveränderung, der Strasse stehen. Eigentlich find ichs in Genau, Generell, Gentleman… meinem Quartier viel dörflicher als im ALINE TREDE Film « Zum Beispiel Suberg ». Dort spricht ja anscheinend nietechnologie, Genozid, Genveränderung, mand miteinander, gibt’s kein Lädeli Genau, Generell, Gentle man… mehr (was bei uns sehr wohl der Fall Ich habe dann mein Quartier angeschaut ist), grosse Hecken verstecken die Sicht und mir überlegt, was nun hier wohl und das Interesse aneinander ist sehr in den letzten Jahren passiert ist. Was klein. Wenn bei uns im Quartier jemand ich feststelle ist, dass es sehr viele junge Alleinstehendes sterben würde, würde Familien gegeben hat, welche mit das immer jemand merken. Dass eine vielen kleinen Kindern auf der Strasse Leiche 2 Jahre rumliegt, nein, das käme auftauchen und dies zu riesigen bei uns nicht vor. Unser Quartier ist Bobbycar-Rennen ausartet. Wir Eltern eigentlich ein kleines Dörfli in der Stadt, trinken dann ein Bier auf der Strasse mit Reichen, Jungen, Ausländerinnen und machen einen auf Reclaim the und Ausländern und einem GeneratioStreet. nenwechsel. Ich finds schön und ich fühle mich aufgehoben. Auf jeden Fall bin ich, nachdem ich das Wort nachgeschlagen habe, froh, dass ich nicht genau wusste, was es ist. Somit bin ich auch nicht Teil davon. Die Zeitung hatte übrigens nur teilweise recht, je nach Definition. Nach dieser Kolumne weiss ich ja jetzt was Gentrifizierung ist, bin ich denn jetzt Teil davon? Ist dieperspektive verantwortlich dafür, dass ich jetzt Teil davon geworden bin? Ich hoffe es nicht, denn leben tu ich was anderes.

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Aline Trede ist grüne Nationalrätin aus dem Kanton Bern. Nicht alles an ihr ist aber grün: Sie hat fünf verschiedenfarbige Brillen, keine einzige davon ist grün. Weil sie Politikerin ist, schreibt sie für uns immer über Politik.

GIB DIN SäNF DAZUE:

dieperspektive.ch/aline-gen

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Thema

– Gentrifizierung –

Retromöbel

totdiskutieren im Casablanca,

Gin trinken im Dante, G E N T R I F I Z I E R U N G Und Burger essen Elektro hören im Hooters. und Zug schauen Zmörgele Oder zum AprèsTEXT

im Heilewelt,

HANS REISER

(‘tschuldigung: brunche) im Dini Mueter

Travail ins Forum (nur für Agglos).

Mechanismen der Verdrängung

er Bling ist schon lange an der wichtigsten Ausgehmeile der wichtigsten Au s g e h s t a d t der einzigen Schweiz angekommen. Und die Veränderung der Langstrasse schreitet weiterhin rasant voran. Manche sehen das positiv, andere negativ. Doch aufhalten lässt sich diese Walze des zivilisatorischen Wandels nicht. Was sich technokratisch « Gentrifizierung » schimpft, ist die Verdrängung von ärmeren Bürgern aus ihren Wohnungen durch die Zuwanderung von finanziell Bessergestellten, verbunden mit einem markanten Mietanstieg. Diese Entwicklung konnte schon in vielen Ländern beobachtet werden. Zum ersten Mal beschrieben wurde das Phänomen 1964 von der Soziologin Ruth Glass, welche in London die Verdrängung der Arbeiterklasse aus ihren Wohnhäusern durch die Mittelklasse (engl. « gentry ») beobachtete. Zürich kennt die « Seefeldisierung », welche kurz vor der Jahrtausendwende startete und eine Umgestaltung der Bevölkerungsstruktur im Quartier zur Folge hatte. Immobilienspekulant und Hassfigur der Mieter, Urs Ledermann, machte sich (zu-

sammen mit anderen) die Re-Urbanisierung zur Gewinnmaximierung zu Nutze. Seither fürchtet sich in Zürich jedes Quartier vor einem ähnlich perversen Schreckenszenario. Dabei geht aber oft vergessen, dass die Stadt zuvor lange gemieden wurde, unter Bevölkerungsabwanderung zu leiden hatte und dementsprechende Massnahmen zur Einwohnerrückgewinnung getroffen wurden. Hamburgs Hanseaten z.B. bemühten sich um die Aufwertung einzelner Problemgebiete mittels günstigen Wohnraums für Studenten, wodurch anschliessend Besserverdienende zum Nachziehen bewegt werden sollen. Das Häuschen im Grünen ist mittlerweile nicht mehr der Lebenstraum einer ganzen Generation, dafür die Stadt als Wohnort wieder attraktiver. Doch Geld regiert nun mal die Welt. Und weil nur die wenigsten Lust auf Kommunismus haben, müssten wir auf eine sozial ausgerichtete Wohnungspolitik setzen, um eine gute und stabile sozioökonomische Durchmischung der Quartiere zu erreichen. Wie dies gehen könnte, zeigt uns Wien: Obwohl Österreichs Hauptstadt ebenfalls eine Aufwertung

seiner Stadtbezirke erfährt, zeigt sie, dass dies (für uns erstaunlicherweise) auch ohne (grosse) Verdrängung der alteingesessenen Bevölkerung geht. Und dieses schöne Kind hat viele Eltern: Erstens den restriktiven Mieterschutz, zweitens eine hohe Anzahl an städtischen Wohnungen und drittens die städtischen Fördergelder für Sanierungsarbeiten, bei deren Bezug sich der Vermieter zur Nicht-Erhöhung der Mieten über einen langen Zeitraum (15 Jahre) verpflichtet. Pekuniäre Aufwertung versus soziale Einbusse. Stille Einsamkeit hinter Hecken versus reges Treiben vor der Tür. Jeder für sich versus kulturelle Vielfalt. Verfremdung und Instabilität des Gemeindelebens versus funktionierendes und konstruktives Miteinander. Die Gesellschaft wählt das von ihr bevorzugte Modell letztendlich selber. Doch brauchen wir diesen Profit um jeden Preis wirklich? Oder wäre eine sozial besser verträgliche Politik nicht letztendlich sinnvoller? Der Zwinglistadt würde etwas Guy Fawkes und eine Portion Remmidemmi auf jeden Fall gut tun. Hans Reiser, 31 Jahre, Denker und Trinker, Aufklärer und Blender. Interessiert an gesunder Stadtluft, nützlicher Homöopathie und beruflicher Perspektive.

WAS HALTEN ANDERE VON DIESEM BEITRAG?

9

dieperspektive.ch/mechanismen


Thema

– Lost Places –

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L

s t

Places:

Das Leben eines tot geglaubten Industrieareals

TEXT & FOTOGRAFIE

CONRADIN ZELLWEGER

Graffiti, Ruinen, schräge Fetische und unermüdliche Natur. Wir haben eine Industrieruine in Zürich besucht und waren erstaunt, welch unterschiedliche Welten dort aufeinandertreffen. Eine Bild-Reportage über den Verfall einer alten Spinnerei und deren neues Innenleben. 10


– Lost Places –

E

in hoher Zaun soll das Areal von unerwünschten Besuchern frei halten. Doch auch der Zaun ist schon in die Jahre gekommen. Die Gebäude sind verlassen. Man hört die eigenen Schritte an den Wänden widerhallen. Überall liegen Ziegelsteine und Metallteile. Viele Eingänge sind zugeschüttet, Decken eingestürzt und überall liegen verkohlte Holzbalken. Wir gehen vorsichtig um die Ecken und versuchen, nicht zu viel Lärm zu machen. Beim kleinsten Geräusch blieben wir wie angewurzelt stehen. Der feuchte Modergeruch begleitet uns auf Schritt und Tritt. Erst eine halbe Stunde zuvor sind wir in Bülach aus der S-Bahn gestiegen und haben uns auf den Weg zum ehemaligen Industriegelände gemacht. Das ist längst vergessen. Die Zeit im Innern dieser Gebäude scheint nicht nach

dem Diktat unser Uhren zu laufen. Hier regieren seit über dreissig Jahren die Naturgewalten über Mauern und Maschinen. 1982 wurde die ehemalige Spinnerei geschlossen und es begann ein Tauziehen zwischen Denkmalschutz und dem Besitzer. Wenn sich zwei streiten, freut sich der Dritte. Dieses Sprichwort trifft auch im Fall der alten Spinnerei zu. Sprayer, Künstler und dubiose Gestalten haben in den alten Gemäuern Spuren hinterlassen. Viel Abfall und unzählige Graffiti sind zwischen den Artefakten der Spinnerei zu finden. In einer besonders dunklen Halle stossen wir auf einen Altar aus Brettern sowie mehreren Sitzreihen unter einem hausähnlichen Konstrukt. Die zusammengeflickten Holzobjekte ergeben eine Art Kirche. Vor dem Altar finden wir einen Stuhl mit einem beschriebenen Dokument. Es sind Anweisungen eines Fetischisten, wie er ernied-

11

rigt werden will. Schwierig, sich auszumalen was sich hier für Szenen abgespielt haben. In einer anderen Halle riechen wir frische Farbe. Hier muss vor wenigen Tagen oder sogar Stunden ein Graffito entstanden sein. Trotzt dem vielen Dreck und der Angst vor Einstürzen wandern wir gebannter als bei jeder Touristenatraktion durch die Hallen. Hier werden wir Zeuge der alten Schweizer Textilindustrie. Erlebten die Spuren des Vandalismus. Sehen Requisiten von Okkultismus. Und begreifen, was die Natur in dreissig Jahren mit einem Gebäude anstellen kann. Ein Denkmal mit vielen Gesichtern. Conradin Zellweger: Redaktor bei dieperspektive. Hat Publizistik studiert und mag die Ruhe und Gerüche, die er in «Lost Places» antrifft


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– Lost Places –

1982 wurde die ehemalige Spinnerei geschlossen und es begann ein Tauziehen zwischen Denkmalschutz und dem Besitzer. CONRADIN ZELLWEGER

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KOMMENTIERE DIESEN BEITRAG:

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dieperspektive.ch/lost-place


