Lonely Planet - August 13

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kunst, kultur & politik

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Nr. 27 August / September 2013


EDITORIAL Zwischen Fern- und Heimweh

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HINTERGRUND Das Duell Wenn Zürcher bauen Fussball in Somalia

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Illustrator der Ausgabe Name: Stephan Schmitz Seiten: 15 | 18 | 20 | 26 | 30 | 37 | 38 Vielen Dank an Stephan für die Illustrationen zu denTexten und das Poster. Möchtest auch du die Texte grafisch unterlegen? Melde dich auf info@dieperspektive.ch

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Die Schweiz durch den Lonely Planet sehen Kein Mensch ist eine Insel Entfremdung Fragen Poster Wie lonely ist unser Planet Zukunftsstädte Ein schweigsam, trauriger Schrei Lonely Planet Kunst- und Kulturkolumne Einsamkeit Living on a lonely Planet Erst mal wird gefeiert Einsame Welt Auf eine Zigarette mit dem rietberger Konfuzius

POLITIK & AKTUELLES 39

Wie Justiz Freund und Feind vereint

THEMA DER NÄCHSTEN AUSGABE: KLISCHEE Artikel einsenden an: artikel@dieperspektive.ch IMPRESSUM

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REDAKTION verein dieperspektive, zentralstrasse 167, 8003 zürich, simon jacoby, conradin zellweger, manuel perriard COVER isabella furler LAYOUT isabella furler & manuel perriard LEKTORAT konstantin furrer WEBDESIGN conradin zellweger REDAKTIONSMITARBEITER selina howald & konstantin furrer & marius wenger DRUCK zds zeitungsdruck schaffhausen ag AUFLAGE 4000 ARTIKEL EINSENDEN artikel@dieperspektive.ch WERBUNG simon@dieperspektive.ch ABO abo@dieperspektive.ch LESERBRIEFE leserbriefe@dieperspektive.ch THEMA DER NÄCHSTEN AUSGABE KLISCHEE GÖNNERKONTO pc 87-85011-6, vermerk: gern geschehen REDAKTIONSSCHLUSS donnerstag, 5. september 2013, 23.55 uhr


Zwischen Fern- und Heimweh 5. Bild

Szene 1 Ein Reisender (Ronnie) steht mitten auf einer Kreuzung in einer asiatischen Stadt. Er ist gross und hat einen überdimensionalen Rucksack auf dem Rücken. Über die Kreuzung gehen viele Leute sehr schnell an Ronnie vorbei und beachten ihn nicht. Die Szene spielt sich völlig lautlos ab. Ronnie: Hallo! Wer da? lange geschieht nichts. Die Menschen gehen weiter an ihm vorbei. Ronnie (laut): So schaut mir doch ins Gesicht! Ich bringe euch Geld! Kurble euren Tourismus an. Ich widme euch meine Zeit und mein Interesse. Ich will teilhaben an eurer Kultur. Warum wollt ihr mich nicht sehen? Ein Mann (Mau) aus der gehenden Menge bleibt plötzlich auch stehen. Mau: Hello my friend. I can show you a very good place for shopping. Very far away. Taxi is for free for you my good friend. Ronnie: Willst du mein Freund sein? Bringst du mich danach zu deinen Freunden? Ich komme mit. Zeig mir dein Zuhause. Mau: Good shopping. Not same same like this market here. Kapitel 2 Wie lange Ronnie schon durch den Dschungel ging war ihm nicht klar. Wo war bloss seine Trekkinggruppe abgebleiben? Er kannte zwar den Weg zum Camp, doch die Aussicht soll gemäss Gruppenleiter umwerfend sein auf dem Gipfel. Abgesehen davon wollte er mit Loren sprechen. Die zierliche Blonde aus L.A. hatte es ihm schon im Car angetan. Wer weiss wie Lange die gemeinsame Reise nach dem Trecking noch dauern würde. Und seine Lebens- und Reisegeschichten konnte er durch die etlichen Wiederholungen schon so herzerwärmend erzählen, dass Loren sicher noch ein zwei Tage mit ihm weitergereist wäre. 3. Strophe Oh verlorener Wanderer. Wie verbleicht dein Haar. So wie die Erinnerung an Zuhause. Aufgebrochen zu neuen Ufern. Gefangen in den alten Mustern. Du wolltest Du solltest Entdecken und erleben. Erfühlen und durchweben. Nicht ist es dir gelungen den Glaskäfig zu durchbrechen und die Welt mit neuen Augen zu betrachten. 4. Sequenz

Epilog Nicht nur die wechselnden Themen und Autoren bringen einen Perspektive-Wechsel. dieperspektive ist eine Plattform für Gedichte, Videos, Musik, Reportagen und Bilder. Einiges online, einiges offline. Die Frage der Form oder auch des Mediums ist eine entscheidende. Eine Bildstrecke ist in der Printzeitung platzkritischer. Ein Online-Titel muss besonders aufmerksamkeitshaschend sein um nicht ein Sandkorn in der Big Data Wüste zu werden. Einen Video abzudrucken, wohl ein Ding der Unmöglichkeit, abgesehen vom Daumenkino oder einem paradoxen Storyboard, wie oben versucht. Es kostet mich einiges an Überwindung, das Terrain meiner liebsten und geläufigsten Darstellungsform zu verlassen (welche das ist sei hier dem Effekt zuliebe einmal dahingestellt). Habe ich den gewohnten Pfad einmal verlassen, geniesse ich es, eine andere Form des Schreibens und Gestaltens zu benutzen. Ich bin jedes mal erstaunt, wie schnell ich mich nach nur wenigen Strichen/ Buchstaben beginne darin wohl zu fühlen. Ich entdecke mir Bekanntes in Neuem. Bei den einen Formen mehr bei den anderen weniger. Das ist ein wenig wie beim Reisen. Man fühlt sich in den anderen Kulturen schnell wohl, lernt neue Denkmuster kennen. Schätzt das Neue, die erfrischende Abwechslung, welche nach einiger Zeit den fahlen, modrigen Beigeschmack des Altbekannten annimmt. So ganz geborgen und verstanden fühle ich mich aber nur in genau diesem Altbekannten, meinem Zuhause, wo mich in regelmässigen Abständen das quälende Fernweh packt.

Für die Redaktion, Conradin Zellweger HINTERGRUND ZWISCHEN FERN- UND HEIMWEH

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Das Duell Nr. 18

LONELY PLANET Simon Jacoby: Herr Werder, die Sonne strahlt und wir schreiben über Lonely Planet. Das ist ja nicht nur der Name eines beliebten Reiseführers. Wissen Sie, was Lonely Planet auch noch heisst? Peter Werder: Vielleicht kommt die Textpassage in einem links-grünen, kulturpessimistischen Lagerfeuerlied vor, das Sie jeweils vor den Parteiversammlungen zu schrummliger Gitarrenbegleitung krähen? SJ: Oh das wäre schön. Lagerfeuer und Gitarrenmusik. Ich dachte eher an die Übersetzung ins Deutsche: einsamer Planet. Der Reiseführer gibt Orientierung, damit man nicht alleine ist. PW: Ah, da war nicht mehr dahinter. Ja, genau - einsamer Planet. Und: Reiseführer gibt Orientierung. So weit, so gut. Und jetzt? Sie wollen auf die Einsamkeit hinaus, in der man sich unter so vielen anonymen Menschen befindet? Die gesellschaftliche Kälte, die Orientierungslosigkeit? SJ: Ja, so in etwa. Aber nicht im Lokalen. Da hat man ja Freunde und Feinde und so weiter. Aber im Globalen. Fühlen Sie sich nicht wahnsinnig klein als nur einer von acht Milliarden? PW: Nein. Ganz normal. Mir geht es gut. Fühlen Sie sich klein? SJ: Soweit ich mich erinnere, bin ich etwas grösser als Sie. Im Ernst: Ich fühle mich schon recht klein. Ich verdeutliche Ihnen mein Argument mit einem Beispiel: Wenn man alle Chinesen auf alle Länder der Welt verteilen würde, wären das 6.7 Millionen Chinesen pro Land. Das sind verdammt viele! Vor allem in kleinen Staaten wie der Vatikan einer ist. Und ich kenne keinen einzigen davon. Aber mein iPhone wurde von ihnen zusammengebaut. PW: Möchten Sie denn den Chine-

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sen, der Ihr iPhone zusammengebaut hat, kennen lernen? Was würden Sie ihn fragen wollen - ob es ihm Spass gemacht hat? SJ: Diese Antwort glaube ich schon zu kennen. Ich finde es verrückt, wie gross und unscharf die ganze Welt ist, ich aber mit den modernen Technologien alles und jederzeit über die Kugel schicken kann. PW: Vor einigen Jahren hat man das "Global Village" genannt.

die in den blauen Uniformen, die das wankende System verteidigen wollen. Wollen Sie schon wieder auf die arm/reich Diskussion raus? Haben Sie Angst, dass Sie eines Tages nicht mehr übers Wochenende in einer luxuriöse Herberge im Elsass übernachten können und stattdessen mit Schlafsack am Waldrand? Keine Sorge, ich ziehe Ihnen Ihr Geld nicht aus der Tasche. PW: Die in den blauen Uniformen verteidigen meist einen Staat, der den Bürgern mehr und mehr Geld aus der Tasche zieht, um es in einem ineffizienten Apparat verschwinden zu lassen - dies unter eine p s e u d o - Ro b i n - H o o d Deckmänteli. Oder welche Ebene haben Sie denn gemeint? SJ: Diese Ebene: Es ist (fast) allen möglich, rund um die Welt zu reisen. Die Kosten dafür sind so tief wie nie zuvor. Immer mehr Menschen sehen immer mehr von der ganzen Welt. Immer mehr Studis und Jugendliche lernen asiatische und südamerikanische Trinkspiele kennen. Und das finde ich gut so! Das ist die eine Ebene. Die andere: Während der «Lonely Planet» Tipps abgibt, wo die schönsten Plätze sind, ist es teilweise unmöglich, die fremde Kultur und die fremden Menschen richtig kennen zu lernen. Die Technologie und der Markt sind der menschlichen Entwicklung voraus! PW: Jetzt sind wir bei der Definition von «richtig». «Richtiges» Reisen - wer definiert das? Wer sagt, dass es «richtiger» ist, die Menschen so kennen kennen zu lernen, dass ich mich mit ihrer Psyche auseinandersetze? Reisen ist eine Utopie. Wenn Sie an Luzern denken - was sehen Sie dann? Sicher nicht die Wohnblöcke. Wenn Sie an Florenz denken, was sehen Sie dann? SJ: Haha! Sie sind lustig. Wenn ich

WENN ES FÜR ALLE FREIHEIT GIBT, ERST DANN SIND WIR NICHT MEHR ‹ALLEIN› AUF DEM PLANETEN

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SJ: Das ist es ja nie und nimmer. Wollen Sie es nicht verstehen oder schreibe ich so undeutlich?! Es ist eben nicht auf allen Ebenen gleichzeitig ein globales Dorf. Das wird es auch niemals werden. PW: Natürlich ist es nicht auf allen Ebenen ein globales Dorf. Es ist ein Modell mit Vor- und Nachteilen, es ist aber immerhin ein Ausdruck eines historischen Siegs über die ganz grossen Unterschiede. Noch nie ging es den Armen so gut wie heute, und es gibt noch viel Potenzial im System, dass es noch besser wird. Wenn Sie und Ihre Gleichheitswahnkollegen dem mit Ihrer Umverteilungswut nicht einen Riegel schieben, indem Sie den Erfolgreichen weiterhin Knüppel zwischen die Beine werfen. SJ: Die mit dem Knüppel sind meist

DAS DUELL LONELY PLANET

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an Florenz denke, sehe ich den dicken Boticelli. PW: Ja, Sie vielleicht, weil Sie das Privileg hatten, sich mit Kunst auseinander zu setzen. Reisen stellt eine Art Utopie dar. Sie müssen nicht, aber Sie können in dieser künstlichen Welt reisen. Das ist weder richtig noch falsch. SJ: Da gebe ich Ihnen Recht. Ich finde es trotzdem schade, dass es mir fast unmöglich ist, mit einem vietnamesischen Reisbauern zu sprechen. Ich denke, der hätte Spannendes zu erzählen. Heute: Ich komme zu ihm, kann mich dann aber nicht austauschen. Das ist auch Lonely Planet. PW: Vielleicht will er ja nicht mit Ihnen reden? SJ: Ja, genau! Das ist es ja gerade! PW: Es ist die Freiheit, die Sie wieder stört! Lassen Sie doch allen Menschen die Freiheit, die Gespräche zu führen, die Sie wollen - die Ferien zu verbringen, die sie wollen. Worin liegt der Mehrwert, das Konzept dieser globalen Nähe zu perfektionieren und auf jeder Ebene Nähe herstellen zu müssen? Es ist doch ok, wenn ich den Hersteller meines iPhones nicht kenne, wenn ich aus lauter Oberflächlichkeit nach Las Vegas oder Bangkok reise, ohne gleich ein Kulturseminar zu besuchen. SJ: Ja, wenn es für alle Freiheit gibt.

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Erst dann sind wir nicht mehr «allein» auf dem Planeten. Denken Sie die Thailänderin im Füdli-Schuppen in Bangkok freut sich, wenn Sie kommen? PW: Wohl genauso wenig, wie wenn Sie in den Füdlischuppen gehen und dort reden wollen. SJ: Ich geh gar nicht rein, wenn die mich nicht wollen. PW: Die lassen Sie gar nicht mehr rein. Denn wahrscheinlich hängen dort überall Bilder von Ihnen mit der Aufschrift: «Warning - man wants to talk about social injustice and doesn't pay nothing».

Das Duell: Beim Duell stehen sich jede Ausgabe Peter Werder und ein Mitglied der Redaktion zum aktuellen Thema der Ausgabe gegenüber. * Dr. Peter Werder ist bürgerlicher Politiker, Dozent an der Universität Zürich und leitet die Kommunikation eines Konzerns im Gesundheitswesen * Simon A. Jacoby, 24, Co-Chefredaktor von dieperspektive, Student der Politologie und Publizistik- & Kommunikationswissenschaft und aktiver Politiker, aus Zürich


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Wenn Zürcher b

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Das Theater um das Kongresszentrum war gestern. Nun ist es an der Zeit, die Hafenkran-Diskussion wieder aufleben zu lassen. Denn kaum jemand ahnt, was dieser für die Stadt Zürich bedeutet.

