Matisse, Derain und ihre Freunde

Page 1

HERAUSGEGEBEN VON

ARTHUR FINK

CLAUDINE GRAMMONT

JOSEF HELFENSTEIN

KUNSTMUSEUM BASEL

DEUTSCHER KUNSTVERLAG

6 DANK 8 VORWORT JOSEF HELFENSTEIN 14 ESSAYS 17 DIE FAUVES UND DER PARISER KUNSTHANDEL PETER KROPMANNS 27 DIE FAUVES UND DIE MODE – KLEIDER UND HÜTE VON AMÉLIE MATISSE CLAUDINE GRAMMONT 37 MIT UND OHNE FAUVES – BLICKE AUF DIE PROSTITUTION IN DEN JAHREN 1900–1910 GABRIELLE HOUBRE 45 VERSUCHSFELDER – STILLLEBEN DER FAUVES ARTHUR FINK 51 VON DER NÄHE DES FERNEN – FÜR EINE «KUNSTGESCHICHTE ZU GLEICHEN TEILEN» MAUREEN MURPHY 61 «L’ART VIVANT» – DIE TRANSFORMISTISCHE PHILOSOPHIE DES FAUVISMUS PASCAL ROUSSEAU
74 REPRINTS 77 LE SALON D’AUTOMNE L’ILLUSTRATION, Nº 3271, 4. NOVEMBER 1905 80 LOUIS VAUXCELLES, LE SALON D’AUTOMNE GIL BLAS, 17. OKTOBER 1905 88 LOUIS VAUXCELLES, LA VIE ARTISTIQUE GIL BLAS, 26. OKTOBER 1905 92 MICHEL PUY, LES FAUVES LA PHALANGE, 15. NOVEMBER 1907 102 GELETT BURGESS, THE WILD MEN OF PARIS THE ARCHITECTURAL RECORD, Nº 140, MAI 1910 119 TAFELN 239 CHRONOLOGIE 250 APPENDIX 253 BIBLIOGRAFIE 256 BILDNACHWEIS 257 WERKLISTE

DANK

Die Ausstellung wurde ermöglicht durch die grosszügige Unterstützung von:

Art Mentor Foundation Lucerne

Bundesamt für Kultur

bz – Zeitung für die Region Basel

Credit Suisse (Schweiz AG)

Isaac Dreyfus-Bernheim Stiftung

Karin Endress

Simone und Peter Forcart-Staehelin

Dorette Gloor-Krayer

Rita und Christoph Gloor

Dr. Urs Gloor und Hardy Happle

Annetta Grisard-Schrafl

Stiftung für das Kunstmuseum Basel

Trafina Privatbank AG

Heivisch

Anonyme Gönnerinnen und Gönner

Das Kunstmuseum Basel dankt den internationalen öffentlichen und privaten Sammlungen für ihre grosszügige Unterstützung und Leihgaben.

