Egoismus - April13

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26. Ausgabe April / Mai 2013

EGOISMUS

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Über Egoismus

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«Regierungsräte sind keine Models»

Ein Essay - Egoismus im Spannungsverhältnis zwischen Altruismus und Narzissmus.

SP-Regierungsrat Mario Fehr über sein Leben als Politiker.

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Shabbat shalom Eine Reise in das gelobte Land.


INHALT

26. Ausgabe, April / Mai 2013

EDITORIAL

KALENDER

seite 03: ich, mein spiegelbild und meine wenigkeit Illustration des Jahres Die prämierten Bilder sind ab dem 27. April in unserer Redaktion ausgestellt. Zweierstrasse 38, 8004 Zürich. Weitere Informationen via dieperspektive.ch und facebook.com/dieperspektive Podiumsdiskussion zur Presseförderung mit Filippo Leutenegger, Kurt Imhof und Luzia Tschirky: 15. Juli, 18 Uhr, Zürich Weitere Informationen via dieperspektive.ch und facebook.com/dieperspektive 2. Abstimmungspodium 17. Mai, 20 Uhr, in der Redaktion an der Zweierstrasse in Zürich Weitere Informationen via dieperspektive.ch und facebook.com/dieperspektive

HINTERGRUND seite 04: das duell #16 - egosimus seite 05: made in switzerland seite 06: knochenarbeit bei wind und wetter seite 08: die reise der spendengelder seite 10: «regierungsräte sind keine models»

EGOISMUS

seite 13: das gewisse mass an egoismus seite 14: portada periodico seite 15: superego2 seite 16: über egoismus - ein essay seite 18: der neue mann im hamsterrad seite 19: gelebter egoismus seite 20: poster: egoismus seite 22: der etwas andere tampon seite 24: ein bisschen seite 25: ich spreche also bin ich seite 26: rolandsky wagner bezzola karasek: philipp meier hat ein plakatives riesen-ego seite 29: wenn sogar der papst zurücktritt seite 30: facebook seite 32: ich will es einfach seite 33: monogamie seite 34: baum des egoisten seite 35: egoismus - eine lebensanleitung seite 36: planet ich

Illustratorin des Monats

REISEN seite 37: shabbat shalom

Scannen, abonnieren und fertig. dieperspektive für 30.- im Jahr.

Hier gibt es die ganze Bilderserie von Daniela Meier (Bild Seite 20)

Namen: Yasmin Mattich

Falco's «Egoist»

Seiten: 1 | 8 | 13 | 18 | 24 | 25 | 30 | 32 | 33 Vielen Dank an Yasmin Mattich für die Illustrationen zu den Texten und das Titelbild. Möchtest auch du das Titelbild gestalten und die Texte grafische unterlegen? Melde dich auf info@dieperspektive.ch

IMPRESSUM REDAKTION

verein dieperspektive, zentralstrasse 167, simon jacoby, conradin zellweger, manuel perriard, 8003 zürich TEXT p.w. | s.a.j. | c.w. | p.w. | a.h. | t.s. | d.w. | m.s. | b.s. | l.b. | p.w. | j.n. | p.m. | a.h. | t.h. | k.s. | m.b. | e.l. | c.z. ILLUSTRATION /

BILD iglesias. | t.s. | b.s. | d.m. | a.w. | t.r. | c.z. COVER yasmin mattich LAYOUT per rjard LEKTORAT cornelia reinhard & noemi heule WEBDESIGN conradin zellweger REDAKTIONSMITARBEITER selina howald & jonas ritscher & konstantin furrer &

marius wenger DRUCK zds zeitungsdruck schaffhausen ag AUFLAGE 4000 ARTIKEL EINSENDEN artikel@dieperspektive.ch WERBUNG simon@dieperspektive.ch ABO abo@dieperspektive.ch LESERBRIEFE leserbriefe@dieperspektive.ch THEMA DER NÄCHSTEN AUSGABE sucht GÖNNERKONTO pc 87-85011-6, vermerk: gern geschehen REDAKTIONSSCHLUSS donnerstag 2. mai 2013, 23.55 uhrz

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EDITORIAL

26. Ausgabe, April / Mai 2013

Ich, mein Spiegelbild und meine Wenigkeit «Im Falle eines Druckabfalls finden Sie Sauerstoffmasken über Ihnen. Platzieren Sie diese über Ihren Mund und Ihre Nase und atmen Sie normal. Wenn Sie mit einem Kind reisen, platzieren Sie zuerst Ihre Maske und danach die Ihres Kindes.» Bei meinen ersten Flugerfahrungen hat mich diese Ansage jeweils ein wenig befremdet. Warum werden wir von der Swiss zu egoistischem Handeln aufgefordert? Fehlte noch, dass anstelle der «Swiss-Hymne» aus dem Lautsprecher «Falco» sich selber zelebrieren würde. «Die ganze Welt dreht sich um Mich. Denn ich bin nur ein Egoist. Der Mensch, der mir am nächsten ist, bin ich. Ich bin ein Egoist.» Ja, manchmal geht es auch in der Musik nur um einen selbst. Besonders freut mich das, wenn es sich, wie in dieser Ausgabe, auch noch um Schweizer Musik handelt. Mit beissenden Texten tourt nämlich eine junge Band umher. Sowohl physisch als auch auf Youtube (Seite 19). Aber zurück zum Fliegen. Erst als ich mehrere Meilen auf meiner inexistenten Flugmeilenkarte hatte, begann ich die egoistische Aufforderung der reizenden Stewardessen in einem anderen Licht zu sehen. Eigentlich macht das noch Sinn. Denn wenn der Erwachsene bewusstlos ist, wer zieht dann dem Kind die Maske an? Kann es sein, dass egoistisches Handeln für eine Gemeinschaft notwendig ist? Genau diese Fragen behandelt unsere Titelgeschichte. Nicht anhand von Sauerstoffmangel, sondern egoistischen Affen (Seite 16). Damit vor lauter Egoismus der Gemeinschaftsgedanke nicht zu kurz kommt, haben wir die Redaktionssitzung zu dieser Ausgabe das erste Mal öffentlich gemacht. Jede und jeder sollte die Möglichkeit haben, seine eigene Meinung zu den Texten und Bildern dieser Ausgabe kundzutun. Was wir als Experiment versuchten, überzeugte uns. Daher die Einladung an dich: Am Freitag 3. Mai um 15:00 Uhr findet die Redaktionssitzung zum Thema Sucht statt. Ab 13:00 Uhr kannst du in unserer Redaktion die eingesandten Texte lesen. Die Sitzung findet in unserer neuen Redaktion an der Zweierstrasse 38 in 8004 Zürich statt. Die Schrift verrät uns ebenfalls ein paar Dinge über das Ego. Im Englischen beispielsweise wird «ich» gross geschrieben. Because I'm very important. Die anderen Personen hingegen müssen sich mit einem kleingeschriebenen Personalpronomen begnügen. Because you are not so important. Ganz anders im Deutschen. Die angesprochenen Personen werden mit einem gross geschriebenen Personalpronomen geehrt. In höchster Hochachtung vor Ihnen. Sich selber stellt man im Deutschen gerne ein wenig in den Schatten. Weil ich nicht will, dass man mich für einen selbstverliebten Menschen hält. Ganz so einfach soll es dann aber auch nicht sein. Dann nämlich, wenn wir mit jemandem per «du» sind, wird das Ganze kompliziert. So ist es in Briefen, Emails und auf Postits weiter erlaubt, «Dich» gross oder «dich» klein zu schreiben. Ganz nach meinem Gusto. Fragt sich, ob das ganze Gross- und Kleingeschreibe von Personalpronomen auch wirklich etwas mit Egoismus und Wichtig-

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keit von Personen zu tun hat. Aber darüber zu urteilen, masse ich mir als Kleingeschriebenes «ich» nicht an. Auch noch einen zweiten Anlass in eigener Sache möchte ich an dieser Stelle ankündigen. Bereits zwei Mal haben wir den Artikel des Jahres gekürt. Aber dieperspektive lebt nicht nur von euren Texten, sondern auch die grafischen Beiträge sind ein wichtiger Bestandteil der Zeitung. Also höchste Zeit, das Augenmerk einmal auf die bisher abgedruckten Illustrationen zu richten. So werden die nominierten Bilder ab dem 27. April in unseren Redaktionsräumlichkeiten, welche wir mit dem Karussell teilen, als Originale zu bestaunen sein. Werfen wir einen selbstkritischen Blick auf uns selber. Ja, richtig gehört. Selbstkritik schliesst sich trotz dem Thema Egoismus nicht aus. Denn, auch wenn wir uns hinterfragen, Hauptsache ist doch, es geht dabei um uns. Ist dieperspektive eine Zeitung für Egoisten? Eine Zeitung, in welcher sich jeder selber mitteilen, sich profilieren will? Ich glaube nicht. Wer für andere einen Text schreibt, tut dies vielleicht aus egoistischen Gründen. Aber die Tatsache, dass man den Text veröffentlichen will, macht es zu einem Mitteilen der eigenen Gedanken - also Mitteilen. Wer dies als egoistisch bezeichnet, der muss konsequenterweise jegliche Kommunikation als egoistisch motiviert abstempeln. Auch das geht. Dann sind wir alle durch und durch Egoisten. Jegliche Interaktion geschieht aus reinem Eigeninteresse. Aber ist das denn schlimm? Sollte das traurig machen, weil wir so furchtbar ich-bezogen sind? Wir haben ja gar keine andere Möglichkeit. Eigeninteresse ist das einzige Interesse, welches wir haben können. Wäre ja auch komisch und gefährlich, wenn wir direkt von anderen Interessen gesteuert würden. Es macht zwar jeder sein Ding, aber erst durch die Kombination aller Ego-Produkte entsteht unsere gemeinsame Umwelt, oder halt wie im vorliegenden Falle, - unsere Zeitung. Na ja, das waren jetzt ein bisschen viele verschiedene Themen auf einmal. Ich hoffe es hat dich nicht gestört. Vor allem der Rechtschreibe-Exkurs hat vielleicht ein wenig gelangweilt. Aber es ist halt schon so, was in diesem Editorial steht, das bestimme immer noch ich. Und wenn du es bis hierher gelesen hast, ist das dein Problem. PS: Auch das Editorial zu Egoismus ist irgendwann zu Ende. Dann geht es nicht mehr um mich. Dass mich das stört, sagt ja schon das Thema. Daher bin ich der Person, welche das Post Scriptum erfunden hat äusserst dankbar. PPS: Zitat Ich: Es geht immer nur um mich. Zitat Psychologin: Ja, da haben Sie recht.

Conradin Zellweger Für die Redaktion

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HINTERGRUND 26. Ausgabe, April / Mai 2013

Das Duell # 16 - Egoismus {Text} * Simon A. Jacoby und Peter Werder

Peter Werder: Lieber Herr Jacoby - Sie haben das Thema Egoismus für Ihr Heftli gewählt. Ich nehme an, es geht um die bösen Neoliberalen, die nur an sich denken. Das Heft wird voller Beispiele sein, oder? Simon Jacoby: Im Heft geht es vor allem um die individuellen Ansichten, was ein Egoist ist, und ob das gut ist. Aber ja, Sie und Ihre neoliberalen und egoistischen Freunde gehen mir ganz schön auf die Eier. Das ist Egoismus, der uns allen schadet (Naja, ausser den wenigen mit dem Kapital). PW: Immerhin wurden Ihnen Ihre Eier nicht von ach so emanzipiert, korrekten Parteimitgliedern abgerissen. Aber Sie haben recht: Es gibt neoliberale Egoisten, die kein Mass kennen. Nur sind deswegen nicht alle Erfolgreichen und Reichen Egoisten. Wir dürfen deswegen die Freiheit nicht einschränken! SJ: Sie mit Ihrer Freiheit. Freiheit zum Egoismus? Freiheit, andere auszubeuten? Natürlich sind alle Reichen Egoisten - die Armen übrigens auch - aber nicht alle Reichen sind böse Menschen. Wer sich mit seinen Handlungen bei anderen bedient, andere schlechter stellt, der ist ein widerlicher Egoist. Damit kennen Sie sich ja bestens aus - fast alle dieser Egoisten haben das gleiche Parteibuch wie Sie. PW: Wir brauchen die Freiheit, Fehler zu machen. Mit der Freiheit einher geht die Eigenverantwortung, die Kosten, die ein Fehlentscheid mit sich bringt, selber zu tragen. Reiche können das übrigens. Und die tragen sogar noch die Kosten mit, die Sie verursachen - die egoistischen Reichen zahlen Ihre Steuern, Ihre Uni, Ihre Krankenkassenprämien. Ich finde das richtig, aber was mich stört, ist der implizite Vorwurf. Das soziale System funktioniert nicht schlecht, weil ein Konsens darüber besteht. Für diesen Konsens braucht es beide Seiten. Momentan werden die Nettozahler etwas überbeansprucht. Wer sich da wehrt, ist kein Egoist, Herr Jacoby. SJ: Nicht alles, was Sie da schreiben ist falsch. Aber ich sage Ihnen jetzt mal, wie es wirklich ist: Die Reichen KÖNNTEN die Kosten, die Sie verursachen, bezahlen. Tun sie aber nicht. Die meisten Kosten, die Glencore und andere verursachen, bezahlt nicht der Schweizer, sondern der Afrikaner, der in der Mine schuftet. Der leidet doch unter egoistischer Bereicherung. Oder könnte er sich Ihrer Meinung nach mit Eigenverantwortung aus der

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Sklaverei befreien? PW: Schönes Beispiel. Natürlich nicht darum müssen wir diese Menschen befähigen, Eigenverantwortung zu übernehmen. Bildung ist etwas vom Wichtigsten dabei. Ihre Antwort sind Vorschriften, Staat, NGOs. Wir sind uns in einem Punkt einig: Es gibt noch zu viele Unternehmen, welche ihre Verantwortung nicht wahrnehmen. Die Menschen beginnen sich zu wehren. Das ist ein guter Anfang. Aber Achtung - das darf nicht aus einem Gerechtigkeitsfimmel heraus passieren, sondern aus einem gesunden Anspruch an Ethik. Gerechtigkeit wird schnell zu diktatorischer Gleichheit. Es müssen nicht alle gleich viel verdienen, sondern genug und adäquat. SJ: Willkommen in der SP, Herr Werder. Ich hatte selten so viel Freude an Ihnen, wie bei diesem Statement. Nur damit wir uns verstehen: Ich hätte nichts dagegen, wenn Sie noch weiter nach links rutschen würden. Bildung ist wichtig, friedliche Proteste sind auch wichtig. Da haben Sie vollkommen Recht. Wenn sich der Ausgebeutete wehrt und befähigt wird (wer auch immer dazu das Recht haben sollte), gibt es keine grossen Gewinne mehr bei uns. Und wenn aber die Unternehmen aus egoistischem Streben nach Gewinnmaximierung ihre Verantwortung nicht wahrnehmen, muss der Staat die Grenzen setzen können. Am besten sogar international. In einer globalisierten Welt reicht es nicht, wenn ein Staat etwas macht. Alle müssen mitmachen. PW: Gewinnmaximierung ist etwas Gutes. Unternehmen können investieren, ihren Aktionären Dividenden auszahlen, ihren Mitarbeitern Boni und höhere Löhne. Unternehmen brauchen möglichst viele Freiheiten - auch für Fehlentscheide. Grenzen entbinden Unternehmen von Verantwortung. Genau das ist das Problem. Was die EU gerade macht - Boni dürfen höchstens doppelt so hoch sein wie der Fixlohn - ist genau eine solche Grenze, die Schaden anrichtet. Abgesehen davon, dass man das immer umgehen kann. Solche Ideen sind getrieben von Neid. Deswegen passe ich auch nicht in Ihre Partei - Neid gehört nicht zu meinem Emotionsrepertoire. Ich freue mich, wenn es andern gut oder besser als mir geht.

ABER: Fast alle diese Gewinne resultieren aus dem Verlust, den andere machen. Kapitalismus: Ein System, das mit Hilfe des Egoismus Gewinner und unzählige Verlierer produziert. Die Gewinner wären nicht das Problem, wenn sie nicht skrupellos Menschen ins Elend und in den Tod schicken würden. Würden Unternehmen und Verwaltungsräte wie Vasella und Glasenberg Verantwortung übernehmen, würden sie keinen Gewinn mehr machen. PW: Sie machen deswegen Gewinn, weil sie Verantwortung übernehmen. Das alte Sozialistenlied vom impliziten Verlust bei Gewinn vernachlässigt komplett den Begriff der Wertschöpfung: Man kann Gewinn machen, ohne dass andere verlieren. Aber lassen wir das, ich nehme nicht an, dass sie überhaupt in die Nähe eines BWL-Hörsaals kommen. Lieber hocken sie in einem besetzten Haus an einer Party und gefährden die Eigentumsgarantie (danke übrigens für die Einladung per SMS, ich komm dann beim nächsten Mal). Wo wir uns vielleicht noch finden würden: Boni müssen wirklich leistungsabhängig sein. Bei Spitzensportlern wie bei Roger Federer sind sie das, darum stört es da auch niemanden. Bei Vasella sind sie das oft nicht bzw. nicht in diesem Mass. Nicht der absolute Betrag stört, sondern der fehlende oder intransparente Zusammenhang zur Leistung. SJ: Naja, auch der absolute Betrag stört. Da hätte ich schon gerne etwas mehr Gleichheit. Sogar der neoliberale Vorkämpfer Roger Köppel schrieb Ende Februar über Vasella, er habe sich am Portemonnaie in fremden Hosentaschen bedient - also gestohlen. Aus Gier, aus Egoismus. Ohne irgendein Gespür dafür, was das eigene Handeln bei anderen auslösen kann. Bei Boni geht es um Geld, das anderen ganz konkret zum Überleben fehlt. Die Abzockerinitiative ist ja jetzt durch. Als Nächstes kommt die 1:12- und die Mindestlohninitiative. Da wird der Egoismus in die Schranken gewiesen. Das Duell: Beim Duell stehen sich jeden Monat Peter Werder und ein Mitglied der Redaktion zum aktuellen Thema der Ausgabe gegenüber. * Dr. Peter Werder ist bürgerlicher Politiker, Dozent an der Universität Zürich und leitet die Kommunikation eines Konzerns im Gesundheitswesen

SJ: Sie sind auf Ihrem linken Auge also doch blind. Schade eigentlich, dass Sie das nicht verstehen. Gewinne sind gut, hohe Löhne sind gut, Boni von mir aus auch. Da gibt es ein dickes

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* Simon A. Jacoby, 23, Co-Chefredaktor von dieperspektive, Student der Politologie und Publizistik- & Kommunikationswissenschaft und aktiver Politiker, aus Zürich

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POLITKOLUMNE 26. Ausgabe, April / Mai 2013

Made in Switzerland {Text} * Cédric Wermuth

litischen Fragen sowieso arg in der Defensive und verhält sich wie die erstarrte Maus vor der Schlange.