Thema

– Sage vom Verfall –

Sage vom Verfal l TEXT ARTWORK

AUREL SIEBER SIMONE HÖRLER

wähm Hühnerstall, in den Been tig ona nm neu rend des te am ges der als Are des s setzen r, wa n Abfall geschüttet worde te ach erw Es . gor sich etwas aus ngemit dem ersten Glocke es ein he Frü uen gra der läut in aus ges herbst lichen Sonnta erhob seinem Uteralschlaf und Gebam che ätis jest sich mit ma her Däc die r übe , kel dun ren,

I

dieser kleinen Stadt, um sich dann langsam in alle vier Himmelsrichtungen auszugiessen. Noch kurze Zeit vor diesem Auftreten marschierten zwölf Kahlrasierte übernächtigt und in Formation zu einer aus kleinen Lautsprechern breiig hingeworfenen Musik das Gelände ab. Eine Taube wiegte ihren Kopf leicht nach rechts, beäugte etwas auf dem toten Platz, und flog dann hinkend auf, in die kahle Krone einer Linde. Vom Hühnerstall wehte ihr ein aasiger Westwind ins Untergefieder. Halb benommen stimmte sie da, hinter losem Ästegitter, den Platz mit einem Auge überschauend, mit dem anderen den Himmel prüfend, ein heiseres Lied an. Der Wind trug es hinunter zu den Gleichschreitenden, wo es sich mit dem fortwährend aus den Boxen plärrenden Kampfgeschrei mischte, ja diesem

Lärm zuweilen einen melancholischen Unterton verlieh, sodass man auf dem Platz den Kopf heben musste, um in der Krone des einsamen Baumes nach der Ursache des wundersamen Tönens zu forschen. Vermutlich bildeten die umliegenden Hausmauern zufällig einen Resonanzkörper für die raue Taubenstimme, denn niemals hatte man je eine Taube derartig aus voller Brust ihr beschwichtigendes Gurren intonieren hören. Die Anwesenden fanden sich nach und nach unter der Linde ein, wo sie, nach oben blickend, der Taube lauschten. In den Sekunden, in denen ein nachlässig unterdrücktes Staunen durch die Versammelten ging, atmete der wüste und leere Platz eine längst vergessene Freiheit ein. In diesen hellen Augenblick stimmte ganz natürlich ein Glockengeläut ein, ja es schien, als

würden auf einmal sämtlich e Glocken der Stadt zu schw ingen beginnen und für kurze Zeit war es, als liesse sich aus dem Geläute eine donnernde Stimme ausmachen, eine geladene Stimme, die in einem erhabenen Ton, getragen von der grölenden Musik und der beschwörerisch aus ihrer Höh e hinunter gur renden Taube, etwas zu verkünden versuchte. Aber der Moment war schnell verklungen und es wunder te niemanden, als kurz darauf eine Finsternis über den plötzlich voll kommen verstummten Platz hereinbrach. Majestätisch schob sie sich über die versammelte Gemeinde und verf ing sich im dür ren Geäst der Linde. Sie senkte sich über die Anwesenden und si- hören vermocht, so hätte cker te gemächlich in ihre Ge- ihm die Ho?nung im Gemüter, wo sie alles abstumpfte hen den Atem abgeschnürt und nichts als eine unermess- und jeglichen Rest an Seele liche Lähmung hinterliess eingedrückt. So aber gab es . Hätte jemand noch auf die kein Aufbegehren. Es blieb Regungen seines Herzens zu still und dunkel. Die Taube, noch immer auf ihrem dürren Ast sitzend, plusterte sich etwas auf. Es war ihr kühl geworden. Aurel Sieber, 28, hat Germanistik studiert und brütet derzeit über Dissertationsplänen. TEILE DEINE MEINUNG ZUM BEITRAG:

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dieperspektive.ch/sage-verfall


Thema

– Schon geil hier, irgendwie... –

Schon geil hier, irgendwie... TEXT

FLORIAN SCHOOP SIMONE HÖRLER

ARTWORK

W

enn du weisst, was Gentrifizierung ist, bist du Teil davon. Wirklich? Ich könnte ja auch auf einem Biobauernhof in Illnau-Effretikon wohnen und trotzdem wissen, was das heisst. Ich könnte eine Lehre als KFZ-Mechaniker abgeschlossen haben und meinen sieben Schweinchen glückliche Möhren verfüttern, während ich im Stall aufmerksam das Echo der Zeit höre. Ich könnte ein guter Zuhörer sein und die Radio-Reportage über die Aufwertung im Kreis 4 in Zürich förmlich in mich aufsaugen. Ich könnte mich nach getaner Arbeit auf meine Veranda setzen, könnte mir eine Brissago anstecken und paffend über dieses seltsame Wort nachdenken. Gentrifizierung, was soll das? könnte ich mich fragen. 14

Ich würde nachdenken über die seltsamen Menschen, die sich in schäbigen Quartieren zu exorbitanten Preisen zusammenpferchen, zwischen Nutten und Dealern, nur um sich lebendig zu fühlen, um sich überhaupt zu fühlen. Ich würde mich wundern über meine Altersgenossen, die in zu engen Hosen an der Langstrasse herumtingeln, einen hippen Schuppen nach dem andern fluten, sich bittres Züri-Bier in ihre Bäuche schütten und sich danach in den Seitengassen in ihre aufgewerteten Löcher zurückziehen, für die sie exorbitante Mieten bezahlen. Ich würde nachdenken


– Schon geil hier, irgendwie... –

über die, die da ihren Rausch ausschlafen und sich mit übersäuerten Mägen in ihren Pritschen wälzen, wo noch vor drei Jahren Huren ihre Freier bedienten. Sie, diese Germanistikstudenten, diese Philosophinnen, diese werdenden Architekten, sie, die Ethnologen, Biologen und Anthropologen, sie sitzen auf ihren lottrigen Ikea-Möbeln und trinken lumpigen Kaffee aus einer Bialetti. Trotz schmerzenden Köpfchen und windenden Därmchen denken sie: Das ist Leben! In diesem Quartier sind noch die wahren Abgründe der menschlichen Existenz zu sehen. Hier knallt’s eben noch ordentlich. Hier ist noch nicht alles tot wie in den anderen Vierteln dieser Stadt. Ich bin am Brennpunkt, ich hab’s eben gecheckt. Sonst gibt es ja nur Banker und überreglementierte Pärke. Aber hier, hier pulsiert noch das Leben, und ich bin dabei, hurra. Ich bin stolz darauf, dass das Gebäude, in dem ich wohne, vor drei Jahren in den Medien als Skandalhaus betitelt wurde. Vor drei Jahren, das heisst, vor der Sanierung, vor dem Induktionsherd und vor den schallisolierten Fenstern. Ich fühle mich lebendig in diesem Haus, wo sich früher Prostituierte mit ihren Zuhältern zofften und wo Junkies noch beim Nachbarn um Stoff bettelten. That’s real life, denke ich, irgendwie geil. Und trotzdem rege ich mich täglich über den Dealer im Parterre auf, den die Verwaltung nach der Aufwertung nicht aus dem Haus vertreiben konnte. Er empfängt die Kunden in seiner Woh-

nung, in unserem Haus! Ein Skandal, denke ich. Wofür bezahl ich denn so viel Miete? Und während ich mein Rührei verzehre, das ich zuvor mit Trüffelbutter angebraten habe, mache ich mir Gedanken über das Thema meiner Masterarbeit. Schreibe ich über Ruth Glass, Jürgen Friedrichs oder vielleicht doch über Mittelschichtsfamilien in urbanem Umfeld? Ich könnte aber auch auf meiner Veranda sitzen, in Illnau-Effretikon, an meiner Krummen ziehen und den bissigen Rauch wieder aus meinen fröhlichen Lungen stossen. Gentrifizierung, würde ich denken, was für ein seltsames Wort. Wie spricht man das überhaupt aus? So wie’s dasteht oder eher neudeutsch mit « tsch »? Die Sprecherin im Radio sagte Gentrifizierung; der Städteentwickler aus Berlin, den sie interviewt hat, sagte Tschentrifizierung. Im Englischunterricht in der Berufsschule hätte ich dieses Wort noch nie gehört. Und trotzdem würde ich denken, man spräche es mit « tsch » aus, das passt einfach besser. Schliesslich werden nicht nur Quartiere aufgewertet, sondern auch die Sprache. Auch sie wird gentrifiziert. Während von fern die Schweine schreien, würde ich mich fragen, warum zum Teufel die Studenten und Urbanen, diese Yuppies und Yolos, die Randständigen aus ihren günstigen Wohnungen vertreiben. Ich würde mich fragen, warum sie in den Städten Quartier um Quartier das Leben

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aushauchen, bis nichts mehr da ist. Vielleicht hätte ich darauf eine Antwort. Doch in diesem Moment würde ich spüren, wie es langsam heiss wird auf meinem Liegestuhl. Die Abendsonne hat auch im August noch eine unglaubliche Kraft, würde ich denken. Die Brissago ginge aus. Ich würde sie auf den Kompost werfen und ins Haus gehen, in dem es nach Tier und Heu riecht. Aber nein, ich sitze in meiner aufgewerteten Hütte im Kreis 4, dem ehemaligen Skandalhaus, und frage mich, ob es stimmt, was sie sagen. Dass ich ein Teil der Gentrifizierung bin, wenn ich weiss, was das bedeutet. Während ich darüber nachdenke und weiter lumpigen Kaffee aus der Bialetti in mich hineinschütte, schweife ich ab. Ohne eine Antwort auf irgend etwas zu haben, verlasse ich das Haus und bestell mir an der schäbigen Imbissbude im Bermudadreieck eine Currywurst. Schon geil hier, denke ich. Würde nur endlich jemand was gegen die verdammten Dealer unternehmen. Florian Schoop, studiert Germanistik im Master und schreibt nebenbei für die NZZ und die Zürcher Studierendenzeitung (ZS).