Dänemark

Statens Museum for Kunst, Kopenhagen, Mikkel Bogh

Deutschland

Lehmbruck Museum, Duisburg, Söke Dinkla

Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Susanne Gaensheimer

Museum Folkwang, Essen, Peter Gorschlüter

Sammlung Hasso Plattner, Potsdam, Stephanie Ullrich

Arp Museum Bahnhof Rolandseck, Remagen, Julia Wallner, Susanne Blöcker

Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart, Christiane Lange

Frankreich

Fondation Jean et Suzanne Planque, Musée Granet, Aix-en-Provence, Bruno Ely

Musée des Beaux-Arts, Bordeaux, Sophie Barthélémy

Archives départementales des Bouches-du-Rhône, Marie-Claire Pontier

Musée Unterlinden, Colmar, Pantxika De Paepe

Musée de Grenoble, Grenoble, Guy Tosatto

Archives Henri Matisse, Issy-les-Moulineaux, Anne Théry

Musée d’art moderne André Malraux, Le Havre, Annette Haudiquet

Musée des Beaux-Arts de Lyon, Lyon, Sylvie Ramond

Archives municipales de Marseille, Olivier Muth

Musée Cantini, Marseille, Guillaume Theulière

Musée Matisse, Nizza, Claudine Grammont, Aymeric Jeudy

Archives de Paris, Anne-Cécile Tizon-Germe

Archives de la Préfecture de Police, Paris, Henri Zuber

Bibliothèque Forney, Paris, Lucile Trunel

Bibliothèque Historique de la ville de Paris, Fabien Plazannet

Galerie Bernard Bouche, Paris, Bernard Bouche

Galerie de la Présidence, Paris, Florence Chibret-Plaussu

Centre Pompidou, Paris, Laurent Le Bon, Xavier Rey

Collection Larock, Paris, Marc Larock

Musée d’art moderne de la ville de Paris, Fabrice Hergott

Musée d’Orsay, Paris, Christophe Leribault

Musée d’art moderne et contemporain, Strasbourg, Paul Lang

Musée de l’Annonciade, St. Tropez, Séverine Berger

Grossbritannien

Tate Modern, London, Maria Balshaw

Japan

Musée Marie Laurencin, Tokyo, Hirohisa Yoshizawa

Österreich

Albertina, Wien, Klaus Albrecht Schröder

Sammlung Batliner, Albertina, Wien, Klaus Albrecht Schröder

Schweiz

Jacques Herzog und Pierre de Meuron Kabinett, Basel

Musée des Beaux-Arts de La Chaux-de-Fonds, David Lemaire

Association des Amis du Petit Palais, Genf, Claude Ghez

Galerie Rosengart, Luzern, Angela Rosengart

Sammlung Pieter + Catherine Coray, Montagnola

Hahnloser/Jaeggli Stiftung, Villa Flora, Winterthur, Beat Denzler

Sammlung Emil Bührle, Kunsthaus Zürich, Zürich, Lukas Gloor

Sammlung Gabriele und Werner Merzbacher, Kunsthaus Zürich, Zürich, Werner Merzbacher

Kunsthaus Zürich, Zürich, Ann Demeester, Philippe Büttner

Spanien

Colección Carmen Thyssen, Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid, Guillermo Solana

USA

The Los Angeles County Museum of Art, Los Angeles, Michael Govan

The Metropolitan Museum of Art, New York, Max Hollein

The Museum of Modern Art, New York, Glenn D. Lowry, Ann Temkin

National Gallery of Art, Washington, Kaywin Feldman

und allen privaten Leihgeberinnen und Leihgebern, die nicht genannt werden möchten.

Unser herzlicher Dank gebührt den Autorinnen und Autoren des Katalogs:

Arthur Fink

Claudine Grammont

Gabrielle Houbre

Peter Kropmanns

Maureen Murphy

Pascal Rousseau

Die Kurator:innen danken all jenen, die sie bei der Planung und Umsetzung des Projekts unterstützt haben:

Raphael Bouvier, Anna Brailovsky, Philippe Büttner, Florence Chibret-Plaussu, Elena Degen, Sandra Gianfreda, Ruth und Peter Herzog, Gabrielle Houbre, Rudolf Koella, Jelena Kristic, Jean-Pierre Manguin, Frédéric Paul, Isolde Pludermacher, Nadja Putzi, Assia Quesnel, Susanne Sauter, Teo Schifferli, Geneviève Taillade, Imogen Taylor, Anne Théry

VORWORT

JOSEF HELFENSTEIN

Die Ausstellung MATISSE, DERAIN UND IHRE FREUNDE. Die Pariser Avantgarde 1904–1908 ist die erste grosse Überblicksschau zu den Fauves seit Jahrzehnten in der Schweiz. Sie kann an ein wegweisendes kuratorisches Projekt von Arnold Rüdlinger in der Kunsthalle Bern anknüpfen: 1950 hatte er die erste institutionelle Ausstellung zu dieser Gruppe ausserhalb Frankreichs organisiert. Sie fand zu einem Zeitpunkt statt, als die kunsthistorische Forschung zum Fauvismus gerade einsetzte. Beinahe zeitgleich erschien mit Georges Duthuits Les Fauves eine grundlegende Monografie. Der Fauvismus war die erste Avantgarde-Bewegung des 20. Jahrhunderts. Er prägte die Malereidiskurse weit über die Moderne hinaus. Den Künstlern, die als Fauves in der Kunstgeschichte kanonisiert wurden, ging es um die Befreiung der Malerei aus einem akademisch hochkodifizierten Regelwerk. Ihr Anspruch war es, die Malerei durch subjektive, unmittelbare Ausdrucksformen zu revolutionieren. Sie plädierten für eine Vereinfachung der technischen Mittel durch eine radikale Abkehr von malerischen Konventionen. Matisse, der von der zeitgenössischen Kunstkritik unter anderem als Prinz, König, Chef und als Fauve der Fauves bezeichnet wurde, sagte dazu im Rückblick lakonisch, «die Tradition war ziemlich in Ungnade gefallen, gerade weil sie so lang respektiert worden war».1 Derain, de Vlaminck, Matisse und ihre Freunde machten die Farbe als konkretes Material erfahrbar, der Prozess des Farbauftrags wird unmittelbar nachvollziehbar und die Pinselstriche haben eine haptische Qualität. Sie verzichteten auf etablierte Modellierungsweisen wie Hell-DunkelSchattierungen und Umrisslinien, betonten dagegen die Flachheit des Bildträgers und gliederten den Bildraum nicht mehr hierarchisch in Vorder-, Mittel- und Hintergrund. Die Leinwand als zweidimensionaler Bildträger wird durch häufig auftretende unbemalte Stellen akzentuiert. Wie schon bei den Impressionisten hat die Bezeichnung Fauves (dt. Raubkatzen, wilde Tiere) ihren Ursprung in einer abschätzigen Formulierung, die von den Künstlern selbst in der Zeit kaum verwendet wurde. Der Begriff stammt aus einer Ausstellungsrezension des Salon d’Automne 1905 von Louis Vauxcelles. Er verwendete ihn in seiner Ausstellungsrezension { → S. 80–87} in zwei unterschiedlichen Weisen: Er beschrieb damit sinnbildlich die herablassend negative Art, wie konservative Kritiker auf die Gemälde der jungen Maler reagierten. Für Vauxcelles ist Matisse ein Künstler, der mutig in die Arena der wilden Bestien (im Salon) tritt. Zugleich verwendete er den Begriff, um die Wirkung der Bilder zu beschreiben. Der einflussreiche Kritiker bezog sich konkret auf den expressiven Farbauftrag und die ungewöhnlichen Farbkombinationen, die auf revolutionäre Weise gegen die damaligen Konventionen der Malerei verstiessen. Die für das zeitgenössische Publikum grell und schockierend wirkenden Bilder wiesen zudem motivische Bezüge zur peinture naïve in Frankreich auf und machten formale Anleihen an nicht-westlicher Kunst und mittelalterlichen Bildtraditionen. Im selben Raum war eine Büste Albert Marques { → S. 129} zu sehen, die in ihrer Ausgestaltung einem traditionellen, von der italienischen Hochrenaissance geprägten Kunstverständnis entsprach. Diese Skulptur, so der Kritiker, wirke so, als sei sie mitten in eine «Orgie der reinen Farben» geraten: «Donatello chez les Fauves.»2 Der Überlieferung nach rief der Kritiker bereits am Tag der Vernissage «Tiens, Donatello au milieu des fauves»3, wo der Vergleich für derart viel Gelächter sorgte, dass er ihn in seiner Rezension verwendete. Entgegen der allgemeinen Auffassung nahm der Begriff jedoch nicht sofort Fahrt auf, sondern wurde von Vauxcelles erst zwei Jahre später, in einer Rezension des Salon des Indépendants 1907, als direkte Bezeichnung für die Künstler verwendet. Gegen Ende des Jahres 1907 etablierte sich der Begriff, nicht zuletzt durch einen Aufsatz von Michel Puy {→ S. 92–101} Zu diesem Zeitpunkt franste die lose Verbindung der postimpressionistisch

