Trash & Müll

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NR32 april mai 2014


EDITORIAL

MÜLL IN DEN KÖPFEN

NO

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Während ich das hier schreibe sitze ich an der wärmenden Frühlingssonne. Frühling – für mich die Zeit des Aufbruchs, die Zeit um Neues in Angriff zu nehmen. Für dieses Neue muss aber erst Platz geschaffen werden, weshalb der Frühling auch die Zeit des Entrümpelns ist, die Zeit um sich von Altem zu lösen. Dieses Alte kann sowohl materieller Natur sein (dann wird’s natürlich nicht weggeworfen, sondern fachgerecht rezykliert, verkauft, verschenkt), wie auch in Form von Gedanken und Ideen in unseren Köpfen existieren.

HINTERGRUND 4 Das Duell

Fur die Redaktion Marius Wenger

P.S:

Die nächste Chance, um den Konservierern und Bewahrern ein zeitgemässes Schweizbild zu präsentieren kommt am 18. Mai bei der Gripenabstimmung.

Cédric Wermuths 5-Punkte-Plan gegen die Rohstoffspekulanten. Lehrt der Nationalrat Glencore das Fürchten?

THEMA 8Ist « TrashÜber» einfach Trash und Kritik Miley Cyrus auf einer

10 Notit zz

IMPRESSUM

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Abrissbirne oder steckt da eine ernstzu– nehmende Kunstrichtung hinter dem Begriff ?

Papiersammlung ett el haben eine Halbwertszeit von fünf Minuten. Tamara Hofer hat im Notiz-Friedhof ge wühlt .

12 Lumpensammler & Trash-Kompilierer Vom digitalen Müllberg, der mehr über uns aussagt, als uns lieb ist und uns vor neue Probleme stellt.

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Das Zürimännchen Was passiert wenn die Müllabfuhr plötzlich den Dienst verweigert? Gedanken über den Zürcher Müll.

16 SAUSAUSAUSE Ein Gedicht über die ständigen

Partys und den 24h-Konsum. Wie lange hält die Erde das aus?

18 Recycling Wer definiert eigentlich was Abfall ist?

Eine berechtigte Frage. Denn es geht nicht nur um Hausmüll. 20 Trash küsst Ästhetik 22 « Landfill Harmonic » 25 Säuberung. Ein Gedicht von Joy Tieg. Ein Albtraum der übleren Sorte. Nichts für schwache Nerven!

RIN E O T A R ST AUSGAB ILLU DER

KONTAKT verein dieperspektive, zentralstrasse 167, 8003 zürich REDAKTION simon jacoby & conradin zellweger & manuel perriard & konstantin furrer & marius wenger & andrea schweizer LAYOUT isabella furler COVER isabella furler LEKTORAT konstantin furrer DRUCK nzz print AUFLAGE 4000 ARTIKEL EINSENDEN artikel@dieperspektive.ch WERBUNG simon@dieperspektive.ch ABO abo@dieperspektive.ch LESERBRIEFE leserbriefe@dieperspektive.ch GÖNNERKONTO pc 87-85011-6, vermerk: gern geschehen THEMA DER NÄCHSTEN AUSGABE wenn es dich stört, warum tust du nichts? REDAKTIONSSCHLUSS donnerstag, 1. mai 2014, 23.55 uhr

Inhalt

Das Streitgespräch über Müll. Von AKW im Vorgarten und der Sackgebühr. 6 Politkolumne von Cedric Wermuth

Dass „geistiges Entrümpeln“ keine Stärke von Herr und Frau Schweizer ist, wurde uns am 9. Februar bewiesen. Mit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative zeigten wieder mal mehr als die Hälfte der Abstimmenden ein Bild der Schweiz, welches ich nur als längst vergangen und realitätsfern bezeichnen kann. Die Schweiz als selbstbestimmte Insel inmitten des untergehenden Europas, die Schweiz, die ihren Reichtum selbst erarbeitet hat und darum mit niemandem teilen will und muss – oder: „Die Schweiz – ein Gefängnis“, wie es Dürrenmatt schon 1990 sagte. Ein Gefängnis, geschaffen von den hierzulande reichlich vorhandenen Bewahrern und Konservierern, denen die neue Idee der europäischen Integration Angst macht. (Ja ich weiss, die Idee geht zurück auf die Nachkriegsjahre, vielen ist sie jedoch noch heute zu neu). Darum unsere Idee: Lösen wir uns vom „Müll in den Köpfen“, mit dem wir nichts mehr anfangen können, und lösen wir uns zugleich vom Gedanken, dass all das, mit dem wir nichts mehr anfangen können, Müll ist!

i, Fotografie: MArco iezz stständig in zürich lebt und arbeitet selb

W

as nicht mehr gebraucht werden kann, ist Müll und wird weggeworfen. So das Credo unserer heutigen – eben – Wegwerfgesellschaft. Bis zur Industrialisierung war es für die Menschen mangels vorhandenen Güter selbstverständlich, alles und jedes wenn irgendwie möglich wieder- und weiter zu verwerten. Lumpensammler im Mittelalter verdienten ihr Brot mit dem Trennen und Sortieren von wiederverwertbaren Gütern; Lumpensammler auf den Mülldeponien der nichtindustrialisierten Welt tun dies noch heute. Im antiken Rom wurden die Exkremente den Bauern im Umland als Düngemittel verkauft. Welchen Wert Müll besitzt, wird zum grossen Teil in unseren Köpfen bestimmt. Müll muss nicht wertlos bleiben, er kann seinen Wert wiedergewinnen. Wenn Müll in Kontakt mit den richtigen Ideen gerät, entstehen neue Gebrauchsgegenstände, oder Kunst. Selbst Scheisse zu Geld machen funktioniert auch heute noch (siehe Seite 8). Müll wird zu Kunst und Kunst wird zu Trash und Trash ist geil – der alternative Müllkreislauf.

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MÜLL/TRASH

Der Kreislauf des Pet 26 Durch die Wiederverwertung von

PET-Flaschen könnte enorm Ressourcen gespart werden. Wenn da nicht Stolpersteine wären... 29 Highly sophisticated Gospel Choir.

KREATIVES GABY LUONG, zar te 24 Jahre alt, studiert visuelle Kommunik ation in Basel, findet sich gerade fett und ihr Konto ist ins Minus ger utscht liebt schwarzen Humor und . Sie mag Comics, Mayonnaise. Mit Teenager in zu engen Leggins kann sie nichts anf angen, gen ausowenig wie mit der SVP und Beschreibungen über sich selb st. Finger weg vom rosaroten Nilpferd. gabys artwork

zu den artikeln findest du auf den seiten: 12 | 18 | 19 | 28 | 36 | 37

Ist das ein Gedicht, eine Illustration oder Müll? Keine Ahnung. Musst du selber entscheiden. 31 Trash, alles Müll? Bei Anais Miller hängt der Müll im Kleiderschrank. 32 Statistiken. So viel Müll produzieren wir! Zahlen, welche für grosse Augen sorgen.

Wo Bäume trinken - Ambra und 36 der grosse Sklave. Eine lyrische Kurz-

geschichte über Leidenschaft, Sex und 38 Meine Grossmutter Fant asie. Laurin Buser über seine Grossmutter. Die starke Frau hat ihre zwei Männer überlebt und hört ihrem Neffen nun beim Rappen zu.

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HINTERGRUND /DAS DUELL

/DAS DUELL

Die Diskussion zwischen Conradin Zellweger und Peter Werder

Conradin zellweger: Lassen Sie mich eine These aufstellen. Wenn es um ein neues AKW geht, sind Sie der erste, der dafür ist. Wenn es darum geht mit staatlichen Geldern ein neues Endlager mit zu bezahlen, dann hört der Spass für Sie auf. Richtig? peter werder: Komische Verknüpfung zwischen energiepolitischer Frage und der Finanzierung der Energieversorgung. Sagen wir es so: Ich würde sofort neben einem neuen AKW wohnen, genauso würde ich es zulassen, wenn neben mir ein Endlager gebaut würde. Die alten AKWs möglichst schnell abschalten, möglichst schnell ein Neues bauen. Das wär es eher. CZ: Neues bauen? Meinen Sie nicht wir könnten auch mal alternative Energiequellen subventionieren? PW: Gute Idee! Und wenn es nicht reicht, machen wir doch einfach beides. Ganz unverkrampft und unideologisch. Plagt Sie wieder Ihr schlechtes Gewissen? CZ: Ja. Das schlechte Gewis» sen plagt mich. ale Romantik ozi kss lin die « über Peter Werder Auch wenn ich diese hübschen Sünnelikleber in meiner Küche habe. Die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer sind für AKWs. Also muss auch ich Verantwortung dafür tragen. So funktioniert es nun mal bei uns. Ja, unverkrampft ist gut. Aber wenn die Gefahren bei AKWs objektiv extrem viel höher als bei alternativen Energiequellen sind, dann ist es für mich unbegreiflich dass man für AKWs sein kann, wenn es auch anders geht. Ein solches rein ökonomisches Denken kotzt mich an. Ausserdem bin ich überzeugt, dass die Langzeitkosten höher sind. Der Müll bleibt Millionen von Jahren gefährlich. Wer weiss schon, was dann los ist.

n In den 80er Jahre en Zürcher aus Protest auf d en Joint Tramgeleisen ein r graucht - heute fü nhüsli, Reiheneinfamilie d Rauchverbote. n u tz u h sc at m ei H

PW: Sie sind gegen Atomkraft - das überrascht mich jetzt vollkommen. Spass beiseite. Links aussen ist man einfach nicht konsequent. Ich mach Ihnen ein paar Beispiele. Sie wollen keine neuen Strassen, aber den öV fördern. Gleichzeitig wollen Sie die Energieversorgung nicht ausbauen. Sie waren gegen die Masseneinwanderungsinitiative (wie ich), wollen die Strassen nicht ausbauen, das verdichtete Bauen nicht fördern, keinen Zürcher Seetunnel, betreiben Heimatschutz mit alten Häu-