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GIB DIN SäNF DAZUE:

dieperspektive.ch/geil-hier


Thema

– Zu Besuch bei der alten Dame –

Zu Besuch Bist du einmal hier gewesen bei der alten Dame behalten wir Dein Wesen Komm wieder in unsere Gemächer und trinke aus unserem Becher Wir sorgen für dein Wohl nur treibe es nicht zu doll (Hausgedicht)

TEXT ARTWORK

E

twas abseits steht sie, die alte Dame, und scheint ganz stoisch auf das hektische, mitunter aggressionsgeschwängerte Treiben vor ihr zu blicken. Das Leben hat sie gezeichnet, trotzdem strahlt sie – weiss, wie sie ist – eine erhabene Schönheit aus. Sie scheint über den Dingen zu stehen. Dazu brauchte sie weder Schönheitsoperationen noch ein Philosophiestudium. Ab und zu ein neuer Anstrich, das vielleicht schon, den Rest besorgte das ungeschminkte Leben. Die alte Dame steht an der Ecke eines grossen Platzes mit Brunnen in der Mitte, seit 1875 – wie ein Fels in der Brandung, unverrückbar. Etwas Mundgeruch hat sie, das merkt man, wenn man ihr näher kommt. Die alte Dame, sie ist ein Haus. Der Mundgeruch: ein Gemisch aus Alkohol, Rauch, Schweiss und Urin.

NICK SCHWERY SIMONE HÖRLER

Liebe alte Dame, der Platz, an dem Sie stehen, ist bekannt für seinen Lärm – wie haben Sie geschlafen? Wie ich geschlafen habe? Wie eine Alphütte! Über all die Jahre habe ich mich so an den Lärm gewöhnt, dass mich eher die Ruhe beunruhigt. Die will man uns aber immer mehr aufzwingen. Aber hier wohnen doch auch Familien. Ja, aber noch nicht lange, und nicht in mir. Wissen sie, was ich befürchte? Dass ich zum Spekulationsobjekt werde. Schon wieder. Wieso schon wieder? Naja, die Spekulation ist gewissermassen mein leiblicher Vater. Ich wurde 1875 auf günstig erworbenes Land gebaut und habe dann, zusammen mit meinen Geschwistern, ganz schön Geld abgeworfen. Wohlhabende Menschen hausten in mir. Der Brunnen, da auf dem Platz, heisst bis heute im Volksmund Spekulations- und Korruptionsbrunnen. Den schenkten die Spekulanten der Stadt, um sie weiterhin schön ruhig zu halten.

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– Zu Besuch bei der alten Dame –

stiges Bier und torkeln zum Brunnen, vor dem sie sich auf die Stufen setzen. Immer wieder wird es laut, Glas klirrt auf Asphalt, Schreie hallen durch die Luft – das Gespräch mit der alten Dame wird Mal für Mal unterbrochen. Auf einmal spuckt sie zwei Menschen aus, die sich in ihrem Eingang wegen Drogen prügeln wollen. Fast reissen sie das junge Paar mit, das zeitgleich die Räder in die Höhe stemmend das Haus betreten will. Zeit, etwas in Erinnerungen zu schwelgen.

Und jetzt befürchten Sie, erneut zum Spekulationsobjekt zu werden? Ja, schauen sie sich um. Hier war noch vor wenigen Jahren die Drogenhölle. Seit dem 2. Weltkrieg war das ein Ort für Verlierer. Die werden aber immer mehr verdrängt. Die Dirnen dürfen ihre Kunden nicht mehr auf der Strasse ansprechen. Seither sitzen sie bei mir auf der Treppe, immer einen Karton unter dem Po, oder in den Lokalen. Mein Herr ist alt, ich befürchte, dass sie, sollte er sterben, bald draussen vor der Tür stehen. Dafür würde vielleicht endlich mal saniert, ihr Zustand im Innern ist ja bedenklich. Ach, da schlagen zwei Herzen in meinen Wohnungen. Klar sind gewisse Arbeiten fällig. Werde ich jedoch zum «  s anierten Altbau  », wie einige meiner Geschwister, verliere ich alle meine jetzigen Bewohner. In den Wohnungen genau so wie in der Bar, dem kleinen Casino und dem Stundenhotel. Heute geben sich bei mir Verlierer, Studenten, Prostituierte, Freier und Künstler die Klinke in die Hand. Einige meiner Geschwister beherbergen ja nur noch Reiche, die sich schon heute um ihre Töchterchen fürchten, die irgendwann junge Frauen sein werden. Das Quartier ist bereits sicherer geworden. Warum sollte es nicht noch sicherer gemacht werden? Weil es für seine Bewohner sicher genug ist. Niemand hat sich hier reiche Menschen gewünscht. Die Welt befindet sich aber im steten Wandel, dagegen kann man doch nichts machen? Ich habe nichts gegen den Wandel im Allgemeinen. Wie viel ich schon erlebt habe... Fuchsteufelswild werde ich

139 Jahre stehen Sie schon da: Was sind Ihre schönsten Erinnerungen? Die Markttage, die es früher werktags auf dem Platz gab. Und die rollschuhfahrenden Kinder, das war schön. Der Platz war damals ein Treffpunkt für alle.

aber, wenn der Wandel zugunsten von Spekulanten geschieht. Das hat vielleicht mit meiner Geschichte zu tun, als Spekulationskind bin ich da besonders sensibel. 1875 mussten alle Handwerker, die hier angesiedelt waren, den Platz für die wohlhabende Mittelschicht räumen. Ich möchte nicht zum zweiten Mal für so etwas missbraucht werden.

Schaut man den Platz heute, einige Jahre nach dem Umbau, an, scheint er diesem Zustand wieder näher zu kommen. Wie sehen Sie das? Das stimmt. Es hat in den letzten Jahren eine Durchmischung gegeben. Zurzeit sitzen Capuccinoschlürfer unweit von Alkoholikern und Dirnen. Der Platz ist viel offener und bietet keine Verstecke mehr, dadurch ist er sicherer geworden. Auch die Befreiung vom Verkehr war positiv. Soll der Platz aber ein Treffpunkt für alle bleiben, darf niemand mehr vertrieben werden. Sonst haben wir hier bald ein leblossteriles Quartier für Reiche, das die Geldbeutel einiger Spekulanten glücklich macht.

Aber die Stadt möchte ja hier auch günstigen Wohnraum zur Verfügung stellen. Günstigen Wohnraum für weniger gut verdienende Gewinner vielleicht. Aber alle wahren Verlierer verlieren erneut und werden verdrängt. Die alte Dame spricht langsam und bedacht, obwohl ihr das Thema offensichtlich nahe geht. Dirnen sitzen derweil auf den Stufen ihres Einganges, Studenten tragen ihre Fixies an ihnen vorbei ins Haus hoch, Künstler treten diskutierend auf die Strasse. Auch ein Anzugträger ist unter den Bewohnern zu erblicken. Freier und Dirne verlassen das Stundenhotel in der alten Dame gestaffelt. Kaum auszumalen, was in all den Räumen zeitgleich vor sich gehen mag. Vor dem Kiosk auf der anderen Strassenseite sitzen rund zehn Schwarze, Alkoholiker kaufen sich gün-

Trümmer meiner bombardierten Geschwister und anderer Nachbarn im Zweiten Weltkrieg. Zuletzt die vielen Drogentoten, auch in meinen Räumen, Ende des letzten Jahrhunderts. Was wünschen Sie sich persönlich für die Zukunft? Zurzeit fürchte ich mich mehr, als dass ich hoffe. Vor einem Abriss am meisten, aber auch vor einer Sanierung, die dazu führen würde, dass meine liebgewonnenen Bewohner ausziehen müssten. Ich hoffe, ich überstehe noch einige Jahrzehnte. Einzelne, lebensverlängernde Renovationen wären schön, sodass meine Türen noch lange für alle offen sein können. Nick Schwery, 28, lebt, denkt, schreibt und studiert.

Was sind Ihre schlimmsten Erinnerungen? Die Choleraepidemie im Quartier Ende des vorletzten Jahrhunderts, ich kann mich noch gut an die Garküche auf dem Platz erinnern. Und an all die

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dieperspektive.ch/alte-dame 17


– Schneckenhaus und Goldfisch –

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Rolandsky

– Schneckenhaus und Goldfisch –

Schneckenhaus & Goldfisch

TEXT ARTWORK

ROLANDSKY ISABELLA FURLER

G

endrification und Gentrification sind fast dasselbe. Gen trifikation ist einfach hart wegen dem t. Gendrification hingegen ist weich, wie der Mensch oder eine Schnecke. Der Mensch braucht Wärme und ein Schneckenhaus. Schön wohlig. Bei Gentrifikation ist es nur schön teuer. Schuld sind die Goldfische. Sie langen alles an und machen es zu Gold. Zürich, ich liebe Dich. Hier hast Du mir die Liebe meines Lebens geschenkt. Hier will ich sterben. Aber es gibt Menschen, die halten das nicht aus. Es gibt Menschen, die können diesem spirituellen Kapitalismus Zürich, nicht folgen. Alle sind Muggsmäuschen still. Am nächsten liebe Dich. Morgen ziehen wir den blauen Blaser darüber. Den Chef müssten wir in die Luft sprengen. Das Gesetz. Es gäbe einen Umbau, eine Revolution. Es ist nicht alles schlecht, wenn es eine Katastrophe gibt. Die Menschen sind viel schöner in der Katastrophe. Die sind 10‘000 Mal schöner als diese aufgeschönte Schönheit. 1‘000‘000 Mal schöner. Viel mehr schöner. Mit schönen Lippenmuskeln.

"

ich

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Was ist eine Familie? Eine Familie sagt - ja, du gehörst zu uns, immer. Hier ist Dein Schneckenhaus. Hier ist Dein Geschlecht. Dein Haus ist die Macht ist die Herrlichkeit in Ewigkeit. Aber es gehört nicht Dir, Schnecke! Das Haus gehört nämlich uns. Wir sind hier die Schnecken, sagen die Goldfische. Das Problem ist, beide sagen es. Die Schnecke und der Goldfisch sagen, ich bin die Schnecke. Aber das geht nicht. Das ist meine Schnecke. Ich bin’s und ich bleibe. Rolandsky, mit bürgerlichem Name Roland Wagner. Nach dem Lesen seiner Kolumnen geht es den meisten so: verwirrt, betroffen, aha-so-ist-das, was soll das? Recht hat er...