In der abgelaufenen Frühlingsession hat sich der Nationalrat mit der Revision des Bügerrechtes befasst. Es ging darum, unter welchen Bedingungen in der Schweiz lebende AusländerInnen den roten Pass erhalten können. Was der Nationalrat allerdings angerichtet hat ist ein regelrechtes Massaker: Die Hürden gerade für Jugendliche sollen massiv steigen. So wurden bisher die in der Schweiz verbrachten Jahre zwischen dem 10. Und dem 20. Lebensjahr für die Berechnung der Aufenthaltsdauer doppelt gezählt – neu gelten sie nur noch einfach. Das Bürgerrecht soll auch an weiteren Punkten verschärft werden, so müssen Einbürgerungswillige beispielsweise in Zukunft mindestens drei Jahre im selben Kanton wohnen, bevor sie einen Antrage stellen können. Für mehrere Kantone bedeutet dies eine Verschärfung gegenüber der Praxis. Es ist schockierend, wie es die extreme Rechte geschafft hat, eine regelrechte Blut und Boden-Mentalität durchzusetzen. Besonders beelendend ist dabei, dass sich die so genannte «liberale» Mitte aus purem Opportunismus vor den Karren der SVP spannen lässt. Und die ihrerseits Linke ist in migrationspo-

Eine neue Offensive tut Not Die Linke braucht einen neuen, offensiven Vorschlag mit dem es gelingen kann, eben auch die politische «Mitte» unter Druck zu setzen. Ein solcher Vorschlag müsste im Kern versuchen, das geltende «ius sanguinis» (Blutsrecht) durch ein System des «ius soli» (Territorialprinzip) abzulösen – wer hier geboren ist, der oder die gehört zu uns. Ein konkretes Modell existiert seit 2001 in Schweden. Für die Schweiz könnte ein es folgendermassen adaptiert werden: 1) Die Dreistufigkeit des Bürgerrechts wird durch eine einheitliche, schweizerische Staatsbürgerschaft abelöst. Die Einbürgerung umfasst also nicht mehr drei Schritt (Gemeinde, Kanton, Bund), sondern nur noch einen. Damit entfallen kommunale und kantonale Mindestaufenthaltszeiten. 2) Die zweite Generation von MigrantInnen (in der Schweiz geboren), wird erleichtert eingebürgert, die dritte Generation automatisch.

3) Wer hier mindestens fünf Jahre seines Lebens als Minderjährige/r verbracht hat, erhält das Recht auf Einbürgerung – unabhängig des legalen Status des Kindes. Ein solcher Vorschlag käme der durchaus liberalen Forderung nach echter Chancengleichheit schon sehr nahe – er würde die Debatte aus der defensive bringen und insbesondere die Bürgerlichen unter Druck setzen1. Was «Made in Switzerland» ist, dort soll auch «Switzerland» auf dem Pass stehen. 1

Eine entsprechender Antrag zur Prüfung einer Volksin-

itiative wurde vor wenigen Tagen beim Präsidium der SP Schweiz eingereicht.

* Cédric Wermuth ist sozialdemokratischer Nationalrat aus dem Kanton Aargau, er schreibt monatlich zum Thema Politik. Antworte Cédric Wermuth auf leserbriefe@dieperspektive.ch.

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HINTERGRUND 26. Ausgabe, April / Mai 2013

Knochenarbeit bei Wind und Wetter {Text} Pascal Witzig

Corris-Mitarbeiter auf der Sammeltour. © corris.ch

Fundraising-Agenturen wie Corris versprechen schnell verdientes Geld. Viele junge Leute lassen sich davon jedoch blenden, denn der Job ist keineswegs locker.

ten beim Spendensammeln und der ständige Druck durch Vorgesetzte wurden ihm zu viel; bereits nach einer Woche reichte er frustriert seine Kündigung ein.

Der 20-Jährige Matthias ist konsterniert. Nach seiner Maturität wollte er Geld für eine ausgedehnte Reise verdienen. Auf einem Onlineportal für Studenten stach ihm eine Anzeige der Fundraising-Agentur Corris ins Auge: 4000.- pro Monat fix. «Das kam mir natürlich sehr entgegen», erzählt Matthias. FundraisingAgenturen sammeln Spendengelder im Auftrag von namhaften Hilfswerken wie dem WWF, Terre Des Hommes oder Green Cross. Matthias bewarb sich umgehend für die Stelle, erhielt eine Einladung zum Vorstellungsgespräch und bekam prompt den Job. Die Freude darüber währte aber nur kurz - Matthias wurde rasch klar, dass er einen knallharten Job gefasst hatte. Der lange Arbeitsweg, die Schwierigkei-

Vierstündiger Arbeitsweg Matthias erzählt, dass Corris ihn zwar darauf kurz aufmerksam gemacht hätte, dass sein Job ein schwieriger sei, jedoch hätte er nicht erfahren, worin die Schwierigkeit bestünde. «Es war auch etwas naiv von mir, nicht nachzufragen», gesteht er sich nun ein. Als er seinen ersten Arbeitstag hatte, lernte er jene Schwierigkeiten schnell kennen. So musste er aus dem Zürcher Oberland nach Luzern reisen, um seinen Arbeitseinsatz dort zu leisten. Für die Hin- und Rückreise benötigte Matthias somit rund vier Stunden. Manchmal war er erst gegen 21.30 Uhr zu Hause. Zwar alternierten die Arbeitsorte und so war er auch in Thun oder Herisau im Einsatz, jedoch verkürzte dies den Arbeits-

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weg nur unwesentlich. Diese wechselnden Einsatzorte wurden Matthias beim Bewerbungsgespräch als »Möglichkeit die Schweiz kennen zu lernen« verkauft. «Corris hat mir die Sache beschönigt verkauft» sagt Matthias nun rückblickend. Denn bis auf den Bahnhof oder die Einkaufsmeilen hätte er keinen Fleck dieser Städte gesehen. Druck von Vorgesetzten «Der lange Arbeitsweg war das Eine, der Druck das Andere» fährt Matthias fort. Das Ziel sei es, täglich mindestens fünf Spender zu finden. Gelinge dies nicht, werde man von den Vorgesetzten unter Druck gesetzt. Dies reiche von Schelten, bis hin zu abschätzigen Drohungen. Einer Teamkollegin Matthias’ sei von ihrem Vorgesetzten offen gedroht worden: «Wenn du in den nächsten Tagen nicht fünf Spender im Schnitt findest, ist es das gewesen mit deinem ersten Job». Die Kollegin habe daraufhin

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gekündigt. Auch Matthias wurde es wenig später zu bunt. «Eines Abends um 18.30 erkundigte sich unser Vorgesetzter per SMS über unsere Fortschritte», erzählt er. «Ich berichtete ihm, dass wir zusammen trotz harter Arbeit nur gerade 3 Spender finden konnten.» Die Antwort darauf kam prompt: «Wollt ihr mich verarschen?! Macht bis 19.30 weiter!» Matthias fühlte sich gekränkt. «Bin ich denn eine Ware, mit der man so umspringen kann?!» fragt er rhetorisch. Am selben Abend teilte er seinem Vorgesetzten mit, dass er nicht für Corris arbeiten wolle. Dieser antwortete bloss lakonisch: «OK. Ist wohl besser so» Geblendet vom Geld Heute sagt Matthias, dass er sich vom schnellen Geld habe blenden lassen. In der Stellenanzeige von Corris heisst es, dass ein guter Dialoger bis zu 4500.- verdienen könne. «Damit locken sie dich», erzählt der Maturand. In Wahrheit erhalte man nur 150.- pro Tag, was 3000.- pro Monat ergäbe. «Wenn man denn überhaupt so lange dort arbeiten kann und einem nicht bereits gekündigt wurde», schiebt Matthias nach. Wer 4500.- verdienen wolle, müsse wirklich sehr gut sein, denn das zusätzliche Einkommen basiere

auf einem strengen Provisionssystem. Resümierend sagt Matthias, dass Corris nicht ehrlich gewesen sei. «Mir und meinen Teamkollegen war nicht klar, wie schwer die DialogerTätigkeit wirklich ist», so der 20-Jährige. Bei Wind und Wetter nach Spendern suchen, eine Mindestquote liefern müssen und sich von Vorgesetzten abkanzeln lassen zu müssen - so hätte er sich diese Tätigkeit für einen guten Zweck nicht vorgestellt. Corris weist Vorwürfe zurück Baldwin Bakker, CEO von Corris bestreitet indes die Vorwürfe des Maturanden. Gemäss Bakker würde in den Bewerbungsgesprächen mehrmals darauf hingewiesen, dass die Tätigkeit eine anspruchsvolle und schwierige ist. Die Bezahlung erachte er als fair. Hinsichtlich des Arbeitswegs meint Bakker: «Bezüglich der Reisetätigkeit kommt es letztendlich auf die durchschnittliche Wegzeit über die gesamte Einsatzdauer an und die liegt sehr deutlich unter dem Beispiel des Maturanden». Den Vorwürfen betreffend den SMS von Mathias’ ehemaligem Vorgesetztem wolle Bakker nachgehen. «Weder Tonalität noch Art und Weise der Kommunikation würden wir akzeptabel finden», so Bakker.

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Die Reise der Spendengelder {Text} * Simon A. Jacoby

Kommt das gespendete Geld bei den Projekten an oder wird der grösste Teil für Werbung und Fundraising aufgebraucht? Hier kommt des Rätsels Lösung. Die Schweizer sind nicht gerade ein spendenfreudiges Volk. Pro Haushalt und Jahr werden knapp 700 Franken gemeinnützigen Organisationen wie WWF, Glückskette oder der Erklärung von Bern gespendet. Der Röstigraben macht sich auch hier bemerkbar: Während die Deutschschweizer knapp 800 Franken spenden, sind es bei den Welschen gerademal 400 Franken pro Jahr und Haushalt. Die ganze Schweiz kommt so auf ein Spendenvolumen von gut 1.6 Milliarden. Nicht gerade viel, wenn man bedenkt, dass der Durchschnittslohn (Median) in der Schweiz im Jahr 2011 5979 Franken betrug – pro Person. Eine Spende von 800 Franken entspricht damit nur rund einem Prozent des Bruttoeinkommens. Geht man davon aus, dass in einem Haushalt mehr als eine Person Geld verdient, ist es sogar noch weniger. Was geschieht mit den Spenden? Eine Spur interessanter, als die Frage, wer wie viel spendet, ist, was mit dem freiwillig abgegebenen Geld geschieht. Wie viel dieser 1.6 Milliarden Franken kommen bei den angepriesenen Projekten an? Und wie gross ist der Teil, der für Administration, Marketing und Fundraising irgendwo versickert? Anhand der Beispiele WWF (Schweiz), Glückskette, World Vision, Eklärung von Bern (EvB), Helvetas und Amnesty International (Schweiz) werden diese Fragen beantwortet. Die Einnahmen generiert WWF über Aussendungen, Spenden von Stiftungen und Mitgliederbeiträgen. Die Ausgaben für Administration und Fundraising machen einen Grossteil des Betrages aus, der durch Spenden eingenommen wird. Zahlen WWF: • Gesamteinnahemen: 42.3 Mio • Spenden aus Aussendungen: 8.2 Mio • Mitgliederbeiträge: 16.5 Mio. • Spenden «aus Aussendungen», Spenden von Stiftungen und Mitgliederbeiträgen: 29 Mio • Ausgaben: Fundraising und Kommunikation (9 Mio.) und Administration (4.6 Mio.) = 13.6 Millionen Franken = 27.7% • 9 Mio für Fundraising generiert 8.2 Mio Einnahmen Fazit: Die neun Millionen Franken, die für Fundraising und Werbung ausgegeben werden, bringen 8.2 Millionen Franken ein – ein Minusgeschäft. Die Rechnung der Glückskette wird sehr unübersichtlich präsentiert. Welche Einnahmen wie beschafft werden, ist nicht klar zu erkennen. Die zweckgebundenen Einnahmen machen knapp 62 Millionen Franken aus – die Spenden ohne Zweckbindung (Legate/Erbschaften) nur eine gute halbe Million. Bei den Ausgaben ist es noch schwieriger herauszufinden, was genau mit welchen Budgetposten gemeint ist. Fundraising oder Werbung ist nirgends aufgeführt. Die einzigen Ausgaben, die diesen Bereichen zugeordnet werden könnten sind «Sammelaufwand», «Seminare und Ausbildung», «Betriebskosten» und «Information, Multimedia, PR». Zahlen Glückskette • Zweckgebundene Einnahmen: 62 Mio. • Spenden ohne Zweckbindung (Legate/Erbschaften): 0.5 Mio. • «Sammelaufwand», «Seminare und Ausbildung», «Betriebskosten» und «Information, Multimedia, PR»: 255 000 CHF • Direkt in Projekte: 55 Mio.

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HINTERGRUND 26. Ausgabe, April / Mai 2013

Fazit: Sofern die Glückskette in der unübersichtlichen Rechnung nichts versteckt, gibt sie kein unnötiges Geld für Werbung und Fundraising aus. Es ist jedoch eine Frage wert, wie die Organisation fast ohne Werbung auf jährliche Spenden von über 62 Millionen Franken kommt. Die Betriebsrechnung von Amnesty International weist Erträge aus Mitgliederbeiträgen und Spenden aus – kleinere Einnahmen machen die Rechnung komplett. Da die Menschenrechtsorganisation viel mit öffentlich wirksamen Aktionen arbeitet, ist es nicht angebracht, alle Ausgaben für Publikationen und ähnliches den Spendeneinnahmen gegenüberzustellen. Erst im Anhang 3c) der Rechnung finden sich die Ausgaben für das Fundraising: 2.8 Millionen Franken.

Form von Spenden. Zusätzlich kriegt die Organisation gut 8 Millionen von Institutionen. Die gesamten Einnahmen übersteigen die Grenze von 110 Millionen Franken. Der grösste Teil davon stammt vom DEZA und ist für konkrete Projekte gebunden. Demgegenüber stehen Ausgaben für Geschäftsstelle und Fundraising von 9.5 Millionen Franken.

Zahlen Amnesty International: • Einnahmen: 16 Mio. • Davon 4 Mio. aus Mitgliederbeiträgen und 8.7 Mio. aus Spenden • Ausgaben Fundraising: 2.8 Mio. • Was für Projekte übrig bleibt: 5.9 Mio. = 67%

Fazit: Die normalen Spenden, die zu Helvetas gelangen decken gerade die Ausgaben, die für die Administration und die Werbung ausgegeben werden. Helvetas könnte gut und gerne auf das die Werbung verzichten und sich auf die Projektbeiträge des DEZA konzentrieren. Die hier aufgelisteten Spendeneinnahmen und Ausgaben sollen einzig das Verhältnis zwischen Spendenvolumen und Ausgaben für Administration und Fundraising widerspiegeln. Die untersuchten Organisationen gehen in der Mittelbeschaffung und der Projektarbeit sehr unterschiedlich vor und sind daher nicht einfach zu vergleichen. Aus den Jahresrechnungen ist nicht ersichtlich, ob die Projekte, die mit den Spenden finanziert werden, auch Sinn machen. Möglich wäre, dass eine NGO, die viel Geld für Fundraising ausgibt, mit dem übrig gebliebenen Geld die effektivsten Projekte unterhält. Möglich wäre, dass World Vision, obwohl 81.5 Prozent der Gelder ankommen, die schlechteste Arbeit verrichtet. Leider zeigen die Jahresrechnungen nicht genau, ob beispielsweise das Geld in den Projekten für wahnsinnig hohe Löhne der Helfer verbraucht wird, oder den Bedürftigen fast eins-zu-eins zu gute kommen.