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sern (die Sie dann besetzen, wenn sie mal abgerissen werden sollen), die man mit neuen, hohen Gebäuden ersetzen könnte, die mehr Platz bieten und energetisch sinnvoll sind. CZ: Ja wenn ein Haus leer steht und noch keine Baubewilligung da ist, warum nicht besetzen. Wenn ein Nachfolgeprojekt da ist sehr gut. Wenn es noch Minergie ECO ist, umso besser! Ich glaube den Besetzern tut es sowieso besser wenn sie alle 1.5 Jahre umziehen. Das löst einige Hygiene-Probleme von alleine. PW: Die linkssozialromantische Realität sieht leider anders aus. Die Spiesser von heute. In den 80er Jahren aus Protest auf den Zürcher Tramgeleisen einen Joint gedreht und geraucht - heute für Reiheneinfamilienhüsli, Heimatschutz und Rauchverbote. Einfach nur bünzlig. Abgesehen davon scheinen Sie schon in jungen Jahren dem neuen Moralterror verfallen zu sein - zwischen CO2-Kompensation und dem dauerbesorgten Gesichtsausdruck noch etwas Lebensfreude? Klar - beim Besetzen. Da spielen Sie dann ein bisschen Fünf Freunde. So guet! CZ: Seetunnel! Ich bin dabei! Skyline in Altstetten! Sowieso! PW: Das glaube ich erst, wenn Sie mal für die AL oder die SP in der politischen Arena an entsprechender Stelle den Finger heben. In die Höhe bauen - das würde uns was bringen. Ein Seetunnel würde die Innenstadt entlasten. Aber nein: Die Linken zählen Parkplätze. Auch ein Weg zum Orgasmus. CZ: Ich freue mich jedes Mal wenn wieder ein Hochhaus neben dem Primetower in Zeitlupentempo entsteht. (Warum sind wir Schweizer eigentlich so langsam im Bauen? Gibt es da Vorschriften?) PW: Ich kann Ihnen sagen, wieso es so langsam geht: Weil Linke wie Sie immer Einsprachen machen. CZ: Glaube ich nicht. Linke wohnen nicht im Primetower und klagen sicher nicht gegen einen Secondtower. Das müssen Ihresgleichen oder Banker sein, die sich die teuer erkaufte Aussicht nicht nehmen lassen wollen. PW: Wer hat das Stadion verhindert? Ich sage nur: Schattenwurf und Arbeiterhüsli. Aber lassen wir das. Sie wollten ja über den Müll sprechen. Was tun denn Sie dagegen? CZ: Ich gehe zu McDonald‘s und bastle mir dann aus den Tüten und Karton-

boxen neue Kleider. PW: Irgendwie so stelle ich mir die Mitgliederversammlung der Gender-Study-SP-Gruppe im Kreis 4 vor. CZ: Nein, Spass be iseite. Ich versuche eigenverantwortlich zu sein. Da staunen Sie. Nicht wahr? PW: Eigenverantwortlich - ganz ohne Staat? Das glaube ich nicht. CZ: Aber leider ertappe auch ich mich (als armer Studi) wie ich meine Einkäufe in 10 Gratis-Plastiktütchen vom Coop stopfe. Die dann auf dem Nachhauseweg reissen. PW: Uiiii, wirklich? Wieso pflanzen Sie sich Ihre Nahrung nicht selber an? CZ: Wegen dem schattigen Balkon. Nebenan wurde hoch gebaut. PW: Oh, das tut mir leid. Aber nutzen Sie doch Ihre Indoor-Lampen auch für Kartoffeln. CZ: Nein, eine Säckligebühr für Plastiksäcke geht mir auch zu weit. Aber wie will man nachhaltig leben wenn einem überall Verpackung und Tragtaschen nachgeworfen werden? Ich weiss es auch nicht. Aber ich bin offen für Lösungen. Es gibt da z.B. kom-

Wenn ein H aus leer st eh t u n d n o ch ke in e B au – be willigung da ist , war u m nich beset zen... W t enn ein Nachfolg eprojekt da ist - s eh r g u t . W e n n e s n o ch Minergie EC O ist , umso b e ss e r ! Conradin

Zellweger

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postierbare Säcklein. Nur sind die teurer. Dann gibt es halt eine Minigebühr und dafür müssen wir nicht auf den Luxus von Plastiksäckchen verzichten. PW: Nachhaltig heisst, dass man nicht mehr verbraucht, als nachwächst bzw. nachproduziert werden kann. Sie meinen mit nachhaltig ein wackeliges ethisches Konzept, das die Begriffe „langfristig“ mit „korrekt“ vermischt und dabei auch noch die Autorität für sich in Anspruch nimmt ohne empirische Grundlage zu entscheiden, was korrekt ist.

Das Duell: Beim Duell stehen sich in jeder Ausgabe Peter Werder und ein Mitglied der Redaktion zum aktuellen Thema der Ausgabe gegenüber. * Dr. Peter Werder ist bürgerlicher Politiker, Dozent an der Universität Zürich und leitet die Kommunikation eines Konzerns im Gesundheitswesen. * Conradin Zellweger, 25 Redaktor und Student. Hat sich nach diesem Duell bei Greenpeace angemeldet.


HINTERGRUND

MÜLL | TRASH

/POLITKOLUMNE

/ZEICHNUNGEN AUF FOTOGRAFIE

→← DAS GESCHÄFT MIT DRECK

i

von Cedric Wermuth

D

er Rohstoffriese GlencoreXstrata und seine Praktiken stehen zurzeit im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die Firma fördert im Süden Perus im Bezirk Espinar Kupfer. Diese Mine habe ich vor wenigen Wochen besucht. Seit Beginn der Tätigkeit der Minenindustrie kommt es immer wieder zu heftigen Protesten der lokalen Bevölkerung. Die Vorwürfe umfassen ein breites Spektrum: Die Mine verschmutze das Wasser (tatsächlich ist die Schwermetallbelastung in der Region höher als zulässig) und führe dadurch zu Missbildungen bei Mensch und Tier, Glencore arbeite intransparent und kümmere sich wenig um das Schicksal der lokalen Bevölkerung und verletzte die Menschenrecht. Tatsächlich kam es in Espinar letztmals 2012 zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der peruanischen Polizei. Dabei wurden 100 Personen verletzt und drei sogar getötet. Ausserordentlich problematisch ist, dass sich die schweizerisch-britische Firma mit geheimen Verträgen die Dienstleistungen und Loyalität der Polizei sichert. Die Polizistinnen werden für ihre Tätigkeit nicht vom peruanischen Staat entlöhnt, sondern von Glencore selber. Die Menschen verlieren deshalb nicht nur das Vertrauen in die Firma, sondern auch in ihren eigenen Staat. Dies wiegt umso schwerer, als dass in der Region um die Mine tatsächlich wenig von einem Aufschwung zu sehen ist, während der Konzern weltweit 245 Milliarden Umsatz generiert. Der Fall Espinar ist nur ein Beispiel für viele problematische Minenprojekte. Und natürlich ist es immer schwierig, sich von aussen ein klares Bild zu machen. Es gibt kein schwarz-weiss, auch hier nicht. Klar ist aber, dass die aktuelle Situation unhaltbar ist. Es kann nicht sein, dass unsere Konzerne die Rohstoffreichtümer des Südens ausbeuten ohne, dass die lokale Bevölkerung davon profitiert. Und es geht auch nicht, dass Multis wie GlencoreXstrata intransparent arbeiten und in Menschenrechtsverletzungen verwickelt werden. Wir brauchen möglichst schnell klare Regeln für Schweizer Multis im Ausland. Eine glaubwürdige Gesetzgebung muss die Konzerne mindestens zu folgendem 5-Punkte-Plan verpflichten:

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1.

Konzerne müssen bevor sie in einem problematischen Land überhaupt aktiv werden eine sorgfältige Risikoanalyse durchführen. Je schwieriger die Menschenrechtslage ist, desto härter müssen die Sorgfaltspflichten sein und desto strenger die Kontrolle.

2.

Vor Ort müssen sich die Rohstofffirmen an ein simples Prinzip halten: Nichts darf geschehen, ohne dass die direkt betroffene, lokale Bevölkerung voll informiert ist und dem Projekt in einem freien Meinungsbildungsprozess zugestimmt hat. Bei uns ist das selbstverständlich. Jedes Baugesuch muss aufgelegt werden, jedes grössere Projekt braucht eine Abstimmung in der Gemeinde.

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. Die Firmen müssen dringend transparenter werden und über ihre langfristige Planung, ihre Verträge mit lokalen Behörden, ihre Produktionsvorgänge und finanzielle Lage Auskunft geben.

4.

Wir müssen sicherstellen, dass Gewinne, die mit Produkten aus einem Land im Süden erzielt werden, auch dort versteuert werden. Es kann nicht sein, dass Steuertricks dazu führen, dass Glencore schlussendlich weder in der Schweiz noch vor Ort überhaupt Steuern zahlt.

5.

Und zu guter Letzt müssen direkt Betroffene aus Staaten, die über kein unabhängiges Justizsystem verfügen, das Recht erhalten in der Schweiz gegen Verletzungen der Menschenrechte zu klagen. Nur dieses Druckmittel zwingt die Konzerne wirklich dazu, das Wohl der Menschen wirklich ins Zentrum ihrer Arbeit zu stellen.

artwork: Barbara Sonderegger

Tun wir nichts, könnte die Rohstoffbranche zum nächsten Bankgeheimnis werden. Wir sollten das Geschäft mit Dreck deshalb rechtzeitig regulieren.

* Cédric Wermuth ist sozial– demokratischer Nationalrat aus dem Kanton Aargau, er schreibt monatlich zum Thema Politik. Antworte Cédric Wermuth auf leserbriefe@dieperspektive.ch.

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MÜLL | TRASH /LANGER TEXT MIT PROVOZIERENDEM BILD

/LANGER TEXT MIT PROVOZIERENDEM BILD

Über Trash und Kritik Ist das Kunst oder kann das weg? Ist Trash wirklich eine neue Kunstrichtung oder will man uns neuerdings einfach MTV als Kunst verkaufen? Ein Essay über Kunst, Skandalauftritte und Mainstream.

von Dominik Wolfinger

Kritik benöt igt Zeit und beansprucht das Denken. In einer medial überforder ten Gesellschaft ist jedoch beides knapp.