GIB DIN SäNF DAZUE:

dieperspektive.ch/rolandsky-gen 19



ARTWORK

FABIO PARIZZI


Thema

– Andere Gründe, die Weststrasse zu lieben. –

Andere Gründe, die Weststrasse zu lieben Oder: Fragen fragen TEXT

LAURA ERMERT & RITA SCHUBERT ARTWORK SIMONE HÖRLER

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T

amilischen Familien begegnet man dieser Tage eher selten. Eine andere Gruppe von Anwohnern ist dagegen oft präsent: Die chassidische Gemeinde: Männer mit Bärten, Frauen in Röcken und Kinder, die sich scheinbar ausschliesslich mit Fahrrad und Kickboard fortbewegen. In Kreis 2 und 3 wohnen ungefähr 5000 Anwohner, die Mitglied in einer der jüdischen Gemeinden Zürichs sind. Die Weststrasse ist ein Paradebeispiel für Gentrifizierung – das ist kein Geheimnis. Beim Nachdenken über die Folgen der Gentrifizierung drängt sich die Frage auf: Ist die orthodoxe jüdische Gemeinde von der Gentrifizierung des Kreis 3 betroffen? Die Agudas Achim Gemeinde hat ihre Synagoge an der Weststrasse. Die Gemeinde wurde 1912 gegründet, hat seit 1921


– Andere Gründe, die Weststrasse zu lieben. –

Beträume und eine Schule an der Liegenschaft eingerichtet, wo heute die Synagoge steht, welche 1960 eingeweiht wurde.. Überhalb der Synagoge ist eine TalmudSchule eingerichtet. Nur zwei der vier Zürcher jüdischen Gemeinden, die Israelitische Religionsgesellschaft Zürich (IRG) und die Agudas Achim Gemeinde leben nach – von aussen betrachtet als überaus streng erscheinenden – traditionellen Regeln, und werden daher gelegentlich auch als ultraorthodox bezeichnet. Kein Auto oder ÖV am Sabbat Unsere Vermutung war, dass Wohnen an der Weststrasse den Mitgliedern der Agudas Achim Gemeinde in besonderem Masse wichtig ist, vielleicht noch mehr als anderen Anwohnern zuvor, die anfangs der günstigen Wohnungen wegen hier lebten. Zum einen ist hier die Synagoge, das Zentrum der Gemeinde. Am Sabbat ist es nicht erlaubt, Autos oder ÖV zu benutzen. Somit hat die Nähe der Wohnung zur Synagoge schon allein praktische Gründe. Zudem befindet sich an der Weststrasse der nach eigenen Angaben grösste koschere Supermarkt der Schweiz: Koscher City. Auch im nahegelegenen Coop am Manesseplatz gibt es eine kleine koschere Abteilung. Mehrere jüdische Schulen, in denen neben dem Lehrplan des Kantons religiöse und kultu23

relle Inhalte vermittelt werden, befinden sich in der Gegend. Die Motivation der jüdischen Familien hier zu wohnen, unterscheidet sich also – das unterstellen wir – grundsätzlich von derjenigen der ChaiLatte-Fraktion. Mit der Aufwertung durch Verkehrsberuhigung und Renovation, dem Eröffnen neuer (selbstdeklarierter) Szenelokale und der Vervielfachung hipper Kulturangebote geht ein struktureller Wandel einher und die Mieten steigen. Sind die (oder jüdisch orthodoxe) jüdisch orthodoxen Anwohner vor diesem Hintergrund nicht ein wenig sauer auf die neue Schickeria ? Drastischer formuliert, hat die jüdisch orthodoxe Gemeinde weder den Lärm, noch die Abgase, noch die ladenlose Öde der alten Weststrasse gemieden, sondern dort eine für das religiöse Leben wichtige Infrastruktur aufgebaut. Kann sie nun in diesem Quartier bleiben, oder müssen Mitglieder von jüdischen Gemeinden in andere Quartiere ausweichen? Was hiesse das für den koscheren Lebensmittelladen, der wahrscheinlich auf seine im Sihlfeld ansässige Kundschaft angewiesen ist? Mit unserer Recherche versuchten wir, einen Eindruck der aktuellen Situation im Sihlfeld zu gewinnen – was sich aber als schwieriger gestaltete, als wir erwartet hatten.


– Andere Gründe, die Weststrasse zu lieben. –

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Sie spricht ebenfalls das Gerücht an, die Verkehrsberuhigung sei ein Zugeständnis an die jüdische Gemeinde. LAURA ERMERT & RITA SCHUBERT

aber mit Misstrauen, und beantwortete kaum eine Frage. Im Gegenteil wurde er ob unserer Bemerkung, dass die Gemeinde wohl nicht der günstigen Wohnungen wegen im Kreis 3 lebe, sondern um der Synagoge willen, rundheraus sauer. Vielleicht dachte er, wir unterstellten der Gemeinde, dass sie sowiesogenug Geld habe, um sich das Quartier zu leisten; dabei hatten wir ja gerade die gegenteilige Frage stellen wollen. Das Thema sei zumindest in der Synagoge nicht diskutiert worden, da man sich vorwiegend zum Gebet dort treffe.

Schwierige Recherche Zwei Dokumente der Stadtentwicklung über die Weststrasse erwähnen die Gemeinde als Anwohnergruppe nur am Rande; so wurde zum Beispiel bei einer Anwohnerbefragung von 48 Personen nur ein einziges Mitglied der Gemeinde berücksichtigt (vergleiche «Weststrasse im Wandel», Stadtentwicklung Zürich mit ZHdK und ZHAW, 2008). Nur Aussagen Dritter, zum Beispiel benachbarter Hauseigentümer und –verwalter sowie Quartiersexperten, finden sich in einer Analyse zu Renovationsbedarf und –vorhaben (vergleiche «Analysebericht zum Quartier Sihlfeld und der Weststrasse», Stadtentwicklung Zürich 2005). Dies sei einfach nicht die Stossrichtung der Analyse gewesen, betonte die Autorin auf unsere Nachfrage hin; zwar habe man auch Fragebogen an orthodoxe Hauseigentümer geschickt, über Religionszugehörigkeit wurden aber keine Daten erhoben. Vom Geschäftsleiter des koscheren Supermarktes wurden wir mit unseren Fragen mehrmals vertröstet. Heute sei zu viel los, wir sollten nächste Woche wieder kommen, morgen, ein anderes Mal. Ein Mitarbeiter der Synagoge willigte zwar ein, telefonisch weiterzuhelfen, begegnete uns

Keine Gespräche mit der Stadt Klar, als positiv werde die neue Ruhe durch die Verkehrsberuhigung in der Weststrasse bewertet. Ein Dialog über die Quartiersentwicklung mit der Stadt Zürich sei seines Wissens nach nicht geführt worden. Ein Vertreter der Stadtentwicklung Zürich gab an, man habe vor der Verkehrsberuhigung den Kontakt zu Grundeigentümern gesucht und in diesem Zusammenhang auch «kurz Kontakt mit Vertretern der Gemeinde Agudas Achim» gehabt. Ein intensiver Dialog scheint sich daraus nicht ergeben zu haben. Warum das so ist, bleibt zunächst offen. Ob es konkrete Fälle gibt, in denen Familien auf Grund steigender Mieten gezwungen sind, umziehen, liess der Mitarbeiter der Synagoge ebenfalls offen. In einem solchen Fall, so teilte man uns mit, könne die Gemeinde die Familien nicht direkt unterstützen. Die Gemeinde besitze auch keine eigenen Liegenschaften, deren Wohnungen sie bedürftigen Familien anbieten könnte. Vakuum an Information Ist Gentrifizierung hier kein Thema? Während der Recherche bemerkten wir, wie schwierig es ist, mit einem solchen Mangel an Informationen umzugehen. Die Zitate in Berichten der Stadtentwicklung klangen bestenfalls nach Klischees und offen von seinen Erfahrungen erzählen wollte zunächst niemand. Ein solches Vakuum an Informationen birgt die Gefahr, in Vermutungen und Spekulationen zu verfallen. Diese Einsicht gewannen wir leider ebenfalls in der 24

"

Nachbarschaft, wo beispielsweise erzählt wurde, die jüdische Gemeinde habe grossen Einfluss auf die Entwicklung des Quartiers. Zum Glück glauben wir nicht an solche Verschwörungstheorien. Wir glauben aber auch nicht, dass Gentrifizierung kein Thema für die jüdische Gemeinde ist. Unsere Hartnäckigkeit wurde schliesslich belohnt: Eine Mitarbeiterin des orthodoxen Supermarkts gab uns sehr bereitwillig, freundlich und differenziert Auskunft. Natürlich, betonte sie, handele es sich um subjektive Eindrücke und Erfahrungen, doch half uns der Perspektivwechsel, die Situation besser einschätzen zu können. Für den Laden habe sich nichts verändert. Die Stammkunden scheinen dem Supermarkt treu zu bleiben und nicht-jüdische Anwohner präferierten nach wie vor andere Läden (oder die anderen Läden?). Jedoch sei sie in Sorge, man könne wegen der Aufwertung bald keine bezahlbaren Wohnungen mehr finden. Das wäre für die jüdische Gemeinde einschneidend. Es geht uns allen gleich Sie sprach ebenfalls das Gerücht an, die Verkehrsberuhigung sei ein Zugeständnis an die jüdische Gemeinde. Es sei Blödsinn,


– Andere Gründe, die Weststrasse zu lieben. –

dass der Einfluss der jüdischen Gemeinde solch ein Projekt stimulieren soll; die Stadt sei noch nie gross auf Anliegen aus der Gemeinde eingegangen. In der Tat scheint der offizielle Dialog stärker mit den öffentlich-rechtlich anerkannten Gemeinden geführt zu werden. (Auf staatliche Anerkennung haben die beiden streng orthodoxen Gemeinden Agudas Achim und IRG bislang verzichtet, da diese vorgängig Reformen erfordern würde). Wir fragen uns, wie die Entstehung solcher Gerüchte vermieden werden kann. Durch grössere Transparenz und Offenheit seitens der ansässigen jüdischen Gemeinde? Durch mehr Dialogbereitschaft der Stadt? Wir haben unsere eigene Wissenslücke entdeckt, welche wir bis zu dieser Recherche wahrscheinlich mit vielen im Quartier teilten. Um sie aber zu schliessen, und die Hintergründe zu verstehen, mussten wir uns bemühen, und die Fortschritte waren anfangs klein. Da wäre es natürlich einfacher gewesen, das nächstbeste Gerücht am Treppenabsatz nachzuplappern und Bescheid zu wissen.