{Text} * Heinrich Frei

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anch einer kritisierte den Zürcher Stadtrat, weil er auf ein neues Kongresszentrum verzichten will. Wichtiger wäre aber, dass sich der parade-liberale Thomas Held und die anderen ungehorsamen Unternehmer für den Hafenkran engagieren würden! Nicht das die SVP mit ihren Banausen die von Kunst nichts verstehen diesen Kran nicht noch verhindern. Der Hafenkran am Limmatquai wird tausende, wenn nicht zehnttausende Touristen nach Zürich locken, wie das Kolosseum in Rom. Zudem hat der Hafenkran auch noch einen praktischen Nutzen. Mit dem Hafenkran könnte das in Zürich produzierte Kriegsmaterial auf Limmat-Barken verladen werden. Die Kanonen, Granaten könnten dann via Limmat, Rhein, Rotterdam ökologisch sauber an die Kriegsgurgeln im Nahen und Fernen Osten und an die immer wieder kriegführenden Nato-Staaten geliefert werden. Der Hafenkran könnte auch für die Verschiffung von Gold benutzt werden. Nicht weit vom Limmatquai, unter dem ausgehöhlten Paradeplatz lagern die Zürcher Grossbanken ihre Goldschätze, wie die finnische Zeitung Aamulehti aus Tampere kürzlich schrieb. Zu hoffen ist, dass sich nach der Montage des Kranes der Zürcher Heimatschutz gegen den Abbruch des Hafenkranes wehrt, denn er soll nur sechs Monate lang stehen bleiben. Der Hafenkran müsste

eigentlich schon vor der Montage in die Liste der schutzwürdigen Objekte aufgenommen werden. Zahlen und Fakten zum Hafenkran 600 000 Franken soll der Hafenkran die Stadt Zürich kosten. Das umstrittene Kunstprojekt spielt mit der Idee, das Zürich einmal richtigen Hafen hatte. Obwohl die Limmatstadt seit 18 Mio Jahren keinen Meeranschluss mehr hat, gibt es seit dem Frühmitelalter immer wieder Häfen und Schiffe für den Personen- und Warentransport. Nachdem der Gemeinderat 2009 das Budget für das Projekt verweigerten, war die Realisierung ungewiss. Im Jahre 2012 wird der Hafenkran definitiv bewilligt. Die Realisation kann auch nicht mehr mit einer 60 000 Franken Initiative aus dem rechten Lager gestoppt werden. Die Unterschriften sind da, aber bis die Initiative vor das Volk kommt, wird der Hafenkran längst wieder abgebaut sein. dieperspektive

* Heinrich Frei, 71, Architekt, langjähriger Beobachter der CH-Kriegsmaterialexporte und der Bauerei in Zürich

HINTERGRUND WENN ZÜRCHER BAUEN

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Fussball in Somalia

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{Text} Heinrich Frei

eit der Euro 08 spielen die Zürcher Fussballklubs GC und FCZ im neuen Letzigrundstadion. Die Fussballfans sind mit diesem Stadion nicht zufrieden, weil es kein reines Fussballstadion ist, sondern auch die Bedürfnisse des jährlich stattfindenden Leichtathletik-Meetings erfüllen muss. Am 22. September entscheiden die Stadtzürcher Stimmberechtigten ob beim Hardturm endlich ein neues, richtiges Fussballstadion gebaut werden soll.

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n Somalia, in der Stadt Merka, kann seit dem letzten Sommer auch wieder Fussball gespielt werden, am Sandstrand am Indischen Ozean. Die Jugend der Stadt freut sich. Die Al Shabab Milizen, die Merka lange beherrscht haben, hatten das Fussballspielen verboten. Al Shabab ist seit dem letzten August zum Glück aus Merka abgezogen.

* Heinrich Frei, 71, Architekt, langjähriger Beobachter der CH-Kriegsmaterialexporte und der Bauerei in Zürich

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HINTERGRUND FUSSBALL IN SOMALIA


Die Schweiz durch den Lonely Planet sehen Normalerweise ist der «Lonely Planet» im Ausland ein beliebter Begleiter. Wie ist es im eigenen Land oder sogar in der eigenen Stadt? Der Autor streifte durch verschiedene Schweizer Städte und wurde so urplötzlich zum Touristen in seiner Heimat. Komisch, sowas.

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{Text & Fotografien} * Marco Büsch

it Reiseführern ist es so eine Sache: Die einen schwören darauf und schauen lieber im Reiseführer nach, als auch nur einmal bei einem Einheimischen nachzufragen, andere verzichten bewusst auf Reiseführer, weil sie nicht auf den Pfaden reisen wollen, welche schon hunderttausende Touristen vor ihnen platt getrampelt haben. Ich persönlich bin im letzten Jahr durch Kolumbien gereist und war teilweise sehr froh, den Lonely Planet an meiner Seite zu haben. Es ist manchmal doch gut, wenn man an sicherer Stelle nachlesen kann, welche Gepflogenheiten im jeweiligen Land vorherrschen, ohne gleich in jedes Fettnäpfchen treten zu müssen. Der Lonely Planet gilt unter den Reiseführern für viele Rucksacktouristen als die erste Wahl: In kaum einem anderen Reiseführer geben die Autoren so schonungslos ihre Meinung preis – und diese Ehrlichkeit schafft Vertrauen. Zudem zeigt einem der Lonely Planet anhand preiswerter Tipps, wie man gemütlich durch ein Land reisen kann, ohne gleich geschröpft zu werden. Aber ist der Lonely Planet wirklich noch immer so gut wie er es in den 1980er-Jahren war? – Wo könnte ich das besser testen als auf heimischem Boden: Ich habe mir die neuste Ausgabe des Lonely Planet gekauft und die Städte Solothurn, Biel, Winterthur und Zürich besucht. Wobei ich einen Punkt vorweg nehmen möchte: Die Schweiz ist kein Rucksacktouristen-Land. Die Schweiz ist teuer, teuer, teuer. Der Lonely Planet weist auf jeder zweiten Seite darauf hin, was aber nicht unbedingt nötig wäre, denn man kommt kaum herum,

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es am eigenen Leibe zu erfahren: Die Bahnfahrten, das Essen, die Eintrittspreise - es gibt kaum eine Sache, die nicht teuer ist. Aber der Lonely Planet gibt sich wirklich Mühe. Und ich gebe mir dafür Mühe, die Schweiz einmal mit den Augen eines Touristen zu sehen.

Solothurn: Brunnen und Musikanten Tritt man aus dem Bahnhof von «Switzerland‘s most beautiful baroque town», schaut es gar nicht so barock aus: Ein weiter Platz, eine dicht befahrene Strasse, ein paar neue Häuser, alles ziemlich urban. Die Altstadt Solothurns will erst einmal gefunden sein, aber dann verspricht der Lonely Planet nicht zuviel: «an enchanting little town with a mellow stonecobbled soul», von wo die 66 Meter hohe St. Ursen Kathedrale (Kronenplatz) schon von weitem zu sehen ist. Diese schaue ich mir als erstes von innen an, nachdem ich mir im Touristen-Büro am Platz eine kleine Karte Solothurns geben lasse. Im Lonely Planet wird es äusserst treffend beschrieben, wenn dort steht, der Architekt Gaetano Matteo Pisonie «went wild inside with a white-and-gilt trip of wedding-cake baroque». Es sind solche Sätze, welche den Lonely Planet zu einem der Spitzenreiter und den Reiseführern macht. Im Innern wird mein Schreiten durch die Kathedrale von Gesang eines alten Mannes (vielleicht der Pfarrer?) untermalt, was dem Moment eine gewisse Erhabenheit verleiht und mich als eigentlichen Nicht-Kirchengänger doch feierlich innehalten lässt.

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Typisch Solothurn: Die reich verzierte Statue auf dem Gerechtigkeitsbrunnen

Das Praktische an Solothurn ist zweifelsohne, dass es kleinräumig gebaut ist; die Sehenswürdigkeiten, welche im Lonely Planet beschrieben werden, liegen fast alle meist nur wenige Gehminuten auseinander. Ich trete also durch das Baseltor und bestaune das «most attractive city gate» von der «city‘s former bastion, which makes for a decent picnic spot», mache einen kurzen Abstecher zum Museum Altes Zeughaus (Zeughausplatz 1), stehe aber vor verschlossenen Türen, weil es erst um ein Uhr nachmittags öffnet (und es mittlerweile erst elf Uhr ist...), wie es auch schwarz auf weiss im Lonely Planet steht: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Trotzdem geht es voller Enthusiasmus weiter zur Jesuitenkirche, welche im Innern wunderschöne Stukkaturen im italienischen Stil bereit hält, der Lonely Planet lässt mich aber auch wissen: «all the ,marble‘ in here is fake». Danke, aber ich finde die Kirche trotzdem schön. In der Altstadt Solothurns hat es übrigens von zwei Dingen genug: reich verzierte Brunnen und Strassenmusikanten. Von den ersteren wird im Lonely Planet vor allem der Gerechtigkeitsbrunnen (Hauptgasse) hervorgehoben, welcher zur Belustigung des Reiseführers wichtige Figuren aus dem 16. Jahrhundert abbildet: «The Holy Roman Emperor [...], the Pope, the Turkish Sultan and... the mayor of Solothurn». Als Stadtzürcher fallen einem aber vor allem auch die vielen Strassenmusikanten auf, welche einen faszinierenden Kontrast zur doch sehr urschweizerischen Architektur darstellen: So hört und sieht man einen blinden Tamilen Handörgeli spielen, einen Asiaten mit Brasilien-Trikot «Hotel California» singen sowie eine Gruppe Südamerikaner mit Trommeln, Saxophonen und Handorgeln ausgerüstet musizieren. Man wünschte sich, in Zürich würden Strassenmusikanten wie hier mit dem nötigen Respekt gewürdigt werden statt vom Platze gewiesen zuwerden. Ich

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Der Gedeon-Brunnen und die St.Ursen-Kathedrale, Solothurn

stehe auf dem Marktplatz und betrachte den Zeitglockenturm, um dann im Lonely Planet zu lesen, dass ich die Stadt doch lieber an einem Mittwoch besucht hätte, weil dann jeweils ein Markt stattfinde. Zu guter Letzt besuche ich das Kunstmuseum (Werkhofstrasse 30), bei welchem man « a dmission by donation » erhält. Ich beschliesse erst zu spenden, wenn ich mir die Ausstellung angesehen habe und ernte dafür einen bösen Blick der Empfangsfrau, welche dafür um so herzliche Danke sagt, als ich dann beim Hinausgehen doch noch ein paar Münzen in den Glasbehälter werfe. Ein langer Besuch wird es nicht, denn die Kunstwerke und Gemälde sind zwar schön, weniger schön ist aber der Wachmann, welcher mich, weil ich der einzige Besucher des Museums bin, ständig in ungefähr fünf Metern Abstand beobachtet/

LONELY PLANET DIE SCHWEIZ DURCH DEN LONELY PLANET

verfolgt. Nun denn, auf nach Biel/Bienne!

Biel: Kultureller Schmelztiegel Ganz in Lonely Planet-Manier ist Biel der «slap bang on the Röstigraben» mit seinem französisch-deutschen-Mischmasch: «Locals are prone to switching language mid-conversation». Und tatsächlich: Kaum stehe ich im Coop am Bahnhof (einem der grössten, den ich je gesehen habe), spricht die Kassiererin mit dem Kunden vor mir eine Mischung aus Schweizerdeutsch, Französisch und Serbisch. Mehr multikulturell ist wohl kaum möglich, der Lonely Planet sollte entsprechend angepasst werden. Biel ist aber nicht nur die Stadt, in der die Strassenschilder alle zweisprachig angeschrieben sind, sondern auch die Heimat der weltbekannten Omega-Uhren. Das Omega


Museum ist ein wenig abgelegen von den anderen Sehenswürdigkeiten, welche im Lonely Planet beschrieben werden, aber durchaus ein Abstecher wert, denn es ist tatsächlich «well done» und «for free». Nur ist das Museum nicht wie im Lonely Planet beschrieben an der Stämpflistrasse, sondern an der Jakob-Stämpflistrasse 96. Google Maps sei Dank, habe ich es trotzdem gefunden. Ansonsten wäre ich wohl irgendwo in Bern gelandet, denn dort gibt es tatsächlich eine entsprechende Strasse. Im Reiseführer werden aber vor allem Sehenswürdigkeiten in oder nahe der Altstadt beschrieben, rund um den so genannten Ring, ein Platz auf welchem «justice was dispensed [.] as community bigwigs sat in a semicircle passing judgement on unfortunate miscreants brought before them». Ich betrete die Burggasse und stehe kurz darauf vor einem (weiteren) Gerechtigkeitsbrunnen. Von diesen scheint es in der Schweiz so einige zu geben. So viel Gerechtigkeit macht hungrig (oder «der Hunger des Gerechten») und so begebe ich mich zur Untergasse/Rue Basse 21, wo das «hip and alternative restaurant, bar and gallery» Coopérative St. Gervais liegt, welches als «top choice» gilt und mit nur einem Dollarzeichen gekennzeichnet ist. Für einen Studenten also genau die richtige Adresse, nachdem einem die Kosten für die Bahnfahrt schon ein mittelgrosses Loch ins Portemonnaie gerissen haben. Ich nehme eines der Tagesmenues, Poulet «sweet n‘sour» mit Nudeln und Gemüsebeilage, was da wären: Fenchel, Rüebli und Dinge, die ich nicht genauer identifizieren konnte, aber fein schmeckten, dazu ein wenig Blattsalat mit Kresse, Kürbissauce und feinem, knusprigem Brot zur Vorspeise: Ein wirklich gutes Menu für 20 Franken. Die Bedienung in schwarz, mit Tattoos

und violetten Haaren ist überfreundlich. Vielleicht liegt es daran, dass ich den Lonely Planet vor mir auf den Tisch gelegt habe, aber trotzdem fliessend Schweizerdeutsch spreche: Da ging wohl der Gastrokritikeralarm los! Nun, ich liess es mir gefallen. Und wäre ich ein wenig früher dran gewesen, hätte ich vielleicht auch an einem der Tische unter den schattenspendenden

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SLAP BANG ON THE RÖSTIGRABEN

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Bäumen vor dem Restaurant Platz nehmen können, aber wie schon der Lonely Planet warnt: Die Plätze sind zwar «charming» aber auch «always packed». Nach dem Mittagessen liess ich die «contemporary art» des Centre PasquArt (Seevorstadt 71-73) kurzfristig beiseite und begab mich zum Museum Schwab (Seevorstadt 50), um mir das «modest archeological museum» anzusehen. Leider hatten gefühlte fünf Schulklassen dieselbe Idee gehabt und so verzichtete ich auch

hier auf eine genauere Besichtigung von innen, so bleibt mir nur zu schreiben, dass zumindest die Villa von aussen ein rechtes Bijou ist. Dabei wäre auch dieses Museum «for free» gewesen. Vielleicht bei einem nächsten Besuch. Nun galt es, sich zwischen einem Glacé am See oder einer Fahrt mit der Magglingen Funicular (einer Standseilbahn) und einer anschliessenden Wanderung zu entscheiden. Nun, ich war doch schon einiges durch die Gegend spaziert und so fiel diese Wahl nicht sehr schwer. So bewegte ich mich dem Unteren Quai entlang in Richtung See, wobei ich an zahlreichen, eher unbequemen Parkbänken vorbeikam, dafür aber umso mehr meine Ruhe hatte, denn: Ich traf kaum Menschen an. Auch am See war trotz Sonnenschein und eidgenössischem Turnfest kein Riesengedränge und so konnte ich mich gemütlich auf eine Bank setzen und mich von meiner kleinen Reise erholen. Biel ist vielleicht «far from being Switzerlands most picturesque town, and for many Swiss it‘s often a place to change trains», aber genau hier in dieser kleinen Stadt trifft sich noch dieser ländliche Frieden mit der urbanen Hektik und wird zu einem durchaus interessanten und spannenden Schmelztiegel aus dem, was die Schweiz zu bieten hat: Für mich eine der schweizerischsten Städte überhaupt!