S

ie stehen vor dem Stadttheater. Ihre Nase bereits etwas gerötet von der Kälte. Rasch werfen Sie einen Blick auf das Plakat der heutigen Performance, welches mit dem blutroten Wort «AUSVERKAUFT» überzogen ist. Mit ihren kalten Händen ziehen Sie an der Eingangstüre, die Eintrittskarte fest in der geschlossenen Hand, als ob sie diese vor vermeintlichen Dieben schützen müssten. Im Foyer dringt das Stimmgewirr der vielen Besucher in ihre Ohren – Begrüssungen, Gelächter, Gespräche über Kunst. Sie entledigen sich Ihres langen Wintermantels, sowie ihres Schals. Freundlich strahlt sie die junge Dame der Garderobe an. Ihre Aufregung steigt – ein Klang signalisiert, dass die Vorstellung in Kürze beginnt. Kontrollblick auf ihre Karte – Estrade, rechts. Sie beeilen sich und drängeln durch die Kolonnen der Schaulustigen, die ebenfalls zu ihren Plätzen streben. Der Platz ist gefunden. Sie machen es sich bequem. Das Licht wird gedimmt und der Klangteppich des Publikums verstummt. Vorhang auf. Mit eleganten Schritten betritt die junge Performerin die Bühne. Eingehüllt in ein weisses Negligé, darunter leicht erkennbar weisse Dessous. Etwas verlegen wirft die Künstlerin ihre blonden, samtgleichen Haare zurück. Ihr Blick verrät etwas Melancholisches, ähnlich wie bei einer schlafenden Schönheit. Musik ertönt und der Körper der Akteurin beginnt sich zu bewegen. Ihre zarten Hände streicheln über ihren Nacken, dabei dringt aus ihrem Mund sanft ein Monolog aus Goethes Faust. Die erotischen Bewegungen werden exzessiver. Die anfänglich schlafende Schönheit wird zur jungen Wilden. Ihre Hände beginnen mit dem Liebkosen ihrer Brüste und entfernen dabei leicht das Negligé. Die ganze Anmut ihres Körpers wird deutlich. Eifrig schlängelt sich die Darstellerin Richtung Publikum, geht in ihre Knie, entfernt ihr Höschen und scheisst auf den Bühnenrand. Das Publikum applaudiert und geht.

u, bei «Inglorious Ba rächt sich eine Fra go jan «D in d un en sterds» sind es die Jud Afroamerikaner. Ofein es ist » ed ain ch Un ple Prämisse in Zufenbar reicht eine sim ng Gewaltverherrlichu sammenhang mit e fic Of x Bo die ess, um – verpackt in Cooln zu erreichen.

provokative performance: Die künstlerin Ann liv young in aktion

Trash ist populär und findet durch gekonntes Anbiedern ihr Publikum.

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« Trash » (englisch Müll, Abfall) wird im Deutschen umgangssprachlich benutzt, um vorwiegend in künstlerischen Zusammenhängen eine abneigende Haltung auszudrücken. Im Duden wird « Trash » folgendermassen definiert: «Richtung in Musik, Literatur und Film, für die bewusst banal, trivial oder primitiv wirkende Inhalte und eine billige Machart typisch sind.» Somit unterscheidet sich der «Trash» in Form und Inhalt durch seine banale und billige Art von intellektuell anspruchsvollen medialen Produkten. Die im oberen Absatz beschriebene Performance lehnt sich an die «Kunst» von Ann Liv Young an. Young ist international bekannt als Performerin ohne Grenzen. Problemlos lockt sie ihr Publikum zu ihren Darstellungen und löst dabei ihre Versprechen ein, denn eine Performance mit Young bedeutet immer Nacktheit, Sex und Fäkalien. Die Frage, ob das Kunst ist oder eben doch nur Scheisse auf den Brettern,

d findet durch Trash ist populär un blikum. Dabei Pu ihr gekonntes Anbiedern s Publikums de eit igk öffnet die Kritiklos es und jeden. Denn Tür und Tor für all s und beansprucht da Kritik benötigt Zeit en ert ord erf üb l dia Denken. In einer me So och beides knapp. jed ist ft ha lsc sel Ge (ge t ch tweder gemo wird ein Produkt en alt Inh m de t . Sich mi liked) oder ignoriert wäre zu ehrgeizig. en etz us erz nd na ausei überhaupt sein, itik Kr Doch muss sfach das dumme Lu kann man nicht ein nu Mi en nig e in we tobjekt Cyrus – welch d un u Fra n he isc zw ng ten die Gleichstellu t, Steinzeit katapultier die in ck rü zu nn Ma t mi – o nie Tarantin das cineastische Ge die d un lt wa der Ge seiner Glorif izierung kation Young - mit vo Pro r de n igi ön Gottk Scheisshaufen, geihrem dampfenden niessen? lten nicht ein Sind diese drei Gesta tragen dazu d un ft ha Teil unsere Gesel lsc ? rn sse bei diese zu verbe die die Welt bedeuten, drängt sich auf. Während Ann Liv Young wohl noch darauf wartet ein Millionen-Publikum anzusprechen, hat das die 22-jährige Miley Cyrus problemlos mit ihrem Skandalauftritt an den MTV Video Music Award geschafft. Mit lasziver Zunge und Fingerhandschuh tänzelte die aufmerksamkeitsgeile Cyrus vor dem kreischenden Publikum. Auch ihr neues Video «Wrecking Ball» wurde bereits 500 Millionen Mal auf YouTube angeklickt. Cyrus, die splitternackt auf einer Abrissbirne singt, begräbt damit ihr Image als Kinderstar. Doch selbst die spätpubertierende Cyrus steckt noch in den Kinderschuhen. Der amerikanische Kultregisseur Quentin Tarantino stellt Young und Cyrus direkt ins Abseits. Tarantino präsentierte in den letzten Jahren Filme wie « Kill Bill » (2003), « Inglorious Basterds » (2009) und « Django Unchained » (2013) und zauberte dabei glockenhelles Kinderlachen in die Gesichter der Fans. Dabei haben die drei Filme alle dieselbe Prämisse: Underdog läuft Amok. Einfach in drei verschiedenen Versionen. Bei « Kill Bill »

welche den Eine Gesel lschaft «cheap fun de el itz schnellen Nervenk nsumier t ko ort sof r de t cking thrill» such ffnungsho dadurch werden kann und Arschlöten an arrog losen Idioten und bietet it ke ch gli Mö ge chern die grossarti ein paar bis en ck mü sch sich mit Federn enkpapier zum Weihalte Socken in Gesch Huhn zum Pfau oder nachtsgeschenk das nst wird und so zu eben Scheisse zur Ku ng htu in in eine Ric gleich Trash weiterh zukünftigen Youngs die bis steuern lässt iben und mit dem auf der Bühne abtre Föten Bilder malen blutverschmier ten ses sich singend ver die zukünftigen Cyru n ige nft kü zu und die gewaltigen lassen nrandneuen» blutrü «b e ein os Tarantin t jag ht ic lle vie n fer lie stigen Rachestor y mAr r Tell mit seine demnächst Wilhelm der Schweiz und in n nte gra brust Immi s Spektakel mit Popwir geniessen alle da corn und Cola. Dominik Wolfinger, ZHdK Student und Möchtegernautor

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MÜLL | TRASH

MÜLL | TRASH

/ KREATIVMASCHINE: PAPÜÜRUS

/VERPACKUNG ZWEIDIMENSIONAL

Papiersammlung Alle möglichen Ideen kommen an allen möglichen Orten. Aber nie Notizpapier. Darum landen die meisten meiner Einfälle auf Abfällen.

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Garantieschein. Pha, ich fall sicher nicht auf Werbung rein, ich bin doch nicht blöd!

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Kassenzettel.

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Nicht alles ist Mathematik. Wenn zwei einander die halbe Wahrheit sagen, ergibt das zusammen jedenfalls deutlich weniger als die ganze Wahrhei

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Untersetzer.

Papierserviette.

Zugbillet.

Es gibt zwei Dinge, die mir abgrundtief absurd vorkommen. Fleisch Essen. Heiraten.

Gegen den Strom schwimmen ist gar nicht schwer. Alle gehen einem aus dem Weg! ( ausprobiert zur Stosszeit am Bahnhof Basel, allein gegen gewaltige Pendlermassen )

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Rechnung.

Wenn Hopfen und Malz verloren sind, gibt‘s halt einfach kein Bier mehr. Ist das schlimm?

von Tamara Hofer 3

Fernsehheftli.

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Zweite Flaschenetikette.

20 Minuten.

Ich glaube, der wahre Nutzen von Gratiszeitungen liegt darin, dass man am Morgen im vollbesetzten Zug endlich weiss wohin mit den Augen!

Apropos. Warum ist die Flasche von Rotwein grün? ( Denn die von Weisswein ist weiss! )

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Papier– schiffchen. Stille Wasser sind im Fall oft auch mief !

Platteninnen– hülle. Was ist das Gegenteil von Blues? Yellows??

Flaschenetikette.

Thomas Bucheli wollte sicher schon als kleiner Bub Regenschauer werden.

Das Wort « Problem » kommt aus dem Griechischen und bedeutet etwas, das direkt vor unserer Nase liegt!

7.1

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Weinkenner sind Schnurris. Entweder man mag einen Wein, oder nicht. Dazu gibt es nichts zu sagen.

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Regionalzeitung. (nicht notiert, ausgeschnitten) Kleinanzeige: Suche liebe Frau mit Wald. Motorsäge vorhanden.

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Kontoauszug.

Wie lautet das Verb zum Nomen « Diskrepanz »? Diskrepieren??

Gelesen auf einem Schild direkt vor einem See: Ausser Betrieb.

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Kinder haben recht! Wenn ich die Augen schliesse, dann sieht man mich auch nicht. Gewissermassen. (Musste ich mir merken, hatte ja die Augen geschlossen.)

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Fernsehheftli. Auf Englisch: Reality TV. Zu Deutsch: Realitätsfernsehen. In Wahrheit: Realitätsfern sehen.

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Prepaidquittung.

Die Motivation sich mitzuteilen gründet praktisch immer darin gemocht zu werden.

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Visitenkarte.

Wie viel Aufmerksamkeit wir unwichtigen Dingen wie Arbeit, Ausgang oder Smalltalk schenken und wie nebenbei wir die eigentlich lebenswichtige Dinge tun: Atmen, Essen, Sein. SMS bekommen: « Hoi! Bin im Hallenstadium, kommst du auch? » Geantwortet: « Nein, ich bin noch nicht so weit. »

Wanderkarte.

Werbeprospekt. Wenn Früchte Aktion sind, ist was faul.

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Handyhandbuch. Die automatische Wortvervollständigung meines Handys schlägt mir eine „Affäre“ vor, wenn ich doch eigentlich « Bedarf » tippen wollte. Einen gewissen Zusammenhang kann ich da dann aber doch auch nicht abstreiten.