Fazit: Im Gegensatz zu WWF setzt Amnesty International die Ausgaben für das Fundraising wesentlich geschickter ein. Mit Fundraising sollte mehr Geld eingenommen, als ausgegeben werden. Die EvB arbeitet äusserst sparsam. Muss sie auch, ihre Einnahmen betragen gerademal etwas über drei Millionen Franken. Zahlen EvB: • Einnahmen: 3 Mio. • 49% davon = 1.5 Mio. stammen aus Spenden • Mitgliederbeiträge machen 31% = 967 468 CHF aus • Die Mitgliederbetreuung (4 Prozent), Mitgliederwerbung (1 Prozent) und Mittelbeschaffung (1 Prozent) kosten die Erklärung von Bern nur gut 192 000 Franken. • Der administrative Aufwand mit Personalkosten und das Marketing belaufen sich auch 850 000 Franken.

Zahlen Helvetas: • Spendeneinnahmen: 11.6 Mio. • Einnahmen von Institutionen: 8 Mio. • Die gesamten Einnahmen von 110 Millionen Franken. • Ausgaben für Geschäftsstelle und Fundraising von 9.5 Millionen

* Simon A. Jacoby, 23, Co-Chefredaktor von dieperspektive, Student der Politologie und Publizistik- & Kommunikationswissenschaft und aktiver Politiker, aus Zürich

Fazit: Die EvB gibt ihr Geld sehr behutsam aus. Für die Beschaffung von neuen Geldern und Mitgliedern wird kein Rappen zu viel ausgegeben. Von den zur Verfügung stehenden drei Millionen Franken kommen 68 Prozent direkt bei den Projekten an. Auf der Homepage von World Vision steht stolz, dass im Fünfjahresdurchschnitt 81.5 Prozent der Spenden direkt in die Projekte gelangen. Ungefähr stimmt das sogar. Das meiste Geld kriegt World Vision ausschliesslich zweckgebunden. Zahlen World Vision: • Von den knapp 58 Millionen budgetierten Franken kommen fast 47 Millionen bei den Projekten an. • 43 Mio. bleiben für die reine Projektarbeit übrig • Spenden, die Mitgliederbeiträge und das Sponsoring machen zusammen 350 000 aus. • Für die Mittelbeschaffung gibt die Organisation, die vor allem Patenschaften vermittelt, fast 5.5 Millionen Franken aus. • Personalkosten im Inland: 4 Mio. Fazit: World Vision gibt mehr Geld für die Mittelbeschaffung aus, als für die Not- und Katastrophenhilfe ausgegeben wird. Dass innert fünf Jahren 81.5 Prozent der Spenden in die Projekte fliessen, ist jedoch ein sehr guter Wert. Helvetas kriegt von den Schweizern 11.6 Millionen Franken in

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HINTERGRUND 26. Ausgabe, April / Mai 2013

«Regierungsräte sind keine Models.» {Interview} * Simon A. Jacoby {Fotos} zvg / Davide Loss

Mario Fehr sitzt seit zwei Jahren für die SP im Zürcher Regierungsrat. Im Gespräch geht es um Macht, glaubwürdige Asylpolitik und wie Fehr aus Populismus Politik für alle statt für wenige macht. Herr Fehr, in Ihrer Lieblingsserie «Two and a half men» ertränkt der Protagonist, Charlie, seine Unsicherheiten in Whisky und lebt ganz für den Moment. Das passt so gar nicht zu Ihnen als Politiker, der mit seinem strategischen Vorgehen Unsicherheiten und Niederlagen zu vermeiden sucht. Die Serie gefällt mir trotzdem sehr gut. Aber als Regierungsrat ist es meine zentrale Aufgabe, strategisch und politisch vorauszudenken. Ich führe eine Direktion mit 4500 Mitarbeitenden, die Aufgaben der öffentlichen und sozialen Sicherheit und in der Sportförderung wahrnehmen. Es ist meine Pflicht, für meine Mitarbeitenden möglichst gute Voraussetzungen zu schaffen, damit sie den Zürcherinnen und Zürchern hervorragende Dienstleistungen bieten können. Dafür braucht es politische Mehrheiten: im Regierungsrat, im Kantonsrat und bei Volksabstimmungen. Jetzt nimmt es mich umso mehr wunder, warum Sie gerne "Two and a half men" schauen… Seit ich Sicherheitsdirektor bin, schaue ich ohnehin viel mehr Krimis: Regelmässig den Tatort, aber auch amerikanische Serien wie «The Mentalist» oder «Navy CIS». Da erstaunt es mich immer wieder, mit welchen Technologien und wie forsch die amerikanischen Ermittler vorgehen. In unserem Rechtsstaat ginge das nicht, unsere Polizei tritt da sehr viels respektvoller auf. Aber wenn die Frage auf meine Begeisterung für die Rolle des Charlie abzielt: Vielleicht gefällt er mir so gut, weil er das pure Gegenteil von mir darstellt: Whisky trinke ich kaum, Alkohol auch sonst nur zurückhaltend. Ich habe gerade einen alkoholfreien Monat hinter mir. Das habe ich auch mal gemacht. Ist gar nicht so einfach. Finde ich eigentlich nicht! Wenn ein Politiker Mühe hat, einen Monat keinen Alkohol zu trinken, muss er sich ein paar Fragen stellen… Liegt Ihnen das strategische Handeln auch persönlich? Auf jeden Fall. Ich versuche Erfolg zu haben und verliere nicht gern. Und wer nicht verlieren will, muss vorausdenken.

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Haben Sie bewusst eine Machtposition angestrebt? Wenn Macht bedeutet, dass ich gestalten kann, dann ja. Ich setze sehr gerne um. Schon in der Lokalpolitik in meiner Heimatgemeinde Adliswil habe ich mich in der Exekutive wohler gefühlt als im Parlament. Auch das Präsidium des Kaufmännischen Verbandes der Schweiz hat mir Spass gemacht. Keine kritische Distanz zur Macht wie sonst bei Linken üblich. Nein, wenn Macht die Gestaltungsmöglichkeit meint, eine gerechte Sache durchzusetzen. Wer sich in eine Exekutive wählen lässt, muss an dieser Gestaltungsmacht interessiert sein. Die

nung finde, muss ich dafür sorgen, dass es in Ordnung kommt. Sie hatten in Ihrer politischen Karriere oft mit Sicherheit zu tun: Früher sicherheitspolitischer Sprecher der SP-Kantonsratsfraktion, dann Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrates, jetzt Sicherheitsdirektor. Zufall oder strategische Planung? Beides, aber wohl mehr Zufall. Als der jüngere der beiden neu gewählten Regierungsräte konnte ich nach den letzten Wahlen die Direktion nicht frei wählen. Die Sicherheit blieb übrig, für mich ein Glücksfall. Die Arbeit in diesem Politikfeld finde ich sehr spannend. Sicherheit ist ein elementares menschliches Grundbedürfnis. Was war der strategische Gedanke vor diesem Zufall? Im Kantons- und Nationalrat hatte es in den Reihen der SP immer viele Leute, die sich mit Bildungs- und Sozialpolitik auseinandersetzten. Und dies als Experten ihrer Disziplin auch immer hervorragend machten. Ich fand die Politikfelder, die nicht schon von vielen anderen besetzt waren, einfach spannender. Und dass ich jetzt der erste sozialdemokratische Sicherheitsdirektor des Kantons Zürich seit 70 Jahren bin, ist doch eigentlich eine echte Herausforderung … Was macht die Sicherheit so faszinierend? Die Wichtigkeit der Aufgabe. Sicherheit bedeutet, dass die Gemeinschaft für mich da ist, wenn ich in eine Krise gerate. Sei es als Opfer eines Verbrechens – dann helfen Polizei und Justiz –, oder weil ich aus verschiedenen Gründen wirtschaftlich und sozial durch alle Maschen falle.

«Macht» ist im Übrigen in der Schweiz sehr gut verteilt. Erfolg hat letzten Endes nicht, wer markig das Wort führt. Nur Lösungen, die man sauber mit allen Beteiligten ausgehandelt hat, werden auch von allen getragen werden. Hat sich Ihr Verhältnis zu Medien und dem Parlament geändert, seit Sie in der Regierung sitzen? In den Medien und in Parlamenten sind viele Leute, die Ungerechtigkeiten anprangern und aufdecken wollen. Das ist sehr wichtig und das braucht es unbedingt. Damit kann ich mich nicht begnügen. Wenn ich etwas nicht in Ord-

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Fühlen Sie sich sicher? Ja. Ich habe zwar Respekt vor Gefahren. Trotzdem: Ich fühle mich sicher. Wir haben eine äusserst tiefe Verbrechensrate. Wenn beruflich und privat alle Stricke reissen und keine Versicherung mehr hilft, bewahrt uns die Sozialhilfe vor dem totalen Absturz. Abgesehen von der Sicherheit setzten Sie auch immer auf sehr populäre Themen. Um zu gefallen? Nein. Politik kann nicht immer nur gefallen, sie soll auch Grundsätze pflegen. Aber sie muss auch den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden. Ein Beispiel: Radio Energy sollte keine Konzession mehr erhalten, obwohl viele Menschen es gerne hören. Ich verstand nicht, wes-

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halb dieser Sender keine Konzession mehr bekommen sollte und habe mich deshalb für ihn stark gemacht. Also sind sie ein Populist? Ich mache Politik für alle statt für wenige. Wenn das Populismus ist, kann ich damit gut leben. Mein Eindruck: Sie vertreten einerseits unideologisch die linken Grundwerte wie Chancengleichheit und Gerechtigkeit und andererseits setzen Sie auf die aktuellen Bedürfnisse der Menschen, um sich zu profilieren. Selbstverständlich vertrete ich linke Grundwerte. Und aktuelle Bedürfnisse dann, wenn sie sich mit meinen eigenen Werten decken. Wichtig ist, dass möglichst alle einen Ansprechpartner finden. Ein grosses Gemeinwesen wie der Kanton Zürich kann nur funktionieren, wenn die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass in der Politik jemand ihre Anliegen ernst nimmt. Haben Sie bei den Wahlen das beste Resultat

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erzielt, weil Sie die Grundwerte am geschicktesten mit den aktuellen Bedürfnissen gebündelt hatten? Wahlen sind stark von zufälligen Begebenheiten geprägt… …dermassen viele Stimmen sind kaum Zufall. Es unterstützten mich viele Gruppierungen, weil ich mich seit Jahren für sie eingesetzt habe. Tibeterinnen und Tibeter, Juden, Lesben und Schwule, Sportler und Sportlerinnen. Ich bin davon überzeugt, dass wir nur funktionieren, wenn sich auch gesellschaftliche Minderheiten in der Politik ernst genommen fühlen. Das gute Ergebnis war also zum Teil logische Folge meiner jahrelangen politischen Arbeit. Der Rest war Zufall. Welchen Preis bezahlen Sie für Ihre Arbeit als Regierungsrat? Ich bezahle keinen Preis. Ich erhalte ein Einkommen, ein sehr gutes übrigens. Sie müssen keine Abstriche machen? In der

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Freizeit zum Beispiel? Doch sicher, aber wer nicht regieren will, muss es auch nicht tun. Meine Reisen in die Himalaya-Region sind sicher kürzer geworden und ich verpasse ab und zu ein Fussballspiel, das ich gerne gesehen hätte. Aber in einem solchen Amt soll man nicht jammern. Ich habe eine herausfordernde Aufgabe mit viel Gestaltungsraum. Eine gewisse Grundanspannung ist aber selbstverständlich immer da, weil im Einflussbereich meiner Direktion natürlich ständig eine Krise möglich ist. Wichtig erscheint mir, sein Privatleben abschirmen zu können. Und das gelingt mir in aller Regel recht gut. In den ersten Wochen nach Amtseinführung sahen Sie nicht sehr entspannt aus. Das stimmt, die Einarbeitungszeit war recht herausfordernd. Aber Regierungsräte sind ja auch keine Models, die immer gut und entspannt aussehen müssen. Fortsetzung Seite 12

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Wie weit planen Sie? Meine politischen Pläne gehen bis zum Ende dieser Legislatur, also bis 2015. Kandidieren Sie in zwei Jahren nochmals für den Regierungsrat? Ja. Sofern ich gesund bleibe möchte ich acht bis zwölf Jahre Regierungsrat sein. Das bedingt naturgemäss, dass mich die eigene Partei wieder aufstellt und die Zürcherinnen und Zürcher mich wieder wählen. Wie hat sich das Verhältnis zur eigenen Partei verändert seit Sie Regierungsrat sind? Da hat sich für andere mehr verändert als für mich. Am Anfang getraute sich kaum jemand, mich irgendwohin einzuladen, weil sie dachten, ich sei ohnehin immer ausgebucht. Das hat sich inzwischen gebessert. Zur Kantonsratsfraktion und der Partei habe ich einen sehr intensiven und guten Kontakt. Gibt es keine Konflikte mit der Fraktion? Die SP ist sehr gut geschult im Umgang mit ihren Exekutivmitgliedern. Da haben andere Parteien mehr Probleme. Als langjähriges Mitglied des Kantonsrates und Vize-Präsident der SPFraktion, weiss ich, was die Kantonsräte von einem Regierungsrat erwarten. Die Fraktion akzeptiert problemlos, dass die Zürcher Regierung eine Kollegialbehörde ist und der eigene Regierungsrat mal eine andere Meinung als sie haben kann. Und sie weiss, dass kein Regierungsrat sein Parteiprogramm eins zu eins umsetzen kann – sofern er überhaupt alles gut findet, was da drin steht. Sie lachen. An welchen Punkt im SP-Parteiprogramm denken Sie? Als Militärdirektor des Kantons Zürich kann und will ich beispielsweise nicht gegen die Armee sein. Ich war immer für die Schweizer Armee. Kommen Sie noch in Kontakt mit der Basis der SP? Ja, sicher, im Tram, auf der Strasse, an öffentlichen Veranstaltungen. Zum Beispiel an die Generalversammlung meiner Heimatsektion, der SP Adliswil. Daneben bin ich zu vielen Anlässen der gesellschaftlichen «Basis» eingeladen, die ich sehr gerne besuche. Sei es ein Turn- oder Schützenfest oder die Jahresversammlung der Pensionierten-Vereinigung der Kantonspolizei. Was meinen Sie zu diesem Sprichwort: Feind, Erzfeind, Parteifreund? Dies entspricht nicht meiner Erfahrung. Natürlich gibt es innerparteilichen Wettbewerb, aber ich habe diesen immer als fair erlebt. Überhaupt gibt es in der Schweiz noch eine Kultur der Fairness auch in der Politik. Allerdings

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müssen wir zu ihr Sorge tragen. Sie sind Vorsteher von sechs Ämtern. Welches braucht die grösste Aufmerksamkeit? Alle erhalten die gleiche Aufmerksamkeit. Es sind mehr einzelne Politikfelder, die mich stärker fordern als andere. Gefordert bin ich sicher in der Migrations- und Asylpolitik. Mit dem neuen Asylzentrum in Zürich haben Sie bald noch mehr zu tun. Das Gegenteil ist der Fall: Es entlastet uns. Wir begrüssen, dass das Asylzentrum nach Zürich kommt. Wenn die Behörden das Asylrecht pragmatisch vollziehen, wie das mit dem neuen Verfahren des Bundes in Zusammenarbeit mit den Kantonen der Fall ist, bieten wir Hand. Mir liegt viel an einer glaubwürdigen Asylpolitik. Die Leute sollen merken, dass Politik und Behörden ihre Aufgaben pflichtgemäss erledigen. Was verstehen Sie unter einer glaubwürdigen Asylpolitik? Eine glaubwürdige Asylpolitik gewährleistet für jeden Asylsuchenden ein faires Verfahren. Und vollzieht konsequent den rechtsgültig getroffenen Entscheid. Wer kein Asyl erhält, muss und soll wieder gehen. Wer Asyl erhält, wird willkommen geheissen und soll unterstützt werden, damit er sich schnell in unsere Gesellschaft integrieren kann. Die Schweiz kann das traditionell gut. Die Asylpolitik steht auch von links unter Kritik. Finden Sie die Schweizer Asylpolitik fair? Ich finde sie ziemlich fair. Unsere Standards, wie wir mit Asylsuchenden umgehen, sind im internationalen Vergleich anständig. Dafür dürfen wir von denen, die dableiben können, auch einen gewissen Respekt erwarten. Ich habe kein Verständnis gegenüber kriminellen Asylsuchenden. Ich habe Verständnis dafür, dass sie ein besseres Leben suchen. Aber wenn ich irgendwo auf der Welt zu Gast bin, benehme ich mich anständig, sonst muss ich die Konsequenzen tragen. Wissen Sie bereits, was Sie beim AsylgesetzReferendum abstimmen werden? Klar. Aber noch viel wichtiger ist, dass jetzt in Bund, Kantonen und Gemeinden die pragmatischen Kräfte das Heft in die Hand nehmen. Die Asylpolitik darf nicht länger denjenigen überlassen werden, die nur Probleme für ihre Zwecke instrumentalisieren. Die Bevölkerung erwartet von uns Lösungen und dies völlig zu Recht. * Simon A. Jacoby, 23, Co-Chefredaktor von dieperspektive, Student der Politologie und Publizistik- & Kommunikationswissenschaft und aktiver Politiker, aus Zürich

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das gewisse mass an egoismus {Text} * Andrea Häberlin

nicht vor langer zeit habe ich mir gedanken über einen natürlichen und akzeptablen egoismus gemacht. das bauchgefühl zu jener zeit: ganz komisch, so angespannt, ja ein formel-1rennen im bauch – es hört nicht auf, ich bin gestresst – unglaublich gestresst! kann ich denn nicht einfach sein? leben und leben lassen? sehr oft fällt es schwer, dem alltag und der umwelt gerecht zu werden. die frage: muss ich den das? so à la 100% job als erwartungserfüllerin? angsteinflössend: anderen dienen bevor ich mir selbst diene? ich möchte zuerst mir gerecht sein. «unbedingt - tu das!», meint die innere Stimme. gerne folge ich diesem rat und bin inmitten der schönsten zeit, die ich so noch nie erlebt habe. es ist Zufriedenheit. egoismus kennt viele synonyme: eigennützigkeit, selbstsucht, eigenliebe, ich-bezogenheit oder gar ich-sucht. alle beschreiben jedoch einen extremzustand, der jegliches mass ausser acht lässt. es kommt doch auf die gewisse dosis an – wie bei allem im leben, oder nicht? selbsteinschränkung beeinträchtigt nicht nur die soziale offenheit, sondern auch die kommunikationsqualität. zu deutsch – sich selbst zu verstellen, es allen recht machen und nicht zu sein, wie es der natürliche fluss automatisch einleitet, könnte zufolge haben, sich später nicht gleich aufmerksam gegenüber anderen menschen verhalten zu können. zugegeben:

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psychologie spielt keine zweite rolle, wenn es darum geht mit sich im «ok» zu sein. das ganze ist halt schon sehr essentiell, wenn man den richtigen lauf des lebens fühlen möchte. deshalb: einfach mal ego sein und machen, was man selbst wirklich möchte. meinetwegen termine absagen, verschieben oder mal blau machen, sofern es hilft das formel-1-rennen zu beseitigen. man kann es auch natürlichoder gesund-ego-sein nennen. und: es fühlt sich phänomenal an! aber achtung: alles mit mass, denn es ist ja nicht so, dass unsere gesellschaft den egoismus per se gleich honoriert – wäre ja auch zu einfach. * Andrea Häberlin, Publizistikstudentin, 20 Jahre beschäftigt sich viel mit Yoga, Nachhaltigkeit und der Frage «Wieso und weshalb bin ich?»Lernt nebenbei Schwedisch.