Winterthur: Kleiner grosser Nachbar Das arme Winterthur: Überall ergeht es ihm gleich, es wird unterschätzt. Im Lonely Planet wird zwar angemerkt, dass es sich um die «sixth largest city» in der Schweiz handelt, welches zudem ein «cultural powerhouse» ist, wird dann aber doch nur in der Rubrik «Around Zürich» geführt und bekommt im Reiseführer we-

Biel ist Bilingue LONELY PLANET DIE SCHWEIZ DURCH DEN LONELY PLANET

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niger oder höchstens gleich viel Platz zugesprochen wie (zum Teil deutlich) kleinere Städte wie Luzern, Biel, Lugano oder St. Gallen. Über die Gründe lässt sich streiten, vermutlich ist Winterthur einfach wie immer zu nahe am übergrossen Zürich und wird nicht wirklich als eigenständige Stadt angeschaut, welche sie jedoch eindeutig ist. Das ist schade, denn «Winti» hat wirklich einiges zu bieten, wenn man ein bisschen genauer hinschaut.

1) und das Schloss Kyburg geschlossen. Die sind da wirklich ziemlich strikt. Nun denn, die Eiserne Jungfrau in der Kyburg hatte ich als Kind schon gesehen, aber nicht betreten, denn: «try on a suit of armour – but not the torture instruments!» – Abgesehen davon zählt für mich die Kyburg ohnehin nicht wirklich zu Winterthur, aber der Lonely Planet wollte wohl nicht noch ein «Around Winterthur» machen, nachdem Winterthur ja schon «Around Zürich» ist.

Dem gemeinen Touristen dürfte Winterthur vor allem durch das gleichnamige Versicherungsunternehmen bekannt sein, welches in Europa zu einem der grössten in seiner Branche gehörte. Dem Lonely Planet ist dabei leider entgangen, dass die Winterthur Versicherungen durch die französische AXA-Versicherungen geschluckt wurden. Nun gut, der Lonely Planet ist ja auch ein Reise- und kein Versicherungsbranchenführer. Einiges an Platz wird dafür auf die Kunstsammlungen des 1965 verstorbenen Oskar Reinhart verwendet, denn «Winterthur owes much of its eminence as an art Mecca to collector Oskar Reinhart». Es wird empfohlen, den stündlich fahrenden Museumsbus zu nehmen, welcher die Stationen Sammlung Oskar Reinhart am Römerholz (Haldenstrasse 95) («particulary fascinating»), das Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten (Stadthausstrasse 6) und das Kunstmuseum (Museumsstrasse 52) («solid collection») anfährt. Neben diesen Museen, welche alle grosse renommierte Kunstsammlungen beherbergen, wird im Lonely Planet das Fotomuseum/die Fotostiftung (Grüzenstrasse 44/45) als «top choice» genannt: «The vast collection includes many great names and styles from the earliest days of this art in the 19th century to the present». Das kann ich so nur unterschreiben, indem ich mich von früheren Besuchen daran erinnern kann, denn Kultur- und Museumsbanause wie ich bin, hatte ich mir natürlich genau den Montag ausgesucht um Winterthur zu besuchen, dabei weiss doch alle Welt, dass zumindest in der Schweiz die Museen am Montag geschlossen sind. So hatten denn auch das Technorama (Technoramastrasse

Will man das Technorama besuchen, so lohnt es sich schon beinahe, ein 2-Tages-Museumspass für 35 Franken zu kaufen, denn der Eintritt für das Technorama alleine ist für eine erwachsene Person schon 26 Franken. Dies wurde leider im Lonely Planet nicht aktualisiert, in welchem der 2-Tagespass immer noch 30 Franken kostet und das Technorama 25 Franken. Man fragt sich zuweilen, was denn an den Reiseführern aktualisiert und verbessert wird, wenn immer wieder neue Editionen auf den Markt kommen. Nichtsdestotrotz, das «swiss science center» Technorama ist wirklich seinen Besuch wert und man sollte sicherlich viel Zeit mitnehmen, will man einen Grossteil der «500 interactive experiences» selbst durchführen, vor allem auch, weil die Räumlichkeiten eigentlich zu jeder Zeit der Woche gut gefüllt sind mit Kindern und Erwachsenen jeglichen Alters. Ein grandioses Museum, aus welchem ich sowohl als Kind wie auch als Erwachsener stets immer wieder total fasziniert von der Welt herauskomme, insbesondere die «Elektrizitäts-Demonstration der Superlative», bei welcher einem die Haare zu Berge stehen, ist jedes Mal wieder ein Muss!

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Nun wollte ich meinen museumsfreien Tag in Winterthur doch nicht ganz ungenutzt lassen und spazierte durch die wunderschöne Altstadt, welche einem eindeutig nicht so eng vorkommt wie das Zürcher Niederdörfli. Ich flanierte durch den halbleeren Stadtpark und legte mich dann im «Vögelipark» neben der Volière auf eine Parkbank und genoss einen ausgiebigen Mittagsschlaf. Danach wollte ich

DER LONELY PLANET-EINTRAG ÜBER WINTERTHUR WIRD DER STADT NICHT GERECHT

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LONELY PLANET DIE SCHWEIZ DURCH DEN LONELY PLANET

in der empfohlenen Gotthard-Bar (Untertor) ein Bier geniessen, hat die Bar doch rund um die Uhr geöffnet. Leider hat die Riesenbaustelle auf dem Bahnhofsplatz auch fast 24/7 geöffnet und so verzichtete ich dankend auf ein wohlverdientes Haldengut (das heimische Bier mit dem Slogan: «Ein Stück Heimat»). Ein Besuch im Albani (Steinberggasse 16) konnte ich mir auch schenken, weil es bis auf den letzten Platz besetzt war und so machte ich mich auf den Weg zur anderen Seite der Geleise, nämlich zum Sulzer-Areal. Hier läuft so einiges, was der Lonely Planet leider nicht mitbekommen hat, da hätte er mal lieber hier ein bisschen besser nachgesehen, statt das gescheiterte Projekt des Zürcher Puls 5 in den Reiseführer aufzunehmen: Hier wird gezeigt, wie man Industriegebiete kreativ zu nutzen hat. Mir wurde empfohlen, dass bei der Bar Portier (Lagerplatz 3) am Montag der Monomontag stattfinde, bei welchem immer ein Künstler einen kleinen Gratis-Auftritt habe und so lauschte ich den Klängen eines Gitarre spielenden Zürcher Singer-Songwriters und trank dazu einheimische Biere. Eine weitere Empfehlung wäre die Bar Boilerroom, welche sich im Kesselhaus (Zürcherstrasse 1+3) befindet und ein gemütliches Ambiente bietet in einer 18 Meter hohen Halle: Hier fühlt sich niemand zu gross. Alles in allem bleibt festzuhalten, dass der Lonely Planet-Eintrag über Winterthur der Stadt nicht wirklich gerecht wird, wenn er das Sehenswerte in erster Linie auf Kunstsammlungen und das Technorama runterbricht. Und wenn man bei Zürich in einer Sparte wie «Festivals & Events» schon Feste wie das Sechseläuten, das Knabenschiessen oder die Streetparade beschreibt, müsste doch für Winterthur auch ein wenig Platz übrig sein, um über die Musikfestwoche, die Afropfingsten, das Albanifest oder die Kurzfilmtage Winterthur usw. zu berichten. Es bleibt anzumerken, dass Winterthur durchaus auch einen Tagestrip wert ist, selbst wenn man die im Reiseführer beschriebenen Museen nicht besucht hat.

Zürich: Das hippe Enigma Die Probe aufs Exempel für den gebürtigen Stadtzürcher ist es natürlich, Zürich mit dem Lonely Planet zu erkunden: Die meisten Orte hatte ich schon früher besucht und konnte hier wahrscheinlich ein bisschen besser als an den vorher beschriebenen Orten einschätzen, inwiefern der Lonely Planet manchmal über- oder auch untertreibt. «Zürich is an enigma», «Switzerland’s biggest city is not only efficient, it is also undeniably hip», «Zürich is an attractive city to visit at any time of year»: Das sind Worte, die ein Stadtzürcher ungemein gerne über seine Stadt liest und auch abnickt. Passt so. Aber nun ist einem genug Honig ums Maul geschmiert wor-


Die Zürcher St.-Peter-Kirche mit dem grössten Turmzifferblatt Europas

trick of combining its obvious wealth with a sense of devilish social-artistic troublemaking». Kann man so durchaus so unterschreiben. Ein weiterer Ort, welcher Kultur perfekt mit dem Gemütlichen verbindet, ist das Museum Rietberg (Gablerstrasse 15): Abgelegen zwischen Bahnhof Enge und Bahnhof Wollishofen liegt dieses Museum, welches «the country’s only assembly of Africa, Oriental and ancient-American art» – über drei Villen verteilt – zeigt. Umgeben sind die Villen von einem grossen «leafy park», welcher sich ausgezeichnet zur Erholung eignet, denn auch im Sommer ist kaum je eine Person in diesem Park anzutreffen, sei es, weil er so abgelegen liegt oder einfach kaum jemand von seiner Existenz weiss: Ein echter Geheimtipp!

Hippe-Grossstadt Zürich: Freitagturm und Prime Tower

den; Weiss der Lonely Planet wirklich, wo die hipsten Plätze zu finden sind? – Und kann ein echter Stadtzürcher tatsächlich noch etwas von diesem Reiseführer lernen? Alle beschriebenen Orte zu besuchen, hätte meinen zeitlichen Rahmen gesprengt, denn der Lonely Planet räumt der Stadt Zürich in seinem Reiseführer (zu Recht?) mit Abstand am meisten Platz ein. Beginnen wir mit einer «top choice», dem Kunsthaus (Heimplatz 1): Es sei als erstes darauf aufmerksam zu machen, dass der Eintritt nicht – wie im Lonely Planet beschrieben – 16 Franken kostet, sondern 15 Franken. Es scheint einer der seltenen Fälle zu sein, in welchem die Schweiz teurer eingeschätzt wurde als sie tatsächlich ist. Zudem sei darauf hingewiesen, dass die Besichtigung der Sammlungen am Mittwoch sogar kostenlos ist. Meine persönlichen Lieblingsräume im Kunsthaus sind übrigens diejenigen mit der Schweizer Malerei. In diesen kleinen, dunklen Räumen fühlt man sich gleich um 150 Jahre

zurückversetzt. Aber auch sonst beinhaltet die Sammlung, um den Lonely Planet zu zitieren: «[A] rich collection of largely European art that stretches from the Middle Ages through a mix of old masters to Alberto Giacometti [...], Monet and Van Gogh masterpieces [...]». Sollte man auch nur ein bisschen an Kunst interessiert sein, so ist ein Besuch im Kunsthaus sehr zu empfehlen. Besonders an einem Mittwoch. Und am besten zur Mittagszeit, wenn das Kunsthaus nicht von lauter gelangweilten Schulklassen bevölkert ist. Eine etwas eigenwilligere Art der Kunst bietet sich einem im Cabaret Voltaire (Spiegelgasse 1) an, dem Gründungshaus des Dadaismus, welches auch schon ein-, zweimal als Veranstaltungsort für Perspektive-Anlässe diente. Ein Theater, ein Ausstellungsraum, Ort der Begegnung mit vielen unterschiedlichen und lustig zusammen gewürfelten Möbeln und einem ganz eigenen Charme. Und nicht zuletzt eine Bar mit einer grossen Auswahl an Absinth: «[I]t sums up the city’s contemporary

LONELY PLANET DIE SCHWEIZ DURCH DEN LONELY PLANET

Nachdem ich schon in Solothurn von einer Kirche zur anderen gewandert bin, liess ich mir dieses Schmankerl auch in Zürich nicht entgehen und betrat zumindest die drei bekanntesten Kirchen der Stadt: Die St. Peterskirche (St. Peterhofstatt) mit dem grössten Turmzifferblatt Europas, das Fraumünster (Münsterhof) mit den bekannten Chagall-Fenstern und dem Giacometti-Fenster «Himmlisches Paradies» und für mich das absolute Wahrzeichen von Zürich: Das Grossmünster (Grossmünsterplatz). Beim Grossmünster sollte man unbedingt einen der Türme besteigen (4 Franken für Erwachsene, 2 Franken für Studenten), denn die Aussicht über Zürich ist bezaubernd und der Aufstieg im engen Turm eine echte Herausforderung – insbesondere, wenn einem eine Gruppe von 50 Japanern entgegenkommt... In Sachen Essen und Trinken empfiehlt einem der Lonely Planet so einiges, ich gehe damit einig, wenn das allseits bekannte «very-old-school alternative» Café

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Zähringer (Zähringerplatz 11) sehr empfohlen wird. Die Raclette Stube (Zähringerstrasse 16) würde ich dann aber wirklich nur den touristischsten Touristen empfehlen. Aber, oh Wunder: «They do fondue too». Da würde ich lieber noch Edi’s Weinstube (Stuessihofstatt 14) ans Herz legen, mit seinem preiswerten Wein und den Fotografien und Bilder an den Wänden, bei welchen sich kaum Kunst von Pornografie unterscheiden lässt. Jetzt exklusiv auch PORNsecco zum Mitnehmen. Das Café Henrici (Niederdorfstrasse 1) ist auch sehr zu empfehlen mit seinem Sonntagsbrunchflammkuchen und dem breiten Kaffeesortiment, gemäss der NZZ am Sonntag «Zurichs best coffee». Der Reiseführer empfiehlt ausserhalb des Niederdörflis auch noch die klassischen Beizen und Cafés wie die Kronenhalle (Rämistrasse 4), den Zeughauskeller (Bahnhofstrasse 28a) und das Café Sprüngli (Bahnhofstrasse 21): Geheimtipps sind dies aber nicht wirklich, dafür teuer. Nun, ich würde dagegen halten mit dem Piccolo Giardino (Schöneggplatz 9) für die Fussballfans unter uns. Frau Gerolds Garten (Geroldstrasse 23), der Bar im «modularen Stadtgarten», welche gleich zwischen den beiden top choices Helsinki Hütte (Geroldstrasse 35) und dem berühmten Recyclingtaschen-Turm Freitag (Geroldstrasse 17) liegt oder dem sphéres (Hardturmstrasse 66), welches unter dem bezeichnenden Untertitel «Bar, Buch, Bühne» in Züri-West beheimatet ist. Beim Thema Züri-West («a hedonists’ playground») versagt der Reiseführer ein bisschen: Er bietet zwar einige Tipps an, darunter aber zum Beispiel auch das Puls 5 (Technoparkstrasse), welches zumindest in einer aktualisierten Version des Lonely Planet wieder gestrichen werden müsste, denn dieses Experiment hat ja nun wirklich nicht funktioniert.