9
1 Flam 1982, S. 136 2 Louis Vauxcelles, «Exposition Marquet, Manguin, Camoin, Matisse», Gil Blas, 26.10.1905. 3 Siehe ausführlicher Jedlicka 1961, S. 14–16

8 Stoichita 1993, S. 29–41.

9 Für eine Diskussion der Stillleben-Diskurse der Antike sowie von Cezannes Stillleben als Blaupause für den Modus Operandi modernistischer Stillleben, die keine Objekte repräsentieren, sondern neue malerische Propositionen präsentieren, siehe Bryson 1990, S. 17–95.

10 Shiff 2014, S. 145–193.

11 Ebd. Matisse kaufte im Jahr zuvor bei Vollard ein Gemälde Cezannes wie auch je eine Arbeit von Gauguin und van Gogh; siehe Spurling 1998, S. 187–188.

12 Vischer 1998, S. 117–135.

13 Wildenstein 1963, S. 9–10. Von Chardin ist folgende, im Kontext des Fauvismus interessante Aussage zum Malen von Stillleben überliefert: «Hier ist ein Gegenstand, den es wiederzugeben gilt. Wenn ich ihn wahrheitsgetreu wiedergeben will, muss ich alles vergessen, was ich bisher gesehen habe, ja sogar, wie andere diese Gegenstände dargestellt haben. Ich muss ihn so weit von mir entfernen, dass ich die Details nicht mehr erkenne. Ich muss mein Hauptaugenmerk darauf richten, die Masse als solche, die Farbschattierungen, das Runde, die Wirkung von Licht und Schatten angemessen und so wahrheitsgetreu wie möglich nachzuahmen.» (Jean Siméon Chardin, zit. n. Rosenberg 1999, S. 26.)

14 Wildenstein 1963, S. 50–52

15 ‹Yes, I often go to the Louvre,› he replied, in answer to my question, asked rather perfunctorily. ‹Whose work do I study the most?›

‹Chardin’s,› he answered, to my great surprise. ‹Why?› I asked curiously, for there is not a trace of that great man’s manner in Matisse’s work. ‹I’ll go there to study his technique.› (Clara MacChesney, ‹A Talk with Matisse, leader of PostImpressionists›, The New York Times, 9. März 1913).

16 Spurling 1998. S. 85–87. Das Werk hat sich nicht erhalten. Belegt sind zudem Kopien von Le Buffet und La Raie sowie La Pourvoyeuse, siehe du Bourg 2020, S. 345.