Und was ist nun los mit der Gentrifizierung? Vermutlich ergeht es den Mitgliedern der Gemeinde ebenso wie uns allen eben auch. Manche haben genug Glück oder Geld, um zu bleiben; andere werden sukzessive in weiter weg gelegene Quartiere, oder an die seit der Abklassierung der Weststrasse zur neuen Verkehrsachse gewordene Schimmelstrasse, ziehen. Uns scheint, als habe die Gemeinde auch nicht anders oder besser im Interesse ihrer weniger wohlhabenden Mitglieder verhandelt und vorausgeschaut, als die Stadt Zürich selbst. Eine Email, die wir Wochen später aus der Gemeinde erhielten, erklärte uns auch warum: Die jüdische Gemeinde versuche sich politisch möglichst zurückzuhalten, aus Sorge, in die Kritik zu geraten.

«Was die Zukunft bringen wird, kann niemand im Voraus wissen. Viel Erfolg in Ihrer Arbeit. Ich bin erst wieder in 10 Tagen im Büro. » Wir danken allen Angehörigen der Gemeinde und anderen Personen, die uns bei der Recherche weitergeholfen haben. Laura Ermert & Rita Schubert, Ein Gespann aus Umwelt- und Erdwissenschaften, Bayern und Schwaben, kurz und lang. Zum Weiterlesen: 1 http://www.religionenschweiz.ch/bauten/agudas.html (Dass das Judentum hier als ‘zugewanderte Religion’ bezeichnet wird, sehen wir mal als Zugeständnis an die SVPtreue Leserschaft der Homepage an…), abgerufen 03.09.2014. Nicht alle Informationen auf dieser Seite scheinen uns hieb- und stichfest zu sein, aber in Ermangelung anderer Quellen bot sie uns doch einen Überblick ueber die Geschichte der Gemeinde. 2 http://blog.dasmagazin.ch/2014/08/29/13277/?goslide=0 (Ein aufschlussreiches und interessantes Gespräch mit Thomas Meyer und Beni Frenkel ueber jüdisches Leben in der

Die Zeit wird zeigen, wie sich das Sihlfeld in Zukunft entwickeln wird; oder, um es mit dem Schlussatz des letzten, etwas ungehaltenen E-mail des Gemeindevertreters zu sagen:

Schweiz. Nur für humorvolle Leser empfehlenswert), abgerufen am 04.09.2014 3 http://www.nfp58.ch/files/downloads/sb_gerson.pdf (Schlussbericht des Forschungsprojekts Schweizer Judentum im Wandel an der Universität Basel), abgerufen am 04.09.2014

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Hintergrund

– Eine philosophische Annäherung an die EU und den Ukraine-Konflikt –

Eine philosophische Annäherung an die EU und den Ukraine-Konflikt

Wer den aktuellen Ost-West Konflikt verstehen will, muss verstehen, wie es überhaupt zu Kriegen kommen kann. Dieser Essay zeigt anhand von zwei gegensätzlichen Theorien auf, wie es soweit kommen konnte, und wie der Ukraine-Krieg hätte verhindert werden können. TEXT ARTWORK

FIONN MEIER DANIELA MEIER

D

er Ausgangspunkt für das Verständnis der Gesellschaft als sozialer Organismus ist eine erweiterte Erkenntnistheorie. Eine Grundstruktur dieser erweiterten Erkenntnistheorie ist, dass in ihr zwei verschiedene Denkmethoden angewendet werden, je nach dem, ob es sich um anorganisches oder organisches handelt. Die heutige Wissenschaft unterscheidet auch zwischen anorganisch und organisch, aber sie verwendet für beide dieselbe Denkmethode. Die erweiterte Erkenntnistheorie unterscheidet folgende Denkmethoden: 1 anorganische für das anorganische 1 für das (tote): (tote): Kausalität Kausalität - Abstraktes Abstraktes DenkenDenken 2 für das organische (lebendige): Metamor2 für das organische (lebendige): phose - Imaginatives, bildhaftes Metamorphose - Imaginatives, Denken bildhaftes Denken 27

Die heute vorherrschende wissenschaftstheoretische Grundlage hat ihre Wurzeln in Newton und Kant. Auf Newton geht es zurück, dass wir versuchen, die ganze Welt in mathematischen Formeln und kausalen Beziehungen zu fassen. Auf Kant geht die Ansicht zurück, dass unseren Erkenntnissen durch die Beschaffenheit unseres Bewusstseins Grenzen gesetzt sind. Kant lieferte auch die erkenntnistheoretische Grundlage für die wissenschaftliche Methode Newtons. Die erweiterte Erkenntnistheorie hat ihre Wurzeln in Goethe und Steiner. Goethe untersuchte die Pflanzen und wendete dabei instinktive das imaginative, bildhafte Denken an. Steiner lieferte später die erkenntnistheoretische Grundlage hierfür und versuchte daraufhin in seiner « Philosophie der Freiheit » zu zeigen, dass unserer Erkenntnisfähigkeit keine absoluten Grenzen gesetzt sind.


– Eine philosophische Annäherung an die EU und den Ukraine-Konflikt –

Als ein Beispiel für das imaginative Denken kann man den kleinen Aufsatz von Rudolf Steiner « Aufruf an das deutsche Volk und an die Kulturwelt » betrachten. In diesem Aufsatz, veröffentlicht im März 1919, beschreibt er in raschen Zügen die Gesellschaft bildhaft als dreigliedrigen Organismus, bestehend aus Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben. Dieser Organismus kann mit dem kausalen Denken Newtons nicht erfasst werden, sondern nur mit dem bildhaften Denken Goethes. United States of Europe Der Impuls für diese neue gesellschaftliche Struktur verhallte damals wirkungslos, trotz immenser Anstrengung von Rudolf Steiner, diesen Impuls in die Öffentlichkeit zu bringen. Anstatt den dreigliedrigen Gegenentwurf zum einseitigen Kapitalismus des Westens (Wirtschaft) und dem einseitigen Kommunismus des Ostens (Staat) zu verwirklichen, schlitterte Deutschland in den 2. Weltkrieg und wurde danach in zwei geteilt. Dadurch standen sich Amerika und Russland in Deutschland direkt gegenüber, ohne eine vermittelnde Mitte, wie sie ein strukturell dreigliedriges Mitteleuropa hätte sein können. Bis zum Fall der Berliner Mauer war die Geschichte unter einer Art Kältestarre, aber seit ihrem Fall nimmt die Geschichte wieder abenteuerliche Geschwindigkeit auf. 1992 Gründung der EWR, 1999 Einführung des Euro, 2007 Vertrag von Lissabon, 2008 Finanzkrise mit all ihren Implikationen, wie Eurobonds, gemeinsame Bankenaufsicht und so weiter. Schaut man sich die Entwicklung genauer an, kann man erkennen, dass wir einer United States of Europe zustreben, die einem Abbild der United States of America nahe kommt. In Russland fand nach dem Fall der Berliner Mauer eine Art hemmungsloser Ausverkauf statt. Nur wenige profitierten durch die Öffnung Russlands zur Marktwirtschaft und wurden Milliardäre, während viele weiter in die Armut versanken. Putin und Medwedew rissen das Ruder herum, bauten die Macht der Regierung wieder aus, wiesen die Neureichen in die Schranken und wollen Russland wieder ein Rolle auf der Weltbühne geben. Dies beinhaltet auch, dass sie der ständigen Osterweiterung der EU und der Nato Einhalt gebieten wollen. Bemerkbar war diese Wende erstmals mit voller Deutlichkeit 2008 während der Süd-Ossetien Krise, als sich Russland mit starkem militärischem Einsatz gegen den Überfall des amerikanischen Zöglings Georgiens auf das auf russischer Seite stehende Süd-Ossetien reagierte. Diese sich neu aufbauende Spannung, welche der Autor Peter Scholl-La-

tour 2008 in seinem Buch « Der Weg in den neuen Kalten Krieg » in deutlichen Zügen beschrieb, trat nun mit der aktuellen Krise in der Ukraine auch für die breite Öffentlichkeit ersichtlich zu Tage. Verletzungen von Menschenrechten, Verletzungen von Völkerrechten, nicht legitime Regierungen, und andere Schlagworte, mit denen die Medien die Ereignisse in der Ukraine kommentieren, gehen kaum auf die Hintergründe ein und sind oft nur leere Phrasen – oder mit den starken Worten von Peter Scholl-Latour: « Wir leben in einem Zeitalter der Massenverblödung, besonders der medialen Massenverblödung  » . Heute: Gefährlicher als 1938 Putin strebt eine Eurasische Wirtschaftsunion an, eine Zollunion ähnlich wie die EU. Er möchte der Europäischen und der Amerikanischen Wirtschaftsmacht einen eigenständigen und starken Wirtschaftsblock entgegenstellen. Für eine solche Union ist die Ukraine von grundlegender Bedeutung, in wirtschaftlicher wie auch in kultureller Hinsicht. Um was es bei diesem Konflikt geht, ist, ob in der Zukunft die Ukraine der EU und der Nato einverleibt wird, oder ob sie Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion wird (und sich dabei wahrscheinlich in Ost- und Westukraine spalten wird). Wohin die neu aufkeimende Spannung zwischen Ost und West hinführen, ist schwer zu sagen. Es gibt jedoch einige Menschen, die diese Entwicklung mit grosser Sorge beobachten. Im Dienstag Club des Schweizer Fernsehen vom 29. April schätzte zum Beispiel Albert Stahel, Professor an der Universität Zürich für strategische Studien, die Lage mit solchen Worten ein: «Wir haben in einem gewissen Sinne eine gefährlichere Situation als beispielsweise 1938, als sich die Sache langsam zuspitzte auf zwei Blöcke». Vor diesem Hintergrund kann der Ansatz des sozialen Organismus, den Rudolf Steiner als Antwort auf die den Ersten Weltkrieg verursachenden gesellschaftlichen Entwicklungen gegeben hatte, immer noch als hochaktuell angesehen werden. Die Spannungen zwischen den verschiedenen Nationen, beim Ersten und Zweiten Weltkrieg, wie auch heute beim UkraineKonflikt, haben zu einem grossen Teil ihre Ursachen in wirtschaftlichen Tatsachen, Verhältnissen und Zielen. Aus der Wirtschaft selber ergeben sich jedoch keine Impulse für Kriege. Die Wirtschaft ist heute ein über die ganze Welt hin verflochtener Produktionsprozess und kann daher als