Der Lonely Planet hat bezüglich der Stadt Zürich durchaus gute Arbeit geleistet, jedoch werden ein bisschen zu oft nur die klassischen alten Besichtigungs-Ziele und Restaurants genannt, welche auch in

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URBAN, KULTIVIERT, SAUBER UND DRECKIG

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jedem heimischen Touristenführer gut vertreten sind. In einer lebendigen Stadt wie Zürich würde es einem Reiseführer wie dem Lonely Planet gut anstehen, ein wenig mehr aktuelle Geheimtipps einzustreuen, wenn man schon eine aktualisierte Version des Schweiz-Führers auf den Markt bringt. Nun, Zürich ist und bleibt eine wunderschöne Stadt, für welche man selbstredend auch einen ganz eigenen Lonely-PlanetArtikel schreiben könnte. Ich hoffe, es ist daher zu entschuldigen, wenn ich gewisse Orte ausgelassen habe, wie zum Beispiel den Le Corbusier Pavillon und das Heidi Weber Museum (Zürichhornpark), welche zusammengerechnet satte drei Tage im Jahr geöffnet haben (!), oder das Johann Jacobs Museum (Seefeldquai 17), welches zwar kostenlos gewesen wäre, aber leider wegen Renovationsarbeiten geschlossen war. Das Knabenschiessen und das Sechseläuten habe ich leider auch verpasst, aber vielleicht wird es noch etwas mit dem Zürifest und der Streetparade.

Daheim auf Reisen

Winterthurer Altstadt

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Lonely Planet gibt es nun schon über dreissig Jahre und in dieser Zeit ist das Unternehmen zu einem Grosskonzern im Bereich der Reiseführer herangewachsen. Wie das so ist mit grösser werdenden Unternehmen, kommt man irgendwann an den Punkt, an dem man eine breitere Käuferschicht ansprechen will und nicht mehr – wie im Falle des Lonely Planet – die Rucksacktouristen ohne Geld. Ich stelle mir daher vor, dass die Schreiber des «Lonely Planet Switzerland» zusammen gesessen sind und sich überlegt haben, dass die Schweiz nun wirklich kein Rucksacktou-

LONELY PLANET DIE SCHWEIZ DURCH DEN LONELY PLANET

risten-Ort ist, weil: teuer, teuer, teuer. Und daher müsste man den Reiseführer in diesem Falle vor allem auf ein älteres und wohl auch betuchteres Publikum ausrichten. Und dieses Publikum mag halt vor allem Architektur, Kirchen, Museen und teure Restaurants. Vielleicht tue ich dem Lonely Planet hier unrecht, aber streckenweise wirkt der Reiseführer wirklich, als wäre er nach diesem Schema geschrieben. Ein weiterer Kritikpunkt dürfte sein, dass der Reiseführer trotz der «7th edition», welche im Juni 2012 erschienen ist, manchmal doch nicht wirklich aktualisiert ist und gewisse Fehler auch nicht nachbessert. Nun ja, aber dies soll nur als kleine Anmerkung dienen, lässt sich doch über diese kleinen Mängel hinwegsehen, denn im Grossen und Ganzen ist meiner Meinung nach einiges im Lonely Planet enthalten, was die Schweiz so ausmacht, und wenn Zürich innerhalb der ersten 20 Seiten schon «one of Europe‘s hippest cities and Switzerlands most urban» genannt wird, dann sind für mich als Zürcher alle Bedenken vom Tisch gewischt: Diese Leute verstehen ihr Handwerk! Nicht zuletzt bleibt es auch eine besondere Sache, sein Heimatland als Tourist zu bereisen und die Schweiz durch den Lonely Planet zu sehen. In Solothurn das Touristen-Büro zu betreten und sich freundlichst die Sehenswürdigkeiten erklären zu lassen. In Biel zweimal nach der Strasse zu fragen, weil der alte Mann, denn man zuerst gefragt hat, die Strassennamen nur auf französisch kennt. Im Winterthurer Stadtpark zu flanieren als wäre es der Hyde Park. Mindestens. In Zürich den kostenlosen Velo-Verleih «Züri Rollt» zu nutzen, obwohl das eigene Fahrrad gleich um die Ecke angekettet steht. Mit der Bahn fahren, aber das Touristische dann doch nicht ganz durchziehen, weil Reisen ohne Halbtax in der Schweiz an Wucher grenzt – bestes Schienennetz hin oder her. Auch wenn ich nur Schweizer Städte besucht habe und der ländlichen Schweiz mit meinem Besuch in Solothurn noch am nächsten gekommen bin, durfte ich doch einen Querschnitt durch die Schweiz erleben – zumindest der urbanen Deutschschweiz. Und was ich gesehen habe, gefällt mir in all seiner Vielfalt ausserordentlich: Die Schweiz ist schön, gemütlich, lebendig, bürgerlich, urban, kultiviert, sauber und dreckig in einem. Kurz: Ein Land zum Verlieben!

* Marco Büsch, 23, Politologiestudent aus Zürich, Filmfan und Hobbyrapper. marcobuesch.wordpress.com


Kein Mensch ist eine Insel Alleinsein geht gar nicht mehr. Dank dem Bildschirm als Fenster zur Welt sind wir ständig von unseren virtuellen Freunden umringt. Das Leben wird zu einer einzigen, unsäglichen Inszenierung.

{Text} * Katharina Scholz

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enn jemand alleine auf einen Berggipfel steigt und das zu seinen Füssen liegende Panorama fotografiert und online teilt, ist er dann wirklich alleine? Habe ich an allen Dinnerpartys teilgenommen, die meine Freunde live mit Bildern der Gänge illustriert über Twitter geteilt haben? Wem gehören diese Erinnerungen? Nur meinen Freunden oder auch mir und jedem, der sie sieht? Es gibt einen Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein. Während das Erstere keinen selbst gewählten Zustand, sondern einen Umstand darstellt ist Alleinsein oft ein herbeigesehnter Moment, der immer rarer wird. Gibt es einen Weg wirklich noch alleine zu sein? Hunderte von Facebook Freunden, ständiger Kontakt zu Menschen, wenn auch manchmal nur als Zaungast. Wann das Smartphone zum letzte Mal komplett ausgeschaltet war, daran kann man sich auch nicht wirklich erinnern. (Nein, die zwei Stunden im Flieger letzte Woche zählen nicht!) Das Internet als ständiges, individuelles Fenster zur Welt macht ein wirkliches Alleinsein fast unmöglich. Die Illusion ist, dass wir niemals alleine sind und doch sind wir es irgendwie.

Wenn man heute auf ein Konzert geht, dann stehen neben einem Menschen die das Konzert primär durch den kleinen Bildschirm eines Smartphones betrachten. Alles muss aufgezeichnet werden, wir drohen eine Generation von Menschen ohne Erinnerung aber mit Film und Bildbeweisen für alles zu werden. In der Masse der Konzertgänger, die Freunde neben einem steht man allein und erlebt seine Umwelt allein, hinter einem Bildschirm, ob es sich dabei um den heimischen Laptopmonitor oder sein mobiles Äquivalent handelt, spielt keine Rolle. Inwieweit hat sich unsere Wahrnehmung von Erinnerung verändert? Werden wir uns in zehn Jahren an das Konzert erinnern, das wir mit Freunden zusammen besucht haben, daran wie wir uns das letzte Bier geteilt haben und wann unser Lieblingssong gespielt wurde, oder ist die Erinnerung die wir «gemacht» haben in einem Ordner mit dem Titel «Sommer 2013» abgelegt, auf den wir nostalgisch zurückgreifen können, sollte uns danach sein. Perfektes Erinnerungsmanagement reduziert auf maximal zwei Sinne. Wo früher nur das Bild war, haben wir jetzt das Bild und den Ton. Instagram-Filter geben den unzähligen Bildern den Ruch des

LONELY PLANET KEIN MENSCH IST EINE INSEL

Besonderen, den Anschein der Zeit als Fotografie noch Überlegung bedeutete und mit begrenzteren Ressourcen geschah. Alles muss geteilt werden Immer, zu jeder Zeit. Leben wird zum dokumentierten Event. Man ist Regisseur des eigenen Lebensfilmes. Die Bilder Teil eines künstlichen Storyboards auf das wir zurückgreifen, sollte uns die Nostalgie übermannen. Nicht mehr der Moment selbst ist wichtig, sondern die Frage, ob aus ihm eine «gelungene» (sprich festhaltbare) Erinnerung wird. Das gesamte Leben muss Erlebnischarakter haben. Du bist, wo du dich das letzte Mal eingeloggt hast, wo du dein Mittagessen Instagrammed hast und wo genau dein Facebook Profilbild-Selfie entstand. Ob du dort allein warst oder bist ist egal, denn alle anderen sind ja auch dabei. * Katharina studiert Kulturwissenschaften und weiss aus dem Internet mehr über Dich, als ihr lieb ist. @Kat_Cohen

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Entfremdung In der Fremde ist alles ein bisschen anders. Wie ich mich in Frankreich zuhause glaubte, von den Einheimischen aber doch immer noch als Eindringling wahrgenommen wurde. Und was Spontanit채t mit Reisen zu tun hat. 16

LONELY PLANET ENTFREMDUNG


{Text} * Maude Ochsner {Illustration} * Andrea Isabel Walder

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usländisch, auswärtig, exotisch, fremdländisch, nicht aus der Gegend, nicht von hier, ortsfremd, von außerhalb, von auswärts; (gehoben) aus der Fremde; (landschaftlich, sonst veraltet) ausheimisch; (veraltend abwertend) welsch fernstehend, unbekannt, unvertraut; (emotional) wildfremdandere, andersartig, anders[geartet], exotisch, neu, unbekannt, ungewöhnlich, ungewohnt… (duden.de) Wir Menschen, wie auch der Taugenichts in J. von Eichendorff Erzählung, suchen die weite Fremde – doch wozu eigentlich? Fremd kann man sich schon im eigenen Land fühlen, man braucht also nicht einmal die Landesgrenze zu überqueren um dieses Gefühl wahrzunehmen. In diesen Zeilen möchte ich aber das weite Fremde zum Thema nehmen. Weit weg vom Alltag: Das Vertraute fehlt, das Bekannte um uns herum, das was uns jeden Tag bewusst oder unbewusst umgibt, Anhaltspunkte geben uns eben Halt und Orientierung. Beim Reisen, beim Verlassen seiner Heimat trifft man das Andere, das Neue, das Unbekannte, das Ungewöhnliche und gerät so mehr oder weniger ins Schwanken und das hat eben seinen Reiz. Durch meine kurzen wie auch langen Reisen fühlte ich mich je nach Land und Stadt nach kurzer oder nach längerer Zeit wohl, um mich aber als Teil der Stadt und deren Bewohner zu fühlen, musste ich sie ein paar Monate bewohnen, wie beispielsweise in Lille-Frankreich, wo ich mich nach einigen Monaten als Lilloise fühlte. Die Stadt war mir nicht mehr fremd, ich konnte mich darin orientieren. Aber auch nur weil ich dort arbeitete, so wie die Bewohner selber und Französisch meine Muttersprache ist. Ich war nicht nur Touristin, ich war im Alltagsleben verankert. Meiner Meinung nach spielt die Sprache auch eine wesentliche Rolle, Amerikaner, die ich dort antraf, welche so wie ich, auch im Gymnasium unterrichteten und die französische Sprache, also eine Fremdsprache, nicht gut beherrschten, fühlten sich bis am Ende ihren Aufenthalts nicht daheim, also als Fremde. Sie konnten sich nicht mit den Einheimischen identifizieren, standen ausserhalb des Geschehens, unterhielten sich fast nur mit Menschen gleicher Nation und eben gleicher Sprache. Um sich also auf eine Reise in die Fremde zu begeben oder sich auch zu getrauen braucht man ein gewisses Verankert sein im eigenen Land um sich dann woanders gehen zu lassen und sich zu öffnen. Kennt man die netten versteckten Cafés, die gemütlichen Parks, die aussergewöhnlichen nicht Touristen-Plätze, spricht man mit Einheimischen, beginnt man die Stadt wirklich kennenzulernen, man ent-

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Das Fremde aufsuchen kann eine Flucht vor dem Bekannten, Vertrauten, Inländischen, Alten und Gewöhnlichen sein.

deckt sie, sie wird einem vertraut. Das zu Beginn Ungewöhnliche wird gewöhnlich, auch wenn man sich nicht an alles gewöhnen kann oder möchte. Nimmt man die Bürokratie in Frankreich als Beispiel, alles ist chaotisch, Briefe werden zu spät von den Angestellten gelesen und die Antwort erfolgt Monate später, diese Arbeitsweise ist mir fremd, dass so was für andere Menschen normal und vertraut sein kann ist für mich nicht nachvollziehbar. Das was man als fremd bezeichnet ist also sehr subjektiv, es ist eine Wahrnehmung, ein Gefühl und von Land zu Land, von Kultur zu Kultur, von Person zu Person unterschiedlich. Das Fremde aufsuchen kann aber auch eine Flucht sein, eine Flucht vor dem was wir zu Hause, in unserer Heimat vorfinden, eine Flucht vor dem Bekannten, Vertrauten, Inländischen, Alten und Gewöhnlichen. Wir begeben uns auf eine Reise ins Ungewisse und lassen unsere Heimat hinter uns, so wie auch der Taugenichts. Wir suchen gewollt das Andere, das Unvertraute um danach je nachdem festzustellen, dass man das Vertraute (zu Hause) vermisst. Manchmal muss man das Geschehen von aussen betrachten um den inneren Kern zu erfassen. Antoine de Saint Exupéry schreibt im «Le petit Prince» «…Pour regarder de plus haut, faire semblant de se laisser aller au vent. Pour inventer le sens du fil qui nous attache.» Doch kann man sich in einem (fremden) Land als einheimisch fühlen, aber Aussenstehende oder Einheimische sehen uns immer noch als Fremde, als Leute, die in eine andere Kultur eingedrungen sind, ohne dabei nach Erlaubnis gebeten zu haben und nicht mit dieser Kultur aufgewachsen sind. Angst vor dem Verfälschen-Verändern der eigenen Kultur steckt sicherlich dahinter… Wer hat Recht, wer hat dabei das Sagen? Selten plane ich meine Reisen in die