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5. SZENE Im Wohnzimmer das Alpha-Ichs. Beide in ausgelassener Stimmung. Das Alpha-Ich starrt dem Beta-ich plötzlich auf die Brüste und mustert fasziniert auch den Rest. Alles sehr leicht. Alpha-Ich: Wow. Sag mal, sind das meine Brüste? Meine Beine? Mein Hintern? Beta-Ich: Klar. Gefallen sie Dir nicht…? (Das Alpha-Ich sprachlos, offenbar ganz fasziniert, sich mal nicht im Spiegel, sondern in Natura zu sehen.) Beta-Ich: Ach so! Ich weiss, man stellt sich das Alles anders vor. Ganz anders. So vor dem Spiegel. Aber wenn man sie dann vor sich sieht, ich meine, so in echt, dann ist alles anders als man sichs vorgestellt hat. Ist mit vielem so. Hintern, Haare, ja, sogar die Stimme. Wenn man sich mal in echt sieht und hört. Ich meine nicht so im Spiegel oder auf Band oder auf irgend einem selbst gedrehten Film, sondern in echt….alles anders, als du es Dir vorgestellt hast - Sagen Sie im Institut. Die nennen das den Scheiteleffekt. Alpha-Ich: Scheiteleffekt?

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Superego2 {Text & Foto} Theresa Strack

Beta-Ich: Ja, das ist der Moment, wenn Du Dich im Spiegel siehst und Du glaubst, Du hast Deinen Scheitel links. Aber Dein Scheitel ist in Wirklichkeit rechts. Immer. Aber Du glaubst – so irgendwie aus verdrehter Gewohnheit – er ist links. Verstehst Du. Und so ist das mit vielem. Verdrehte Selbstwahrnehmung. Alpha-Ich Ich dachte, ich sei viel kleiner. (Stellt sich mit schon fast kitschiger Freude hinter das Beta-Ich und betrachtet "seinen" Rücken) Beta-Ich: Schon komisch – ich habe noch nie in echt meinen Rücken gesehen. Vielleicht im Spiegel, so verdreht und rückwärts, aber in echt…schöner Rücken. (betastet das Haar vom andern Ich, fast verträumt). Schönes Haar… Alpha-Ich: (fasst das Alpha-Ich spiegelgleich an den Händen, zwei glückliche "Schwestern") Glaub mir, wir sind absolut identisch.

«Sie haben den Fingernagel, die Haarprobe, die Hautschuppe. Wir haben die Lösung.» ZÜRICH/BERN/ST GALLEN – In ihrer Diplomarbeit an der Schauspielschule Zürich gehen die Studentinnen Eva Rolli und Theresa Strack der Frage nach, was passiert, wenn man sich selbst begegnet – in "echt". Eine Selbst-Findung der besonderen Art. Wir leben in einer Zeit, in der sich alles Erdenkliche kaufen lässt und sich Wünsche bis zum Gehtnichtmehr verwirklichen lassen. Im «grossen Supermarkt Leben» ist die Vielfalt an Möglichkeiten unüberschaubar und die Lebens-Zeit begrenzt. Das Gefühl, Chancen ungenutzt verstreichen zu lassen, ist kein schönes. «Ich wünschte, ich könnte mich zweiteilen.» Sagt Mensch dann gerne. Oder: «Ich muss jetzt einfach ganz bei mir sein.» Das Stück «SUPEREGO2. Einmal ich bitte.» denkt dieses Vorhaben weiter. Eine Frau (Eva Rolli) nimmt sich so etwas wie eine Auszeit, um ganz mit sich alleine zu sein. Dazu bestellt sie sich selbst nochmal. Ein Institut kommt solchen Kundenwünschen nach und liefert in einer Kiste ein zweites Ich (Theresa Strack). Und zu Risiken und Nebenwirkungen eine lebendige Packungsbeilage (Mathias Ott). Was am Anfang noch als reizvolles Spiel daher kommt (ich fress die Tote und du speckst sie ab), stellt sich in den folgenden Tagen und Wochen als eine ziemlich verzwickte Angelegenheit heraus. Die Frau teilt nämlich nicht nur Heim und Bett, sondern auch jegliche Geheimnisse, Gedanken und Träume. « SUPEREGO2.. Einmal ich, bitte.» Ist ein Diplomprojekt der Schauspielschule Zürich in Zusammenarbeit mit Theater Jetzt und Andreas Bissig (Musik). Die Studentinnen Eva Rolli und Theresa Strack haben gemeinsam mit Oliver Kühn das Thema recherchiert und eine Theaterfassung erarbeitet. Das Stück geht Themen wie Fremd- und Selbstwahrnehmung und Projektionen auf eine leichte und kurzweilige Art an. Reservation unter reservation.superego@hotmail.com Spieldaten:

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die räuber „dreckseele, du!“

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nach Friedrich Schiller regie: Markus Kubesch Premiere: 6. April www.theaterneumarkt.ch

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Über Egoismus - ein Essay {Text} * Dominik Wolfinger

Der Narzisst

In diesem Essay möchte ich den Begriff Egoismus definieren und seine Wichtigkeit im Überleben eines jeden Lebewesens sowie die Wichtigkeit des Egoismus in der Entwicklung des modernen Menschen aufzeigen. Egoismus wird dann interessant, wenn man ihn in ein Spannungsverhältnis zwischen Altruismus und Narzissmus bringt. Altruismus (vom Lateinischen alter, der andere) wird als Gegensatz zum Egoismus beschrieben, sprich Altruismus bedeutet «für den anderen leben». Richard Dawkins schrieb in seinem Werk «Das egoistische Gen» (Spektrum Verlag, 2007): Ein Organismus, beispielsweise ein Pavian, gilt als altruistisch, wenn er sich so verhält, dass er

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das Wohlergehen eines anderen, gleichartigen Organismus auf Kosten seines eigenen Wohlergehens steigert. Egoistisches Verhalten hat genau die entgegengesetzte Wirkung. Demnach ist Egoismus (vom Lateinischen ego, ich) das Verhalten, welches das eigene Wohlergehen erhöht, jedoch auf Kosten von anderen. Der egoistische Pavian würde also seinen Paviankollegen vorsätzlich schaden, um sich selbst zu bereichern. Wie verhält es sich nun mit dem Narzissmus? Narziss war der schöne Sohn des Flussgottes Kephissos, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte. In einem der verschiedenen NarzissMythen erkennt Narziss sein Spiegelbild, welches er im Wasser sieht, nicht mehr als sein eigenes und als er sich dem schönen Bilde nähert,

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fällt er ins Wasser und ertrinkt. Egal welchen Narziss-Mythos man verwendet, alle enden in einer Tragödie. Demnach führt die bedingungslose Liebe zu sich selbst und die damit verbundene Lieblosigkeit gegenüber allen anderen immer in die Katastrophe. Narziss sieht sich also als wichtiger an als alle anderen und verliert durch die Vernarrtheit in das eigene Ich den Kontakt, die Sympathie und Empathie mit der restlichen Welt. Anhand dieser drei Definitionen wäre also der Altruismus die einzige Form, die per Definitionem etwas «Positives» mit sich bringt. Bleiben wir nun bei dem altruistischen Pavian von Dawkins und führen mit diesem ein Gedankenexperiment durch, so wird sich herausstellen, dass die vorhandene Definition von

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als Altruist sich selbst schadet, da er Hunger Egoismus unzureichend ist und dass Altruisleidet, und als Narzisst sich selbst schadet, weil mus keineswegs die «positive» Art und Weise er dadurch seinen Kameraden schadet, auf die zu leben ist (weder für den Pavian noch für den er angewiesen ist. Doch Papio findet die LöMenschen). sung im Egoismus, wenn er zwar einen Teil der Der Pavian, nennen wir ihn Papio, lebt in eiFrucht für sich behält, sodass er leben kann, jener gemischten Gruppe, was bedeutet, dass sodoch den anderen Teil der Frucht einem Artgewohl Männchen wie auch Weibchen vorhannossen spendet; nur so kann er zum vollkomden sind. Unsere Paviangruppe lebt unter und menen, egoistischen Wohlergehen kommen. auf einem Baum in der Savanne und ernährt Dabei spendet Papio die Frucht nicht, weil er sich von diesem. Alle Paviane pflücken also die ein guter Pavian sein möchte, sondern nur, um Früchte dieses Baumes und verzehren sie. Auch die Gruppe, die ihn beschützt und von der er Papio pflückt eine Frucht, doch bevor er diese profitiert, zu stärken. Beide Taten, also das Beverspeist, sieht er, dass ein Pavianweibchen mit halten des einen Fruchtteils, wie auch das Spenihren Jungen keine Frucht erhaschen konnte. den des anderen Fruchtteils basieren auf egoNun steht Papio vor einem Konflikt. Einerseits leidet er selbst grossen Hunger, andererseits würde er gerne die Frucht der Pavian-Mutter geben, sodass diese damit ihre Jungen ernähren könnte. Eine Tat, die dem Wohlergehen der gesamten Paviangruppe nützen würde, da die Jungen durch die Nahrung überleben und gross und stark werden. Papio entschliesst sich für die altruistische Tat und schenkt dem Pavianweibchen die Frucht. Leider muss nun Papio hungern, da er keine Frucht mehr hat, der Baum keine weiteren Früchte trägt und kein Pavian seine Frucht mit ihm teilt. Als der nächste Tag anbricht und die Paviangruppe zum nächsten Baum zieht, hat Papio aus den Konsequenzen der letzten Nacht gelernt und wird zum Narziss. Papio will nie wieder Hunger leiden und sieht sich selbst als viel zu wichtig, viel zu schön und als viel zu besonders an – im Gegensatz zu den anderen Pavianen. Am neuen Baume angekommen, greift Papio also aus totalem Eigennutz nach jeglicher Frucht und verzehrt diese. Doch sehen seine Pavianfreunde überhaupt nicht gerne, dass Papio sämtliche Narziss von Bencz-r Gyula 1881 (Ungarische Nationalgalerie Budapest) Früchte des Baumes frisst und sie istischen Motiven. Man könnte hier von einem verstossen ihn aus der Gruppe, da er als Parasit, «gesunden Egoismus» reden, also einem Egoisals Schädling, angesehen wird. Alleine kann Pamus, der den anderen nicht schadet, von dem pio in der gefährlichen Savanne nicht überleben man jedoch selbst profitiert. Ich würde hier von und daher kehrt Papio zu der Gruppe zurück dem «wahren Egoismus» sprechen, da, wenn und entschuldigt sich. In dieser Nacht denkt der Egoismus letztlich das eigene Überleben siPapio über seine Tat nach und erkennt, dass er

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chern soll, man die Gemeinschaft, in der man lebt ebenfalls pflegen muss. Sei es auch nur, um daraus zu schöpfen. Eine kleine, anschauliche Fabel, die den negativbehafteten Begriff Egoismus relativieren soll. Jedes Lebewesen wird vom Selbsterhaltungstrieb – der stärkste Trieb, den es besitzt – geleitet. Nur durch diesen Trieb kann ein Lebewesen fressen, sich fortpflanzen und eine Gemeinschaft aufbauen. Der Mensch als «höher entwickeltes Tier» steht mehr als jedes andere Tier im Verhältnis zwischen der persönlichen Entwicklung und der Entwicklung der eigenen Art. Noch nie war die eigene Entfaltung, das Leben des eigenen Traumes so populär wie heute. Die Gemeinschaft hat dem Individuum Platz geschaffen. Doch auch die eigene Entwicklung liegt zwischen Altruismus, Egoismus und Narzissmus. Auch wenn Papio nur ein Pavian ist und seine Entwicklung sich vorwiegend auf das Überleben konzentriert, so lässt sich doch seine Geschichte auf den modernen Menschen übertragen. Ein Altruist, der sich selbst schadet um anderen zu helfen, wird zwangsweise selbst zum Opfer der Bedürftigen. Ein Narzisst, der sich selbst über alles und jeden stellt, wird sich selbst schaden, da er zwar seine Konkurrenten ausschalten kann, jedoch sich mit niemandem mehr binden kann. So bleibt nur der Egoismus, um sich selbst zu schützen und das Bestmögliche für das eigenen Selbst zu bekommen, sei es nun in der Karriere, der Familie oder der persönlichen Entwicklung. Nur auf diese Weise kann ein Mittelweg des Nehmens und Gebens entstehen, ohne jemand anderem zu schaden. Denn einem anderen Schaden zuzufügen, schadet schlussendlich einem selbst. * Dominik Wolfinger, Jahrgang 88, Liechtensteiner. Dramaturgiestudent.

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Der neue Mann im Hamsterrad {Text} * Myriam Stucki

Er ist gut gebildet, Unterstützer der Gleichberechtigung und vielleicht Familienvater. Er verkörpert den «neuen Mann». Ein Ergebnis unseres Gesellschaftswandels und das Pendant zur emanzipierten Frau. Doch etwas hindert ihn daran, sich in der neuen Rolle wohl zu fühlen - sein Egoismus. Lieber versinkt er in Passivität und Selbstmitleid. Die emanzipierte Frau, wer kennt sie nicht. Ihre Probleme, ihre Herausforderungen und Bedürfnisse. Neben dieser modernen Weiblichkeit, die Kinder und Beruf, Sexyness und Organisation unter einen Hut bringt, steht nun der neue Mann. Meist aus gehobenem Bildungssegment und Milieu soll er seinen Mann stehen. Nicht mit Machismus, sondern mit Sprache, Kommunikation, Empathie und einem offenen Umgang mit Gefühlen (liest man in den Medien). Aber irgendwie fühlt er sich nicht so richtig wohl in seiner Haut. Er ist überfordert mit den hohen Ansprüchen der Gesellschaft, der Frau, des Kindes, des Arbeitgebers und der Freunde. Und so sucht er seine Identität und sein ideales Rollenbild. Es gibt kein dominantes Muster, das für Männer attraktiv und im Alltag einfach zu praktizieren ist. Ein Beispiel: Die Frau theoretisch für einen beruflichen Wiedereinstieg zu unterstützen, ist für ihn eine klare Sache. Der moderne Mann teilt ja schliesslich die emanzipierte Normenperspektive der Partnerin. Doch mit der Umsetzung im Alltag haperts noch mächtig. Einerseits weil er nicht wahrhaben will, dass die Berufsrückkehr der Frau eine Frage der Organisation ist - warum sollte er nun sein Arbeitspensum reduzieren? Andererseits wegen der Furcht vor Karrierenachteilen. So sind in obersten Führungsetagen denn auch keine dieser neuen Männer zu finden. In Theorie und Gespräch sind die Männer zwar bereit, eine neue Rolle einzunehmen, können sich aber nicht von alten Bildern befreien. Der neue Mann kommt nicht voran. Die Kluft zwischen den mentalen Geschlechtsidentitäten der Männer und ihrem praktizierten Verhalten ist gross. Und ich wage zu behaupten, dass diese Kluft nicht durch Unvermögen entsteht, sondern aus egoistischem Denken. Ja, richtig gelesen. Schon wieder eine dieser Rollenzuschreibungen. Aber es ist wissenschaftlich erwiesen: Der Mann ist egoistischer als die Frau. Und Egoismus macht unglücklich. Wer altruistisch handelt ist glücklicher, gesünder und lebt länger. Darum leben Frauen länger. Und sind vielleicht glücklicher in der neuen Rolle. Vielleicht. Warum handeln Männer, vor allem junge Männer, egoistisch?