17 Übersetzung des Autors «Nous avions appris de Chardin qu’une poire est aussi vivante qu’une femme, qu’une poterie vulgaire est aussi belle qu’une pierre précieuse. Le peintre avait proclamé la divine egalité de toutes choses devant

l’ésprit qui les considère, devant la lumière qui les embellit. Il nous avait fait sortir d’un faux idéal pour pénétrer largement dans la réalité, pour y retrouver partout la beauté, non plus prissonière affaiblie d’une convention ou d’un faux goût mais libre, forte, universelle; en nous ouvrant le monde réel c’est sur la mer de beauté qu’il nous entraîne.» (Marcel Proust, posthum erstmals erschienen in Le Figaro littéraire (27.3.1954); hier zit. n. Proust 2009, S. 31–32; für eine eingehende Diskussion des Textes siehe McDonald 2015, S. 40–52.

18 Flam 1986 S. 58–60. Es entstehen mehrere solcher Werke. Für eine genaue Aufarbeitung der Rezeption siehe Bock 1981.

19 Flam 1986, S. 61.

20 In den Plaudereien mit Pierre Courthion beschreibt Matisse, wie er beim Malen von Stillleben von der farb-

Genese der Gattung lautet, dass das Stillleben als eine Emanzipation des Beiwerks eines sakralen Bildes zu einem autonomen Bildnis zu verstehen ist.8 Zugleich gibt es den Topos der Geheimsprache der Stillleben, eines widerständigen Hintersinns, dem nicht beizukommen ist. Stillleben verlangen durch ihre Stummheit förmlich nach einer Ausdeutung der Chiffren und bieten sich für die Befragung des Mediums Malerei an, da anhand dieses Genres die Grundlagen bildnerischen Darstellens insgesamt sichtbar gemacht werden. So kreist auch eine der Urszenen der Kunstgeschichte, der von Plinius geschilderte imitatio-Wettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios, um zwei Stillleben, nämlich zum einen um ein Bild, das mit der Darstellung von Trauben dazu angetan ist, Vögel zu täuschen, und zum anderen um eines, das mit einem dargestellten Vorhang Menschen zu täuschen vermag.9

Dass die Stillleben-Malerei im Fauvismus eine zentrale Rolle einnahm, hat konkret mit zwei historischen künstlerischen Vorbildern der jungen Künstler:innen zu tun. Um 1900 war Paul Cezanne bekanntlich eine zentrale Referenzfigur (der «cezannisme» findet in der unmittelbaren Zeit nach dem Tod des Malers 1906 seinen Höhepunkt).10 Die Äpfel Cezannes wurden zu Ikonen: Compotier, Verre et Pommes (1879/80) {ABB. 1} wurde bereits in den 1880/90er-Jahren von seinem Besitzer Paul Gauguin als Lehrstück herumgereicht; er nahm es abends mit ins Restaurant, um es seinen Eleven zu zeigen und zitierte es in eigenen Gemälden. Entsprechend verehrten die Nabis dieses Bild und malte Maurice Denis ihm ein Denkmal: Hommage à Cézanne (1900) {ABB. 2} . Es zeigt die Maler in der Galerie von Ambroise Vollard, der wenige Jahre später auch Derain und de Vlaminck ausstellen wird, und zeigt die Nabis im Austausch über dieses Gemälde.11 Der Autor (und Kritiker der Fauves) André Gide kaufte das Bild. Was Cezanne für die Nabis, die Fauves und die Kubisten war, war Jean Siméon Chardin für die Künstlergeneration, die sich um 1860 formierte.12 Auch er war eine von Mythen umrankte Figur, ebenfalls ein Aussenseiter. Er entstammte einer Handwerkerfamilie und wurde als Dekorationsmaler in einem Zunftkontext ausgebildet. Wohl vor diesem Hintergrund malte er keine Historiengemälde und wurde als Cervelat-Maler verspottet. 1728 gelang es ihm mit einer List trotz seines nicht-akademischen Curriculums Mitglied der Académie Royale zu werden.13 Mitte des 19. Jahrhunderts wird er durch junge Künstler und Schriftsteller wiederentdeckt; erste Werke gelangen in den Louvre und werden dort rege kopiert.14 Die Faszination für Chardins Werke im Louvre hält in den darauffolgenden Dekaden an.15 1893 kopiert Matisse sein erstes Werk im Louvre: La Tabagie (Pipes et vase à boire) {ABB. 3} 16 Und der 24-jährige Marcel Proust schreibt 1895 (in der Tradition Diderots und der Gebrüder Goncourt) eine Fragment gebliebene Lobeshymne auf ihn. In diesem Jahr war dem Maler eine Retrospektive im Palais Galliera gewidmet. Proust beschreibt ihn als einen Meister, der uns in die Magie der profanen, bescheidenen Dingwelt führe, wie Vergil Dante in die Unterwelt: «Von Chardin haben wir gelernt, dass eine Birne so lebendig ist wie eine Frau, dass ein gewöhnlicher Tonkrug so schön ist wie ein Edelstein. Der Maler hat die göttliche Gleichheit aller Dinge proklamiert – vor dem Geist, der sie betrachtet, vor dem Licht, das sie verschönt. Er hielt uns an, ein falsches Ideal hinter uns zu