LONELY PLANET ENTFREMDUNG

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Fremde, ich verlasse mein Land und lasse das Ausländische auf mich wirken, man muss dieses Externe einwirken lassen, also eine gewisse Offenheit zulassen und dies fällt mir spontan leichter. Ein Gleichgewicht zwischen Neuem aufnehmen und Altem beibehalten ist das was ich (ver)suche - da es ja nicht darum geht das Fremde als eigen anzusehen, sondern es wahrzunehmen, dabei ist jede/r frei was sie/er damit macht. Es kann auch ein verreisen um sich, sein eigenes «ich» zu finden sein, den Sinn im Leben (wieder)zu finden und dabei (wieder) festzustellen was einem im eigenen Land, wie auch im Leben gefällt, was einem festhält und einen Halt gibt. Durch den Abstand, die Höhenmeter, die Kilometer, die Distanz, das von oben-weitem Betrachten, schaut man auch skeptischer auf seine Heimat nieder, man vergleicht, stellt Unterschiede und Gemeinsamkeiten fest, man lernt sein Eigenes, Getrautes, oder eben doch nicht so Getrautes, besser kennen…beim Zurückkehren ist es ein Wiederentdecken, Neubetrachten des Gewohnten mit neuen, erfahreneren Augen. Es ist also ein Wiederentdecken seiner Heimat die man zu kennen glaubte… Ich werde mich in Zukunft immer wieder in die mir unbekannte Ungewissheit stürzen wollen, aus freiem Willen… sei die Landung weich oder hart… wer kommt mit? * Maude Ochsner, 25, Primarlehrerin, hat soeben ein halbes Jahr in Lille - Frankreich verbracht, ist spontan, viel unterwegs und nimmt sich selten, ja eigentlich nie Zeit, um ihre Gedankengänge aufs Blatt zu bringen dieser Text war eine Nachtaktion. * Andrea Isabel Walder, 25, beschäftigt sich unter anderem viel mit Fotografie und Illustration, weil ihr die Bilder ins Gesicht springen oder einfach aus ihr heraus wachsen. www.andiiw.wix.com/aiwvision

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Fragen

{Text} Manuel Kaufmann

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Die beiden grössten Geschenke, die uns die Erde gemacht hat, sind ihre runde Form und die Bewegung der Kontinentalplatten. Ohne ersterer würde der Horizont bis zum Ende der Welt rücken, ohne zweitere gäbe es keine Berge. Ein etwas stärkeres Fernglas würde genügen, um Samoanern beim Nacktbaden zuzuschauen – und das wäre kein schöner Anblick, denn Samoa ist statistisch gesehen das übergewichtigste Land der Welt. Doch noch toller ist, wie unser Kartoffelplanet so ein Gefühl von Neugier in uns zu wecken weiss: Während Hänschen sich fragt, ob hinter den sieben Bergen wirklich sieben Zwerge leben, fragt sich Hans ob auf der anderen Seite der Erde die Leute tatsächlich Hunde essen. Du fragst dich wiederum, wer heute seine Kinder noch «Hans» nennt, während sich Hans fragt, warum sein Vater auch sein Cousin ist. Ich frage mich, wie ein Text, der das das Reisen thematisieren soll, plötzlich zu einem Text über die inzestösen Verhältnisse in unbenannten Bergdörfern wurde, und meine Mutter fragt sich, was sie falsch gemacht hat; die Chinesen fälschen Luxusmarken, weil sie sich fragen, wie sie Reis kaufen sollen. Mein Mitstudent fragt sich, ob besagte Chinesen jedes Reiskorn einzeln mit ihren Essstäbchen aufpicken. Ich frage mich, wie ich Antworten auf all diese Fragen finden soll. Am einfachsten dürfte es sein, ganz einfach nachschauen zu gehen. Ich steige in das Flugzeug und frage mich, warum ich nicht schon früher darauf gekommen bin.

LONELY PLANET FRAGEN

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{Illustration} Stephan Schmitz


Wie unser

lonely

{Text} * Miriam Knecht {Illustration} * Kirsten Anaisis

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rau Bös und Frau Bitter sitzen in ihrem Lieblingspark in der Stadt Zürich. Es ist eine sternenklare Nacht, irgendwann in den sehr frühen Morgenstunden eines Sonntags, nach einem langen Barhopping. Die beiden Frauen fläzen sich halb liegend auf einem Bänkli und teilen sich eine Zigarette (Rauchen ist ein Hobby, das sich die Mittdreissigerinnen längst nur noch am Wochenende gönnen). Der Alkohol pocht noch in ihren Schläfen, die Glieder sind schwer, die Zungen auch. Völlig erschöpft schauen sie hinauf zur tiefschwarzen Kuppel, die mit vielen kleinen Brillianten überzogen ist. «Glaubst du, dass da draussen noch etwas ist ausser uns?» Frau Bitters Stimme klingt irgendwie gequält; das Sprechen ist ihr auch schon leichter gefallen. Frau Bös verdreht die Augen und versucht sich aufzusetzen. Bei der ersten Bewegung versetzt es ihr aber einen solchen Stich ins Gehirn, dass sie sich sofort wieder gegen die Lehne des Bänklis fallen lässt. «Gott, Monika», Frau Bös reibt sich die schmerzende Stirn unter ihrem Pony, «jetzt fang bloss nicht damit an! ‚Gibt es noch etwas Grösseres als uns? Werden wir eines Tages von Ufos gerettet? Was ist der Sinn des Lebens?‘». Ihre Stimme geht bei den Fragen mindestens eine Oktave in die Höhe. Aber Frau Bitter gibt noch nicht auf. «Nein, im Ernst! Ich bin überzeugt, dass irgendwo da draussen», sie fuchtelt mühsam mit dem rechten Arm in der Luft herum, so dass die glühende Asche der Zigarette in ihren Fingern nach allen Seiten sprüht, «iiiiirrrggendwoooooooo da draussen Wesen sind, die viiiiiieeeeelll weiter entwickelt sind als wir! Und die beobachten uns schon die ganze Zeit und lachen sich kaputt, weil wir noch so total hinterherhinken mit unseren Autos, unseren Atomkraftwerken und unseren Maschinengewehren.» Sie nimmt einen tiefen Zug und pustet den Rauch hinauf zu den Sternen. Frau Bös schnaubt verächtlich durch ihre Nüstern und wischt sich stoisch ein bisschen Asche von der weissen Bluse. «Ja, ganz bestimmt», sie kuckt ihre Freundin unter ihren müden Lidern an, «und sie sind grün und haben Antennen auf dem Kopf. Und ganz groooooossssseeeeeeee, schwarze Augen. Und Roboter. Und Laserkanonen. Und riesige Raumschiffe mit ganzen Städten an Bord.» «Nee, brauchen sie nicht. Die können sich doch überall hinBEAMEN, wo sie wollen.» «Ach so. Klar.» Frau Bös nimmt Frau Bitter die Zigarette aus der Hand und steckt sie sich zwischen die Lippen. «Und wieso können diese Ausserirdischen nicht einfach primitiver sein als wir? Wieso stellen wir die uns immer so total futuristisch vor?» Frau Bitters gerötete Augen blicken vorwurfsvoll zu ihrer

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ist Planet?

Freundin. «Ich finde das total überheblich, dass wir Menschen immer denken, wir seien das Mass aller Dinge.» Frau Bös bleibt ihr lakonisches, heiseres Lachen in der Kehle stecken und geht in einen wüsten Hustenanfall über. Sie beugt sich vornüber und spuckt aus, was aus den Tiefen ihrer Lungen nach draussen will. In der Zwischenzeit ist die Zigarette in ihrer Hand bis zum Filter heruntergebrannt. Frau Bös bekommt das schmerzhaft zu spüren, und mit einem spitzen Schrei schleudert sie den Stummel in die Wiese vor sich hinaus. «Scheisse!!» Sie lutscht an ihren schwarzen Fingern, ihre Geduld ist nun am Ende. «Jetzt hör doch endlich auf ! Da draussen ist nix, sonst hätten wir es schon längst mal gesehen! Lass uns endlich gehen!» Die beiden Frauen torkeln nach Hause. In ihrer Wohnung angekommen kann Frau Bös nicht schlafen. Ihr Kopf ist eine Baustelle, so sehr hämmert und sägt es darin. Sie nimmt ein Aspirin aus dem Badezimmerschränkchen und einen Eisbeutel aus dem Tiefkühlfach und setzt sich damit vor den Fernseher. Missmutig zappt sie durch die Programme, während sie den Beutel auf ihrem Kopf balanciert. Bilder von verzweifelten, syrischen Flüchtlingen. Eine Werbung für Patenschaften in Afrika, mit einem dickbäuchigen Säugling, ganz mit Fliegen übersät. Eine Tabelle mit den aktuellsten Börsendaten, die Pfeile zeigen allesamt in den Keller. Eine Reality-TV-Show, in der eine Wasserstoffblondine mit getuntem Körper im ultrakleinen kleinen Schwarzen erklärt, sie wisse nicht, von wem sie schwanger sei. Frau Bös schaltet den Fernseher aus und schliesst genervt die Augen, den Eisbeutel auf den Scheitel gepresst. Als sie die Lider wieder öffnet, fällt ihr Blick auf die Deckenlampe mit dem breiten Schirm, die wie ein kleines Ufo über dem Salontisch baumelt. Wie war das nochmal? Hoch entwickelte Ausserirdische mit Laserkanonen? ‚Gott, hoffentlich schiessen die eines Tages die Erde weg!‘, denkt sie und sinkt, von diesem Gedanken seltsam getröstet, in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Wieso können Ausserirdische nicht einfach primitiver sein als wir?

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* Miriam Knecht, 34, Journalistin und ausgebildete Schauspielerin. Lebt in der Stadt Zürich. Bitter-boes.blogspot.ch * Anaisis ist Künstlerin aus Leidenschaft und schafft Bilder aus dem Urgrund der Weltenseele. www.anaisis.com

LONELY PLANET WIE LONELY IST UNSER PLANET?



In Singapur trafen sich Studenten aus verschiedenen Fachrichtungen und Ländern, um sich über die Stadt der Zukunft Gedanken zu machen. Eine Reise, die keinesfalls architekturlastig ist. 24

LONELY PLANET ZUKUNFTSSTÄDTE


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Z U K U N

F T

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{Text & Fotografie} * Andrea Häberlin Seit 2010 bietet die ETH Sustainability in Sommerakademien jungen Studierenden die Möglichkeit sich Gedanken über aktuelle und nachhaltigkeitsrelevante Themen in interdisziplinären Gruppen zu machen. Bewerben können sich Studenten aus der ganzen Welt. Das diesjährige Thema: «Future Cities» – wo? In Singapur. Und ich darf hautnah dabei sein – Grandios! Nach siebzehn Stunden Flug, drei Landungen und drei Starts bin ich nun wieder mit beiden Füssen fest auf dem Boden – Gott sei Dank! Ich gebe ja zu – es ist mein erster Stempel im rot-weissen Büchlein. Pssst! Das Fazit: Ich würde sagen das Auf und Ab ist das eine, die vielen Mahlzeiten das andere,

T Ä D T E aber auf kleine Kinder, die damit überhaupt nicht klar kommen, könnte ich gerne verzichten. Jä nu – ich hab’s überlebt. Ich erinnere mich noch daran vor zwei Monaten den Titel auf der Webseite der ETH Sustainability gelesen zu haben: « C ALL FOR APPLICANTS NOW OPEN » . Very competitive style, nicht? Überhaupt nicht. Sondern: Jede Menge tolle Bekanntschaften und ich frage mich «auf welcher Couch surf ich wohl das nächste Mal?» Kalifornien, Australien oder dann doch lieber im Norden bei den Schweden? Ich kann’s mir ja noch überlegen. Aber nun zurück zum Wesentlichen. Interkulturalität und Interdisziplinarität sind für die ETH Sustainability zwei wichtige Leitgedanken – nicht ohne Grund trifft man sowohl auf Wirtschaftler, Architektinnen, Philosophen als auch auf Biologinnen oder Umweltwissenschaftler. Ganz spannend – sogar Kommunikationsstudenten sind herzlich willkommen – Phuu, Glück gehabt! Auch interessant: Schaue ich mir das Ganze aus der Qualitätsperspektive an, scheint es mehr als plausibel. Vizent Wyss, Professor für Journalistik an der ZHAW in Winterthur, würde mir da voll und ganz zustimmen. Meinungsvielfalt und Faktentreue gehören also nicht nur im Journalismus zu den wichtigsten Hauptkriterien in Bezug auf die Qualitätssicherung. Auch an den ETH Sommerakademien wird diese

LONELY PLANET ZUKUNFTSSTÄDTE

Diversität angestrebt und meiner Meinung nach gut umgesetzt. Zugegeben, am Anfang hatte ich da schon so meine Zweifel. Urban Design, Network Design, Grammars und Patterns - all diese neuen Begriffe! Nun, wenn es nach Jürgen Habermas 1 ginge, sollte den Bewohnern in jedem Fall kommunikative Interaktionen ermöglicht werden – die Lösung: vielleicht soziale Räume zum Austauschen? Genau! Parks, get-together-Points oder Plätze für andere Freizeitaktivitäten – gar kein schlechter Ansatz. Und genau darum geht es – Ideen, Ideen und noch mehr Ideen. Sehr schnell stelle ich fest – es wird kein Masterplan von uns verlangt. Wir sollen «spezifische «Grammars» für eine neue Stadt entwickeln. Dabei sollen Gebäudesysteme, Nutzungsverhältnisse und Regeln des Netzwerkdesigns (Kreuzungstypen, Rasterdimensionen, Netzwerktypen etc.) berücksichtigt werden.» Im Ganzen stehen uns drei Wochen zur Verfügung - der Tagesablauf ist da sehr dicht strukturiert. Aber: Die Möglichkeit an Vorlesungen von international renommierten Professoren teilzunehmen - unglaublich! Ich bin gespannt, wo mich die Reise hinführt – im Notfall habe ich ja immer noch meinen Lonely Planet dabei – mal schauen ob sich die Investition gelohnt hat. Fortsetzung folgt in der nächsten Ausgabe 1

Deutscher Soziolog und Philosoph und Autor des zweibändigen Werks

„Theorie des kommunikativen Handelns“ (TdkH)

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* Andrea Häberlin, 20, ist Kommunikations‑ studentin und arbeitet als Jungjournalistin für verschiedene Projekte im Bereich Nachhaltigkeit. Sie hat anfangs Juli 2013 an der ETH Sommerschool teilgenommen.