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Eben wegen dieser oft gehörten und gelesenen Rollenzuschreibung? Forscher haben herausgefunden: Mann und Frau unterscheiden sich kaum. Ihre Differenziertheit wird hauptsächlich durch die Gesellschaft manifestiert. Priming nennt sich das. Wer also andauernd gesagt bekommt, er oder sie sei empathisch, der wird empathisch. Wer dauernd egoistisch genannt wird, ist egoistisch. Die Gesellschaft ist also Schuld an der Misere der Männer und ihrer neuen Rolle. Ja, auch wir Frauen drücken ihnen gerne den Stempel auf: UNFÄHIG. UNKOORDINIERT. EGOISTISCH. Fazit: Die Männer kriegen gewisse Rollenbilder von der Gesellschaft zugeschrieben. Dabei hassen sie Fremdbestimmung. Sie wollen sich nicht verweiblichen sondern richtige

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Männer bleiben, begehrenswert. Selbst ist der Mann, hoch seine Ziele, wichtig seine Projekte, am wichtigsten. Er hängt am Alten und will das Neue, verstrickt sich im Wollen und Können und befreit sich aus der Zwangslage, in dem er nach altbekannten Mustern handelt. Er setzt sich Prioritäten, handelt egoistisch, zu seinem Vorteil und macht trotzdem immer keinen Schritt vorwärts. Aber nur wenn BEIDE Geschlechter vornehmlich altruistisch handeln, wird die Gleichberechtigung funktionieren. Und ER glücklicher sein. Und länger leben.

* Myriam Stucki, Texterin, 31 Jahre, riesiges Interesse für Kunst-, Musik- und Gesellschaftsthemen. Mutter von 2 Kindern.

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Gelebter Egoismus {Text} Barbara Sonderegger

«Herr Herrlich, wollen Sie die hier anwesende Frau Dämlich zu Ihrer rechtmäßigen Ehefrau nehmen?» «Ja, ich will», antwortet er herrisch. «Frau Dämlich, wollen Sie den hier anwesenden Herrn Herrlich zu Ihrem rechtmäßigen Ehemann nehmen?» «Nein», sagt sie in vortrefflichem Ton. «Hast du ‚Nein’ gesagt?», fragt er verdutzt. «Ja, nein!», bestätigt sie. «Da Sie nicht beide die Traufrage mit Ja beantwortet haben, erkläre ich, der demokratisch gewählte Inhaber des Pfarramtes, Sie nicht im Namen des Gesetzes zu Mann und Frau, pardon, also schon im Namen des Gesetzes, aber ich erkläre nicht, also doch, ich erkläre schon, und zwar im Namen des Gesetzes, ich bin gesetzlich gesetzter Pfarrer, ich erkläre, dass Sie nicht Mann und Frau sind, also schon Mann und Frau, aber nicht... Zum Teufel! Ich verheirate euch nicht, ich traue euch nicht, verlasst meine Kirche!» Der Pfarrer verschwindet ganz aufgelöst in einer der Türen hinter dem Altar. Frau Dämlich rennt lachend los, Richtung Ausgang, bleibt nach wenigen Schritten nochmals stehen, dreht sich um, wirft Herrn Herrlich den Brautstrauss zu, rennt weiter, an allen Bänken vorbei, lässt die Hochzeitsgesellschaft zurück in ihrem schallendhallendem Lachen, knallt die Kirchenpforte derart zu, dass die Holzwürmer in den Bänken erzittern. Holzwürmer aufgepasst: Es folgt kein Text, in dem erhellt wird, dass die Frau sich emanzipieren und den Mann vor den Altar bitten soll, um ihn da – zur eigenen (Schaden-) Freude - stehen zu lassen. Es folgt auch nicht die Geschichte einer Frau, deren Freizeitbeschäftigung es ist, im Jahresabstand ein ‚Nein’ vor den Traualtar zu knallen, nur weil sie es irrsinnig komisch findet, wenn das Pfarramt an seinen Verspreche(r)n gebricht. Was folgt, ist nicht beschriebener Egoismus, auch keine Nutzwertanalyse oder anderwärtige Einschätzungen vom Egoistentum, nicht eine Bekehrung zur Nächstenliebe und auch nicht ein Pa-

Besingen den Liebesakt auf der Achterbahn: Neue Leichtigkeit

tentantrag für die Erkenntnis «alle Menschen sind Egoisten und nur Egoisten». Was folgt ist gelebter Egoimus: Ich textiere euch vor den Altar! Vor den Altar von Europa – DNL! DNL steht nicht für Det Norske Luftfartselskap, die tote norwegische Fluggesellschaft, nicht für Deutsche Nachwuchsliga, nicht für Differenzielle Nichtlinearität, nicht für Dokumentation Natur und Landschaft, und schon gar nicht für Dynamic Noise Limiter. DNL (Schluss jetzt mit diesem destruktiven, alles verneinendem Nicht) steht für «die neue Leichtigkeit». Europa – die neue Leichtigkeit, heisst die Band, die Hochzeit und Analverkehr besingt, die es mit dem Liebesakt auf der Achterbahn auf die Spitze treibt und vom Höhepunkt aus dem Pfarrer auf der Kanzel zuruft: «Alles isch heilig.» Die anderen Titel auf ihrer CD sollt ihr nicht auf Papier erhalten. Ich textiere euch vor ihren Bühnenaltar! Europa –

die neue Leichtigkeit bezirzt die Schweiz. Der Beginn ihrer Tour ist bereits getan, doch auch im April werden sie spielen, in Zürich, Basel, Schaffhausen, Luzern. Ich textiere euch vor ihren Altar, weil ich erstens: Gelebten Egoismus betreibe, zweitens: Weiss, dass diese Band sich selbst übertrifft – in gewisser Weise dem Pfarrer ähnlich – wenn sie vor ungewohntes, neues Publikum gestellt ist und drittens: Ich mich nach genau solcher selbstübertreffender Leichtigkeit sehne. Was ich mit der Band gemeinsam habe, das Wahlversprechen: «Tanzt nach meinem/ unserem Willen und eurem Willen ist gedient.» Wählt bei eurer Konzertplanung für den April ‚Europa – neue Leichtigkeit’ und ihr werdet gelebtem Egosimus willig das Ja-Wort geben. Bleibt nicht wie faule Holzwürmer in den Bänken sitzen, informiert euch unter www.neueleichtigkeit.eu, nehmt mich beim Wort und wir sehen uns vor dem Altar. Halleluja!!!

{Text} Carla Cavazzutti

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{Fotomontage} * Daniela Meier


* Daniela Meier, Kauffrau, Absolventin des Gestalterischen Vorkurses an der HSLU Luzern, 24


EGOISMUS 26. Ausgabe, April / Mai 2013

Der etwas andere Tampon {Text} * Larissa Bernet

So ungefähr alle paar Wochen passiert es, in schlechten Zeiten kommt es sogar mindestens einmal in der Woche vor. Das ist wirklich beklagenswert, wenn man bedenkt, dass nicht einmal Katastrophen wie der El Nino oder die Menstruation so oft ihren natürlichen Lauf nehmen. Dieses sonderbare Phänomen hat nämlich eines mit der aus Südamerika und der der Frau gemeinsam: Es tritt immer genau dann ganz plötzlich auf, wenn man gerade gar nicht damit rechnet und es vor allem überhaupt nicht gebrauchen kann. Was ja eigentlich logisch ist, weil es halt eben NIE erwünscht ist. So überkam letzthin diese unangenehme Naturerscheinung auch mich: die Langeweile. Gut gelaunt, topfit und zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich ein wenig naiv, schaue ich gemütlich von meinem Lieblingsplätzchen aus fern. Die Ausgangslage: Samstag, endlich mal nichts zu tun und einfach nur relaxen. Ich vergesse alles andere und gebe mich voll und ganz der Mattscheibe hin. Während meine vollkommene Aufmerksamkeit, und nicht nur diese, sondern auch meine ganze Wohnung, auf dieses Suchtobjekt ausgerichtet ist, fangen meine Gedanken an zu kreisen.

Wieder einmal ist Werbeunterbrechung, und ich muss mir diese blöden Kommentare über noch blödere Produkte von den blödesten Leuten anhören. Journalisten üben Kritik an Politiker, Behörden, Sportler, Gewerkschafter, Pädagogen, Wirtschaftsführer, Wissenschaftler, sogar an Wetterfröschen. Eigentlich so ziemlich an allem, überlege ich mir und spinne meinen Gedanken weiter: Nur an diese eine Spezies, die nervigste und ungehobelste Gruppe überhaupt, an die traut sich nicht mal ein hart gesottener Friedensanfechter ran: Die Werbemacher. Tag ein, Tag aus werden wir Konsumenten mit Sprüchen wie ‚Verdauung gut, alles gut‘ vergewaltigt. Scheinbar halten uns die Anbieter für so blöde, dass wir uns gar mit dümmlichen Models identifizieren sollten, die bei Tageslicht Parks unsicher machen, und schneller zu sprechen scheinen, als dies ihre Lippen vermuten lassen. Da ist doch Barbie noch authentischer. «Ich bin doch nicht blöd» würde ganz klar Mediamarkt zu diesem LC-1 Joghurt sagen und den viel zu hohen Preis für das Verdauungswunder nicht bezahlen. Das Programm läuft schon lange weiter, als ich erst merke, wie weit ich mit meinen Gedanken abgeschweift bin und in was ich mich hineingesteigert habe.

Hm, kein Wunder, dass ich nicht mehr sabbernd an der Lippe der Seriendarsteller hänge. Die Folge ist alt, und ich habe sie sicher bereits sechsmal gesehen, wenn nicht mehr. Irgendwie fühle ich mich auf einmal leer gesaugt, als ob die Flimmerkiste mich einer Hypnose unterzogen und alle meine kreativen Gedanken mit einem grossen Schluck verschlungen hätte. Nicht nur das, auch meine Freude am Nichtstun scheint sie mit einem einzigen Bissen gemampft zu haben. «Na toll!», denke ich mir. Mehr kommt mir eben nicht in den Sinn. Einzig, was mir jetzt noch helfen kann ist mein Plan für solche Notsituationen. Einst nach dem 3-Punktesystem entwickelt und auswendig gelernt, sollte mich dieser genau aus solch langweiligen Situationen, in denen man nicht länger fähig ist Ideen selbstständig zu produzieren, retten. «Hmmmm nur wie ging der schon wieder? Denk nach Larissa, denk nach!» Ich lass meinen Blick in meiner Gott sei Dank so übersichtli.

* Larissa Bernet, 23 Jahre alt, Vorkurs an der Kunstschule Winterthur. Schreiben ist für mich nebst Malen und Zeichnen eine weitere Kunstform, die ich für mich entdeckt habe und der ich in meiner Freizeit nachgehe.

Demokratie

Demokratie

Die Zukunft der Demokratie Theater Neumarkt Im Theater Neumarkt wird am 17. April eine Diskussion über die Zukunft der Demokratien in Europa geführt. Gäste sind Rolf Niederhauser, Schriftsteller und Ökonom, Suzann-Viola Renninger, Philosophin & Präsidium Schweizer Demokratie Stiftung, Gian Trepp, Ökonom und Peter Streckeisen, Soziologe & Beirat ATTAC. Die Moderation führt Roland Merk, Schriftsteller & Philosoph. Isolde Schaad, Ruth Schweikert sorgen für literarische Interventionen. Im Zentrum der Diskussion stehen die Bankenkrise und ökonomische Wetterlage in Europa. Weiter Infos auf theaterneumarkt.ch

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EGOISMUS 26. Ausgabe, April / Mai 2013

Ein bisschen {Text} * Pascal Woodtli

Das kleine Mädchen spielte etwas abseits von dem dafür vorgesehenen Platz, der mitten im Park lag und wahrscheinlich für Kinder, deren Eltern spazieren und entspannen wollten, eingerichtet wurde. Es standen einige Schaukeln und ein kleiner Sandkasten auf der mit Holzschnitzeln bedeckten Fläche. Das Mädchen sass im Gras der Parkwiese und untersuchte ein Grashalm. «Komm mal her, Kleine», ertönte eine schwache Stimme. Das Mädchen sah auf einer Bank im Schatten eine ältere Frau sitzen, die ihr freundlich zuwinkte. Sie zögerte und blickte umher, doch ihr Vater, der ihr gesagte hatte, sie dürfe den Spielplatz nicht verlassen, bis er zurück sei, war nicht zu sehen. «Wie ist dein Name, mein Kind?», fragte die Frau, als sich das Mädchen neben sie gesetzt hatte. «Anna», entgegnete sie. «Anna – ein schöner Name», sagte die Frau, «möchtest du, dass ich dir eine Geschichte erzähle, Anna?» Die Kleine nickte, machte es sich auf der Holzbank bequem und schaute die nette Frau erwartungsvoll an. Sie räusperte sich. «Als ich noch jung war, musste mein Mann in den Krieg. Ich hatte Angst, dass ich ihn nie mehr wiedersehen würde, denn ich hatte genügend Freundinnen, deren Männer nicht mehr zurückgekommen waren. Doch meiner kam zurück. Er wurde als Held gerühmt, denn er hatte ausserordentlichen Dienst getan: Nicht weniger als zweihunderteinundsechzig feindliche Soldaten hatte er erlegt. Alle mit demselben Gewehr. Er war ein Meisterschütze. Er hatte sich kaum verändert durch den Krieg, war immer noch derselbe wie der,

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den ich viel zu früh geheiratet hatte. Ich erinnere mich an die eine Nacht – es war schon Jahre nachdem er mit dem Arm in der Schlinge und dreckigen Militärklamotten vor der Tür stand und ich ihn ansprang vor Freude – als er schweissgebadet aufwachte und mich aufweckte. Ich fragte ihn, was denn los sei und so sagte er mir, es sei ihm gerade etwas klar geworden: Er fühle sich geehrt und er habe gerne dem Vaterland und all seinen Liebsten gedient mit dem grauenvollen Schiessen, aber ein bisschen habe er auch Freude empfunden – zweihunderteinundsechzigmal. Als ich dann hierherzog – ich war etwa dreissig – verliebte ich mich sogleich in einen Marathonläufer. Eigentlich war er Ingenieur, aber seine Liebe galt dem Sport. Ich bin dazumal auch noch häufig durch den Park gejoggt, um ein wenig Ausgleich von der Arbeit zu erhalten. Ich war Stenographin beim Gericht. So haben wir uns kennen gelernt. Ich war sein grösster Fan, immer dabei wenn er ins Ziel rannte, pflegte ihn, wenn er verletzt war. Als er dann den jährlichen Stadtmarathon das dritte Mal in Serie gewann, sagte er dem Interviewer, der ihn am Ziel abfing, nachdem ich zur Seite geschoben wurde, er fühle sich grossartig und es sei ein unbeschreibliches Gefühl, als Erster ins Ziel zu laufen, was wahrscheinlich auch ein bisschen davon komme, die zweitausend anderen Teilnehmer somit als Verlierer zu wissen. Ich trennte mich bald von ihm, weil ich merkte, dass er wirklich nur für den Sport lebte und ganz und gar nicht für mich, geschweige denn für eine Familie. Ich habe bald darauf einen alten Pianisten geheiratet, der sehr

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berühmt war, sehr sinnlich und sehr reich. Er hatte mich so fasziniert und ich war Feuer und Flamme für ihn, obwohl er viel zu alt war für mich. Ich liebte seine Musik und er spielte mir stundenlang vor, während ich ihm stundenlang zuhörte. Leider wurde er krank und wir wussten, dass wir nicht mehr viel Zeit hatten. Wir bereisten die Welt und kosteten seine letzten Tage gemeinsam aus. Ich war erfüllt von Trauer und Leidenschaft. Als wir dann auf dem Deck eines Kreuzers standen, der uns gerade über den Pazifik fuhr, fragte er mich, ob es mir egal wäre, wenn er sein Vermögen spenden würde. Ich sagte ihm, dass er mich das nicht fragen und einfach das tun solle, was er für richtig halte. Er hinterliess mir ein ordentliches Sümmchen, doch den grossen Rest spendete er an Hilfswerke. Auf dem Totenbett sagte er mir, er habe eigentlich nur grosszügig sein wollen, doch wisse er, dass er damit auch ein bisschen sein schlechtes Gewissen beruhigte. Er wollte mir jedoch nicht mehr sagen, aus welchem Grund er ein schlechtes Gewissen hatte. Naja, so wird man älter und jetzt bin ich eine alte Witwe, die jeden Tag in den Park kommt, um Kindern beim Spielen zuzusehen. Das macht mich irgendwie glücklich, wahrscheinlich weil ich mir immer so sehr eigene Kinder gewünscht habe.» Anna hatte aufmerksam zugehört, auch wenn es schwer war, der Frau zu folgen. «Warum willst du jetzt kein Baby mehr», fragte sie die Frau. «Ich bin viel zu alt, meine Süsse», lachte diese, «aber wenn du es mir erlaubst, kann ich deine Oma sein.» – «Ja, das wäre toll», rief Anna. Augenblicke später sah sie ihren Vater den Weg entlang kommen, sprang von der Bank und rannte zu ihm. Die alte Frau schaute dem Mädchen hinterher. Warum hatte sie ihr das erzählt? Sie verstand ja kaum was. Natürlich, sie wollte sie etwas lehren, etwas auf ihren Lebensweg mitgeben. Doch jetzt wo sie es losgeworden war, fühlte sie sich auch ein bisschen besser. * Pascal Woodtli, studierender Wirtschaftschemiker aus Winterthur, 24 und schreibt nur zur Erleichterung