Artwork: Stefanie Hess

Tamara Hofer, 32, Mensch in Ausbildung

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MÜLL | TRASH /KAMPFSCHRIFT FÜR MEHR ODER WENIGER MÜLL

/KAMPFSCHRIFT FÜR MEHR ODER WENIGER MÜLL

Lumpensammler

noch. 20-Minuten sei sein Lieblingsbuch. Aber für jemanden, der mit Youtube sozialisiert wurde, ist das schon beinahe eine Beichte, wenn auch mit heimlichem Stolz vorgetragen. Gerade um Unterscheidung muss es im digitalen Zeitalter aber gehen. Der Reichtum an Information allein nützt noch nichts. Diese Binsenwahrheit ist längst bekannt. Zu unterscheiden, welche Information wozu dienen kann, ist die Aufgabe der Userinnen und User. Dass der erste Eintrag, der bei einer GoogleSuche auftaucht, nicht deswegen schon der Beste ist, müssen sich die Digital Natives immer wieder vorsagen, um nicht der Versuchung anheimzufallen. Ganz so, wie die Eltern dieser Digital Natives im Religionsunterricht noch den Katechismus oder das «Vater Unser» – «und führe uns nicht in Versuchung» – aufsagen mussten. – Aber es ist im Grunde bereichernd in einem durchaus aufklärerischen Sinn, wenn die alten Meinungsmacherinnen und Meinungsmacher (ob Zeitungen oder andere Autoritäten) ausgedient oder zumindest ihre Monopolstellung verloren haben. Notgedrungen muss sich die heutige Gemeinschaft von Userinnen und Usern ihr Bild selbst machen und dann entscheiden. Wer sucht, der findet, ist also das wiederbelebte Credo der digitalen Gesellschaft. Der Lumpensammler von gestern ist der digitale Trash-Kompilierer von heute. Und nur, wer zwischen Brauchbarem und Unbrauchbarem unterscheiden kann, überlebt auf dem digitalen Müllberg. Fast zwangsläufig geht damit die Förderung der Urteilskraft einher. Idealtypische Userinnen und User würden sich also durch eine immer schnellere und immer zielsicherere Fähigkeit zur Unterscheidung auszeichnen – einer im Gleichschritt mit den Speicherkapazitäten wachsenden Fähigkeit natürlich. Flexibilität bekommt in diesem Licht eine ganz andere Bedeutung: undogmatisch Denken. Wie wären Dogmen bei der Wachstumsgeschwindigkeit des Müllbergs auch möglich? Allzu schnell würden diese Dogmen unter einer plötzlich niedergehenden Schuttlawine begraben.Wer sucht, der findet – nicht zuletzt sich selbst, indem er sich zum Richter über Sinn und Unsinn oder Wert und Unwert aufschwingt. Denn nur was/wer kopiert wird, überlebt im digitalen Reich, wenn an die Halbwertszeiten gedacht wird. Darin gleichen die Userinnen und Usern den mittelalterlichen Mönchen, die in ihren Schreibstuben geduldig Wort für Wort abschrieben – copy/paste ist zumindest für die quantitative Verbreitung eine Erleichterung.

z wir e w , r u n Un d u ch b a r e m a r B n e h c s au c h u n d Un b r t e r s ch e i barem un ü b e r l eb t , n n a k n e d i g it a l e n au f d e m d Müllberg.

D

&

Trash-Kompilierer

Müll existiert nicht nur Physisch. Auch die digitalen Müllberge wachsen ins unermessliche. Aber nur weil etwas keinen Platz braucht, heisst das noch lange nicht, dass es keine Auswir– kungen hat.

von Fabian Schwitter

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as Internet ist ein Friedhof – so ungefähr steht es in Corina Caduffs Essayband: « Szenen des Todes ». Bald sind mehr Daten im Internet von Menschen gespeichert, die längst tot sind – alte Facebookprofile zum Beispiel. Oder umgekehrt: Tote Profile von lebenden Menschen. Das Internet ist erst recht ein Friedhof, wenn man daran denkt, dass mittlerweile schon digitale Gräber gekauft werden können. Ob für die Oma oder das Haustier oder sogar für die eigene Person selbst spielt dabei keine Rolle. Da sind dann Bildchen gespeichert und nette Worte – ein wenig wie Blumen auf einem Grab. Tote Daten allenthalben. Das mag nun pietätlos erscheinen, immerhin sind Friedhöfe wichtige Gedenkstätten. Doch die Metapher trägt umso mehr, wenn in Betracht gezogen wird, dass die Halbwertszeit von Daten auf Datenträgern nicht grösser ist als die Halbwertszeit des Fleisches am Knochen einer Leiche. Schon nach wenigen Jahren schafft es die Software nicht mehr, das auf einem Medium gespeicherte Dokument zu öffnen und wenn, dann als wildes Chaos von unzusammenhängenden Zeichen. Der Grossroman in weit mehr als fünfzig Abstufungen von Grau oder das Porträt der Geliebten in konturlosen Farbtupfern. Eine bunte Palette von Müll übersät das Internet – auf allen Stufen des Zerfalls. Und dieser Müll ist höchst öffentlich zugänglich. Es gibt da kaum Abteilungen für Sondermüll – und die Problematik des Datenschutzes mit allen seinen Dimensionen sei hier aussen vorgelassen. Im Vordergrund steht ohnehin der öffentliche Müllberg, der täglich wächst und wächst und ins Unermessliche zu wachsen droht, wenn er nicht schon unermesslich ist. Leben auf dem Müllberg Kulturpessimistinnen und -pessimisten beklagen schon lange, dass es so nicht weitergehen könne. Analoge Bibliotheken waren schon ein unüberschaubarer Fundus an Information. Die Kapazitäten digitaler Speichermedien jedoch vergrössern sich jedes Jahr, obwohl die Hardware kleiner und kleiner wird – da nehmen sich die Seiten eines Buches geradezu lächerlich aus. Vielleicht können durchschnittliche Jugendliche auch deshalb nicht mehr zwischen einem Buch und der 20-Minuten-Zeitung unterscheiden. Jedenfalls meinte ein Teenie kürzlich, er lese durchaus

Slavoj und Žižek Die weinerliche Leier vom Verlust der Einheit oder des Subjekts überhaupt, wenn sich die Person an ihren diversen OnlineProfilen misst, würde dabei ebenso hinfällig, wie die kulturpessimistischen Unkenrufe, dass der Müll überhand nehme oder gar Bildung verloren gehe. Die Bildung der Urteilskraft ist wohl das Einzige, was für einen Menschen – in jeglichem philosophischen Sinn – wichtig sein kann. Und die Auswahl an Lebensentwürfen nimmt zu, wenn die unzähligen (Toten-)Masken auf Social-MediaPlattformen betrachtet werden. So schreit, seinerseits von den Kulturpessimisten vor Gericht gezerrt, the digitally native subject: I object. Aber bis wir – und nicht nur irgendwelche Künstlerinnen und Künstler – soweit sind, können wir uns durchaus analog an Žižeks dialektisches Schelmenstück zum Umweltschutz halten: Wir müssen noch viel mehr Müll produzieren, sodass sich die saubere Umwelt irgendwann von alleine einstellt. Dieser Spruch ist wohl nicht ganz ohne Ironie zu nehmen. Hingegen ist er auch nicht zynisch. Vielleicht müssen wir im digitalen Bereich viel verrückter werden – oder einfach noch ein wenig üben. Und in der Zwischenzeit die Forderung: Mehr Müll! Fabian Schwitter (*1984) ist seit dem letzten Jahr eidgenössisch diplomierter Senfmischer. Er hat in Zürich Philosophie und Literaturwissenschaft abgeschlossen. Der Hochschulabsolvent verkauft hochwertigen Kaffee (www.vivicafe.ch) und ist im Kindergarten angestellt. Ansonsten publiziert er immer wieder literarische und essayistische Texte (z.B. in Lasso, Variations oder Denkbilder) und ist Mitherausgeber der literarischen Zeitschrift delirium (www.delirium-magazin.ch)

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/HOMMAGE AUF BLAUEM HINTERGRUND

/ILLUSTRATION, FÜR EINMAL WORTWÖRTLICH

Die ZüRIMÄNNCHEN Ist dir auch schon aufgefallen, dass Zürich immer supersauber gepützelt ist? Egal wie dreckig die Party am Vorabend war, am Morgen danach ist wieder alles blitzblank. Eine ode an die Saubermacher.

von Julia Panknin

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üri – eine der wohl schönsten Städte der Welt – darüber dürften wir uns einig sein. In glamourösem Glanz erscheint sie Bewohnern sowie Besuchern jeden Morgen auf ’s Neue. Frisches Grün, glasklares Wasser und saubere Strassen - so kennen wir sie, unsere geliebte Heimat. Gerade im Sommer erfreuen wir uns an den zahlreichen, sauberen Grünflächen rund um den See und an den Flüssen. Hier wird grilliert, gefestet und genossen. Gepflegte Körper räkeln sich im wärmenden Sonnenschein, der sich gleichzeitig auf polierten Luxuskarossen spiegelt.

Ich frage Euch: Kaum legt sich jedoch Sollt e unsere St adt, unser die Nacht über die Stadt werden die BumBumBoxen, KuLand und unsere Umwelt gelgrills und Picknickdecken eingepackt und ordentlich in uns nicht mindest ens die eigenen vier Wände verEs wird geduscht und genau so viel wer t sein?frachtet. sich in die frischen Laken gekuschelt. Was bleibt? Ein Schlachtfeld. Jeden Abend auf ’s Neue. Bierdosen, Pappteller und Plastiksäcke liegen verstreut, einfach zurückgelassen auf dem Rasen und ergeben sich ihrem Schicksal. Denn am Morgen werden sie verschwunden sein... Jährlich sammeln die Zürcher Heinzelmännchen von der ERZ 9300 Tonnen Müll hin-

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ter uns auf – das Gewicht des Eiffelturms – wie ihr Onlineauftritt preisgibt. Ich frage mich: Wie kann das sein? Wir pflegen unsere Körper, unsere persönlichen Statussymbole und alles was uns wichtig ist... Gleichzeitig sind (zu) viele aber nicht bereit, den eigens fabrizierten Müll ein Stück weit zu tragen und ihn in einen der grossen, von der Stadt zur Verfügung gestellten Containern zu versenken? Ich frage Euch: Sollte unsere Stadt, unser Land und unsere Umwelt uns nicht mindestens genau so viel wert sein? Nicht, dass man mich falsch versteht. Ich bin dankbar für das fleissige Völkchen der ERZ, welches augenscheinlich grossartige Arbeit leistet. Trotzdem wünschte ich mir, die Zürimännchen würden im Hochsommer wenigstens für eine Woche ihre Arbeit niederlegen. Aus Prinzip. Ich würde zu gerne sehen, wer sich freiwillig zwischen all den Abfall legt.