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Weltwirtschaft bezeichnet werden. Dieser Weltwirtschaft, die durch das Zusammenwachsen der Volkswirtschaften Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist, sich daher von sich aus nicht mehr um nationale Grenzen kümmert, geht es am besten, wenn Frieden herrscht. Wenn aber Staaten mit staatlichen Mitteln (Protektionismus, Zollunionen, Währungspolitik etc. ) versuchen, einen möglichst grossen Anteil von dem Kuchen zu bekommen, der von der Weltwirtschaft produziert wird, dann entstehen Spannungen, die zu Kriegen (und Terror) führen können. Die Gesellschaft als dreigliedriger Organismus Im Grossen und Ganzen gibt es zwei überzeugende Ansätze, wie diese Kriegsursachen verhindert werden können. Der eine ist der von Rudolf Steiner, der trotz seiner Genialität nahezu unbekannt ist. In der heute vorherrschenden Ansicht ist der Staat das Organ, welches die freie Marktwirtschaft, die auf Konkurrenz basiert, bei Marktversagen korrigieren muss. Wie fest und in welchem Bereich der Staat korrigierend eingreifen sollte, ist eine Frage des Geschmacks. (Linke: Familien- und Ar m e n u n t e r s t ü t z u n g , Grüne: Umweltschutz, Rechte: möglichst wenig staatlichen Eingriff, ausser zum Schutz der Bauern, etc.). Die ganze Bandbreite der verschiedenen politischen Richtungen lässt sich jedoch innerhalb der Polarität von möglichst vollständiger freien Konkurrenzwirtschaft (Neoliberalismus) und totaler staatlichen Kontrolle der Wirtschaft (Sozialismus) einordnen. Der Ansatz von Rudolf Steiner, die Gesellschaft als dreigliedrigen Organismus zu betrachten, lässt sich nicht in dieses Schema einordnen. Einerseits möchte er, wie die Neoliberalen, dass der Staat nicht in die Wirtschaft eingreift. Andererseits, im Gegensatz zu den Neoliberalen, glaubt Rudolf Steiner an keinen Marktmechanismus, der die Wirtschaft automatisch in ein Gleichgewicht bringt, wenn jeder nur auf sein Vorteil bedacht ist. Nach seiner Ansicht braucht es vom Staat unabhängige Organisationen, genannt Assoziationen,


– Eine philosophische Annäherung an die EU und den Ukraine-Konflikt –

durch die es ermöglicht werden sollte, die mögliche Antwort darauf, wie zukünftige Wirtschaft durch freiwillige Kooperation Kriege verhindert werden können. ins Gleichgewicht zu bringen, dass heisst, dafür zu sorgen, dass keine ÜberproduktiFür Emery Reves ist es unmöglich, dass on stattfindet, dass das Verhältnis von Geld auf längere Zeit Frieden herrscht, solanund Kapital ausgeglichen ist, dass die Preige sich souveräne Staaten gegenüberstese richtig sind, etc. Die Assoziationen wähen. Seiner Ansicht nach ist Weltfrieden ren unabhängig vom Staat und somit nicht nur dann möglich, wenn es eine allen Naan nationale Grenzen gebunden. Diese tionalstaaten übergeordnete Rechtsform Entflechtung von Staat und Wirtschaft in gibt. Es muss eine Souveränität existieren, zwei unabhängige, sich selbstverwaltende die über allen Staaten steht. Nur eine solGebiete würde verhindern, dass aus che könnte universelle Rechte in der Welt wirtschaftlichen Interessen Krieg durchsetzen, wie der Staat auf Staatsebegeführt würde. Jedoch nicht nur ne die Rechte durchsetzten kann. Wie es die wirtschaftliche Organisation, innerhalb eines Staates nicht zu einem sondern auch das Kultur- und das Krieg kommt, wird es in einer Welt, in der Bildungswesen sollte sich seiner Anes demokratisch legitimierte universelle sicht nach vom Staat emanzipieren. Gesetze (Weltverfassung) und hoheitliche Wie einst das Bildungswesen von Organe gibt, die deren Umsetzung erzwinder Kirche unabhängig geworden gen können, keine Kriege mehr geben. Er ist, sollte das Bildungswesen nun schreibt: « Wir glauben, dass wir uns gegen auch vom Staat unabhängig werinternationale Kriege nur durch Einrichden. Das selbständig organitung eines verfassungsmässigen Lebens in sierte Bildungswesen wäre Weltaffären schützen können, und dass ebenfalls nicht an Staatsgrenein derartiges universales Recht in Überzen gebunden und könnten einstimmung mit dem demokratischen dadurch das friedliche Zusammenleben verschiedener Sprachen und Kulturen in Regionen ermöglichen, in denen Kultur- und Staatsgrenzen sich nicht decken. Der Staat würde sich nur um die Sicherheit kümmern und das gegenseitigen FIONN MEIER Re c h t s v e r h ä l t n i s der Menschen regeln. Im StaatsVerfahren geschaffen werden leben könnte dadurch das Ideal muss, durch frei gewählte und der Gleichheit, im Kultur- und Bilverantwortliche Vertreter. Erlass, dungswesen (Geistesleben) das IdeAnwendung und Vollziehung der al der Freiheit und im WirtschaftsGesetze müssen mit demokratischen Mitleben das Ideal der Brüderlichkeit verwirkteln streng kontrolliert werden. » Ist der licht werden. Weltstaat eine Option? Der Impuls von Emery Reves und der von In einer grossen Demokratie gibt es keine Rudolf Steiner stehen sich diametral geKriege genüber. In der Konzeption von Rudolf Gleich nach dem zweiten Weltkrieg kam Steiner soll der Staat seine Eingriffe in die ein Buch mit dem Titel «Die Anatomie des Wirtschaft und in Kultur und Bildung beFriedens» heraus, in welchem der andeenden und sich nur um die Sicherheit und re Ansatz beschrieben wird. Dieses Buch, die Rechte kümmern. In der Konzeption geschrieben vom amerikanischen Journavon Emery Reves soll der souveräne Staat listen Emery Reves, löste weltweit grosses sein Gebiet vergrössern bis zum Weltstaat, Echo aus. Albert Einstein sagte zu diesem da innerhalb eines Staates kein Krieg mögBuch: «Hier ist die Antwort auf das polilich ist. Dass hinter der EU dasselbe Kontische Problem, das die Entdeckung der zept wie das von Emery Reves steht, ist ofAtomenergie geschaffen hat». Das Profensichtlich. Nach dem zweiten Weltkrieg blem, das Einstein anspricht, ist, dass stand die Frage im Raum: Wie können wir durch die Atomenergie die zukünftigen einen weiteren Krieg in Europa verhinKriege eine direkte Gefahr für die menschdern? – und seit dieser Zeit strebt Europa liche Gattung darstellen. Emery Reves gab in die Richtung einer Europäischen Regiein diesem Buch die aus seiner Sicht einzige rung und es scheint nur noch eine Frage

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Für Emery Reves ist es unmöglich, dass auf längere Zeit Frieden herrscht, solange sich souveräne Staaten gegenüberstehen

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der Zeit, bis die ‚United States of Europe‘ Realität ist. Diese kann als eine mögliche Vorform einer Weltregierung betrachtet werden. Die ‚postmodernen‘ Philosophen Habermas und Derrida schreiben in der Frankfurter Allgemeine Zeitung im Jahr 2003: « Die EU bietet sich schon heute als eine Form des ‚Regierens jenseits des Nationalstaates‘ an, das in der postnationalen Konstellation Schule machen könnte » , und Dani Rodrik, ein bekannter Wirtschaftswissenschaftler von der Harvard University, schreibt in seinem 2011 erschienen Buch « Das Globalisierungs Paradox – Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft  »: «  Wenn wir einen entscheidenden Schritt in Richtung einer Globalregierung tun wollten, in welcher Spielart auch immer, dann müssten wir in jedem Fall erhebliche Abstriche an der nationalen Souveränität der Staaten vornehmen. Die nationalen Regierungen würden nicht verschwinden, aber ihre Machtbefugnisse würden durch supranationale Entscheidunspozesse und internationale Vollzugsbehörden – die demokratisch legitimiert und demokratisch kontrolliert sein müssten – erheblich eingeschränkt. Die Europäische Union bietet ein regionales Beispiel einer solchen Struktur.» Die Vorstellung eines föderativen Weltstaats mit einer Weltregierung (internationaler Vollzugsbehörde) und Weltparlament (supranationale Entscheidungsprozesse) mag heute absurd erscheinen. Jedoch wäre wahrscheinlich den Menschen vor hundert Jahren die Vorstellung einer Europäischen Regierung und eines Europäischen Parlaments ebenso absurd erschienen, wie uns heute der Gedanke einer Weltregierung. Ob wir tatsächlich in Richtung Weltregierung – alias Brave New World – gehen, oder ob irgendwo die soziale Dreigliederung verwirklicht wird, das wird sich in Zukunft zeigen müssen. Natürlich ist der hier dargestellte Gesichtspunkt eine Vereinfachung einer komplexen Thematik. Nichtsdestotrotz, denkt man diese beiden Ideen durch, kann man sie als entgegengesetzte Kräfte erkennen, die den Gang der Geschichte seit dem 19. Jahrhundert beeinflussten und auch noch in Zukunft von grosser Bedeutung sein werden. Der Gesichtspunkt, der hier dargestellt ist, kann daher gleichwohl als Orientierungshilfe dienen, um diese Geschichte und die Ereignisse der Gegenwart zu verstehen. Er kann aber auch dazu dienen, mögliche Perspektiven für die Zukunft aufzuzeigen. Fionn Meier, studiert VWL an der Uni Fribourg. Interesse: Philosophie, Geschichte und ‚Associative Economics‘.

gib din sänf dazue:

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dieperspektive.ch/sozial-org


Hintergrund

– Ein Handbuch über Ob-Dach-Losigkeit. –

Ein Handbuch Wie man

über

tatsächlich

Ob–Dach–

zum Sozialfall

Losigkeit.