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EGOISMUS 26. Ausgabe, April / Mai 2013

ich spreche also bin ich

Und alle wollen so vieles sagen. Alle wollen ihre Meinungen äussern und sind sich deren Richtigkeit so sicher, dass sie ungehemmt ihre Stimme anheben. Und so beanspruchen sie Raum für die Schallwellen, die sie mit ihren Stimmbändern durch die Luft schicken oder Zeilen auf Papier oder auf Internetplattformen. So ist jeder wichtig und nimmt sich wichtig. Und je mehr Worte man äussert, desto wichtiger wird man, so scheint es. Quantität über Qualität und gemeinsam sind wir einsam und verlieren uns im virtuellen Raum. Bis wir nur noch als perfekt bearbeitetes Profilfoto im Cyberspace untergehen. Geistige Treue scheint unmöglicher geworden als körperliche, denn wie verflüchtigt und zersplittert sind unsere multisozialen Geister geworden? Wie viele Identitäten beherbergt mein Dasein? Immer mehr Antworten werden hinausgeworfen in den Raum des Diskurses und immer weniger Fragen sind erlaubt oder als zu einfach eingestuft, da schon so viele Antworten vorhanden sind. Wir geben uns mitunter sehr schnell zufrieden, denn alles ist ja da. Was schön ist wiederum und dennoch besteht die Gefahr, dass wir das Wesentliche verpassen: «The unfamiliar is right below our eyes but we look for what we know», singen die Kings of Convenience in einem ihrer besinnlichen Folk Tracks, die man auf dem iTunes Store herunterladen kann. Horchen wir denn noch auf, wenn jemand unseren Namen ruft? Gibt es noch diesen jemand, von dem wir unser Leben lang gerufen werden möchten? Aus dessen Mund wir unseren Namen hören möchten, bis ans Ende? Diesen einen Namen, der unserer Identität ein paar Laute zuordnet? Und wie gerne stellen wir uns vor: Ich heisse x, ich verdiene mein Geld als y und wohne in z. Wie zufällig dieses x, dieses y und z unserem Ich zugeordnet werden. Und doch ist das ICH das wichtigste daran. Wir ordnen uns am liebsten selbst die Prädikate zu, da wir glauben, so unser Leben und mitunter auch den Blick der anderen auf uns unter Kontrolle zu haben. So kontrolliert das Ich die Blicke der Nicht-Ichs. Sagte man nicht einmal auch, dass wir unser Ich dank der Blicke der Nicht-Ichs definieren? Was würde Marc Zuckerberg dazu sagen? Was sage ich dazu? Was sagt die Menge aller Meinungen dazu? Google? Yahoo? Bei so vielen Meinungen muss es, statistisch gesehen, eine richtige Antwort geben. Vielleicht lautet sie «ich».

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* Julia Salome Nauer hat Germanistik und Philosophie studiert und ist freischaffende Texterin und Model und arbeitet in Paris.

{Text} * Julia Nauer

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KUNST- UND KULTURKOLUMNE 26. Ausgabe, April / Mai 2013

Rolandsky Wagner Bezzola Karasek: «Philipp Meier hat ein PLAKATIVES RIESEN-EGO!» {Text} * Philipp Meier {Foto} Connie Hüsser

Am Montag 18. Februar 2013 schrieb ich kommentarlos EGOISMUS 2013 in meine Facebook-Chronik. Darauf entstand folgender Thread:

Ein Text von meinen Facebook-FreundinnEn und mir. Am Donnerstag 21. Februar 2013 schrieb ich auf Facebook: heute schreibe ich die kolumne für die nächste diederspektive; wieder entlang der kommentare von euch (die umfrage lief eigentlich bereits, eigentlich...;) titel: EGOISMUS 2013 spannend finde ich, dass egoismus durchs band weg negativ bewertet wird. dabei würden wir ohne (massvollen) egoismus sehr schnell zu grunde gehen... Nach acht Minuten meldete sich Matthias Boss mit folgendem Kommentar: was ist eigentlich das EGO ? Hast du es schon angetroffen?

Ich entgegnete ihm: habe vorhin meine kinder am bahnhof meiner mutter übergeben (bis sonntag). da hat mir kurz mein ego freundlich zugezwinkert :) Simon Jacoby von diederspektive hat meine erste Kolumne folgendermassen kommentiert: ich finde den text gut. sehr dynamisch (was halt den inhalt etwas in den hintergrund rückt). mir gefällts. Seien wir ehrlich, in unserem Leben verläuft nie etwas derart linear und geordnet, wie ein «guter» Zeitungs- oder Buchtext. Deshalb lass ich hier alles etwas durcheinanderpurzeln. Das ist viel lebensnaher. Wo war ich? Richtig, bei «Egoismus 2013»

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Beni Blaser economius Philipp Meier (ich) endlich startet jemand mit einem kommentar. vielen dank lieber Beni aus den kommentaren hier soll die nächste kolumne für die Perspektive collagiert werden. also hopp, hopp, wer mitmacht ist supergeil... Insert des Autors: «Supergeil» heisst ein Musikstück von Der Tourist feat. Friedrich Liechtenstein, das ich damals gleich mehrmals teilte.

Beni Blaser ein bisschen geil ist schon geil, mein ego steht! Julian Fitze Inwiefern unterscheidet sich der Egoismus 2013 von Egoismus 2012? Unterscheidet er sich denn vom Egoismus 1956 oder gar Egoismus 1291? Michael Caviglia Egosuissemus Insert des Autors: Dafür kriegte Michael drei Likes.

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KUNST- UND KULTURKOLUMNE 26. Ausgabe, April / Mai 2013

Philipp Meier Julian: möchte damit einfach einen aktualitätsbezug herstellen. nur «egoismus» war mir zu allgemein. beim letzten text schrieb ich als ausgangslage auch nicht nur «hippie» sondern «hippie 2013». finde diesen aktualitätsbezug interessant. also: gibt es z.b. einen unterschied zu früher? Beni Blaser der unterschied zu 2012 ist, den multicheck und das diplom, gibt's dazu!

der notwendigen anpassung an ein system, das der webstruktur völlig zuwider läuft... aber zurück zu EGOISMUS 2013. könnte dies nicht auch ein systembedingter egoismus sein? wer egoistisch ist, gewinnt, kommt weiter, wird belohnt, ist cool, etc.pp. oder könnte es auch ein institutioneller egoismus sein. ein (ganz böses) beispiel: greenpeace hält die maschine nur deshalb am brummen, damit es überleben kann... Rolandsky Wagner Bezzola Karasek studien von professor fehr der universität zürich zeigen, dass (egoistischer) altruismus sich lohn, je grösser die sozialkontrolle. diese entsteht unter anderem auch durch märkte. leute die häufig mit einander verträge eingehen, verhalten sich weniger egoistisch...

Michael Caviglia Egonomiesuisse Insert des Autors: Dafür kriegte er nur noch ein Like. Julian Fitze Ein Jahr ist immer sehr beengend um über ein Thema wie Egoismus zu sprechen. Aber so allgemein würde ich sagen leben wir in einer Zeit wo Egoismus zur Alltagsphilosophie der Menschen (und nicht mehr nur der Abzöckerlis) wird. Das finde ich schade.

Philipp Meier ich habe genug. danke für eure beiträge....:)))))))) (kleiner scherz. aber vielleicht ist es besser, für einmal nicht zu viele inputs/argumente/positionen zu haben, entlang diesen ich mich schriftlich hangeln kann....) Julian Fitze bin ja mal gespannt, was du daraus bastelst und was du verwenden kannst.

Franziska Schutzbach Egoismus 2013 ist, wenn Leute wie Schirrmacher plötzlich Bücher wie "Ego" schreiben.

Philipp Meier das bin ich auch...

Philipp Meier ha, sehr gut, liebe franziska. vielen dank!!!

Insert des Autors: Dafür kriegte ich vier Likes; von Rolandsky Wagner Bezzola Karasek, Julian Fitze, Beni Blaser und Sabina Speich

Philipp Meier Julian: hm..., das ist mir zu klischiert. war es nicht schon immer so? (womit ich nicht geschrieben hätte, dass es heute besser wäre....;)))

Zwei Stunden später kam der bisher letzte Kommentar zu EGOISMUS 2013 rein:

Beni Blaser bestimmt war das immer so und damals kamen nicht nur pferde in die lasagne! Julian Fitze So lange wandle ich noch nicht auf der Welt um von immer zu sprechen, mir fällt auf dass Bekannte von mir in ihren Mitt-Zwanzigern jegliche gesellschaftlich, fortschrittlichen Ambitionen verlieren und sich eine Ideologie zulegen, bei der es sich nur um sich dreht, um die eigene möglichst angenehme Art des Lebens. War das schon immer so? Philipp Meier sehr richtig. «immer» ist ein (viel zu) starkes wort. was meinst du mit «gesellschaftlich-fortschrittlich»? Julian Fitze Ich habe mit dem Begriff versucht, eine Grundhaltung zu umschreiben, die für mich heisst, daran zu glauben, dass sich die Gesellschaft weiterentwickeln kann (in welche Richtung sei mal dahingestellt). Eine "politische Ambition" wär mir ein zu enger Begriff gewesen. Philipp Meier würde dies eher einer allgemeinen krise der institutionen zuschreiben. kleines beispiel: sass letzthin am stammtisch der piraten partei zürich. die redeten ca. 70-80% über irgendwelche formalitäten (wie wird formal korrekt kommuniziert; wie organisiert «man/fra» sich formal korrekt? wie viel formale präsenz wird einem parteiaushängeschild zugelassen? sie benutzten viele kürzel; wie übrigens auch in der roten fabrik gang und gäbe ist. etc. pp.). das hat jedoch wenig mit den piraten zu tun, sondern viel mehr mit

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Stefan Doepner unverschämt, ich protestiere, diese zeitliche einschränkung ist undemokratisch und ohne meinen senf kann das mal sowieso nix werden! Diese Kolumne möchte ich mit dem unkommentierten Abdruck einer persönlichen Nachricht schliessen, die mich am Dienstag 19. Februar 2013 erreichte; natürlich via Facebook: Lisa Funk Lieber Philipp, falls du noch am Verfassen bist schau da mal rein! http://de.m.wikipedia.org/wiki/Ibn_Chaldun#section_2 Ist ein spannendes Werk, die al muqhuadima von ibn chaldun und beschäftigt sich mit dem Begriff der Sippe als Grundlage für Zusammenhalt, Solidarität und die Garantie eines funktionierenden Staates! Was ja im Falle des Egoismus 2013 im totalen Gegensatz steht! Vielleicht wandelt sich aber eben dieser in eine neue Solidarität. Die Geschehnisse um die Minderinitiative und das Abgangsgehalt von Vasella lassen sich da gut gegenüberstellen. Vasella als auslaufendes Egomodell13 und die Minderinititive die notwendige Solidarisierung. So jetzt aber genug. Mach jetzt mal weiter Urlaub! Viel Spass beim Verfassen und freue mich auf's Lesen! Gruss aus Koh Tao Lisa

* Philipp Meier kennt sich in Zürich fast überall aus. Für uns schreibt er die Kultur- und Kunstkolumne. Antworte ihm auf leserbriefe@dieperspektive.ch und besuche ihn auf seinem Blog: http:// milieukoenig.posterous.com/

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EGOISMUS 26. Ausgabe, April / Mai 2013

KULTUR AM SONNTAG Studierende wünschen sich eine Predigt zu selbst gewähltem Bibeltext und Thema. Studierende der ZHdK gestalten die dazu passende Musik. Mit Nachgespräch zu Wunsch, Predigt und Musik.

«Sorglos leben»

Predigtwunsch von Julia Hartmann, Theologie Musik: Benjamin Ryser, Cello; Anna Tuena, Percussion; Ana-Cristina Silvestru, Flügel Predigerkirche, Sonntag, 14. April 2013, 11.00

«Frei leben»

Predigtwunsch von Franziska Wagner, Kommunikationswissenschaften und Sinologie Musik: Sébastien Schiesser, Saxophon; Ana-Cristina Silvestru, Flügel Predigerkirche, Sonntag, 12. Mai 2013, 11.00 Predigten: Friederike Osthof, Hochschulpfarrerin

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Wenn sogar der Papst zurücktritt {Text} Marco Büsch

An jeder Ecke hat man die Qual der Wahl: Was esse ich heute? Was lese ich? Welchen Partner wähle ich? Welchen Job? Was will ich überhaupt? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, was ich nicht will: Etwas verpassen.

kugel: Soll ich einen Toast mit Ei nehmen, einen Salat oder einen Burger? Und was für einen Burger: Chicken Beefy, Silberbeefy oder nur Beefy? Will ich meinen Silberbeefy mit Käse essen oder ohne? – Die Wahlmöglichkeiten scheinen unendlich, so dass bald einmal eine Übersättigung eintritt und statt etwas zu wählen, was vielleicht gar nicht schmeckt, wähle ich lieber etwas Altbewährtes, frage mich dann aber weiterhin, wie alles andere wohl geschmeckt hätte.

ten Optionen, die vielleicht im nachhinein besser gewesen wären. So wäre er wahrscheinlich auch von Vasella und der Novartis enttäuscht gewesen, haben diese doch das 72-MillionenKonkurrenzverbot-Paket unter dem medialen Druck nicht konsequent verteidigt, sondern es sogar zurückgezogen und auf diese Weise sogar indirekt zugegeben, dass ihr Handeln nicht in Ordnung war.

Letztens sass ich in der Silberkugel und ass einen Silberbeefy mit Käse. Jedes Mal, wenn ich mich in der Silberkugel hinsetze, schaue ich mir demonstrativ minutenlang die SpeisekarWelchen Zwischentitel soll ich wählen? te an, nur um dann doch einen Silberbeefy mit Aber seien wir ehrlich: Unsere Gesellschaft Käse zu bestellen. Neben mir sassen zwei junerodiert. Man lässt sich eine Cola aus dem AuMachiavelli wäre enttäuscht gewesen ge Mädchen, welche beide einen kleinen Salat tomaten, hätte aber lieber eine Fanta gehabt. Die Menüwahl im Restaurant scheint ja noch assen. Zumindest die eine, denn die andere reMan wählt den einen Job, kann dann aber den banal, aber natürlich lässt sich dieses Verhaldete unentwegt in ihr iPhone und unterbrach anderen dafür nicht haben. Man wählt im Stuten auf fast sämtliche Bereiche unseres Lebens ihren Redefluss nur manchmal kurz, um ihrer dium den einen Kurs, kann dann aber den anübertragen. Ich habe zum Beispiel letztens in Freundin neben sich mitzuteilen, dass der soderen – gleichzeitig stattfindenden – nicht beder Zeitung gelesen, dass die Hälfte aller Lehrundso sie also auch grüsse, die Freundin lächelsuchen. Man wählt möglichst früh ein Reiseziel stellensuchenden noch keine Lehrstelle gefunte dann nur höflich. Eine halbe Stunde später aus und bucht Billigferien dorthin, hatte ich fertig gegessen, während der nur um dann kurz vor der Abreise Salat noch immer unberührt vor ebenfestzustellen, dass es an einem andiesem iPhone-Mädchen stand und sie deren Ort billiger und schöner geimmer noch am telefonieren war. Ich «Aber seien wir ehrlich: Unsere Gesellschaft wesen wäre. Man hat die eine Frau, packte meinen Rechnungszettel und erodiert. - Man wählt möglichst früh ein Reikann sich aber nicht binden, weil ging zahlen. seziel aus und bucht Billigferien dorthin, nur man dann alle anderen nicht mehr haben kann. Hat man dann trotzDer Nutzen eines Silberbeefy um dann kurz vor der Abreise festzustellen, dem die anderen Frauen, verliert Die grosse Frage, die ich mir aber stelldass es an einem anderen Ort billiger und man aber die eine Frau und ist deste, war: Wieso verabredet man sich mit halb enttäuscht. Man weiss nicht einer Person, wenn man dann doch lieschöner gewesen wäre.» mehr, was man eigentlich will, weil ber mit einer anderen Person eine halalles unter einem riesigen Berg von be Stunde telefoniert? Wäre es nicht Möglichkeiten und Optionen verviel sinnvoller, sich mit der Person am schwindet. Und dann tritt der Papst zurück! den hat, obwohl der Lehrstellenmarkt zurTelefon zu treffen, statt die Zeit der anwesenDie einzige Person, von der man dachte, die zeit ziemlich entspannt ist. Das mag natürlich den Person zu verschwenden, indem man kein hätte keine Option zum Rücktritt, weil sie ja viele Gründe haben, aber ein Grund ist sicher Wort mit ihr redet, sondern nur telefoniert? Es das offizielle Sprachrohr Gottes ist und es nur auch, dass zu viele Optionen offen stehen: Viescheint mir zur schlimmen Mode zu verkomein einziges Sprachrohr geben kann. Und er le Jugendliche haben das Gefühl die Lehrstelmen, mit anderen Leuten zu chatten oder zu tetritt einfach zurück und bestätigt vielleicht unle determiniere ihr weiteres Leben. Es öffne lefonieren, während man eigentlich mit jemand gewollt das Bild unserer Multioptionsgesellsich nicht eine Tür mit der Lehrstelle, sondern anderem abgemacht hat und demjenigen gegenschaft: Sogar Papstsein ist fakultativ. alle anderen Türen gingen dadurch zu. Man über sitzt. Schliesslich schaut man ja nur kurz schreibt ein paar Bewerbungen und bekommt aufs iPhone. Und der und der hat eben gerade Diese Welt hält einem so viele Möglichkeiten eine Zusage, weiss aber nicht, ob man annehdies und jenes geschrieben und das sei so megaoffen. Ich ging ins Gymnasium, weil ich nicht men soll, weil doch von den besseren Firmen lustig! Schau mal! wusste, welche Lehrstelle ich antreten sollen/ vielleicht auch noch eine positive Antwort zuAber ich will ja gar nicht mit den Finwollen. Ich schrieb mich in einen Studiengang rückkommen könnte. Und am Ende steht man ger auf die anderen zeigen, denn ich bin selbst ein in der Hoffnung, am Ende wüsste ich dann vielleicht mit gar nichts da, weil man sich alle genau gleich: Irgendwer ist immer spannender schon, was ich werden wolle. Nun mache ich Optionen offen halten wollte. Es erinnert an oder scheint spannender zu sein als die Person, wahrscheinlich bald meinen Bachelor und werden Titel eines Filmes von Alexander Kluge: welche gerade gegenüber sitzt. Es ist ein Zeide mit ziemlicher Sicherheit noch einen Ma«In Gefahr und grosser Not bringt der Mittelchen unserer Zeit und der berühmte Soziologe ster anhängen, weil ich immer noch nicht weiss, weg den Tod». Aber auch bereits Machiavelli Peter Gross schrieb schon 1994 ein Buch darwas ich will, denn es stehen mir unendlich viemeinte in seinem Buch «Il Principe», dass wenn über mit dem Titel «Multioptionsgesellschaft» le Möglichkeiten offen und ich will auf keinen man schon seine Feinde aus dem Wege räu– und das sind wir: Eine Gesellschaft mit zu Fall die falsche wählen. Und so habe ich das men wolle, man sie nicht nur einsperren oder vielen Optionen. Es geht ja an und für sich nie Gefühl, nichts zu wählen, weil man sich alles vertreiben solle, sondern gleich töten, denn alum die Option, welche man wählt, sondern um offen halten will, birgt weniger Freiheit als sich les andere führe nur zu Racheaktionen. Überdie Optionen, welche man nicht gewählt hat. In mal für eine bestimmte Sache zu entscheiden. setzt in die heutige Gesellschaft würde Maunserem ständigen kapitalistischen Drang, den Und vielleicht auch einmal für etwas Neues. chiavelli wohl meinen, man solle sich klar für grössten Nutzen aus allem zu ziehen, geht es Vielleicht auch einmal für den Silberbeefy ohne eine Option entscheiden und diese dann konauch viel um Opportunitätskosten. Es beginnt Käse. sequent durchziehen, abseits von nicht gewählschon bei der Wahl meines Essens in der Silber-