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Lonely Planet: Ein schweigsam, trauriger Schrei

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{Text} * Julia Nauer

nd wir waren uns doch eigentlich einig, dass es nie mehr, nie mehr passieren sollte.Die kohlschwarz kahlrasierte Ebene, gemacht von Seelen und Skeletten schweigt und spricht für sich. Die Mutteraktion nannten sie Enola Gay und den Pionier des Todes Little Boy. Schweigen und zittern vor Grauen. Schweigen. Wo ist da Dreistigkeit noch zu platzieren? Wo ist da noch ein Restchen Respekt aufzukratzen? Und die eigene Sprachlosigkeit verwandelt sich in Übelkeit. Und wir waren uns doch eigentlich einig, dass es nie mehr, nie mehr passieren sollte. Und warum finde ich mich vor einer ganzen Museumswand Protestbriefe wieder? Der letzte datiert Frühling 2013 und ist an Mister Obama gerichtet. Von dieser neu angefangenen Wand finden wir die Briefe von 2012 und 2013. Von den zehn sind neun für Mister Obama und einer für Nordkoreas grössenwahnsinniges Riesenbaby. Und wir waren uns doch eigentlich einig, dass es nie mehr, nie mehr passieren sollte. Warum, bitte warum, wird in solchem Ausmass getestet, was schon lange hätte von dieser Erde verschwinden sollen, wenn letztere nicht ganz verschwinden soll, einfach so, als letzter Staub- und Russfleck in unserer Galaxie. Da können wir singen und es wird uns ewig niemand mehr hören. Worte fehlen mir, als ich fluchtartig das Hiroshima Peace Memorial Museum verlasse, da meine Nerven einfach nicht mehr ertragen, was da gezeigt wird, Detail um Detail. Körperlich übel und geistig umnebelt von den Bildern der unmittelbaren Folgen setze ich mich auf eine Parkbank. Zwingen zum tiefen Durchatmen muss ich mich, gelähmt von dem Anblick der medizinischen Spätfolgen. Die Sonne scheint, es ist ein wunderbar schöner Sommertag, Vögel zwitschern, die Sonne scheint und wärmt meine Haut. Doch in mir drin Grauen, Schrecken, Bilder so lebendig vor meinem geistigen Auge, die sich vor beinah siebzig Jahren abgespielt haben, Bilder von einem immensem schwarzen, abgerundeten Stahlzylinder, der auf Knopfdruck den tausendfachen, sekundenschnellen Tod bringt. Mehr als ein Albtraum, bei Weitem, und in unvorstellbarem Ausmass mehr. Denn real und nicht

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einmal der schlimmste Albtraum, den es mir je beschert hatte, kommt auch nur annähernd an den Schrecken, welche eben die Zeichnungen der Überlebenden illustrieren in der Weise der abstrakten und naiven Ehrlichkeit, wie es Kinderzeichnungen an sich haben. Und wir waren uns doch eigentlich einig, dass es nie mehr, nie mehr passieren sollte. Wenn der Menschenverstand oder die Kontrolle der Maschinen einmal, auch nur einmal versagen, können wir singen und es wird uns ewig niemand mehr hören. Also bitte hört auf damit. * Julia Nauer, 25, ist Online-Kolumnistin von dieperspektive, hat Tanz, Germanistik und Philosophie studiert.

LONELY PLANET EIN SCHWEIGSAM, TRAURIGER SCHREI


{Illustration} Stefanie Hess

LONELY PLANET LONELY PLANET

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Lonely Planet {Text} * Philipp Meier u.a.

Bernd Dietrich Schultze: Suiza perdida. 25. Juni um 13:26 · Gefällt mir · 1 Philipp Meier: vielen dank, Bernd Dietrich Schultze, für den ice-breaker-kommentar. hier startet also wieder meine neue mitmach-kolumne für die Perspektive 25. Juni um 13:28 · Gefällt mir · 1 Lena Leblhuber: jupiter is next... |||| https://www.facebook. com/photo.php?fbid=3810797198225&set=a.2905078435822.2114 408.1526343616&type=1&theaterÜbersetzung anzeigen 25. Juni um 13:40 · Gefällt mir · 2

Stacy Müller Bühler: reisegeführt.... 25. Juni um 13:47 via Handy · Gefällt mir · 1 Philipp Meier: wenn hier nix mehr kommt, dann drucke ich halt einfach die kommentare zum bild von Lena Leblhuber ab...;)) 25. Juni um 13:47 · Gefällt mir · 1 Philipp Meier: oh. moment! wieder ein wort von Stacy Müller Bühler. vielen dank! 25. Juni um 13:48 · Gefällt mir Stacy Müller Bühler: b'schön! 25. Juni um 13:48 via Handy · Gefällt mir Lena Leblhuber: oder du fragst bei Rudolf Steiner nach... Zitat 20. Juni via Twitter: ‘Wenn im Jahre 3573 die Erde astralisiert und wir alle auf den Jupiter fahren, DAS wird#Neuland!‘ 25. Juni um 13:53 · Gefällt mir · 1 Lena Leblhuber: ***astralisiert.. 25. Juni um 13:54 · Gefällt mir · 2 Lena Leblhuber: ***neuland... 25. Juni um 13:56 · Gefällt mir · 2 Philipp Meier: yeppo! #neuland - passt suuuuper zu «lonely planet» 25. Juni um 13:57 · Gefällt mir · 2 Bernd Dietrich Schultze: Lolland? 25. Juni um 13:59 · Gefällt mir Martin HonigTiger Mueller: Jenseits ausgetretener Pfade? 25. Juni um 14:01 · Gefällt mir Philipp Meier: uff. diese kolumne wird sehr patchworkmässig. jedem sein eigener lonely planet? (mist, habe die frauen vergessen...) 25. Juni um 14:02 · Gefällt mir · 1

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LONELY PLANET LONELY PLANET


Lena Leblhuber: die warten auf der venus.. da haben sie sich eh selbst schon lang hingegendert.. 25. Juni um 14:04 · Gefällt mir · 2 Bernd Dietrich Schultze: 25. Juni um 14:04 · Gefällt mir · 2

Bernd Dietrich Schultze: Bin neu, muss noch üben! 25. Juni um 14:05 · Gefällt mir Philipp Meier: falsch! wir müssen üben, um mit den/dem neuen umzugehen 25. Juni um 14:09 · Gefällt mir · 1 Bernd Dietrich Schultze: http://youtu.be/QwxYiVXYyVs 2001: A Space Odyssey Theme song www.youtube.com

Yeah! It's 2001: A Space Odyssey Theme song remade in 1968 by Alex North. The re...Mehr anzeigen 25. Juni um 14:11 · Gefällt mir · 1 Philipp Meier: wie soll ich nun dein bild in meine kolumne bringen? wird für die Perspektive evtl. zum problem. aber wie sagte Bazon Brock mal so schön zu anwesenden kunststudentinnEn? richtig: MACHEN SIE KEINE KUNST! MACHEN SIE PROBLEME! 25. Juni um 14:11 · Gefällt mir · 1 Philipp Meier: und jetzt auch noch ein clip?! wie sollen wir den drucken?! tssssss.... 25. Juni um 14:11 · Gefällt mir Bernd Dietrich Schultze: Na dann vielleicht sowas, ja: Happy Grounding Switzerland! (:-) muss immer mitgedruckt werden! Signet!!!) Und läck mir, wenns nid goot!!! 25. Juni um 14:16 · Gefällt mir

Lena Leblhuber: was wenn kunst probleme schafft..? 25. Juni um 14:17 · Gefällt mir Bernd Dietrich Schultze: Sie will zwar immer, aber kann es nicht. (Kunstparadox) 25. Juni um 14:17 · Gefällt mir Bernd Dietrich Schultze: Letzter Versuch: Kunstplanet, Refugium/Gefängnis für echt gewalttätige Problemkunstschaffende. Herr Prof ? 25. Juni um 14:21 · Gefällt mir Bernd Dietrich Schultze: Mach mich fürs erste mal aus dem Planetenstaub, s!ya!

http://youtu.be/D67kmFzSh_o David Bowie- Space Oddity Original Video (1969) www.youtube.com Behold... the Originale music video for the David Bowie song Space Oddity from B...Mehr anzeigen 25. Juni um 14:24 · Gefällt mir Philipp Meier: hey, das ist kein wettbewerb. ich freue mich sehr über deine beiträge, lieber Bernd Dietrich Schultze. machs gut (auf deinem flug durchs digitale universum:)) 25. Juni um 14:26 · Gefällt mir · 1 Philipp Meier: (oder hätte ich paralleluniversum schreiben sollen?) 25. Juni um 14:29 · Gefällt mir Bernd Dietrich Schultze: Bevor du (mir) keine Gebrauchsanweisung schickst, was hier abgeht, kannste schreiben, wasde willst, lieber Philipp Meier, habs echt (noch) nicht gerafft. Auf Wettbewerbe hab ich null Bock, ich sammle keine Kommentarmeilen oder Likerabattmärkli, und ich... Mehr anzeigen 25. Juni um 15:14 · Gefällt mir Philipp Meier: iisipiisiportugiisi. am schluss sieht es so (oder ähnlich) aus:http://dieperspektive.ch/wordpress/ sucht-2013-ein-like-von-andi-burki-polyinteressiert-2/ kohle kriege ich dafür keine. mich interessiert es einfach, wie heute texte auch noch geschrieben werden könnten; eben z.b. gemeinsam 25. Juni um 15:17 · Gefällt mir · 1 Bernd Dietrich Schultze: Hug!

* Philipp Meier kennt sich in Zürich fast überall aus. Für uns schreibt er die Kultur- und Kunstkolumne. Antworte ihm auf leserbriefe@dieperspektive.ch und besuche ihn auf seinem Blog: http://milieukoenig.posterous.com/

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E

I

N S

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K E I Ein Essay

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{Text} * Dominik Wolfinger

n unserem Sonnensystem umkreisen acht Planeten die Sonne. Dabei ist die Erde, nach unserem heutigen Wissenstand, als einziger Planet mit Leben bevölkert. Das bedeutet, dass man alle restlichen Planeten, auf welchen kein Leben existiert, als «leer» oder «einsam» bezeichnen könnte. Definieren wir aber «Einsamkeit» als Empfindung eines Lebewesens, welches von anderen getrennt oder abgeschieden ist, so wird klar, dass Einsamkeit erst entsteht, wenn ein Lebewesen das Bewusstsein der Existenz eines anderen Lebewesens besitzt und von diesem getrennt ist. Daher ist ein «leerer Raum» oder ein einzelnes Individuum, welches über keine Kenntnis der Existenz seinesgleichen verfügt, nicht einsam. «Every living creature on earth dies alone.» Donnie Darko

Im Jahre 2002 wurde das letzte Exemplar eines Chinesischen Flussdelfins (auch Jangtse-Delfin oder Baiji) fotografiert. Seit 2007 gilt der Chinesische Flussdelfin als ausgestorben. Bis heute wurde kein weiterer Vertreter dieser Art gesichtet. Wird davon ausgegangen, dass der Delfin, der 2002 fotografiert wurde, tatsächlich der letzte seiner Art war, so war dieser Delfin einsam, da er bestimmt auf der Suche nach Gesellschaft war und sei es nur um dem Trieb der Reproduktion zu folgen. Die Frage, die sich nun stellt ist, ob der Flussdelfin seiner Einsamkeit gewahr war. Also ob er ein Bewusstsein dafür hatte, als er den Jangtse entlang schwamm, dass er der letzte seiner Art ist

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T


und demnach keinerlei Möglichkeit besitzt, einen weiteren Artgenossen zu treffen. Auch wenn Delfine durchaus sehr intelligente Tiere sind, gehe ich hier nun davon aus, dass der letzte Delfin bestimmt über eine Art Sehnsucht und Verlangen nach Gesellschaft verfügte, nicht aber über das Gefühl der Einsamkeit. Diese These soll hier nicht vertreten werden, sondern dient lediglich für den weiteren Verlauf. Der Mensch ist im Gegenzug zum Chinesischen Flussdelfin noch nicht ausgestorben. Wohl eher das Gegenteil ist der Fall. Noch nie war die Population der Menschen so hoch wie heute. Sieben Milliarden Menschen leben über der gesamten Erde verstreut. Wer nun annimmt, dass durch die hohe Anzahl Menschen und die fortschrittliche Kommunikationstechnologie der Mensch kein einsames Wesen ist, der irrt sich. Der Mensch ist per se das einsamste Lebewesen überhaupt. Diese These soll in diesem pseudointellektuellen Essay mit pseudophilosophischem Inhalt veranschaulicht werden. Nach dieser Definition ist also ein Mensch einsam, wenn er von anderen Lebewesen – seien es nun andere Menschen, Tiere, was auch immer, getrennt ist. Der letzte Flussdelfin war gezwungenermassen von seinen Artgenossen getrennt und auf der Suche nach einem Partner, da ein natürlicher Drang zur Fortpflanzung bestand. Diesen Drang finden wir ebenfalls beim Menschen wieder. Zusätzlich besitzt der Mensch Verstand, was ihn sich selbst erkennen lässt. Dadurch kann der Mensch im Gegensatz zum Delfin das Gefühl der Einsamkeit auf einer emotionalen und intellektuellen Ebene erfahren – ich bin einsam. Die Selbsterkennung – das Selbstbewusstsein, ermöglicht ihm das Widerspiegeln der eigenen Existenz. Durch die Selbstreflexion entdeckt der Mensch, was und wer er ist, was ihn schlussendlich zum Individuum – zum Einzelwesen macht. Ich fühle, ich denke, ich leide. Ich bin nur ich, dadurch bin ich einsam. Durch den eigenen Verstand, wird der Mensch zu einer Insel der eigenen Gedanken, die ein Leben lang isoliert und abgeschottet bleiben. Daher ist der Mensch eingekesselt in sich selbst und zur Einsamkeit gezwungen. Durch den Verstand, der mehr Fluch als Segen zu sein scheint, ist sich der Mensch über seine Einsamkeit bewusst, was Strategien hervorruft, um die Einsamkeit zu unterbinden. Pure Symptombekämpfung. Der Mensch sucht sich Partner, Gefährten, Liebschaften, um die Einsamkeit einzudämmen, meist mit kurzfristigem Erfolg. Nur wenige Menschen erfahren das Gefühl der wahren Einsamkeit. «Loneliness is a taste of death.» Jean Vanier Wahre Einsamkeit bedeutet nicht alleine, elternlos oder Single sein – wahre Einsamkeit ist der Schmerz, der entsteht, wenn – so kitschig es auch klingen mag, Liebe fehlt. Das Gefühl der wahren Einsamkeit merkt man erst dann, wenn man jede Minute seines Lebens den quälenden Schmerz empfindet, dass es keinen einzigen Menschen auf dem Planeten gibt, der einem etwas bedeutet und wiederum niemand in seinem Leben hat, der einem das Gefühl gibt etwas zu bedeuten. Ein Schmerz, der weder abgeschüttelt, noch mit Symptombekämpfung gemildert werden kann. Einsamkeit ist also eine Form der geistigen Isolation. Ein Unverständnis gegenüber der Welt, die einem unverstanden entgegenblickt. Weiter führt Einsamkeit zum Gedanken unbedeutend zu sein. Durch das Bewusstsein des eigenen Ich kann Einsamkeit erkannt werden, was wiederum das Selbstbewusstsein mindert. Die Bedeutungslosigkeit, die mit der Einsamkeit Hand in Hand geht, ist nicht nur der Wunsch jemand anderem etwas zu bedeuten, viel mehr die generelle Bedeutungslosigkeit von allem bezogen auf das eigene Ich. Dabei versucht der Mensch in irgendeiner kommunikativen Form die Isolation zu durchbrechen und mit «Leidensgenossen» in Kontakt zu treten. Jedoch ist es ein Ding der Unmöglichkeit auf transparente Art mit Menschen zu kommunizieren, da stets der Weg die Information vom Sender zum Empfänger verändert. Egal mit welchen Mitteln, in welcher Form oder mit welcher Intensität die Flucht aus der Isolation und das Durchdringen des gegenüberliegenden Ichs versucht wird, es bleibt zum Scheitern

«

Ich fühle. Ich denke. Ich leide.