46
{2} Maurice Denis, Hommage à Cézanne (Hommage an Cézanne), 1900 Öl auf Leinwand, 180 × 240 cm Musée d’Orsay, Paris {1} Paul Cezanne, Compotier, Verre et Pommes (Obstschale, Glas und Äpfel), 1879/80 Öl auf Leinwand, 46.4 × 54.6 cm The Museum of Modern Art, New York

lassen, um weiter in die Welt der Wirklichkeit einzutreten und überall Schönheit zu finden, nicht mehr länger entkräfteter Gefangener einer Konvention oder schlechten Geschmacks zu sein, sondern frei, kräftig und universell; indem er uns die reale Welt eröffnet hat, zieht er uns ins Meer der Schönheit.»17

FRÜHE STILLLEBEN VON MATISSE

Die ersten beiden Stillleben, die in der Ausstellung zu sehen sind, stammen aus dem Winter 1898/99, den Matisse in Toulouse verbringt {→ S. 123}. In Korsika liest er im Frühsommer 1898 in der Monatszeitschrift Revue Blanche den Essay D’Eugène Delacroix au Néo-impressionnisme von Paul Signac Dieser Text ermöglicht es dem traditionsbewussten Matisse, seine eigenen Bestrebungen in einem fundierten zeitgenössischen intellektuellen Gerüst zu verankern; er eignet sich die darin formulierten malerischen Grundsätze an.18 In Nature morte. Buffet et table ist die Rezeption von Signacs Aufsatz augenscheinlich, auch wenn sich einige Abweichungen von der neoimpressionistischen Doxa finden: Das Gemälde weist mehrere Fokuspunkte auf sowie unscharfe Bildzonen, wo die Konturen der Objekte verschwimmen (beim Geschirr). Zudem finden sich Umrisslinien und der Pinselstrich wechselt zuweilen die Richtung, dies wiederum um die Gegenstände zu konturieren. Die anderen Stillleben mit Orangen, die in der Zeit entstehen, darunter auch Nature morte aux fruits aus der Sammlung Rosengart zeugen nicht unmittelbar von Signacs Einfluss, aber von dem von ihm geprägten malerischen Ansatz, dass Pinselstriche nicht mehr deskriptiv zu sein haben, d. h. ein Eigenleben als bildliche Einheit haben können und nicht in jedem Fall mit dem Dargestellten zusammenfallen. Die bildnerischen Zeichen lösen sich vom Dargestellten ab. Die Farbe Orange ist nicht notwendig an die Frucht gebunden.19

Zu der Zeit studiert Matisse neben Signacs Farblehren auch die Malerei von Chardin und Cezanne eingehend. In den zu jener Zeit entstandenen Gemälden machen sich die unterschiedlichen Einflüsse und Matisse’ erprobende, kritische Aneignung bemerkbar.20 Die Werkreihe der Stillleben mit Orangen gilt als die erste, in der derselbe Gegenstand in unterschiedliche Sicht- / Malweisen überführt wird. Die Orangen werden in der Literatur immer wieder als Symbol des mediterranen Lichts besprochen. Sie sind als Früchte gleichsam Sonnenlichtspeicher – Apollinaire widmete ihnen im Gedicht Les Fenêtres (1918) die Schlusszeilen: «La fenêtre s’ouvre comme une orange / Le beau fruit de la lumière».21 Die Orange als Motiv scheint auch ein Hinweis auf die Rezeption der Stillleben Gauguins zu sein, der dieses Motiv oft malt. Die Äpfel Cezannes hingegen tauchen bei Matisse nicht direkt als Bildzitat auf.

Die erste Auseinandersetzung mit dem Neoimpressionismus war von kurzer Dauer, erst 1904 nimmt Matisse diese wieder auf. Er verbringt den Sommer in St. Tropez bei Signac. Dieser Aufenthalt wurde in der Kunstgeschichte als Beginn des Fauvismus kanonisiert, der sich aus Anleihen bei post- und neoimpressionistischem Vokabular generiert. Tulipes perroquet II (1905) { → S. 154} aus der Albertina zeugt von der Auseinandersetzung mit letzterem, weicht aber wiederum in entscheidenden Punkten von der Lehrmeinung ab. Das Bild wurde von Louis Vauxcelles in der Presse22 und in einem persönlichen Brief an Matisse hoch gelobt: «C’est d’une luminosité, d’une vibration éblouissante.»23