Julia Panknin, 28, Publizistin & BarBiene. Sonnenanbetende Weltenbummlerin mit grossem Herz für Züri.

ILLUSTRATION: gregor schenker

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/KOMISCH GELAYOUTETES GEDICHT

/MIKROKOSMOS

sausausause ein Gedicht von Marianna Lanz

ausser diesem stern ist nichts und er ist schön stinkt nur ein bisschen wo wiese war ist wüste blech blei gift aber er ist nicht ver wüstet so schlimm ist es nicht man kann sich nicht immer begnügen zu fuss gehn licht aus alles klein und grün die welt geht nicht unter wir lassen es laufen fliegen dahin und dorthin kaufen haufen machen eine sause saufen party XXL in mond hellen nächten brand löcher fässer ferkel heuschreckentohuwabohu do the monkey sausausause wir müssen nur aufräumen hinterher und büssen sind grün für unser n stern mülltrenner petsammler flaschenträger wiederver werter stosslüfter kaltduscher schwachheizer lufter frischer lichtlöscher fussgänger obstesser dichter erfinder verzichter teiler grünblüherinnen und so und dann wieder haufen kaufen blech blei saufen und schön ist der stern und ver wüstet aber nicht sehr und die welt geht nicht unter

Marianna Lanz, Übersetzungen, Lyrik, Schauspiel. Veröffentlichung lyrischer Texte in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien, u.a. in Kaskaden, Wortwerk und Entwürfe und neu auch im Netz auf www.federbar.ch

ARTWORK: Anja Peter, Illustratorin, Zürich

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MÜLL | TRASH /TEXT, ZIGISTUMMEL UND TOTES KRABBELTIER

/TEXT, ZIGISTUMMEL UND TOTES KRABBELTIER

Recycling von Tamara Hofer

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patenstich! Ich will einen Garten anlegen und muss dazu natürlich erst noch den Rasen umgraben. Häi, was da alles zum Vorschein kommt! Ein Skelett habe ich zum Glück noch nicht gefunden, dafür allerhand Müll: Alu, Eisen, Schrauben, Plastik. Gruselig genug eigentlich.

Je mehr Erde ich schaufle, desto tiefer wird mein Verständnis für sie. Wieviel gewachsen und wieder gestorben ist, damit so viel fruchtbare Erde daraus werden konnte! In der Natur gibt es keinen Müll. Alles was aus der Erde geboren wird, wächst, gedeiht, stirbt irgendwann und wird dann selbst wieder zu derselben fruchtbaren Erde. Ein genial-simpler Kreislauf. Abfall gibt es nur, weil wir ihn erfunden haben. Ganz automatisch halt, als wir anfingen allerlei tolle Materialien zu erschaffen, die nicht einfach so wieder von der Natur verwertet werden können. Auf diese idiotische Idee konnte ja auch nur der Mensch kommen. So türmen wir seit Generationen Berge von Abfall, verbrennen ihn und betonieren die giftigen Reste und andere heikle Sachen irgendwo in einen Berg ein. Endlager nennen wir das. Aus den Augen, aus dem Sinn? Tolle Taktik. Damit wird irgendwann die ganze Erde ein Endlager. Zurück in den Garten. Ein Nachbar hat soeben die Grünabfuhr kommen lassen. Unglaublich eigentlich, dass wir sogar Grünzeug wie Abfall behandeln. Irgendwann haben wir entschieden Gemüse ist gut, Unkraut ist schlecht, es muss weg. Und dann geben wir teures Geld für Dünger aus, weil die Erde, der wir ständig nur alles wegnehmen, komischerweise immer weniger hergibt. Diese Wegwerfmentalität macht nicht einmal Halt vor uns selbst. Auch Dinge an und in uns drin haben wir irgendwann mal angefangen in gut und schlecht einzuteilen. Freude, Liebe, Jugend: Alles gute Sachen. Wir wollen ständig nur das haben. Von Traurigkeit, Angst, Krankheit oder Alter hingegen will keiner was wissen. Und was der Arzt nicht rausschneiden kann, weil‘s halt Gefühle sind, wird weggedrückt, einfach nicht mehr angeschaut und irgendwo in ein „Endlager“ gesteckt, womit wir genau wie beim anderen Müll offenbar meinen die Sache sei dann erledigt. Dabei ist ja klar, dass wir uns damit ins eigene Fleisch schneiden, da wir diese Endlager ja stets mit uns herumtragen, mitsamt seinen hochexplosiven, unangenehm vor sich hin gammelnden „Sonderabfällen“.

Dabei könnte es doch einfach so sein wie im Garten: ALLES wird gebraucht. Und unsere Tränen, dunklen Stunden und unangenehmen Gefühle bereiten ein nahrhaftes Beet für die nächste Generation Freude. Tamara Hofer, 32, Mensch in Ausbildung

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ARTWORK: Marlen Groher


MÜLL | TRASH /KURZREPORTAGE ÜBER UPCYCLING

/KURZREPORTAGE ÜBER UPCYCLING

«landfill harmonic»:

em und r a b h c u a r i s ch e n B w z r nn, üb ere a w k , r n u e n d i d e Un u n t e r s ch m e r a b Materialien lässt gleichzeiworld sends us garbage, we h c üllberg. n b r au M n tig die Welt aufhorchen. Auf e send back music.” Der Künstler U l a t i dig m e d der politischen Ebene wirkt Vik Muniz, der ein ähnliches f u a t l eb diese Transformation als Projekt in Jardim Gramacho,

die Transformation von Müll in Musikinstrumente

der grössten Mülldeponie Rio de Janeiros realisierte, erklärt im Dokumentarfilm Waste Land, dass die Transformation die Essenz der Kunst sei, dadurch könne das Leben einer Gruppe von Menschen verändert werden, und zwar mit Material, mit dem sie täglich zu tun haben. Durch die Umwandlung von Materialien in Ideen werden Hoffnung und Sinne freigesetzt. Die Künstlerin und Dozentin Nika Spalinger sieht Kunstinterventionen im öffentlichen Raum auf verschiedenen Wirkungsebenen: Auf der physiologischen und emotionalen Ebene wirkt sich diese Transformation von Müll in Kunst auf das Gemeinschaftsgefühl der Bevölkerung aus. Durch das gemeinsame Ziel, den Kindern und Jugendlichen eine Beschäftigung und Freude zu schenken und zusammen zu musizieren, wird diese Umwandlung zu einer gemeinschaftsbildenden Aktivität und weist einen integrativen Charakter auf. Der Soziokulturelle Animator Reto Stäheli erklärt diese aktive Beteiligung von Menschen mit dem Begriff der Aktionskunst,

in welchem Werte des Zusammenlebens neu verhandelt werden. Bei den beteiligten Personen hat dieses Projekt auf der sozialen Ebene einen positiven Einfluss auf die Selbstverwirklichung, die Entwicklung von Fähigkeiten und Selbstvertrauen, die Förderung des Selbstwertgefühls und der Identität, so Nika Spalinger. Die Transformation von Müll in ein Musikinstrument bedeutet eine Förderung der Kreativität, der Hoffnung, von Empowerment und gemeinnütziger Arbeit, welches alles wichtige Essenzen menschlichen Daseins sind. Mit der Umwandlung von Müll in ein Musikinstrument hat das Material nicht mehr nur die Bedeutung eines Stoffes, der in einem Kreislauf wieder- und wiederverwertet wird. Der transformierte Müll nimmt eine verbindende Funktion ein. Er schafft eine Öffnung in diesen Kreislauf. Die Öffnung kann den Menschen eine Identität und ein Selbstwertgefühl, Hoffnung und Lebenswillen geben. Diese kreative Transformation von

Anreger öffentlicher Diskussionen. Die Menschen von Cateura waren unbekannte Menschen auf einer Müllhalde. Die Welt schaut nun plötzlich auf sie, lernt Menschen und ihren Alltag kennen und bringt die Politik dazu, sich mehr und mehr mit dieser Thematik auseinanderzusetzen und sich auch für diese Menschen einzusetzen. Dieses Projekt zeigt, dass kreative und einfache Lösungen kraftvolle soziale Transformationen in den ärmsten Gemeinschaften vollbringen können und dass Lösungsansätze zusammen mit den betroffenen Menschen erarbeitet werden müssen, Lösungen hingegen, die von oben dirigiert werden, ohne die Bedürfnisse und Ansichten der betroffenen Menschen zu kennen, wenig Erfolg bringen. www.landfillharmonicmovie.com www.wastelandmovie.com

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Gemäss Bundesgesetz über den Umwelt– schutz vom 7. Oktober 1983, SR 814.01, wird Abfall als beweglicher Stoff definiert, dessen sich der Besitzer entledigt. Dieser Stoff wirdin einen Kreislauf hineingegeben, in welchem er wiederverwertet werden kann. Solange dieser Abfall aber als Müll im eigenen Haushalt herumliegt, wird er vom konsumierenden Menschen schnell als unbrauchbar und darum für sich selbst für den Moment als wertlos beurteilt. Müll muss aber nicht wertlosbleiben. In Kombination mit den richtigen Ideen kann er gar als Lebensgrundlage dienen, wie das Projekt « Landfill Harmonic » zeigt.

von Mara Kloiiti

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as ist Abfall für die Menschen von Cateura? Cateura ist die grösste Mülldeponie der Stadt Asunción in Paraguay. Eine Stadt gebaut auf Müll; Endstation Mülldeponie für die ärmste Bevölkerungsgruppe. Die Menschen von Cateura strömen täglich aus und sammeln den von Lastwagen gebrachten Müll, die täglich 1500 Tonnen festen Müll in Cateura abladen. Müll, der meist gedankenlos weggeschmissen wird. Dieser Müll wird von den Menschen in Cateura sortiert, um das Brauchbare vom tatsächlich Unbrauchbaren zu trennen. Müllsammelnde nennen Müll nicht etwa Müll, sondern wiederverwertbarer Stoff. Für die Bewohnerinnen und Bewohner bildet Müll die Lebensgrundlage und somit die Sicherung der Existenz – ein Mittel zum Zweck. Die Menschen von Cateura werden abhängig vom Müll der restlichen Bevölkerung. Dabei verschwinden sie von der Bildfläche der Öffentlichkeit. In Cateura gibt es ein Jugendorchester namens Recycled Orchestra. Diese Musikerinnen und Musiker spielen nicht etwa auf Instrumenten aus feinjährigem Holz, sondern auf Musikinstrumenten, die aus dem aussortierten Müll gebaut werden, so beispielsweise aus Blechfässern, gefundenem Draht oder alten Gnocchi-Dosen. Der Orchersterleiter Favio Chávez sagt im Film Landfill Harmonic, der das Recycled Orchestra dokumentiert: „The