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EGOISMUS 26. Ausgabe, April / Mai 2013

facebook {Text} * Andreas Hauri

Um aus einem Mitläufer einen Individualisten zu machen, braucht es nicht viel mehr als eine Handvoll Voyeure (Es müssen auch keine wirklichen Freunde sein). Jeder hat, tut und kennt es. Social Media und allen voran Facebook wird zum Überflieger unserer Gesellschaft deklariert und als Brückenbauer globaler Kommunikation gefeiert. Die Jugend lebe und vor allem erlebe sich immer wieder aufs Neue. Doch den Ton geben vor allem die gefeierten Egos an. Diejenigen, die im Stundentakt Daumenhoch-Aussagen kreieren, sich damit selbst inszenieren und anlässlich ihrer kleineren oder auch größeren Probleme mehr als nur etwas Senf dazu geben. Kritik hagelt es kaum. Oder hab ich die falschen Freunde? Sind die zahlreichen Statusmitteilungen der Facebook-Egos, Anregungen für intensive Debatten? Ist die Mitteilung: «So ich han jetzt no 2 ziggis... Nach dene versuech ich ufhöre z rauche...KEIN SHERZ!!!! :)» , einfach nur dummes Geschwätz oder aber der letzte Aufschrei einer Generation, bestehend aus Hangovermitteilungsbedürftigen Partyleuten und unzähli-

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gen Kussmündern, die vor dem heimeligen Badezimmerspiegel eifrig Fotos Knipsen? Das Netz oder die Geschichte Jan P’s Der 22-jährige Jan Phillipe ist Facebook–User. Er berichtet täglich aus seiner Welt und schafft es, durchschnittlich 20 Likes auf seinem Konto zu verbuchen. Unwichtig? Oberflächlich? Wer meint, man berichte hier von einem verblendeten Jugendlichen, mag recht haben, doch ist sein inhaltsloser Aufstieg zum Wortführer und gefeierten Selbstdarsteller deswegen nicht weniger beeindruckend. Eine Karriere sondergleichen, die dank uns allen überhaupt möglich wurde. So richtig aufmerksam wurde man als geschulter Voyeur (=mehr scrollen als liken) nämlich ab dem Zeitpunkt, als Jan Phillipe hilferufartig ein paar Posts zum Besten gab, in denen er verkündete, nun schon seit rund einem Monat auf der Strasse zu sitzen, und obschon es ein wenig kalt geworden sei, werde er sich trotzdem nicht einfach so runterkriegen lassen. Dafür heimste der schmalbrüstige Jan Phillipe (oder Jan P, wie er sich ab und an und je

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nach Laune auf dem Social Network zu nennen pflegt) 22 in die Höhe ragende Daumen ein. Auch mit Kommentaren wurde nicht gespart. Ein gutes Resultat. Die ihm angebotene Hilfe zur Übernachtung lehnte er jedoch dankend ab und zeigte sich seinen Befürwortern geschlagene 32 Minuten später auf einem geposteten Foto kämpferisch, Zigarette im Mund, mit umgebundenen Luis Vuitton Schal in einer GC Trainerjacke. Dafür holt er sich nochmal ein Dutzend gut gemeinter Daumen und den einen oder anderen «Ich-bin-immer-für-dich-da-Post». Zwei Tage später meldet sich der womöglich nun doch schon etwas fröstelnde Jan P wieder und startet eine Hasstirade gegen einen anderen Facebook-User der ihm vorwarf eine «Show» abzuziehen, um sich künstlich in die Rolle des Opfers zu versetzen. Natürlich wollte jeder wissen, wer denn die Frechheit besässe, Jan Phillipe angesichts seiner dramatischen Lage so zu verunglimpfen. Doch Tausendsassa Jan P beschwichtigt lässig, in zwei aufeinanderfolgenden Kommentaren, es sei doch nicht wichtig WER, sondern WAS ihm vorgeworfen wurde. Doch bei so viel Facebook-Aufge-

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sters» zuzurechnen ist. Doch wer interessiert Was ein Faszinosum für die einen ist, regtheit will das so ziemlich niemand wissen. sich schon für sein eigenes Ich im Netz, wenn ist den anderen nur ein müdes KopfschütOhne weiterhin falsche Bescheidenheit vorzueinem nicht einmal ein Hauch beziehungsweiteln wert. Auf jeden Fall spannend. Facebook täuschen, lässt sich Jan P doch noch überreden se Klick an Aufmerksamkeit entgegengebracht eben. Wer jetzt schon anfängt schläfrig in der und nennt seinen empörten Anhängern (und wird? Um immer schön aufzufallen gibt es eiNase zu bohren, der soll sich doch bitte nochübrigens auch allen anderen Desinteressiernige Tipps und Tricks, die zur Steigerung des mals das narzisstische Paradigma, mit dem wir ten) knappe 14 Minuten später die Namen den Egos ganz nützlich sein können. Denn die Heres hier zu tun haben, vor Augen führen. Denn Übeltäter. Was folgt, ist ein Shitstorm (Wort ausforderung besteht darin, im «Gespräch» zu auch ich (beziehungsweise wir) zählen uns undes Jahres 2012!) sondergleichen, bis tief in die bleiben und nicht allzu unbemerkte Posts von ter der Facebook-Rubrik zu den sogenannten Nacht, mit wüsten Beleidigungen und klebrisich zu geben (keine Angst, man hat unheim«Freunden» Jan Phillips und schüttle womöggen aber nichtsdestotrotz herzerwärmenden lich viele Anläufe und Obama schafft das ja lich doppelt so oft den Kopf, nachdem fleissig Freundschaftsbekenntnissen. auch). Auch Jan Phillipe kennt diese Herausge-liked und gepostet wurde. Dennoch enthalte Morgen aber, da würde Jan uns mit eiforderungen und weiss diese mit Bravour zu ich mich wacker der Stimme und lasse in puncnem Post auf seinem Profil und dementspremeistern. Zwei bis drei emotional, lustig, cool to Daumenhoch der Persona Jan P freien Lauf chenden in unserem News-feed etwas «Neues» angehauchte Phrasen und Fotos auftischen. Konkret und ganz pro Tag, am Besten von flippinach der Devise auf Facebook gen Standorten wie NYC, Boherrscht sowieso nicht das Zeitston und Miami («I’m in Miami verständnis der Normalos, weiht Bitch» ein oft zitierter Satz auf er uns stolz in sein Date ein, dass der Plattform!), oder halt eben er Donnerstagnachmittags be«Jeder Post und der damit verbundene Like der Klassiker aus dem Nahen streiten werde. Sein Gegenüber durchaus dem Profilbewusstsein des ‹Posters› Osten: Dubai, sind immer für sei, «diejenige» mit der er «es» zuzurechnen ist.» eine Brise virtuelle Aufmerksich schon immer «vorgestellt» samkeit zu haben. Auf die Dauhabe (was immer das heißen er aber eher langweilig. Feinmag; trotzdem volle zwölf Lischmeckerrestaurants in Berlin kes, davon zwei weibliche). Am oder beim Sushi Take-Away Ende des Dates lässt er uns wis«facebookmässig» Freude versen wie es um sein Herz steht breiten sind schon etwas kecund geizt dabei nicht mit Kreaker. Für die Ideenlosen unter tivität bei den Smileys ( ;-( ). Die uns: «Shopping with my ladies» darauffolgende, etwas magere findet auch immer Anklang (meistens bei den zur Selbstverwirklichung. Trotzdem scheint Anzahl an Likes (bescheidene vier) lassen wir Ladies selbst). Jungs, ab ins virtuelle Fitnessstumir Jan Phillip nicht aus meinem Newsfeed zu hier einfach mal so stehen. Auf Facebook geht dio (Jan P’s Freunde sind auch schon da) oder weichen (sind wir womöglich selber ein wenig das. Auch eine Woche später herrscht Heitereinfach mal DJ werden. Je mehr desto besser. In Jan P?). Und auch mein herablassendes Kopfkeit und das, obwohl es schon bald November der Facebook-Welt kennt man keine Obergrenschütteln hat auf Facebook überhaupt keine wird und Jan Phillipe womöglich ein paar diczen des Überflüssigen. Darum wird das oben Verwendung, wer will sich schon freiwillig dem ke Wollsocken vertragen könnte. Doch für frögenannte, in der Away From the Keyboardoben genannten Shitstorm aussetzten. Doppelt stelnde Monologe hat wohl niemand ein MitWelt auch nicht wirklich ernst genommen. blöde also, denn es gibt nur Daumen-Hoch leid-Daumenhoch übrig. Da hilft es wohl eher Denn am Ende aller Tage sind wir uns wohl oder Mund halten und macht Social Media-takeiner der schönsten Sonnenuntergänge auf dem oder übel einig, dass der Post nicht viel mehr tisch gesehen, eh keinen Sinn. Desinteressierte ganzen World Wide Web zu posten. Ich staune wert ist als ein einzelner, unbedeutender und gibt es auf Facebook nicht. Nur Befürworter über 32 Likes und einer erklecklichen Anzahl wahrscheinlich sogar unbeabsichtigter Furz: und stille Genießer, vielleicht ein paar zerstreuwarmherziger Kommentaren. Vielleicht beGeschehen, bemerkt oder inkognito. Doch te Kritiker. steht aber auch die Genialität des Unterhalters nach einer Weile schrecklich bedeutungslos. Ob die Selbstverwirklichung auf dem Planet Jan Phillipe im schöpfen neuer Posts mit neunUnd trotzdem, irgendwie stinkig! Social Media eine kurzatmige Egoschmiede malklugen Sätzen (teilweise auch in englischer ist, gilt noch zu beweisen. Klar festzustellen ist Sprache verfasst) wie: «Hol dir die Verganaber, dass jeder Post und der damit verbundene genheit nur zurück, wenn du auf ihr aufbauen Like durchaus dem Profilbewusstsein des «Powillst! <3 » * Andreas Hauri, 22, Student in Publizistik und Recht.

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ich will es einfach {Text} * Tamara Hofer

Ich will eifach dasses für alli stimmt. Die Frau erntete für diese Aussage sofortige Unterstützung von ihrer Freundin und dann diskutierten sie endlos, wie sie dies hehre Ziel in den gemeinsamen Familienferien wohl erreichen könnten. Ich, ein paar Meter entfernt, hatte eigentlich gar nicht zugehört, bis dieser eine Satz sich seinen Weg wie ein Pfeil durchs Stimmengewirr zu mir bahnte und mitten in meinem Schädel stecken blieb. Bull's Eye. Und dann Alarm. Denn kaum einer Lüge wird so oft auf den Leim gegangen wie dieser. Ich will eifach dasses für alli stimmt. Viele Menschen, nicht selten Frauen, fühlen sich dazu berufen sicherzustellen, dass immer alle zufrieden sind. Was so gutherzig klingt, und ja auch ganz nett wäre, wenn es denn funktionierte, tut das a) eben gerade nicht und geht b) immer auf Kosten dieser Menschen selbst. Alle, die zuerst für andere schauen, blei-

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ben früher oder später selber auf der Strecke. Es ist gar nicht möglich, dass ich für irgendjemand anderen erreichen kann, dass es ihm gut geht, geschweige denn für alle anderen zugleich und ganz zu schweigen davon, dass es mir selbst nach alledem dann auch noch gut geht. Wohlbefinden ist absolut individuell – kein Aussenstehender kann je wissen, was jemand gerade braucht, damit es ihm gut geht. Und niemand ist für das Glück eines anderen verantwortlich. Ich will eifach dasses für alli stimmt. Dieser blöde Satz steckt einfach noch zu fest in zu vielen Köpfen. Wir haben es so gelernt. Aber es ist Zeit über den Haufen zu werfen, was wir gelernt haben. Ich bin für niemand anderen hier als für mich selbst. Zuallererst schaue ich für mich. Es ist sogar meine Aufgabe, um nicht zu sagen meine Pflicht, für mein eigenes Wohlbefinden zu sorgen. Man kann das nicht an andere abdelegieren. Wenn es mir gut

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geht, geht es denen, die um mich sind, automatisch ebenfalls besser. Und wenn ich zufrieden bin, gebe ich ganz natürlich und ohne Anstrengung. Weil ich dann aus dem Vollen schöpfen kann. Wie und wovon soll jemand denn geben, dessen eigener Tank schon längst aufgefüllt werden müsste? Geben sollte nicht auf Kosten unserer selbst gehen. Denn dann sind wir schwupps im Teufelskreis. Wir geben auf unsere Kosten und erwarten dann von den anderen, dass sie das gleiche für uns tun, damit es «fair» wird. So machen wir unser Wohlbefinden von anderen abhängig. Aber unseren Tank füllen, und für unser Wohlbefinden schauen, das können nur wir selbst. Drum will ich eifach dasses für mich stimmt. Und das Leben ist wieder einfach.

* Tamara Hofer, 31, Lebenskünstlerin

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monogamie {Text} * Katharina S.