Doch zurück zu Cezanne: Les Tapis rouges { → S. 153} entsteht im Jahr 1906, dem Todesjahr Cezannes, in Collioure und zeugt in der Bildanlage

getreuen Wiedergabe wegkam: «Meine ersten Arbeiten nach der Natur hatten immer einen simplen Aufbau oder vielmehr gar keinen. Die Natur kam mir so schön vor, dass man sie so einfach wie möglich wiedergeben musste. Ich setzte mich also vor Gegenstände, die mich anzogen, fühlte mich in sie hinein und versuchte, Doppelgänger von ihnen auf der Leinwand zu erschaffen. Doch dann kamen Gefühle dazwischen, die mich von der Trompe-l‘œil-Malerei wegbrachten: Das Grün eines Apfels entsprach nicht dem Grün meiner Palette, sondern etwas Immateriellem, das man finden musste. Ich erinnere mich daran, wie ich mich in die Betrachtung einer Zitrone vertiefte, die auf der Ecke eines schwarzen Kaminsimses lag: Was hätte ich erreicht, wenn es mir gelänge, diese Zitrone zu kopieren? Warum interessierte sie mich? War es eine besonders schöne Zitrone? Die schönste aller Zitronen? Warum sollte ich mich damit abplagen, sie mehr oder weniger genau auf einer Leinwand zu verewigen, wo ich doch meine Bewunderung für sie immer wieder neu vor Ihresgleichen empfinden könnte, einer realen Frucht, aus der, wäre ich ihrer Betrachtung überdrüssig, ich mir ein wunderbares erfrischendes Getränk zubereiten könnte? Schlussfolgerung um Schlussfolgerung ziehend, wurde mir klar, dass das, was mich interessierte, die Beziehung war, welche meine Betrachtung erst zwischen den vorliegenden Dingen schuf: das Gelb der Zitronenschale auf dem polierten schwarzen Marmor des Kaminsimses. Ich würde also etwas erfinden müssen, das meine Empfindung, dass zwischen den Gegenständen vor mir ein Gefühl von Gemeinschaft geschaffen werde, gleichwertig wiedergeben würde.» (Matisse 2017, S. 224) 21 Apollinaire 2014, S. 15. 22 «Je n’avais pas cru, je l’avoue, que Monsieur Matisse, de qui j’ai cru devour critiquer avec une amicale vivacité la récente incursion chez les néo-impressionistes, pût, grâce à l’exclusif procédé du point, obtenir d’aussi beaux effets de lumière, de volume, et de vibration. Ses tulipes d’or et de pourpre sont éclatantes.» (Louis Vauxcelles, Gil Blas, 14. Juni 1905). Das Werk wurde 1906 in der Einzelausstellung bei Druet ausgestellt, siehe den Beitrag von Peter Kropmanns in diesem Katalog. 23 Brief vom 27. Juni 1905, zit. n. Ausst.-Kat. Paris 1993, S. 423.

47
{3} Jean Baptiste Siméon Chardin, Pipes et vase à boire (Pfeifen und Trinkgefäße), ca. 1750–1775 Musée du Louvre, Paris

geschrieben worden, wobei es nicht um ihre Bedeutung oder um ihre Geschichte ging, sondern um eine Genealogie ihrer «Entdeckung» durch europäische Künstler. 5 Es ist inzwischen allgemein anerkannt, dass de Vlaminck 1905 der Erste war, der eine Fang-Maske (Gabun) erwarb. Er kaufte sie in einem Bistro in Argenteuil und veräusserte sie dann an Derain. 1906 erwarb Matisse auf dem Weg zu Leo und Gertrude Stein im Pariser Kuriositätenhandel «Le Vieux Rouet» bei Émile Heymann eine Kongo-ViliSkulptur (Republik Kongo). Auf die sattsam bekannten und oft genannten Daten soll hier nicht näher eingegangen werden. In Hinblick auf die Geschichte der Beziehungen zwischen europäischen Künstlern und ihren afrikanischen oder ozeanischen Inspirationsquellen wurde ein Aspekt bisher nicht genügend berücksichtigt: Er betrifft die Geschichte der Artefakte. Sie wurden lange Zeit in eine zeitlose Gegenwart versetzt6 und oft ohne Hinweis auf ihre Historizität ausgestellt, wie zum Beispiel 1984 in der umstrittenen Ausstellung Primitivism in 20th Century Art des New Yorker Museum of Modern Art. Wir werden sehen, dass die meisten Werke aus Afrika, Asien und Ozeanien aus derselben Zeit stammten wie die sogenannten «modernen» Kreationen. Was die Fauves als weit entfernt betrachteten, war ihnen letztlich sehr nahe; geprägt vom kolonialen Kontext der Zeit, dem es in seinem Anderssein verhaftet blieb, entzog sich dieses Fremde jedoch ihrem rationalen Verständnis.