Nichts bietet mehr Freiheiten als die Kunst. talog! a K r e rsn ue boe in allen boes.nceh e n r e r D h oesne rhältlic

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/MIKROKOSMOS ZUM ZWEITEN

/SCHAUERPOESIE VON HEUTE

Säuberung ein Gedicht von Joy Tieg

Der ganze Mist muss raus! Schlüssel unter der Türmatte hervorkl auben Schrank aufschliessen, klappe die Türe n auf, Rippen starren mir entgegen Da blinzeln sie, die Monster, ganz verle gen Packe sie, drehe ihnen den Hals um Bring es nicht über mich, sie leben doch Sie schreien auf Wollen nicht gehen Und doch kann ich sie nicht mehr sehe n Greif mir ans Herz Durch den Rippenbogen Ein letztes Knacksen Habe ihr Genick gebrochen Tränennasser Abschied Die Monster sind weg Doch ihr Mist ist noch da Greife in meinen Brustkorb Breche Rippe für Rippe Der Mist kommt hervor ganz ohne Glitt er Wie kam er hierher Hatte wohl nicht die richtige Virensof tware Nun bin ich voll mit Trojanern Versuche mich zu reinigen Jedes mal wenn ich denke, das letzte Pferd er wischt zu haben Stolziert ein neues daher, tut ganz erha ben Nehme ein Streichholz Zünde es an Flammen, leises Knistern des Feuers Wieso nur ist es so schwer Den Kontakt zu mir zu finden Und endlich meine Dämonen zu bind en Verschnüren, verpacken, verladen Fahre den Truck durch die weite Prär ie Entlade die Last Winke und fahre ab Rippenbogen zurück Haut tür zu, Schlüssel drehen Um ihn wieder fein säuberlich unter die Türmatte zu legen Niemand wird ihn finden Wird verschwinden Bis der Wind dreht Und einen echten Menschen vor die Türm atte weht

ARTWORK: Anja Peter, Illustratorin, Zürich

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MÜLL | TRASH /DER KREISLAUF DES PET

/DER KREISLAUF DES PET

übrigen Abfall getrennt – sie landen irgendwo in der freien Natur.

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Aus alt mach neu. Zwischen einer PET-Flasche und einem Fussballshirt liegen nur wenige Stationen Mit PET lässt sich gutes Geld verdienen. Doch der Markt hat seine Besonderheiten, die ihn alles andere als berechenbar machen..

Worte von Simon Jacoby

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eder kennt sie: die PET-Flasche. Die Vorteile liegen auf der Hand. Die Plastikflasche ist leicht, unzerbrechlich, recycelbar und in der Herstellung preiswerter als Glas. Deswegen ist es nicht weiter erstaunlich, dass dieser praktische Behälter in über 150 Ländern kaum aus dem Alltag wegzudenken ist. Jährlich werden weltweit gegen 500 Milliarden Stück produziert und in Umlauf gebracht. Fast die Hälfte davon stammt aus Westeuropa und den USA. Durch die rasche Verbreitung hat PET eine enorme Bedeutung in der Verpackungsindustrie erlangt und ist mittlerweile zu einem teuren Rohstoff geworden. Aus diesem Grund besteht für rezykliertes PET eine grosse Nachfrage. Beim Recycling bestehen grosse Unterschiede. In der Schweiz landen gemäss dem Bundesamt für Umwelt rund achtzig Prozent der ausgegebenen Flaschen in einem der 30 000 Sammelcontainer und werden recycelt. Die Quote sei sogar noch etwas höher, wie Jean-Claude Würmli von PET-Recycling Schweiz gegenüber dem «Tages-Anzeiger» sagte. Denn vom gesamten PET-Rücklauf würden zwei Prozent illegal von den Händlern abgezweigt und direkt ins Ausland gebracht, wo eine Tonne altes PET bis zu 500 Franken einbringe, so der stellvertretende Geschäftsführer. In der EU lag der Durchschnitt der PET-Sammelquoten im Jahr 2010 bei knapp fünfzig Prozent. In weiten Teilen Asiens, Lateinamerikas und Afrikas dagegen werden PET-Flaschen nicht vom

Europäische Unterschiede Für die gesammelten Flaschen geht die Reise weiter in eine der RecyclingAnlagen, wo die Flaschen maschinell getrennt werden nach farbig und durchsichtig. Nur letztere – in Europa liegt ihr Anteil bei 22 Prozent, in der Schweiz bei 60 Prozent – können wieder zu PET recycelt werden. Farbigen Flaschen dagegen ist kein weiteres Leben vergönnt – aus unternehmerischen Gründen. Da sie meist in Corporate-Identity-Farben gehalten sind, ist ein Vermischen unerwünscht. So sind die PET-Flaschen der Wassermarken Valser und Rhäzünser beispielsweise zwar beide grün, aber es ist eben nicht derselbe Farbton. Die Einzelmengen sind jedoch zu klein, als dass sich ein Trennen hier lohnen würde. Sind die Flaschen den Farben nach sortiert, landen sie in einer Mühle, wo sie zu sogenannten Flakes oder Granulat verkleinert werden. Die folgende Heisswäsche reinigt die Behältnisse makroskopisch und befreit sie von Etiketten und anderen groben Schmutzpartikeln. Meist werden die Flakes in diesem Zustand an die verarbeitende Industrie weiterverkauft. In der Schweiz sind es 95 Prozent des so bearbeiteten PETs, das im Inland weiterverarbeitet wird – ein weltweit einzigartiger Wert. Für den Rest gilt: Das Granulat wird an den Höchstbietenden verkauft. Oft gelangt das PET via Rotterdam nach China. Obwohl die Europäische Union vor drei Jahren das Recycling forcierte und die Exporte nach Asien daher rückläufig sind, bewegen sich chinesische Händler nach wie vor sehr aggressiv auf den PET-Recyclingmärkten – und bezahlen fast beliebig hohe Preise. Mitunter kommt es vor, dass europäische Händler ihren chinesischen Partnern «Güsel» unterjubeln wollen, wie Würmli von PET-Recycling Schweiz es nennt. Zum Schluss jedoch sitzt China am längeren Hebel. So im Frühjahr 2012, als die Regierung den Handel wegen mangelhafter Qualität stoppte. Die Folge waren sinkende Preise und eine steigende Qualität. Im Jahr 2006 gelangten auf diesem Weg vier Millionen Tonnen PET in Form von Flakes nach China, das entspricht über 100 Milliarden Flaschen. Aus diesen entstehen verschieden dicke Textilfasern, die meist zur Herstellung von Kleidern verwendet werden. Chinesische Unternehmen setzen aus zwei Gründen auf PET-Textilien: Zum einen ist es schlicht lukrativer, PET zu Kleidern statt zu Flaschen zu verarbeiten. Das gilt umso mehr, je höher die Preise für gebrauchtes PET steigen, weil das Endprodukt teurer verkauft werden

kann. Zum anderen kann der Markt mit Kunststoff besser antizipiert werden als die Alternative Baumwolle. Deren Ernte ist wegen Unwettern und anderen umweltbedingten Faktoren weniger genau kalkulierbar.

Chancen für PET, sich durchzusetzen. Noch gänzlich ungenutzt ist in diesen Regionen das Potenzial der Wiederaufbereitung. Heute werden die leeren Flaschen zumeist achtlos entsorgt, als seien sie wertlos. In erster Linie geht es dort darum, Naturflecken und insbesondere Sandstrände von PET zu befreien. Eine Sisyphusarbeit, denn kaum ist ein Abschnitt sauber, schwemmt das Meer die nächste Ladung an.

L etzten Endes rg u n g s – o ts n E s a d n n a k we r d e n , t s lö e g r u n m proble r b r au c h e r n Nachwachsende PET-Flaschen? wenn bei Endve s e d n e h Letzten Endes kann das Entsorc e r p ts ein en gungsproblem nur gelöst werden, wenn tsteht. bei Endverbrauchern ein entsprechendes B e w usstsein en Bewusstsein entsteht. Oder, indem wirt-

Acht Flaschen für ein Shirt Die Attraktivität des Geschäfts mit PET lässt sich gut in der Kleidungsbrache erkennen: Der Sportartikelhersteller Nike benötigt für die Produktion eines Fussballtrikots Granulat von etwa acht recycelten 1,5 Liter PET-Flaschen. Da deren Preis nur ein paar wenige Rappen beträgt, die TShirts aber für bis zu hundert Franken verkauft werden, entstehen riesige Margen. Selbst für «faire» Produkte sind nur geringe PET-Mengen nötig. Bei «fairtextil», der nachhaltigen Produktlinie des Schweizer Textilherstellers Switcher sind es für eine Fleecejacke 25 Flaschen. Der Handel mit gebrauchtem PET, auch r-PET genannt, lohnt sich finanziell trotzdem nicht immer. Der Markt kann bisweilen komische Züge annehmen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn der Preis der für die zur PET-Produktion benötigten Rohstoffe sinkt. Altes PET wird dann teurer gehandelt als neues. Der Markt wird auch in Zukunft interessant bleiben. Denn die Marktsättigung, auf welche die grossen Volumina und ausgefeilten Handels- und Produktionswege mit r-PET hindeuten, gilt gemäss Würmli nur für die Industrieländer. Da sich die Situation in Lateinamerika, Asien und Osteuropa anders verhält, steigen die Preise weiter an. Noch werden in diesen Regionen deutlich weniger PETFlaschen verkauft als in hoch entwickelten Regionen. Doch bei steigendem Wohlstand wird das Distributionsnetzwerk der Getränkehersteller in den Entwicklungsländern besser werden. Somit steigen die

schaftliche Anreize wie ein Flaschenpfand gesetzt werden. Auf der anderen Seite der Wertschöpfungskette, in der Produktion, tüfteln die grossen Konzerne wie CocaCola, Danone und Pepsi bereits fleissig an neuen, umweltschonenden Modellen. Danone beispielsweise setzt auf Plastikflaschen aus teilweise nachwachsenden Rohstoffen, Pepsi entwickelt eine Flasche, die in der Produktion ohne Erdöl auskommt und komplett aus erneuerbaren Ressourcen besteht. Das Endprodukt von Pepsi unterscheidet sich chemisch nicht von einer mit Erdöl produzierten Flasche. Darum kann sie in den normalen Recycling-Kreislauf eingespeist werden. Doch alleine die Verwendung von pflanzlichen Rohstoffen macht die Verpackung nicht automatisch umweltfreundlicher, da zu ihrer Produktion grosse Mengen Wasser, Energie, Dünger und Land benötigt werden. Ob sich die «Bioplastics» durchsetzen werden, hängt stark davon ab, ob die Bestrebungen in Richtung ökologischer Flaschen nur ein Marketinginstrument bleiben, oder ob die Flaschen tatsächlich umweltfreundlich produziert werden können. Spannend wird es, wenn der globale PET-Markt dereinst gesättigt und der Recycling-Kreislauf optimiert sein sollte. Im Idealfall bestehen dann alle durchsichtigen Flaschen zu hundert Prozent aus schon mal gebrauchtem Material und ein Grossteil der Textilien wird aus den farbigen Verpackungen produziert. In diesem Fall müssten nur noch wenige neue PETFlaschen hergestellt werden und die energieintensive Baumwollproduktion könnte drastisch zurückgefahren werden. Dieser fast perfekte PET-Kreislauf wird jedoch noch eine Weile Zukunftsmusik bleiben. Simon Jacoby, 25, Co-Redaktionsleiter bei dieperspektive und macht ein praktikum, obwohl er nie eins machen wollte - bei watson Artikel bereits erschienen im PUNKTmagazin