»

verurteilt. So kann zwar Sympathie und Empathie für einen anderen Menschen bestehen, jedoch nie absolutes Verständnis der empfundenen Emotionen. Daher finden auch zwei «wahre Einsame» trotz geteilten Leidens nie wahrhaftig zueinander, sondern bleiben stets nur zwei nahe Inseln. «Loneliness is my only friend.» Unbekannt Ab Beginn des Lebens lebt und stirbt jedes Lebewesen zusammen mit der Einsamkeit. Ein Gefühl, das - genau wie Angst tief verwurzelt ist. Was schlussendlich bleibt ist die Akzeptanz der Einsamkeit. Schliesslich wird der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen, was die Auseinandersetzung mit sich selbst, die Erweiterung, Verbesserung, von sich selbst fördert. Genau so kann die aus der Einsamkeit resultierende Bedeutungslosigkeit ein Gefühl der Sicherheit und ein Verständnis des eigenen Seins hervorbringen. Die vertretene These, die sich aus diesem banalen Text ergibt, kann deprimierend wirken, was jedoch nicht der Fall sein muss. Schliesslich ist ein Gedanke kaum mehr als das Konzentrat eines funktionierenden oder nichtfunktionierenden Gehirns und bleibt, wie oben beschrieben, selbst ausgesprochen oder ausgeschrieben nichts mehr als ein gesondertes Gedankengut eines Individuums. So kann jeder Mensch, ob einsam oder nicht, seine eigene isolierte Definition von Einsamkeit kreieren und sein Leben danach ausrichten.

* Dominik Wolfinger. Jahrgang 88. Liechtensteiner. Dramaturgiestudent.

LONELY PLANET EINSAMKEIT

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Living on a

Lonely Planet Eine Geschichte, die das Leben schreibt: Exoten verlieben sich - Wegzug aus der Heimat - Kind - Heirat - Scheidung - gebrochener Stolz - ausgeschafft aus der Schweiz. Was bleibt zurück?

J

{Text} * Brigitte Büchel

osé stammt aus Ecuador. Aufgewachsen im Dschungel am Rande des Amazonasbeckens betreibt er ein kleines Tourismusunternehmen in seinem Dorf am Fusse eines Vulkans. Täglich berät er Reisende aus aller Welt, wie sie ihren Erlebnishunger stillen können – sei es mit Bungee-Jumping, Wildwasser-Rafting oder Urwald-Touren. Eines Tages kommt eine Touristin aus der Schweiz in sein Geschäft, Sarah. Sie ist gross, blond, mit eisblauen Augen. Exotisch – die Verkörperung des europäischen Ideals nach dem sich viele Latinos verzehren. Auf einer mehrtägigen Urwaldtour, wie könnte es auch anders sein, verlieben sich die beiden ineinander. Sarah ändert ihre Reisepläne um zu José zurückzukehren. Sie wird schwanger. Zuhause in ihrer heilen Welt, einem urchigen und eher konservativen Dorf im Herzen der Eidgenossenschaft ein Skandal. Ein Kind von einem Buschmann aus Südamerika!? Unglaublich! Doch Sarah ignoriert das Dorfgeschwätz und holt ihren Liebsten in die Schweiz. Die beiden heiraten, werden Eltern eines herzigen Jungen und beginnen, sich ein gemeinsames Leben aufzubauen. Wohlwissentlich dass es kein Zurück gibt, hat José in der schillernden Hoffnung auf ein Leben in Europa in seiner Heimat alles aufgegeben – Sein Geschäft, seine Familie und seine Freunde – und zu einem Teil auch sich selbst, wie er langsam merkt. In diesem Land, dieser neuen Welt ist alles anders. Die Menschen sind kälter, abweisender und beäugen ihn kritisch, wenn sie ihm auf der Strasse begegnen. Hier ist José ein Niemand. Es fällt ihm schwer, sich zu integrieren, er findet keine Arbeit und lernt nur sehr schwerfällig die deutsche Sprache. Der Alltag schlägt zu und das Glück der jungen Familie beginnt langsam zu bröckeln und die rosafarbenen Wolken der einst so Verliebten verwandeln sich in dunkle Gewitterwolken. José merkt, dass er vielleicht einen Fehler gemacht hat. Er ist kein Bünzli – durch seine Venen strömt Indianerblut. Er will die Freiheit haben, zu tun worauf er Lust hat. Er will die Freiheit haben, zu gehen wohin er will. Und vor allem will er die Freiheit haben, seinen Sohn nach seinen Vorstellungen und Traditionen zu erziehen. Doch Sarah sieht das anders. Die beiden streiten immer öfter. José zieht aus. Scheidung. Als Sarah plötzlich wieder schwanger wird, scheint es zunächst, als hätte die Familie ihre Probleme beigelegt und einen gemeinsamen Nenner gefunden. Langsam läuft wieder alles besser. José findet Arbeit, verbessert seine Deutschkenntnisse

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und lernt seine neue Heimat zu akzeptieren und sogar zu mögen. Doch dann schalten sich die Behörden ein. Weil José durch seine Scheidung von Sarah nicht mehr ‹berechtigt› ist, weiter in der Schweiz wohnhaft zu sein, versucht man, ihn wieder nach Ecuador abzuschieben. José wehrt sich erfolgreich. Er hat Familie, einen Job und ist inzwischen gut integriert – genug Gründe um zu bleiben, befinden schliesslich auch die Behörden. Aber dann wird José angezeigt. Von seiner Ex-Frau. Er habe sie bedroht. Die Polizei kommt. Zwei Monate später muss José die Schweiz verlassen. Ihm fehlt das Geld für einen Anwalt, ihm fehlt das Wissen über das Rechtssystem um sich zu wehren und ihm fehlt der Wille und die Kraft dazu. Sein Stolz ist gebrochen, er gibt auf. José kehrt zurück in seine einstige Heimat, die ihm inzwischen fremd geworden ist. Wieder steht er vor einem Neuanfang, diesmal in seiner alten Welt. Wieder hat er nichts, ausser dem Wissen, einmal etwas gehabt, und es jetzt verloren zu haben. Seine Geschichte lässt mich nicht los, ich denke oft an ihn. Gestern habe ich ihm geschrieben. Wie es ihm gehe? – « M al. Ayudame » schreibt er, hilf mir. Ich weiss nicht wie… José lebt auf einem einsamen Planeten. Er hat alles verloren, weil er das Glück gesucht hat. Es gibt an dieser Stelle keine Moral von der Geschicht’, dies ist ganz einfach eine von Millionen Geschichten, die zeigt, wie das Leben mit Menschen spielen kann.

* Brigitte Büchel, 23, Studentin der Publizistik- und Kommunikationswissenschaften an der Uni Zürich und Fan von ehrenamtlicher Arbeit, weil das zwanghafte Streben nach immer mehr Geld und einem immer höheren Lohn viele Leute ihre eigentlichen Hobbies und Leidenschaften vergessen lässt. Darum kann man Dinge, die man gerne macht, ruhig auch mal unbezahlt machen. Sie engagiet sich bei Vimentis und schreibt gelegentlich Beiträge für zwei Zeitungen.

LONELY PLANET LIVING ON A LONELY PLANET


{Illustration} Moritz J채ger

{Illustration} Ludmilla Bartscht

LONELY PLANET

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Erst mal wird gefeiert Der Mythos Reeperbahn lockt viele Schweizer Touristen nach Hamburg. In der Kiezkneipe «Clochard» finden nicht nur Punks, Penner und Alkoholiker eine Heimat – sondern auch Schweizer Studierende auf Städtetrip. 24 Stunden in einer Hamburger Kneipe, die seit 30 Jahren partout nicht schlafen will.

A

{Text} * Adrian Meyer * Dennis Bühler

n einem Freitag, zur Mittagszeit, müffelt der Eingang nach Urin. Der Boden ist klebrig, lange bevor die Eskapaden des Wochenendes über die Reeperbahn hereinbrechen. «Rund um die Uhr geöffnet» steht über der Tür. Daneben: «Die billige Kneipe auf der Meile». Oben, im ersten Stockwerk, scheppert Heavy Metal aus den Boxen. Die Augen gewöhnen sich nur langsam an die Dunkelheit im Raum. An den Wänden kleben Astra-Etiketten, Zeugnisse vieler leer getrunkener Flaschen. Der Dreck des Bodens frisst sich die Holzwände hoch. Der «Clochard» schwitzt, von all dem Bier, den Tausenden gerauchter Zigaretten. Mitten im Raum wartet ein Kicker auf das nächste Spiel. Dahinter, in der dunkelsten Ecke, schummert bläulich das Licht einer Neonröhre: So sollen Junkies ihre Venen schlechter finden. Drei Punks und eine Barkeeperin mit schulterlangen, grauen Strähnen lagern am Tresen. Astra: 1,70 Euro, Korn: 90 Cent. Im Winter Schmalzbrote, gratis. Auf der Hausverbotsliste stehen Dutzende Namen, Kiez-Pseudonyme wie «Pommes» oder «Jesus». Wer diese Menschen wirklich sind, weiss hier niemand mehr. Hier trinken am Morgen diejenigen weiter, die nie nach Hause gehen. Am Nachmittag betäuben sich die Berufszecher. In der Nacht finden hier alle eine Heimat: die Punks, die Penner, die Sauftouristen, die wirklich Betrunkenen, die neugierigen Spiesser, die Kaputten, die Normalen, Alte und Junge. Wer hier bloss Cola bestellt,

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«

Hier trinken am Morgen diejenigen weiter, die nie nach Hause gehen. erntet Kopfschütteln, auch an einem Freitagmittag.

Die letzte Nacht im Gesicht In einer Ecke hängen Sushi und Clarissa, vor ihnen sechs leere Astraknollen auf dem Tisch. Die letzte Nacht sitzt ihnen im Gesicht. Sie haben sich erst vor ein paar Stunden kennengelernt, hier im Clochard, «so um fünf Uhr morgens». Clarissa sagt, sie sei heute total betrunken. Sonst pflege sie die Alten im Heim. Lachend krault sie Sushis Rücken. Clarissa will Sushi nach Hause nehmen, nach Bergedorf. «Ich will einen Typen abschleppen und weiss nicht mal wie er heisst», sagt sie. «Ich heisse Sushi, mich muss man geniessen wie rohen Fisch», sagt er. Sushi ist unentschlossen: «Ich bin total pleite, ich komme nie mehr weg aus Bergedorf.» Er findet Clarissa nicht attraktiv, mit dem Pickel im Mundwinkel, den grossen Brüsten, den fettigen Haaren. Miss Piggy nennt er sie. Sushi ist 29 und wirkt nüchtern,

LONELY PLANET ERST MAL WIRD GEFEIERT

»

obwohl er ständig Bier trinkt. Über seinem Bizeps spannt sich das T-Shirt. Bullig lehnt der Oberkörper gegen die Wand. Sein rundes Gesicht versteckt er mit Baseballmütze und Sonnenbrille. Zeigt er die Augen, sind Krümel zu sehen, Zeugen von sechs Nächten, in denen Sushi nie länger als zwei Stunden am Stück geschlafen hat. Vor einer Woche hat er in Frankfurt alles aufgegeben, Wohnung und Job. Jetzt will er in Hamburg neu anfangen. Aber erst am Montag. Bis dahin wird gefeiert. Miss Piggy muss alleine nach Bergedorf, denn Sushi mag lieber Gothic-Mädchen: «Die sind», sagt er, «richtig dreckig». Als Teenager hat Sushi geboxt, in der «Ritze» gar nicht weit weg vom «Clochard». Aggressionstraining, vom Psychologen verschrieben. Momentan sei er ganz friedlich. «Aber gib mir zwei Flaschen Whisky, dann steht ein anderer Mensch vor dir.» Uwe sitzt unter der Neonröhre in der dunkelsten Ecke des «Clochards». Er hat einen grauen Vollbart und nur noch wenige Zähne. Tiefe Furchen zieren seine Stirn. Aus dem löchrigen Filzschuh ragt


«

»

Früher war Hermann jedes Wochenende hier. Er kennt sie alle.

ein langer, schwarzer Zehennagel. Fast täglich kommt Uwe her, spricht mit den Gästen. Alleine in seiner Wohnung fühlt sich der 71-Jährige nicht wohl. Die ganze Nacht habe er kein Auge zugetan, sagt er. «Ich habe gestern so viel gekifft, ich konnte einfach nicht schlafen.» Er trinke nicht mehr, sagt Uwe, kiffe nur noch. Wenig später hat er eine Flasche Bier in der rechten, eine Zigarette in der linken Hand. Uwe war mal verheiratet, «nur kurz, nicht mal sieben Jahre», hat in Kolumbien gearbeitet. Seit 25 Jahren wohnt er jetzt in Ottensen. Immer wieder verfällt er kurz ins Spanische, «¡Vamos a ver!», sagt er besonders gerne - wir werden sehen. Drei Krebse hat Uwe besiegt, erst Lungen-, dann Hodenkrebs, schliesslich ein Lungenödem. Aus der Jukebox wünscht er sich ein Lied von Queen oder Jazzmusik. Dass der Apparat beides nicht hergibt, weiss er. Überhaupt sei hier vieles nicht mehr so wie früher. «Keiner hat mehr die Kohle, um hier zu trinken.» Gekifft werde auch viel weniger. Was soll aus dem Laden nur werden? «¡Vamos a ver!», sagt Uwe.