wird. TEXT ARTWORK

KATA BRANNER SIMONE HÖRLER

1 Erster Schritt: RAV

W

enn man keine Arbeit findet, meldet sich bei RAV an: Wie es sich auf dem ersten Hör` klingt: RAV ist keine Waffeneinheit der Demokratischen Republiken, auch kein grosser Konzern, der Weltmarken führt und auf dem ersten Platz der Aktien – Wirtschaftskrise sei; RAV ist eine Institut die sich auf staatlicher Vereinbarung basiert, die die Erleichterung der Arbeitslosigkeit auf dem Arbeitsmarkt unterstützen sollte. Wie weit ist es wahr? Hmmm. Es gibt Fälle, wo man ethisch, moralisch und juristisch in Frage stellt, wie korrekt und rechtsmässig solche Einstellungen und Anstellungen durchgeführt worden sind. Dabei hat man auch das Gefühl, dass man nicht alle Informationen bekommt, was auch dazu nötig wäre, dass man seine kontrollierte Arbeitslosigkeit loslässt. Wie auch immer. Nach meinen eigenen Erfahrungen wird man darüber auch nicht benachrichtigt, dass man aus dem System rausgeworfen ist. Nur durch Zufälle habe ich es zum Beispiel erfahren. Über die Effizienz, wie sehr RAV bestrebt ist, dass man nach seiner beruflichen Profession auch eine Stelle findet, ist überhaupt nicht denkbar. Und wenn man trotz Nebenverdienst und abgegebener Arbeitssuchlisten kein Geld bekommt, weil man es auch nicht gewusst hatte, welche Forderungen er bei Einstellungstagen leisten sollte oder was eigentlich Einstellungstage bedeuten, fragt man sich, dann wohin sollte er sich zuwenden? Der Ratschlag der RAV Sachbearbeiterin war: Sozialamt. « Sie sollten Sie unterstützen. » , waren ihre letzten Worten.

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– Ein Handbuch über Ob-Dach-Losigkeit. –

4 Vierter Schritt: Und ruft die Ombuds-Frau der Stadt Zürich an

2 Zweiter Schritt: Sozialamt Sozialamt…

W

enn man sich erstes Mal anmeldet, gibt es dafür nur am Vormittag Empfangszeit. Man sollte alle Unterlagen, die zu einem Antrag benötigt sind, dabei zu haben. Er bekommt zuerst ein Termin, dann geht man aufs Revier hinten in ein kleines Zimmer, wo sich Kafka auch verkäfert fühlen könnte, und bekommt solche Fragen wie: warum man studiert, warum man keine Arbeit findet, warum man kein Geld hat? Dabei werden solche Töne angeschlagen, die eher zu einem Verhör ähnlich seien und verwenden sie verschiedene Taktiken, um zu glauben, obwohl man schon 4 Tage nichts gegessen hatte, dass man trotzdem zu reich zum Sozialgeld sei. Und wenn man sogar studiert, dann ist er sowieso als reicher Mensch vorgeschrieben. « Das Sozialamt unterstützt keine Studierenden. » – sagen sie mir in der Mitte jedes Semesters, wobei ich schon eingeschrieben worden bin und gerade meine Vorlesungen besuche. Dieses Spiel geht so lange, dass man am Ende für 7 Tage Esstickets für Obdachlosen erhält, danach hat man die Möglichkeit Rekurse zu nehmen, Anträge einzureichen etc., aber keine Chance, wenn man studiert, Unterstützung zu bekommen. Sogar rufen sie vor mir die Stipendienstellen von Kanton Zürich und Universität Zürich an, obwohl ich ihnen gesagt hatte, dass ich abgewiesen worden bin, und nachdem es sich bestätigt hat, bleibt man ausser der Seite noch Ausserseiterer.

A 3 Dritter Schritt: Darlehenund Stipendienstellen Universität Zürich

N

etter Empfang neben der Treppe: eine Verwalterin, die dafür eingelehrt ist, wie man die Studierenden, die an den Sozialgrenzen sind, vor den Stipendien und Darlehenanträgen entschrecken sollte, sagt zu mir, dass ich keine Chance auf Stipendien oder Darlehen habe. Ich sollte zum Sozialamt gehen, weil diejenigen sind, die mich unterstützen werden. Dabei geriete ich in Deja-vu und ein kurzes Moment habe ich an Monthy Pyton gedacht: wenn man einen toten Papageien als einen toten Geier mit der Geige kriegt, bleibt auch länger im Käfig und kostet auch nicht so viel. Ist es tatsächlich Gogols Die Toten Seelen und gleichzeitig der Revisor, der mich fragt, aber Frau Branner, wie kommen sie darauf, dass man ohne gekauften Toten Schein weiterkommen kann? Bis jetzt habe ich selbst mein Studium durch Arbeitsleistung finanziert. Und jetzt wo ich arbeitslos geworden bin und fast obdachlos, bekommt man keine Unterstützung. Nicht einmal drüber zu sprechen, dass die Universität Zürich mit seinem neuen System Bachelor solche Reglemente kreiert hatte, die stark illogisch bezeichnen darf. Vor allem was man noch zusätzlich leisten muss, wenn man aus LIZ-Studium ins Bachelorsystem wechselt. Wiederholungskurse sind Momentan sehr angefragt. Was man als Zwischenprüfung einmal belegt hatte, muss man in Bachelor noch einmal durchführen. Und dann hat man damit die Antwort auf die Frage: warum man reich sein sollte, wenn man studiert? Man braucht Geld, um die Kurse je nach System noch einmal zu belegen. Und es ist sicher nicht der Fehler der Studierenden.

m Ende wäre der Erlöser ein staatlicher Mechanismus, die Om-Buds-Frau, die einen weissen Kreuz über der Pietà trägt und Sankta- Maria- Besorgnis – Nichts- mässig sich erkundigt, ob ich ein Problem evtl. mit den RAV-Engeln habe. Sie können manchmal böse sein, aber sie meinen es auch nicht ernst, wenn man auf der Strasse landet und zum Sozialfällener, als alle Sozialfälle sind, macht. Summa summarum: das Sozialamt gehört zu dem Kanton und die Stadt Zürich Om-buds- Frau hat nicht so einen grossen Wirkungsfeld, dass sie etwas evtl. dabei erreichen könnte. Auf jeden Fall Joseph Hellers Catch – 22 scheint mir lösbarer zu sein, als die Triada von RAV-Sozialamt-Universität Zürich. Diese 3 Institutionen sind die Produzenten der Sozialfällen. Es ist keine Hilfe gegen Armut und Obdachlosigkeit, sondern Hilfe für die Armut und Obdachlosigkeit. Dabei kassieren sie auch schön auf staatlicher Unterstützung. Es ist auch ein riesiges Business geworden, aus dieser Schicht zu leben. Wenn wir über illegale Menschenhandlung sprechen können, das könnte man auch genauso betrachten. Dabei sollte Gogols Die Toten Seelen in die Erinnerung gerufen werden: verstorbene Bauer wurden wegen der Statistik für die Anwerbung staatlicher Appanage aufgekauft. Es ist von heute auch keine unbekannte Handlung, obwohl Gogols Geschichte in der Mitte von 19. Jh spielt. Wäre es die gesellschaftliche Evolution? Das bezweifle ich. Kata attackiert Taten: nicht nur mit Wörtern örtert, sondern auch mit Bildern in der Dämmerung - Rinnerung lindert. Sie studiert Slawistik, Germanistik, Komparatistik an der Universität Zürich und macht Illustrationen und Gemälde mit Lust - Rationen auf Zeitraum - Raumzeitverständnis. 36 Jahre lebt sie auf der Sphäre - Äre, nebenbei versucht sie die Defizite des Systems darzustellen. Sie organisiert und macht Ver Ausstellungen sowie plombiert den verrissenen Kunst - zub (Zahn russ.) beseitigend mit aufgehängten Räumen.

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dieperspektive.ch/obdachlos


Gen-was? Was bedeutet Gentrifizierung für Zürich?

Auf das Feld der Zürcher Stadtentwicklung wirken verschiedene Kräfte ein: Die Stadt, der Markt und die Bürger.

Was wollen sie für Zürich? Was sind die Ziele der Akteure? Gäste: ANNA SCHINDLER Direktorin Stadtentwicklung CARMEN WALKER-SPäH Nationalrätin FDP MäMä SYKORA vom Verein Zitrone Moderation: SIMON JACOBY Redaktor dieperspektive

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So ein Text wirft uns mitten ins Geschehen und gibt uns das Gefühl, dabei zu sein. Viele Autoren servieren ihren Lesern nur ein dünnes Fazit, statt sie ins bunte Treiben mitzunehmen. Die pralle Vielfalt, die saftigen Details, der derbe Geruch – all das kommt nicht zur Sprache. Schade. Anschauliche Sprache ist ein wichtiges Stilmittel für spannende Texte. Sie braucht Raum und verlangsamt den Text. Sie erzeugt Atmosphäre und gibt Ihren Schlüsselszenen mehr Gewicht. Daher darf sie nicht das einzige Stilmittel sein. Erst im Wechsel mit schnelleren, knapperen und abstrakteren Erzählweisen entfaltet sie ihre ganze Kraft. Der Alltag verlangt meist nüchterne Texte. So verkümmert das Talent für anschauliches Schreiben. Wir haben uns mit Asta Nielsen zusammengetan und üben mit Ihnen auf: http://schreibszene.ch/perspektive

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Laurin Buser

– Tomorrow is the best day to change my life –

is the best day to change my life TEXT ARTWORK

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LAURIN BUSER ISABELLA FURLER

ch liege auf einem riesigen Palmblatt, lasse die Fussspitzen in den Dampf baumeln, die Schwarzkopfmöwe scheisst kleine, bunte Glasglobulis direkt in den dafür vorgesehenen Strandbereich, ein rumänischer Gastarbeiter serviert türkischen Kaffe und möchte gleich einkassieren. Er spricht nur gebrochen italienisch. Der Wellengang ist stärker als gewöhnlich, der Wind fällt von oben herab, was dem Sand holzartigen Charakter verleiht. Keiner singt, aber einer spielt eine Percussionversion von „Knocking on heavens door“ auf seiner Djembe. Nur für die Ladys. Ich tunke das Marshmellow, das zum Kaffe serviert wurde, in das Leitungswasser, das ebenfalls zum Kaffe serviert wurde, und stecke Musik war schon immer es darauf der Argentinierin ins Ohr, die ebenfalls zum Kaffe stärker als schlechter serviert wurde. Sie lächelt erregt, kann aber dem Lockrhythmus des Geschmack. Ich sollte Djembespielers nicht widerstehen. Musik war schon immer stärker aufpassen wegen all– als schlechter Geschmack. Ich aufpassen wegen allfälligem fälligem Sonnenbrand. sollte Sonnenbrand. Gerade dieses Jahr, das Jahr des chinesischen Pferdes, Laurin Buser sollen die Sterne wieder ungünstig stehen, was meine Haut schnell in Verlegenheit bringt. Ich nippe am viel zu heissen Kaffe und lasse mir Streichhölzer bringen, 40 Cent die Packung, eine Frechheit, gerade bei Wind von oben, aber der Rumäne lächelt sehr charmant, weshalb ich aufrunde. Als Schweizer wird das ja auch von einem erwartet und mit Erwartungen sollte man verantwortungsbewusst umgehen, denn Erwartungen sind sensibler als argentinische Trommelfelle. Don‘t mess with them! Also, ein Euro für Streichhölzer, grazie mille. Endlich die Zigarette, wozu auch Kaffe trinken, wenn man keine Zigarette hat? Ich blättere zwei Seiten im schlechten Lyrikband mit ansprechendem Layout und beobachte aus dem Augenwinkel den Leuchtturm, der die Sonnenstrahlen bündelt und direkt auf meinen