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/MIKROKOSMOS ZUM DRITTEN

/BEMERKUNG: NATÜRLICH IST ALLES AUF EINER SEITE ABZUDRUCKEN, DA DAS DING JA EINE PFLANZE IST, MIT WURZELN. SOLLTE ES KEINEN PLATZ HABEN, HALT SCHRIFT KLEINER MACHEN

Highly sophisticated Gospel Choir ein Gedicht von Carlo Spiller DIE PFLANZEN im schatten wachsen die pflanzen und pflanzen sich fort

psssst in absoluter dunkelheit. HALLELUJA DEM LICHT ENGEGEN die ratten graben im Müll und finden einen weg durch die dampfende hitze des organischen gewächses die ranken schlingern vorbei und peitschen DAS LICHT HALLELUJA im untergrund wühlen die würmer und lockern den boden und die blasen

für die wurzeln der pflanzen

der seife worin sich spiegelt DAS LICHT DIR ENTGEGEN GEHEN WIR, DIE WIR SIND DIE DIE WIR SIND

AWRLAGAL ARGWAL AWRLAGAL ARGWAL GARWAL GARWGEL GWARGL GWARG L GWARG L

ARTWORK: Anja Peter, Illustratorin, Zürich

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Carlo Spiller, geboren 1990, ist das, was generell unter verloren zuverstehen ist. Er Studiert Germanistik und Philosophie an der UZH und istauch sonst ein « Verrückter » (Schwitter, 2013)

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/NAHRUNG AUF TISCH

/ABFALL IM KLEIDERSCHRANK

DIE BEUTE

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Trash, alles Müll? von Anaisis Miller n Das sind 3 « Beut ebilder » vo einigen meiner Cont ainert ouren im letzten Jahr. Pro Bild sieht m an wegge worfene Ware EINES Tages von je EINEM Gesch äft. Wobei ich al je weils mindest ens nochm diese Menge an weiteren en Milch- und Fleischprodukt zurückliess, da ich keine Verwendung dafür habe. Bilder und Text von: anonym

S

n arbeite eit vielen Jahre Müll, insa em Th m zu ich es mich da k, besondere Plasti faszinier t. tur entPlastik ist aus Na zt in jet t in standen und sche l der ke in W n te den entlegens gen zu sein. Erde eingedrun e mit der ziSelbst Ur völker, di noch nicht in vilisier ten Welt ben Kontakt ha Kontakt traten, ll, besonders mit unserem Mü stiktüten. Plastikf laschen, Pla e Welt Plastik scheint di anein um ka e wi n zu erober ger tu Na s deres Material, au d un elt nd wa schaffen, umge tur Na e di um , en liegen geblieb zu ersticken. ers dieEs ist recht perv ses Material. einen Ich wünsche mir mit, da gang bewussteren Um t so ch ni r wi vielleicht sollten Tüd un en viele Plastikf lasch e eis sw ng hu zie be ten kaufen, zu ar er wertb all dieses widerv n. mache daraus Deshalb habe ich ben, ffe ha sc ge Plastik-Mode ht . malt, geklebt, genä

Anaisis: Künstlerin, Frau, Mutter, Reisende, Göttin, Heilerin und Geliebte. Weitere Bilder auf: www.anaisis.com

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MÜLL | TRASH

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/ABFALL IN ZAHLEN IM JAHR

/BEAUTIFUL GARBAGE, ÖL AUF LEINWAND

Danke fürs Aufräumen, fürs Wegfegen und Saubermachen. Danke fürs Aussortieren, fürs Wiederverwerten und Verbrennen. Jedes Jahr landen

von Konstantin Furrer

20 165 Tonnen Papier in der Stadt Zürich im Altpapier. Auch wir von dieperspektive tragen einen grossen Teil dazu bei. Jährlich drucken wir

24 000 Exemplare. Das einzelne Exemplar ist 98 Gramm schwer. Damit die 2,325 Tonnen

dieperspektive fachgerecht entsorgt und rezykliert werden, haben wir die ERZ.

1.2 Millionen Tonnen

– so viel Papier wird jedes Jahr in der Schweiz produziert. Über vier Fünftel des Altpapiers kann wieder in den Papierkreislauf eingespeist werden. Das ist Weltrekord. Jedes Jahr werfen wir

75 128 Tonnen 192 Kilogramm.

Hauskehricht weg. Pro Person ist das also Damit der ganze Unrat umweltschonend verbrannt wird, haben wir die ERZ. Über

40 Prozent

des Haushaltabfalls bleiben im Wertstoffkreislauf. Die ERZ bringt jährlich über

11 Millionen 568 898 Kilometer

Züri-Säcke ins Kehrichtheizkraftwerk Hagenholz. Dafür benötigt sie mit dem «Güselwagen». Das ist einmal zum Mond und halb zurück – oder

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um die Welt. Im Hagenholz werden die Züri-Säcke umweltschonend verbrannt. Mit der Verbrennungswärme produziert die ERZ CO2-neutralen Strom und klimaschützende «Zürich Wärme», mit der sich rund

170 000 Wohnungen heizen lassen. 222 Mitarbeiter mit 152 Fahrzeugen

arbeiten daran, dass die Zürich auch in Zukunft sauber bleibt. Das ist keine einfache Aufgabe, denn Zürich hat

1 600 000 Quadratmeter Parkfläche und 8 200 000 Quadratmeter Strassenfläche – ein Fussballfeld von 7000 Meter. Aber es zahlt sich aus: Neun von zehn Zürchern sind zufrieden mit der Sauberkeit in der Stadt. Das kommt aber auch nicht von weit her, denn

98 Prozent

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der Stadtzürcher Bevölkerung entsorgen korrekt. Damit es in der Stadt so schön ist wie zuhause, dafür haben wir die ERZ.

Moritz Jäger, 30 Jahre alt, freischaffender Künstler, mag Möwen im Abendrosarot. Netz: www.mojaeger.com

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MÜLL | TRASH /GEIST AUF PAPIER ANZEIGE

Zivilisationskrankheit von Simsim Sesam Ich habe einen Gast.Ich habe einen Geist. Garstig vertrackt, schwer zu fassen, Doch nicht im geringsten abstrakt. Er haust in meinem angepassten krausgewachsnen Achselgarten Beflügelt mich, Hebt meinen Geist Auf unsichtbaren Dunstesschwingen Und erinnert mich auf seine unreine Art Daran, Dass ich als Körper noch am Leben In Bewegung und erstrebenswert bin. Doch irgendwann find ich mich Auf ihn reduziert, von manchen Gemieden und beschliesse Ihn durch schmeichelndes Flehen Zum Ver wehen zu bewegen. Doch er bleibt trotz aller Kniffe An meinem Wesen kleben. Ich wasche die Stauden, versprühe Chemie Nix: er kommt wieder und wieder Zur immer nicht frischen Nasenlochfolter. Das finde ich pfui. Drum werde ich jetzt mit drei aufgereihten Diamantenen Klingen durch Rodung des Waldes Den Affen bezwingen.

Jetzt ist die Zeit, Brücken zu bauen!

Simsim Sesam, 25, studiert frische Winde und globales Fieber in Zürich.

3. bis 9. April 2014

11. April 2014

Festivaltour Schweiz

im (m)athäser Filmpalast München

Awardgala

Zürich

OOLONG TEE Der halbfermenierte Oolong Tee aus Nepal, auch Brauntee genannt, ist eine einzigarige Rarität und kommt nur aus den Teegärten in Jiri. Frisch aufgegossen ist er amberfarbig, goldig mit einem fruchig-süssen, leicht rauchigen, runden Geschmack. Er wurde von Teespezialisten auch schon als leichter Schwarztee charakterisiert, jedoch mit den typischen Oolongnoten.