Gerade dieser Kontext begünstigte die Begegnung – oder sollte man schreiben: das Missverständnis? Die Artefakte aus Afrika, Amerika und Ozeanien, die seit dem 15. Jahrhundert in europäische Sammlungen kamen, zogen die Aufmerksamkeit der Künstler erst auf sich, als ihre Menge im Zuge der Eroberungen und der Entwicklung eines seit Ende des 19. Jahrhunderts wachsenden Marktes für ethnografische Kuriositäten stark anwuchs.7 Parallel zu ihrer Präsentation in Museen und bei Kolonialausstellungen nahmen Artikel zu, die im Zusammenhang mit der Kolonialisierung Skandale anprangerten, sei es im Kongo, in Dahomey oder in Namibia – der dortige Völkermord an den Herero etwa wurde von der satirischen Zeitschrift L’Assiette au beurre publik gemacht. Wie ihre Gemälde zeigen, lebten Maurice de Vlaminck, André Derain, Henri Matisse und Kees van Dongen in Frankreich, Ernst Ludwig Kirchner und Emil Nolde in Deutschland nicht in einem Elfenbeinturm. Sie lasen die Presse, veröffentlichten dort bisweilen Karikaturen und Zeichnungen, liessen sich in ihrer Malerei von Fotos und Postkarten inspirieren und nährten ihre libertären Impulse mit Berichten über eine Ferne, die ebenso abstossend wie faszinierend wirken mochte. Um die Komplexität der «primitivistischen» Bewegung der Fauves zu rekonstruieren, schreiben wir unsere Ausführungen einer globalisierten Perspektive ein, die für Austausch und Weitergabe (von Ideen, Bildern oder Objekten) steht, und versuchen, eine «Geschichte zu gleichen Teilen»8 zu schreiben, die, so weit wie möglich, sowohl das Vorgehen der Fauves als auch das der Bildhauer aus Afrika, Asien und Ozeanien erhellt, die grösstenteils nichts «Primitives» an sich hatten, sondern, ganz im Gegenteil, Zeitgenossen waren.

VOM ORIENTALISMUS ZUM PRIMITIVISMUS

Bei jenem Kanon der Kunstgeschichte, der von aufeinander folgenden Ismen ausgeht, folgt der Japonismus auf den Orientalismus und liefert der Primitivismus Hinweise auf ein modernes Bewusstsein der Künstlerschaft des frühen 20. Jahrhunderts. Den Begriffen, die künstlerische Bewegungen bezeichnen, ist ein zugleich

52
5 Eine neuere und präzise Studie dieser Genealogie findet sich bei Cohen 2020. 6 Zu diesem Thema siehe Fabian 2014. 7 Zu den afrikanischen Künsten siehe Biro 2018. 8 Bertrand 2011. {2} Tempel von Bayon und kambodschanische Antiquitäten

geografisches und zeitliches Anderswo implizit eingeschrieben: der Orient bei Delacroix, Japan bei den Impressionisten, die «Primitiven» bei den Fauves, denen die Kubisten folgten. Das Bezeichnen einer Geografie, deren ideologische Konnotation seit Edward Saïds Schriften über den Orient bekannt ist9, wird bei den Werken aus Afrika und Ozeanien zum Bezeichnen des auf Vorzeitigkeit zielenden Temporalen. In der den Avantgarden eigenen Logik musste man weitersuchen und etwas anderes finden, um sich behaupten zu können, ohne davor zurückzuschrecken, die Quellen aus Afrika, Asien und Ozeanien mit Persischem, Griechischem oder sogar Ägyptischem in Verbindung zu bringen.10 Die Fauves haben ihre Anleihen miteinander kombiniert, um sich von ihren Vorgängern zu unterscheiden. Im Mittelpunkt dieses neuartigen Kompositionsspiels standen diejenigen, die man damals eher als «nègre» denn als «primitiv» bezeichnete. Die Gewalt, die dieses Adjektiv impliziert, liegt in seiner rassistischen Aufladung begründet: Die so bezeichneten Völker wurden anhand der Hautfarbe als jeweils eigene Rassen definiert, die der «weissen» gegenüber als minderwertig galten. Dementsprechend wurden alle mit dieser biologischen Kategorie in Verbindung stehenden Objekte ohne Unterschied als solche bezeichnet, unabhängig davon, ob sie aus Afrika, Nord- und Südamerika oder Ozeanien stammten. Als Derain Matisse von seinem Besuch im Britischen Museum berichtete, verwendete er keinen anderen Begriff: «Dort sind sie sozusagen bunt durcheinander gemischt und folgen mir, die Chinesen, die Neger aus Guinea, Neuseeland, Hawaii, dem Kongo, die Assyrer, die Ägypter, die Etrusker, Phidias, die Römer, die Inder.»11 Dass Artefakte und Menschen auf eine Ebene gestellt wurden, lässt sich mit der Ausstellungspraxis erklären, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den Museen angewendet wurden. Die Fauves besuchten sie oft, den Louvre genauso wie das Musée de la sculpture comparée, dessen indochinesischer Saal mit einer lebensgrossen Nachbildung des Tempels von Bayon (Kambodscha) {ABB. 2} aufwartete, die Derain wahrscheinlich zu einigen Details in seinem Bild La Danse (1906) anregte, ebenso wie die Beispiele mittelalterlicher Plastik, die gleich gegenüber gezeigt wurden.12 Guillaume Apollinaire, Derain und Picasso durchstreiften die Säle des Musée d’ethnographie du Trocadéro, und welche Bedeutung diese Besuche für Picasso hatten, ist bekannt.13