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eingeölten Oberschenkel reflektiert. Ganz genau so, wie ich es mir gestern Nacht noch vorgenommen hatte, nachdem ich den Nachtspaziergang mit Claudia aus Köln leider absagen musste, „aus privaten Abgründen“. Sie lachte viel zu stark über das geklaute Wortspiel; sie lachte und lachte und ich wusste gar nicht mehr, was ich mit ihr jetzt noch anstellen sollte, weshalb ich sie schliesslich einfach küsste, was eher eine Fehlentscheidung war, wenn man bedenkt, dass sie zu diesem Zeitpunkt wirklich, wirklich andere Sorgen hatte. Wie auch immer, der Plan mit dem Leuchtturm jedenfalls geht auf, auf den Millimeter genau. Welch eine wohltuende Überraschung! Die Zigarette schmeckt nur halb so gut in der baumelnden Hitze und der Kaffe kocht noch immer; die Grossfamilie mit dem auffallenden Tain sendet schon wieder einen Biergruss, aber ich sollte mich gerade wirklich nicht bewegen, da das Palmblatt jetzt schon gefährlich zittert. Das ist halt Italien: feinstes Olivenöl, aber bei den Palmblättern noch in den 40ern stehengeblieben. Keiner lacht, aber einer macht lustige Geräusche, die sich ähnlich wie Witze anhören. Für eine Möwe klingt das sicherlich sehr ähnlich: Ein Djembesolo und ein schlechter Witz. Mich beruhigt das ja alles eher. Ich bin nun bald 23 Jahre alt und habe noch immer die gleichen Vorsätze, die gleichen Ängste, die gleichen Vorlieben, die gleichen habbits, aber das Ganze ist mir mittlerweile schon viel bekannter als gestern. Ein tiefer Atemzug, zwei Sonnenbrillengläser, genug Olivenöl und viermal die Woche 40 Liegestützen gegen den Takt, aber triolisch - das macht so einiges wett. Was gestern nicht war, kann heute auch nicht mehr werden. Aber vielleicht morgen.

Laurin Buser, wohnt in Basel. Normalerweise steht er mit seinen Texten auf der Bühne und im Studio. Er ist Slam Poet, Schauspieler und Rapper. Wer mehr wissen will geht auf laurinbuser.ch. Für dieperspektive schreibt er in jeder Ausgabe aus seinem Leben. Foto: Janick Zebrowski


– Tomorrow is the best day to change my life –

Tommorow

Dormi

ngo

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dieperspektive.ch/laurin-gen


PR

Sa 8. November Nachmittag und Abend ganzes Haus

Herbstfest

Liebe Freunde und Bekannte, liebe Nachbarn und Fernangereiste, liebe Querdenkerinnen und geradlinige Typen: Es ist Herbst, und Karl der Grosse feiert wieder!

K

ab 15 Uhr Das ganze Haus vom Restaurant bis hoch ins Turmblick-Zimmer steht offen. Wir laden dazu ein, in jedem Raum Neuland zu entdecken und lassen der Debattierlust und dem Spieltrieb freien Lauf. Das Programm gibt’s bald hier auf dieser Seite zu sehen.

A Di 11. November 19.00 Restaurant Karl

ab 19 Uhr Es wird geschlemmt. Im Restaurant Karl servieren wir ein mehrgängiges Menu für 55.– CHF. (Dafür bitte anmelden unter 044 415 68 60). Daneben gibt es den ganzen Nachmittag und Abend kleine Speisen zu vernünftigen Preisen. Ausgesuchte Weine und frisches Bier stehen bereit. Wir freuen uns auf ein volles Haus, das aus allen Nähten platzt!

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Stammtisch Crowdfunding

GESTALTUNG

Sarah Sbalchiero

Eine Zusammenarbeit mit 100days.net

Mo 10. November 19.30 Podium Saal

Verschiedene Wege zur nachhaltigen Schweiz Dass die Welt nachhaltiger werden muss und nachhaltige Länder von Ressourcenknappheit weniger bedroht sind, ist unbestritten. Aber wie kommt man dahin? Können wir mit technischem Fortschritt mehr Nachhaltigkeit erreichen, oder braucht es dazu Verzicht? Auf dem Podium: Balthasar Glättli Nationalrat Grüne; Marcel Hänggi Technikkritiker und Autor von «Ausgepowert. Das Ende des Ölzeitalters als Chance»; Thomas Haemmerli Präsident der Gesellschaft offene und moderne Schweiz (GomS) und Co-Autor von «Der Zug ist voll. Die Schweiz im Dichtestress».

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Hier treffen sich kreative und unternehmerische Köpfe, die ein Projekt über eine Crowdfunding-Plattform finanzieren. Man gibt sich gegenseitig Tipps, berichtet über Erfahrungen, heckt vielleicht sogar eine Zusammenarbeit aus. Mit am Stammtisch: Romano Strebel von 100days. net. Eintritt frei.

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Das Gro Quiz

Moderation: Min Li Marti Eintritt frei.

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Eine Zusammenarbeit mit GomS

Mi 12. November 20.00 Restaurant Karl

Salonpalaver

Bühne frei für Spoken Word: June Stone und Micha Weiss haben vor kurzem an den Poetry-Slam-Schweizermeisterschaften (U20) von sich reden gemacht. Renato Kaiser ist eine lebende Legende und Salonpalaver-Wiederholungstäter. Tsigan macht zwar in erster Linie Musik, aber zwischen den Tönen hat er ziemlich viel zu sagen. Moderation: Corina Freudiger. Eintritt: 15.-/5.-, Reservation via palaver@salonpalaver.ch empfohlen. Eine Zusammenarbeit mit Salonpalaver

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Fr 14. November 20:00 Saal

osse und lange der Populärkultur

Laut, schrill und schräg – ganz so wie die Popkultur es eben auch ist: Mämä Sykora und Sascha Török fordern Kinogängern, TV-Glotzern, Musikkennern, Comic-Fans, Klatschheftlilesern und Kunstliebhabern alles ab. Für das Publikum gilt es eine Vielzahl an verrückten Kategorien zu bewältigen, multimedial präsentiert und alle Arten von Hirnwindungen ansprechend.

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Eintritt: 15.-/5.-

Fr 21. November 20:00 Blaues Foyer

Eine Zusammenarbeit mit Mämä Sykora & Sascha Török

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Die Ansichten der Politiker kennt man – nun geht es darum, eine eigene Meinung zu bilden. In Begleitung von Bier und zusammen mit engagierten Personen aus dem Zürcher Kulturleben werden die bevorstehenden eidgenössischen Abstimmungen diskutiert.

Di, 18. November 19.00 Podium Saal

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Ein Abend in zwei Akten im Vorfeld der Ecopop-Abstimmung: Auf Karls Bühne kreuzen zuerst ein Vertreter von Ecopop und ein Exponent von Operation Libero die Klingen. Anschliessend rückt die Geschichte der beiden Bewegungen ins Rampenlicht: Wie kommt es, dass Ecopop und Operation Libero als Idee entstehen, Gestalt annehmen und schliesslich ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getragen werden? Welche Rolle kann dabei ein Haus wie Karl der Grosse spielen? Teil 2: Die Entstehung Teil 1: von Bewegungen: Ecopop pro und contra: Alec Gagneux, Vorstandsmitglied Ecopop, Alec Gagneux, Entwicklungs-Dialoger; Vorstandsmitglied EcoAnne-Marie Rey, pop, EntwicklungsGründungsmitglied EcoDialoger; pop und 1. Sekretärin des Stefan Schlegel, Vereins; Vorstandsmitglied Stefan Schlegel, Operation Libero, Vorstandsmitglied OperaJurist im Bereich tion Libero, Jurist im Bedes öffentlichen und reich des öffentlichen und internationalen Rechts internationalen Rechts und und Doktorand Doktorand Migrationsrecht; Migrationsrecht; Dominik Elser, Co-Präsident Operation Moderation: Libero, Assistent und Olivia Kühni, Doktorand im Staats- und freie Journalistin. Verwaltungsrecht; Eintritt: 15.-/5.-

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Abstimmungsbier « dieperspektive »

Unter einem Dach? Ecopop und Operation Libero

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Moderation: Christoph Schneider, Karl der Grosse.

Diesmal zur Debatte: Ecopop, Pauschalbesteuerung.

M Di 18. November 20.00 Restaurant

Auf dem Podium: Philipp Meier Milieu König und Social Media Manager bei watson Kafi Freitag fragfraufreitag.ch Rino Borini Chefredaktor «PUNKT Magazin». Moderation: Simon Jacoby Redaktor «dieperspektive».

Instant Poetry

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Die schnellsten Gedichte der Welt! Zusammen mit der Redaktion von «delirium» werden im Minutentakt Gedichte generiert. Dazu braucht es nicht viel: einen Tisch, ein Bier, ein paar wortwütige Menschen und ihre Laptops. Eintritt frei Bitte eigene Laptops mitbringen. Eine Zusammenarbeit mit «delirium».

Weitere Infos unter: karldergrosse.ch


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Danke, du hast dieperspektive gerettet. Plötzlich klaffte ein 7000 Franken grosses Loch in unserem Konto.

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