Was ist egoistischer - für sich selbst das Recht einzufordern seine Sexualität jenseits der gängigen Moralvorstellungen über Beziehungen auszuleben oder einem Partner den Sex in fremden Betten zu verbieten? Ist das Prinzip der monogamen Beziehung als gesellschaftliches Konstrukt nicht schon längst überholt? Die Hollywood-Romanze zeigt uns die grosse, wahre (monogame/heterosexuelle) Liebe als ultimatives Ziel, während auf der anderen Seite der Zugang zu Hardcore- Pornografie (welche Sex als ständig verfügbares Gut jenseits jeglicher romantischen Emotion zeigt) noch nie so einfach war. Die romantische Paarbeziehung soll nun garantieren, was schwer zu vereinen ist. Zum einen wohnt ihr das Versprechen von Liebe und Vertrautheit inne, zum anderen soll sie erotisch-lustvoll und voller Überraschungen sein. Längerfristig verliert sich die sexuelle Spannung in monogamen Beziehungen. Dennoch stellt Sex ausserhalb der Beziehung/ Ehe oft ein Grund zur Trennung dar. Es geht um einen Vertrauensbruch, um das betrogen Werden. Bedürfnisse und Status quo sind nicht mehr vereinbar. Meistens jedoch sind es andere Gründe, welche Menschen auseinander treiben und der Sex mit jemanden, der nicht der eigene Partner ist, so etwas wie ein gesellschaftlicher Marker für den eigentlichen Verfall einer (Liebes-)Beziehung wird. Es scheint einfacher zu sein, eine Beziehung zu beenden als sich

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selbst einzugestehen, dass eine Beziehung ein ständiger Dialog ist, welcher nach Kommunikation über die weniger eindeutigen Fragen der menschlichen Natur verlangt. Das Unbekannte verliert seine Verlockung nicht. Ist das, was uns zurückhält, nicht einfach nur die zutiefst egoistische Angst, vor dem Vergleich (wie schon Max Frisch sagte) mit dem vermeintlich besseren, anderen Partner? Die Verknüpfung von Liebe und Sex hat viel damit zu tun. Die Antwort ist so simpel wie brutal: Der Stellenwert, den wir Sex einräumen ist völlig überzogen. Er zwingt viele von uns in ein Korsett aus gesellschaftlichen Regeln und Normen, das so gar nichts mit unserer eigentlichen Veranlagung zu tun hat (siehe «Sex at Dawn» Ryan/Jetha). Warum jedoch werfen wir in einem aufgeklärten Zeitalter wie dem unseren einen solch rigid verurteilenden Blick auf das Sexleben anderer? Alle grossen Skandale der letzten Jahre finden in ihm einen Zusammenhang. Sex sells. Eben nicht nur in Zeitungen. Die Art und Weise wie wir Sex wahrnehmen, erfährt im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs eine Spaltung. Zum einen wird das Ideal der perfekten, heterosexuellen und monogamen Beziehung, die in eine traumhaften Märchenhochzeit mündet zur Quelle des immer währenden Glücks gemacht. Zum anderen werden wir mit visuellen Reizen bombardiert, die uns das Gefühl geben, eine stilisierte, künstliche Form von Sexualität sei das erstrebenswerte Ziel. Die gesellschaftliche Akzeptanz

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für Beziehungsmodelle, welche einen ehrlichen Umgang mit den eigenen sexuellen Lüsten und Wünschen favorisiert, ist nach wie vor selten. Die Idee der seriellen Monogamie ist der Standard. Jeder der sich ausserhalb dieses Musters bewegt, läuft Gefahr als gierig, lüstern oder einfach nur egoistisch angesehen zu werden. Doch ist es nicht viel egoistischer von seinem Partner zu erwarten, dass er, wenn er eine Beziehung eingeht, jegliches sexuelles Interesse an anderen Personen verliert? Ist die Ehe und das Versprechen der ewigen Treue - wenn wir sie ganz abstrakt betrachten - nicht nur ein institutionalisierter Akt, dem wir unser ganzes Denken und Fühlen unterordnen? Ein ehrlicher Umgang mit den eigenen Bedürfnissen ist ein besserer Weg zur glücklichen Paarbeziehung als der Versuch sich an gesellschaftliche Normen anzupassen. Natürlich handelt es sich hierbei um eine sehr persönliche Entscheidung. Der Druck, welcher von aussen ausgeübt wird, ist nicht zu unterschätzen. Die Treue gegenüber sich selbst und seinen Idealen, ob diese nun im Rahmen der gesellschaftlichen Vorstellung zur monogamen Zweisamkeit oder in einer anderen Beziehungsform liegt, sollte bei diesen Überlegungen der ausschlaggebende Punkt sein.

* Katharina S. studiert Kulturwissenschaften und fragt sich warum echte Abenteuer immer seltener werden. @ Kat_Cohen

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{Illustration} Till Runkel (tillustration.de)

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Egoismus als Lebenshaltung - eine Anleitung {Text} * Esther Laurencik

1. Sag offenkundig deine Meinung, das verschafft dir Respekt. Dich nur insgeheim für intelligenter als alle anderen zu halten, bringt niemandem etwas. 2. Lass dich nicht auf exklusive Beziehungen ein. Derartige Bindungen behindern dich in deiner persönlichen Entwicklung. Die romantische Liebe ist eine Erfindung des 18. Jahrhunderts. 3. Empör dich laut, wenn du nicht freundlich behandelt wirst. Sei es die Kassiererin in der Migros oder das Personal in der Mensa – diese Leute werden für so was bezahlt. Und du verdienst in deinem harten Unialltag ein Lächeln. 4. Wenn du auf der Strasse um Geld gebeten wirst, gib nie etwas. Solche Menschen verdienen kein Mitleid. Erkläre, dass hier in der Schweiz niemand durch das System fällt. Ausser man ist faul. 5. Sprich dich für eine Zweiklassengesellschaft aus. Die Scherenmetapher ist ein Konstrukt derjenigen, die zu bequem sind für harte Arbeit. Sei stolz auf deinen gesellschaftlichen Status – du hast es ganz alleine so weit gebracht. 6. Verurteile jene, die seit Jahren täglich acht Stunden im Büro arbeiten. Einen geregelten Alltag wünschen sich nur Trottel. Es ist deine Aufgabe, das allen bewusst zu machen. 7. Die Essenz des Lebens ist der Exzess. Erforsche das Delirium der Drogen und des Alkohols, dann weisst du, was Glück ist. 8. Gib deinen Mitmenschen einen Einblick in dein Inneres. Schäm dich nicht zu zeigen, wie das Leid der Welt dich fertig macht. Du hast so viel Schmerz in deinem Herzen. Dein Weinen macht die Welt besser. 9. Aber auch Humor ist wichtig - lache ungeniert über Dicke, Schwarze, Behinderte und Homosexuelle: du bist weiss und privilegiert. Es steht dir zu. 10. Sei dankbar für Facebook. Die Welt soll dich sehen, denn du bist einzigartig. Sei dankbar für Instagram, denn die Fotofilter zeigen unverfälscht dein authentisches Leben. Du weisst jetzt schon, deine Vergangenheit wird grossartig. 11. Sei ironisch in allen Dingen. Damit dir niemand vorwerfen kann, du hättest eigentlich gar nichts zu sagen. *Esther Laurencik, 25 Jahre alt und studiert Allgemeine Geschichte, Germanistik und Philosophie an der Uzh

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{Illustration} * Andrea Walder

* Andrea Walder, 25, gelernte Hochbauzeichnerin. Momentan halte ich stille, um mich neu zu orientieren. inspierieren werde ich mich bald wieder auf reisen. die zeit vergeht beim zeichnen, fotografieren, designen, sport und geniessen.

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Shabbat shalom {Text & Foto} * Simon A. Jacoby

Karge Wüste im Landesinnern von Israel.

Die Geschichte einer Reise durch das gelobte Land, das von seinen Gegensätzen lebt der ständigen Bedrohung lebt. «Das Tragen von Waffen ist im Flughafen verboten». Der Satz, der uns in Tel Aviv begrüsst, passt zu einem Land, das auf Nadeln sitzt, in dem die Angst zum Alltag gehört. Er passt zu einem Land, das weder eine Nation, noch ein Nationalstaat ist – und das weder sein kann, noch sein will. Er passt zu einem Land der vielen Widersprüche. Einige davon sind deutlich sichtbar, andere sind besser erlebbar, als beschreibbar. Im gelobten Land begegnen uns Städte, Landschaften und Menschen, für dessen Vielfalt meistens eine Reise in mehrere Länder nötig wäre. Tel Aviv, eine Stadt, die kleiner ist als Zürich, dabei mit ihrer Modernität und ihren unzähligen Wolkenkratzern mehr Internationalität und Grossstadtgefühl auslöst, als die Limmatstadt. Tel Aviv ist eine junge Stadt. Die

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Menschen sind aufgeschlossen, jegliche Angebote grossartig, die Supermärkte haben auch in der Nacht geöffnet, die Reklamen sind riesig und die Ausgehmöglichkeiten ungezählt. Hier zeigt sich, was uns während der ganzen Reise auffallen wird: Neben der zum Konsum einladenden Ladenpassage mit internationalen Modehäusern , mitten in einer Infrastruktur, die es mit der in der Schweiz aufnehmen könnte, finden wir den «Shuk Ha'Carmel», den Carmel Market, wo gefälschte Uhren, Socken und CDs zu Schleuderpreisen verkauft werden. Wie passt das zusammen? «Gleichzeitiges von Ungleichzeitigem», wie es der Politologe Dieter Ruloff zu sagen pflegt. Es macht sich ein starker Staat bemerkbar. Der dafür sorgt, dass alles schön aussieht und die Touristen und Reichen sich wohl fühlen. Doch ein grosser Teil der Menschen scheint sich auf dem altertümlichen Markt mit Waren einzudecken. Es macht sich ein starker Staat bemerkbar, der wie dichter Nebel über seinem Gebiet und über seinen

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Bewohnern hängt, ohne sich mit diesen zu harmonisieren. Gemäss dem HDI – dem Index für menschliche Entwicklung der Vereinten Nationen – steht Israel im weltweiten Vergleich dank einer ausgezeichneten Infrastruktur, hohen Lebenserwartung, eines guten Bildungssystems und hohen Durchschnittseinkommens auf dem 17. Rang (die Schweiz ist auf dem 11. Rang). Dass die palästinensischen Autonomiegebiete da nicht mitgemeint sind, ist klar: Diese liegen mit Usbekistan auf dem 114. Platz.«Shabbat shalom» rufen die Verkäufer hinterher, als wir uns am Freitagabend mit Bier eindecken, das nach 23 Uhr nicht mehr verkauft werden darf – wegen den vielen Unfällen auf der Strasse. Am eigentlichen Shabbat, am Samstag ist die Weltstadt Tel Aviv ausgestorben. Unwissend suchen wir vergebens nach einer Bäckerei, die Frühstück serviert. Hin und wieder passieren wir aber eine Strassenecke, wo sich junge Israelis in ein schönes Kaffeehaus drängen oder an der Sonne den Schaum aus ihrem Cappuccino

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wir noch durch Städte, die diese Bezeichnung löffeln. Was die orthodoxen Juden am Samstag aber kaum verdienen. Es sind Ansammlungen machen, erschliesst sich uns nicht. Die weniger von sandigen, einstöckigen Bauten. Die Straspraktizierenden schlendern mit ihren Familisen sind leergefegt. Nur hin und wieder kreuen am Strand entlang. Unser Spaziergang führt zen wir ein Auto. Bar? Restaurant? Fehlanzeiquer durch die Stadt in ein riesiges Quartier, ge. Ein Hotel finden wir in einer der Städte. Die wo unzählige Flüchtlinge und Einwanderer aus junge Frau, die uns das Essen serviert erklärt Afrika – vorwiegend Eritrea – wohnen. Gleiche strahlend, dass es in dieser Stadt nichts gebe. Strassen, gleiche Busse, gleiche Häuser – anOb wir das denn nicht wissen? Die Menschen dere Menschen. Während wir am Bahnhof auf den Zug warten, spielt sich eine merkwürdige Situation ab. Ein Afrikaner, der mit dem Judentum etwa so viel anfangen kann, wie ein Schraubenzieher mit einem Nagel, erklärt uns mit breitem Grinsen: «Ey, what are you waiting for?! It’s Shabbat, there is no train today!». Kein Zug also am Samstag. und der Taxichauffeur erklärt während der Fahrt, dass sie, die Israelis, die US-Amerikaner eigentlich gar nicht mögen. Und deren Präsidenten ebenso wenig. Obama sei nur gewählt worden, weil er schwarz ist. Das ist überraschend, schliesslich sorgen die USA sehr gut für ihren Verbündeten im Nahen Osten. Der Fahrer gibt dann auch zu, Israel sei halt militärisch und wirtschaftlich Die Klagemauer - Männer haben viel Platz. Auf der Seite der Frauen herrscht Gedränge. vom grossen Bruder aus Tel Aviv kommen nur nach Mizpe Ramon, abhängig. Ob er sich denn vor den Palästinenum nichts zu machen und Hasch zu rauchen. sern fürchte, frage ich. Nein, die seien nicht das Die Strasse führt weiter durch Berge und EbeProblem. Sowohl im Gazastreifen, wie auch im nen, bis an eine der seltenen Kreuzungen, wo Westjordanland hat die israelische Armee die wir einen einheimischen Anhalter mitnehmen. ehemaligen Bewohner des Landes unter KonAuf der halbstündigen Fahrt in sein Dorf zeigt trolle. Keine Gefahr vom Landesinnern. Angst er uns eine geheime Militärbasis – der Grösse haben die Israelis vor Ägypten, vor dem Iran, nach zu urteilen kann sie nicht sonderlich gevor Syrien und Jordanien. Angst haben sie also heim sein, aber auf Googlemaps ist sie nicht von allen, die in ihrer Nähe sind und die sie zu finden – und ein Krater, einer ägyptischen nicht kontrollieren können. Eine Angst, die Bombe. Der Sohn australischer Einwanderer historische Wurzeln hat. Ständige Territorialerzählt, er war so «high» als das Geschoss unkriege und besetzte Gebiete gehören zu dieser weit seines 150-Seelen-Dorfes eintraf, dass er Region. dachte, seine Kollegen machen einen Witz. Für Im Mietauto geht es nach Süden in einen unbefleckten Besucher aus der Schweiz Richtung des roten Meeres bei Eilat. Die Vemutet das ziemlich absurd an. Seine Wohnsituagetation ändert sich innerhalb von weniger als tion ist erwähnenswert. Zusammen mit einem zwei Stunden fundamental: Rund um Tel Aviv Freund baute er sich eine Baracke: Der Raum ist die Landschaft grün und verwachsen, etmisst ungefähr zwei auf drei Meter. Darin liewas südlich davon sind wir umgeben von einer gen zwei Matratzen, eine grosse Kiste Gras, ein endlosen, ockerfarbenen Steinwüste. Die GeFlachbildschirm und der Router für das drahtgend ist kaum mehr besiedelt. Zweimal fahren

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lose Internet. Die beiden Jungs gönnen sich nicht mal eigene Zimmer oder sanitäre Anlagen, aber Fernsehen und Internet haben sie in der modernsten Ausführung. Wir verdauen die Überraschung und fahren die restliche Stunde nach Eilat. Unterwegs passieren etwa alle 45 Minuten einen Checkpoint des Militärs. Die Soldaten scheinen politisch verordnete Angst zu haben. Für uns ist sie nicht spürbar. Im Gegenteil, einmal an die Präsenz der Sicherheitskräfte gewöhnt, strahlen sie für uns ein Gefühl von Sicherheit aus. Manchmal wollen sie wissen, woher wir kommen, manchmal winken sie uns auch einfach durch. Sie merken schnell, dass von uns keine Gefahr ausgeht. Die schwer bewaffneten Soldaten wünschen uns eine gute Fahrt und eine angenehme Zeit in Israel. So geschieht es oft: Sobald die Bedrohung ausgeschlossen ist, ist eine grosse Freundlichkeit spürbar – selbstverständlich nicht gegenüber allen Nationalitäten. Die ägyptische Grenze, deren Verlauf wir folgen, ist mit einem hohen Zaun abgesperrt. Beim signalisierten Grenzübergang ist der Zaun sogar noch dicker und höher als davor und danach. Das Wort «Übergang» wird hier noch ernst genommen. Ein Abzweiger nach Jericho bedeutet den Eintritt in eine andere Welt. Auch hier wieder Angst: Der palästinensische Sicherheitsmann, der schwer bewaffnet, den Zugang zur uralten Stadt kontrolliert. Israelische Bürger dürfen diese Grenzposten zu den besetzten Gebieten nicht passieren. Grosse gelbe Schilder warnen sie: Lebensgefahr. Ginge es nach unserem israelischen Navigationsgerät, wären wir nie nach Jericho gekommen. Eine Meldung auf dem kleinen Bildschirm warnt: Das Ziel liege in den Westbank, «it might be risky». Die Strassen dahin kennt der digitale Lotse nicht - «unknown street» heisst es oft. Westler betreten eine Stadt, die nicht zu Israel zu gehören scheint. Und nicht dazugehören möchte. Das B.I.P. pro Kopf beträgt in den palästinensischen Gebieten gut 1500 Dollar, die Arbeitslosenquote liegt bei einem Viertel. Dreckige und

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REISEN 26. Ausgabe, April / Mai 2013

verstaubte Strassen, alte Autos. Ein Stadtzentrum, das aus heruntergekommenen Häusern besteht, arabische Männer, die skeptisch unsere Sneakers beäugen. Frauen und Mädchen sind nur vereinzelt zu sehen. Dafür Jungen und Männer, die Kaffee trinken, Wasserpfeife oder Haschisch rauchen oder dem Gesang des Muezzins folgen. Dass die Stadt, welche sich selber etwas flunkernd als älteste Stadt der Welt bezeichnet nicht von Israelis kontrolliert wird, heisst nicht, dass der Einfluss der Politik Netanjahus nicht spürbar wäre. Handeln mit Israel, auf dessem Boden Jericho steht, ist nicht realistisch. Die wenigen Güter, die sich die Pa-

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lästinenser leisten können, stammen wohl aus Jordanien. Manchmal, so erzählt man sich, schiessen sie aus purer Verzweiflung auf Fahrzeuge mit israelischem Kennzeichen. Auf der Suche nach einem Nachtquartier fahren wir in eine Kleinstadt vor Ost-Jerusalem. Die Stadt ist bewohnt von jüdischen Siedlern. Eine Stadt, in der es nichts gibt als noble Häuser und ein grosses Einkaufszentrum, bei dem vor jedem Eingang ein bewaffneter Wachmann und ein Metalldetektor steht. Die Stadt passt so gar nicht in die Landschaft: Weniger hundert Meter neben den Villen hausen Palästinenser unter ärmlichsten Bedingungen – hinter einem dicken

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Zaun aus Draht. Diese Diskrepanz spitzt sich zu und findet ihren Höhepunkt in der Altstadt von Jerusalem, die in vier bedeutende Gebiete unterteilt ist: das christliche, das jüdische, das muslimische und das armenische. Die Übergänge sind fliessend. Die Stassennamen, die Kleider und die Essensstände geben Aufschluss darüber, in welchem Bereich sich der Besucher gerade aufhält.

* Simon A. Jacoby, 23, Co-Chefredaktor von dieperspektive, Student der Politologie und Publizistik- & Kommunikationswissenschaft und aktiver Politiker, aus Zürich

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