WER TRÄGT GESELLSCHAFTLICHE VERANTWORTUNG? Hintergründe und Kontext der Kirchensteuer-Initiative Podiumsdiskussion mit Hans-Ulrich Bigler, Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands sgv, FDP; Prof. em. Dr. Georg Kohler, Politische Philosophie; Dr. Markus Notter, Alt-Regierungsrat des Kantons Zürich, SP. Moderation: Dr. Jeannette Behringer, Politologin und Ethikerin. Eine Veranstaltung des reformierten Hochschulforums und der katholischen Hochschulgemeinde

Den Jiri Tee kannst Du ab sofort bei La Cucina an der Luisenstrasse kaufen oder direkt bei der dieperspekive per Mail: info@dieperspekive.ch oder auf www.jiritea.ch bestellen

Mittwoch, 30. April 2014

18.15 – 19.45 KOL-G-201, Aula Universität Zürich-Zentrum Rämistrasse 71, 8001 Zürich

www.hochschulforum.ch

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KREATIVES /GEHEIMNISVOLLE KURZGESCHICHTE

/GEHEIMNISVOLLE KURZGESCHICHTE

Wo Bäume trinken Ambra und der grosse Sklave. Skla von Meret Gut

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ir wohnten im sechsten Stock. Treppenhaus in der Mitte, um eine Mitte, in die man fallen konnte. Schlurfende Schritte. Sechseckaugen. Flüsternde Tiefe. Da gab es kleine Köter, die bissen aus dem Dunkeln. Riesig alte Kacheln an den Wänden, Salpeter drückte durch, drückte die Kacheln an manchen Stellen weg, eroberte die Wand mit tausend kleinen Nadelarmen und Fetischrissen. Viel Leitung oben vor den Türen. Leitungen, die nach einem Spinnwebengewühl durch ein einziges Loch ihre Energien senden mussten, oben an der Tür durch die Wand ins Zimmer. Im Flur, Dreck und Wärme in den Ecken, Kacheln, in die man Kreuze zeichnen konnte. Manche Innenhoffenster zerrissen, Splitter streckten wie kalte Finger sich aus. Der Geruch der Strasse, den wir nach Hause trugen. Manche Etagen waren beleuchtet, andere fast nicht und wenn man runterlief, stand man in die kleinen länglichen Rattenschisse, trocken oder weich. Graffiti gab es keine. Da waren keine Spraydosen und da war wichtigeres Illegales zu holen. Auf Allem lag ein Schimmelflaum. Samt im Mund. Drinnen wars anders, hohe Räume, weiss gestrichen und Lippen, die sie küssten. Mund im Samt. Es dunkelt schon, aber ich will dich noch nicht sehen. Erst wenn es Nacht ist. Oben in der Wohnung die Aussicht, Schachbrettdörfer von oben ins Land hinaus, in die Landschaft hinaus, in die Bauern hinaus, klare Linien. Wer den ersten von der Herbstsonne geröteten Baum sah, bekam diese eine Woche zwei Mal Fleisch. Wälder, sie erinnerten mich immer an die kurzen Tage. Weil im Wald die Bäume das Licht für sich beanspruchten, in sich hineinzogen, wegsogen, raufzogen und oben wieder ausspuckten, lachend. Die weite Flache zum Horizont. Das sich wiederholende Muster. So küss doch endlich. Du schaltest die Spielregeln aus und eine Katze kommt geflogen. Ich will die Ebene weiss sehen, ich will nichts mehr sehen, wenn sich die Wolken lichten erst am Mittag. Weit draussen das Steppengras und wenn ein Fluss kam, dann waren die Bäume bis dicht am Wasser, wurden überschwemmt, liessen sich überschwemmen, grüssten die Fische mild und waren dankbar für die Nässe. Muschelbäumchen. Die Schreie der Wildgänse in der Nacht und eine Bienenwachskerze, lang und dünn vom Opferstock, die ich immer heimlich mitgehen liess. Der klebrig olivenbraune Wachs, ich rieb ihn mir in die Haut, bis alles nach Honig roch. Bis alles glänzte und Feuer fängt. So komm doch endlich. Du kochst Dillsuppe und nimmst mich mit. Nimmst mich mit und wir fallen dann all diese Treppen runter, die wir raufgestie-

omm en, k e g n e r a Wi r w i r wa r e n W . n e m m inm al E . n u m zu k o e b e l n , u m zu e m m o k e g t w i r j e t zt i m a d , d s ch o n . n a m m m e j o k m o a k önn en. S k n e m m o nu n k

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gen waren, fallen dunkel und tief, fallen irgendwie, fallen hell und schnell. Sechster Stock. Du schaukelst mich warm und wir graben uns ineinander ein. Wir vergraben uns, wir graben was ein, wir verpflanzen eine Liebe zum andern. Wir siegeln alles ab und durchbrechen es neu. Pfützen wachsen zu Seen und wir schwimmen durch. Bäume werden unsere Haare und im Winter werden wir kahl. Wurzeln schlagen Grün und wachsen zueinander. Engel sind schwarz, nicht weiss, sind kalt, nicht heiss. Sind nichts. Nur wer liebt ist etwas. Etwas Kleines, das immer grösser wird. Er schüttelte die Hand und spielte mit der anderen die Trompete in die Luft. Wir waren laut, wir waren dunkel. Wir waren gekommen, um zu kommen. Wir waren gekommen, um zu leben. Einmal kam jemand, damit wir jetzt nun kommen können. So komm schon.

Meret Gut, vor 24 Jahren in Zürich geboren, dann Molekularbiologie studiert nach indonesischen Jugendjahren. Oft in den Bergen am Schreiben. Wartet momentan auf eine Metamorphose. Bald Herausgabe des Gedichtbandes « Wir Hautwesen - eine Verdichtung. »

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KREATIVES /LAURIN BUSER

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Meine Grossmutter Kolumne von Laurin Fotografie von janick zebrow Buser ski

eine Grossmutter war schon immer da. Bei ihr durfte man Computer spielen, bei ihr durfte man Cassisbonbons aus kleinen Metallkästchen stehlen, bei ihr durfte man im Keller am Hobeltisch eine hauchdünne Käsescheibe probieren, man durfte im Esstrich übernachten, das ganze Haus knarrte und an den Wänden tanzten Wolfschatten. Es war unheimlich aber aufregend. Und die Bettwäsche roch immer so frisch nach Lavendel, sodass man trotzdem immer rasch einschlief. Das hat man nie hinterfragt, man fand‘s einfach gut, dass es so ist und nicht anders, dass sie mit ihrer liebevoll strengen Art jedem einzelnen ihrer 12 Enkelkindern Lektionen erteilen konnte, die immer bleiben werden. Dass man die Ellenbogen nicht auf den Tisch legt. Dass die karierten Handtücher fürs Geschirr und die einfarbigen für die Hände sind. Dass der Glaube etwas natürliches, etwas freies ist. Dass man immer dankbar sein sollte, für das Essen auf dem Tisch. Mit Grossmüttern ist es ein bisschen wie mit Lehrern. Man verbringt die ganze Kindheit mit ihnen und hinterfragt nichts. Das ist die Grossmutter, das ist der Lehrer. Man verschwendet keine Gedanken damit, den Menschen dahinter zu sehen. Die Grossmutter liebt man einfach, den Lehrer hasst man einfach. Sie sind einfach da, und das ist einfach so. Und urplötzlich ist man selber erwachsen und spricht mit einer anderen erwachsenen Person. Es war ein Vergnügen auf einmal festzustellen, dass meine eigene Grossmutter eine Frau ist, die gerne flirtet mit den Herren ihres Alters. Dass sie eine Tratschtante ist, die gerne und ausgiebig lästert. Dass sie in einem Gespräch völlig unmerklich das Thema auf die Frage leiten kann, ob ich jetzt eine Freundin habe. Dass man sich mit ihr bestens übers Kochen unterhalten kann und dass sie regelrecht aufblüht, wenn sie mit ihrem Enkel über Literatur sprechen kann. Und dass ihre lebensweisen Sprüche im Grunde genommen nichts als biblische Floskeln sind, sie diese Floskeln aber so ausgiebig lebt, dass du diese Werte zu schätzen beginnst. Meine Grossmutter hat vier Kindern erzogen. Drei Mädchen und mein Vater als ältester und einziger Junge. Als mein Vater sechzehn war, starb sein Vater. Wenn mein Vater über seine Mutter erzählt, sieht man in seinen Augen den Respekt, welchen er vor ihr hat. Er habe sie in seinem Leben

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drei Mal weinen sehen. Das erste Mal bei der Beerdigung seines Vaters. Das zweite Mal, als ihr zweiter Mann ebenfalls verstarb. Und das dritte Mal, als sie im Spital lag, nach einer Hüftoperation. Das war vor zirka zwei Jahren und dieses letzte Weinen charakterisiert meine Grossmutter so gut. Sie hat geweint, weil sie wusste, dass sie ein halbes Jahr nicht richtig gehen kann, dass sie nicht im Garten arbeiten, geschweige denn ohne Hilfe sich umziehen kann. Zweimal sind ihre Männer gestorben und sie ist geblieben, ist noch stärker geworden. Sie hat um ihre Männer genauso getrauert, wie um ihre Selbständigkeit. Das ist meine Grossmutter. Als ich erfahren habe, dass sie Krebs hat und im Alter von 75 Jahren in die Chemo muss, war mein erster Gedanke, dass ich keine einzige Person kenne, die so stark ist, wie meine Grossmutter. Was will der Krebs anrichten gegen den eisernen Willen dieser Frau. Man nimmt sich immer vor, die Grossmutter öfter zu besuchen und schafft‘s doch nicht wirklich. Dafür ist man in meinem Alter zu fest mit sich selber beschäftigt, ich reise viel rum und muss zu viele Auftragstexte schreiben. Aber als ich das letzte Mal bei ihr war, stand ich in der Küche an den Kühlschrank gelehnt, während sie in Rekordzeit Kartoffeln schälte und mich darüber ausfragte, was ich als letztes gelesen habe, ob ich schon gesehen habe, wie geschmacklos ihr Nachbar die Hecke heruntergeschlachtet habe und ob ich eigentlich eine Freundin habe. Sie ist seit einem Jahr aus der Chemo. Die Chemo hat angeschlagen, der Krebs ist erst Mal weg, die dünnen, weissen Haare wieder da. Ihr strenger Blick, wenn ich einen Schluck Milch direkt aus der Packung nehme. Wenn ich die Ellenbogen auf den Tisch stelle. Ich habe sie endlich wieder besucht. Wir haben zusammen gegessen, es gab asiatische Nudeln, was mich ziemlich überraschte. Sie wollte unbedingt mein Rapalbum anhören. Sie sei sehr froh, dass es ein Booklet gäbe, ich rede ja viel zu schnell. Die Texte seien wirklich toll, ich fluche einfach noch zu viel; aber das beruhige

i st e s e i n n r e t t ü m s M it G r o s ern. M an r h e L t i m ie b i ss c h e n w g a n z e K i n d h e i t die n i c h t s. t g a ve r b r i n g t r f r e t und hin m it i h n e n

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sich ja bestimmt mit dem Alter. Und sie fragte, was es damit auf sich habe, dass mein kleiner 13-jähriger Cousin behaupte, dass das gar kein richtiger Rap sei, was ich da mache. Und wisst ihr was? Es überrascht mich kein bisschen, dass das alles noch da ist. Diese Frau stirbt, wenn sie es für richtig empfindet. Davon bin ich überzeugt.

Laurin Buser wohnt in Basel. Normalerweise steht er mit seinen Texten auf der Bühne und im Studio. Er ist Slam Poet, Schauspieler und Rapper. Wer mehr wissen will geht auf laurinbuser.ch. Für dieperspektive schreibt er in jeder Ausgabe aus seinem Leben.

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