«Ich oder die X-Box» Am Kickertisch duelliert sich «Painkiller186» mit seiner Ehefrau. Er zeigt ihr die Kneipe, in der er seine Jugend verbracht hat. In der realen Welt heisst «Painkiller186» Hermann. Sein Leben aber ist die X-Box: Zwei, drei Stunden zockt der 37-Jährige täglich, früher waren es auch mal zwölf. Daran zerbrach seine erste Ehe. «Ich oder die X-Box», habe ihn seine ExFrau vor die Wahl gestellt, erzählt er. Die Entscheidung fiel Hermann leicht. Seine zweite Frau, er nennt sie «Bubsi», hat mehr Verständnis. Sie zockt selbst gerne. Allerdings lieber auf der Playstation. Früher war Hermann jedes Wochenende hier. Er kennt sie alle, die KiezGrössen der frühen 90er-Jahre. Heute ist er meist zu Hause, wenn er nicht an der X-Box sitzt, meditiert er. Um den Hals trägt Hermann eine Kette, Yin und Yang. «Auch Tische haben Gefühle», sagt er. Die Men-

schen nähmen sich viel zu ernst, nichts als lächerlich sei die Gesellschaft. «Die Erde ist eine Milliarde Jahre alt», sagt er, «der Mensch wird nicht mal hundert.» Die Euphorie der Nacht greift um sich, die Gäste plärren. Der Alkohol fliesst schneller und wird härter. Sushi sitzt auf der Terrasse zwischen zwei Freunden, die er tags zuvor auf dem Kiez kennengelernt hat. Der eine, kaum volljährig, mit krausem Haar und grossen, runden Augen, holt ein Plastiktütchen aus der Jackentasche, gefüllt mit weissem Pulver. Mit Sushis Personalausweis baut er lange, dünne Bahnen. Sushi hebt die Bierflasche und ruft: «Lasst uns trinken auf das wichtigste Gut: die Freiheit.» Unten, auf der Reeperbahn, ziehen die Nachtschwärmer vorbei, aufgetakelt und angeheitert auf dem Weg zur nächsten Party. Auf der Grossleinwand gegenüber blinken die Pixel, Videoclips werben für ein Musical im nahen Operettenhaus. Im Astra-Turm dahinter brennt in einigen Büros noch Licht. Gäbe es einen Kirchturm, er schlüge nun Mitternacht. «Du kannst auf St. Pauli leben oder du kannst St. Pauli leben», sagt Sushi. «Im ‹Clochard› wird St. Pauli gelebt.»

Polizei will hier niemand Die Herrentoilette schwimmt im Urin. Jemand hat sich in die Rinne übergeben. «Total eklig», sagt einer mit Irokesenfrisur. Der Laden brummt. Am Kicker kämpfen Yuppie-Frisuren gegen St.-PauliMützen, der Einsatz: Wodka und Bier. Flüsternd sucht ein Dealer nach Kundschaft. Auf den Bänken schlafen heimatlose Trinker, darunter auch, ehe sie wieder an die Bar taumeln. In einer Ecke liegt ein älterer Herr mit weissem Vollbart, die Stirn auf dem Tisch, die brennende Zigarette in der Hand. Der «Clochard» ist voll, die Gäste sind es auch. Die Nacht verfliegt schneller, wird schwammig, irgendwann prügeln sich zwei Typen, Geschubse, eine Flasche zerbricht, das Kickerspiel ist unterbrochen. Der Barkeeper schlichtet, Polizei will

LONELY PLANET ERST MAL WIRD GEFEIERT

hier niemand. Daneben wird ruhig weiter gekokst. Ein Mädchen im geblümten Sommerkleid tanzt auf dem Kickertisch. «Deutschland ist scheisse!», schreit irgendwer, «darum gibt es Hamburg, diese geisteskranke Stadt!» Zwei Sanitäter nehmen einen schlafenden Alten mit. Es ist sechs Uhr. Über der Terrasse ist die Sonne schon aufgegangen, als sich Sushi die fünfte Linie Koks vom Biergartentisch zieht. Auf dem Betonboden liegen benutzte Kondome, Kotze, ein verlorenes Unterhemd. Nur wenige Gestalten hat die Nacht nicht verschluckt. Zusammen sitzen sie auf der Terrasse, kiffen und koksen. Obdachlose, Punks, Rocker. Alle teilen. Wer hat, der gibt. Ronny, der Punk mit kahl geschorenem Haupt und meerblauen Augen, hat gerade zwei Wochen Knast hinter sich. Aus seiner Geldbörse zieht er ein Geburtsbändchen. «Ich habe ein deutsch-schweizerisches Kind gezeugt», sagt er. Am 27. Juli ist seine erste Tochter im Berner Inselspital geboren worden. Bald wolle er sie besuchen, sagt Ronny. «Aber zuerst einmal will ich Spass mit meinen Kumpels.» Es ist 11 Uhr. Ronny erhebt sich von seiner Holzbank, steckt 30 Cent in die Jukebox. Ekstatisch schüttelt er seine Glieder, drei Punks am Tresen zappeln mit. Aus den Boxen ballern die Troopers, eine Punk-Band aus Kreuzberg: «Scheiss egal, wir würden unser Leben nochmals leben!» Der Clochard Seit 1983 hat er 365 Tage im Jahr rund um die Uhr geöffnet: der Clochard, eine der berüchtigtsten Kneipen der Reeperbahn. Hinter dem Tresen hält es hier keiner lange aus – deshalb ist der Clochard stets auf der Suche nach Kellnern. Interessierte müssen mindestens 25 Jahre alt sein und selbstsicher in ihrem Auftreten. Übung in Kopfrechnen von Vorteil. Arbeiten in Schichten zu je acht Stunden. Specials: Dachterrasse, Kicker, Wettnageln, Jukebox mit Musik von laut bis hart. Im Winter gratis Schmalzbrote.

* Adrian Meyer (27) ist Journalist aus Einsiedeln, der in Hamburg lebt und für Die Zeit, das Greenpeace Magazin und die tageszeitung schreibt. www.adrianmeyer.ch * Dennis Bühler (26) ist Journalist aus Zollikon, der in Chur lebt und als Inlandredakteur für Die Südostschweiz schreibt. www.dennisbuehler.com

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Einsame Welt

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{Text} * Beat Ospelt

er nichts hat, der kann auch nichts verlieren. Der normalgewordene Wahnsinn ist es, besitzen zu wollen, was sich nicht besitzen lässt. Mein Haus, mein Auto, mein Garten...meine Freunde, meine Frau, mein Kind – Alles blinder Wahn. Mir scheint, dass wir nichts wirklich besitzen können. Dennoch streben wir danach. Wir wollen besitzen. Wir wollen alles irgendwie haben. Das Schlimmste ist es, wenn wir meinen Menschen besitzen zu können. Es wird uns eingetrichtert: Das ist dein Leben, deine Welt. Wir wachsen auf in einer Welt, in der fast alles verteilt ist und seinen Besitzer hat. Doch es gibt keine Rechtfertigung für das Eigentum. Wir können nichts wirklich besitzen. Über Besitz liesse sich verfügen, über Besitz wird geherrscht. Ich kann nicht besitzen, weder Menschen noch die Welt. Ich besitze nichts, denn ich kann nichts wahrhaftig haben. Ich habe kein Leben, denn ich bin am leben. Ich will nicht herrschen: Niemand über mir, niemand unter mir. Ich bin und wir sind. Die Menschlichkeit als Mass für den Umgang mit der Freiheit. Das Gefühl, wenn ich weiss, dass dies mein Leben ist, macht mich zufrieden. Dann fühle ich mich frei und ich brauche nichts. Allein ich selbst genüge mir. Niemand und Nichts kann mich glücklich machen, nur ich selbst. Ich brauche Nichts und Niemand zum sein. Dies ist nicht meine Welt. Ich bin allein, denn ich bin. Eigentlich ist das Leben schön. Dies ist eine einsame Welt. Und wir sind Menschen, in unser Einsamkeit vereint. Gemeinsam einsam. Gemeinsam allein. * Beat Ospelt, zufriedener Student

LONELY PLANET EINSAME WELT

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Auf eine Zigarette mit dem Rietberger Konfuzius

Eine Waschmaschine, eine Amerikanische Google Mitarbeiterin und ein spuckender und rauchender Konfuzius.

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{Text} * Andreas Hauri

ie Wäsche hab ich gerade gemacht. Oder mache sie noch. Eigentlich hab ich soeben erst Bettanzüge und Frottees in die Waschmaschine gestopft, den Sportknopf gedrückt und einem vorbeigehenden Nachbarn aus dem Block zugenickt. Dann war ich wieder alleine. Erst kürzlich passierte es, dass mich eine Amerikanerin aus Florida um Hilfe bittend nach unten in den Waschkeller zerrte um die Waschmaschine zu reparieren. Ich hatte natürlich keine Ahnung wie das Ding funktionieren sollte. Ich drückte den altbekannten Sportknopf wie ein Routinier und ließ die alte Dame (Waschmaschine) keuchen, das Wasser lief ein doch bevor ich schon siegessicher die Gewinnerfratze aufsetzten konnte, rumpelte es unappetitlich im inneren der alten Emma. Ich nenn sie ab und an so. Die Amerikanerin heisst übrigens Alice und arbeitet bei Google. Sie ist alleine und erfolgreich. Ich drückte mal ein wenig an den Knöpfen rum, man kennt es ja, nur ungern gibt man auf bevor man nicht wirklich jeden noch so dämlichen Knopf gedrückt hat.

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Doch das Ding wollte nicht funktionieren. Ich versuchte es noch beim Service-Dienst. Doch auch das beruhigenden Tuut Tuuut in meiner Ohrmuschel schrie nicht nach einer Lösung. Wenige Minuten später sass ich wieder auf meiner Couch. Überlegte was man eine Google Mitarbeiterin noch so alles fragen könnte. Überlegte ob ich die Prüfungen auch wirklich bestanden habe? Überlegte ob es jemals wieder Sonnenschein geben würde? Es war griesgrämig. Die Stimmung, die ein Zimmerwohnung, die Stunde bis zur Nächsten. Als ich gerade mit dem Gedanken spielte den alten Haudegen Fjodor aus meinem Bücherregal zu nehmen, auf dass sich mein Verstand ein wenig an der Länglichkeit russischer Namen ergötzen konnte, zögerte mein Bewusstsein eine kurze Sekunde und ich wagte mich hinaus. Vierbeinig fliegend mit großen Augen und einer fletschenden Schnauze, aus meinen Nüstern schnaubend. Ich flog aus dem Fenster. Endlich verliess ich diese Einöde und die Schatzkammer, der mit ruhigen Gewissen verwendbaren Gedanken. Ich flog rüber

zum Museum Rietberg und setzte mich zu Konfuzius auf den Boden. Er lächelte mir zu und bemerkte meine krampfhafte Betrübtheit. «Na Konfi - wie schauts aus? Warst du schon drinnen?» Konfi zwirbelte an seinem Bart und beäugte mich hämisch. Er drehte die Musik des dudelnden Georges Moustaki (R.I.P 1934-2013) etwas leiser (no je ne suis jamais seul, avec ma solitude). «Ich? Da rein in diese schweissgebadete Menschenmasse? Er spuckte auf den Boden und zündete sich genüsslich eine Zigarette an.» * Andreas Hauri 22, Student Publizistik und Recht.

LONELY PLANET AUF EINE ZIGARETTE MIT DEM RIETBERGER KONFUZIUS


Wie Justiz Freund und Feind vereint Es ist wohl der unkonventionellste und schönste Fall, den der Schreibende bisher erlebt hat: Nicht der Sühn- und Rachegedanke stand bei diesem Strafverfahren im Vordergrund, sondern eine Aussprache und aufrichtige Versöhnung zweier Widersacher und der Beginn einer Freund– schaft zwischen den beiden. {Text} * Davide Loss

D

er Italiener X. wurde beschuldigt, den aus Senegal stammenden Y. mit einer Bierflasche ohne Verletzungsfolgen in der Bauchgegend getroffen und mit rassendiskriminierenden Schimpfworten beleidigt zu haben. Der Italiener bat den Schreibenden, als seinen Rechtsbeistand zu amten, und so begleitete der Schreibende den Beschuldigten am 28. Februar 2013 an die anberaumte staatsanwaltschaftliche Einvernahme. Noch vor der Einvernahme meint der zuständige Staatsanwalt, er wolle den Fall «unkonventionell» erledigen, sofern das möglich sei. Zu diesem Zweck führt der zuständige Staatsanwalt eine Aussprache zwischen den beiden Widersachern durch, wobei der Geschädigte zuerst seine Strafanzeige begründet. Dabei stellt sich sehr schnell heraus, dass nicht der Beschuldigte den Streit ausgelöst habe, sondern weitere Beteiligten, die sich nach der Auseinandersetzung rasch aus dem Staub gemacht hatten. Der Beschuldigte habe im Zug der Auseinandersetzung einfach mit voller Kraft eine Bierflasche nach ihm geworfen und sich beim darauffolgenden Sturz verletzt. Er wisse nicht, wer ihn wegen seiner Hautfarbe beschimpft habe, der Beschuldigte sei es jedenfalls nicht gewesen. Er verlange nur Respekt, Anstand. Er wolle hier in Frieden leben können. Der Geschädigte führte unter Tränen aus, es betrübe ihn zu zutiefst, sich jeden Tag anzuhören, er sei ein «scheiss Neger». Er sei doch genauso ein Mensch, wie jeder andere. Ihm sei «der Kragen geplatzt», und er habe allen Personen den Mittelfinger gezeigt, worauf die Sache eskaliert sei. Daraufhin entschuldigt sich der

LONELY PLANET WIE JUSTIZ FREUND UND FEIND VEREINT

Beschuldigte aufrichtig für den Wurf der Bierflasche, Er sei ausgerastet, als ihm der Geschädigte den Mittelfinger gezeigt habe und habe wohl überreagiert. Der Geschädigte nimmt die Entschuldigung an und erklärt, den Strafantrag zurückzuziehen. Daraufhin stehen beide auf und umarmen sich. Der zuständige Staatsanwalt, genauso verblüfft wie der Schreibende, freut sich über den angenehmen Abschluss des Strafverfahrens und erklärt, bei dieser Ausgangslage werde keine Untersuchung anhand genommen. Beim anschliessenden Kaffee zwischen den beiden zeigt der Senegalese dem Italiener Fotos seiner Familie in Senegal, ruft seine Frau und erklärt, einen neuen «ami» gefunden zu haben. Die beiden vereinbaren, sich in Bälde wieder zu treffen. Dieser Fall zeigt auf eine sehr eindrückliche Weise, wie wichtig eine Aussprache zwischen den Beteiligten sei kann. Mit einem unkonventionellen Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden, das durchaus im Rahmen des rechtlich zulässigen liegt, kann für alle Parteien und den Staat wesentlich mehr erreicht werden als mit einer reinen Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs. Hoffen wir auf weiterhin mutige Personen im Dienst der Strafverfolgung. Nichtanhandnahmeverfügung der Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis A2/2012/2626 vom 1. März 2013 – rechtskräftig * Davide Loss, 25 Jahre, SP-Kantonsrat und studiert im Master Rechtswissenschaften an der Universität Zürich

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