DIE ROLLE DER MUSEEN

Das Musée d’ethnographie du Trocadéro pflegte einen recht spielerischen Umgang mit den Trophäen und gesammelten Objekten; es entwickelte dabei Inszenierungen, die Spektakuläres mit Wissenschaftlichem (oder dem, was man damals dafür hielt) kombinierten. Es zelebrierte die Vorstellung eines militärischen und ideologischen Sieges, wobei die Objekte und Puppen das Räderwerk evolutionistischer und rassistischer Thesen abgaben, welche die Wildheit der unterworfenen Völker demonstrieren sollten, um die Kolonisierung als «zivilisatorische Mission» besser rechtfertigen zu können. Seiten aus Zeitschriften wie Le Monde Illustré spiegeln die Theatralik und den Eindruck des Angehäuften und Vollgestopften gut wieder {ABB. 4} . An den Wänden prangten Waffen wie Trophäen, auf hohen Sockeln standen Puppen und in den Vitrinen fanden sich Gegenstände aller Art, äusserst schlichte wie dezidiert ausgearbeitete. Weil

9 Siehe Saïd 1997.

10 Zum Thema der ägyptischen Inspirationsquellen der Fauves siehe Dagen 1984, S. 289–302, und Dagen 2019.

11 Brief von Derain an Matisse, undatiert (ca. März 1906), Archives Matisse, zit. n. Labrusse 1999, S. 52.

12 Derain konnte diesen Abguss in Marseille wiedersehen (Exponat der Kolonialausstellung 1906) und war von den kambodschanischen Tänzerinnen fasziniert, die bei der Ausstellung zugegen waren {ABB. 3} und auch Rodin anregten (zu einer Serie von Aquarellen). Zum Musée de la sculpture comparée im Pariser Palais du Trocadéro: «les moulages d’arts égyptiens, assyriens et de la période hiératique grecque [étaient exposés] en regard des œuvres du XIème et XIIème français» (Jarrassé / Polack 2014).

13 «Quand je suis allé au Trocadéro, raconte Picasso, c’était dégoûtant. Le marché aux puces. L’odeur. J’étais tout seul. Je voulais m’en aller. Je ne partais pas. Je restais. […] J’ai compris pourquoi j’étais peintre. Tout seul dans ce musée affreux, avec des masques, des poupées peaux-rouges, des mannequins poussiéreux» (Malraux 1974, S. XX).

53
{3} Le Petit Parisien. Supplément littéraire illustré, 17. Juni 1906 {4} Le Musée ethnographique du Trocadéro, Le Monde Illustré, 6. Mai 1882

14 In seinem Briefwechsel mit Vlaminck hat Derain im Sommer 1907 bekräftigt: «Ce qu’il faut […] c’est rester éternellement enfant : on pourrait faire de belles choses toute sa vie. Autrement, quand on se civilise, on devient une machine qui s’adapte très bien à la vie et c’est tout» (Derain 1994, S. 187).

15 Derain an Vlaminck in einem Brief aus Collioure vom 8.7.1905: «Partout où je vais, je me flanque dans des anarchistes qui brisent le monde tous les soirs et le reconstruisent tous les matins. Ca m’ennuie beaucoup, surtout d’avoir cru que je l’étais» (ebd., S. 162).

16 Leighten 2013.

17 Zur Rolle von Ambroise Vollard in der Karriere der Fauves siehe Rabinow 2007.

die Künste aus Afrika, Asien und Ozeanien die Illusion vermittelten, an die Ursprünge einer von Kultur oder der Welt der Mechanik unbeleckten Schöpfung anzuknüpfen und sogar angenommen wurde, dass sie mit ihrer Hilfe die Vorgeschichte der Kunst wieder lebendig werden würde, zogen sie die Aufmerksamkeit der Fauves auf sich. Allerdings schlossen sich diese Künstler nicht der Ideologie an, die an diesen, imperiales Wissen verbreitenden Orten mit der Kunst aus Afrika, Asien und Ozeanien einherging. Sich für das Edle und Wilde, die Kindheit der Kunst14 oder die Idee der radikalen Andersartigkeit einzusetzen, ging vielmehr einher mit einer Ablehnung der westlichen Welt und der moralischen, bürgerlichen, militärischen und industriellen Werte, die mit ihr assoziiert wurden.

VOM ANARCHISTISCHEN ANTIKOLONIALISMUS

In einer 1904 datierten Skizze mit dem Titel République française {ABB. 5} stellt Derain die Figur des Künstlers mit an die Hüften gelegten Fäusten und in Rückenansicht dar, begleitet von einem Priester, einem Gendarmen und einer nackten, kauernden und rothäutigen Frau. Die weibliche Figur verkörpert das «Natürliche», vor der Figur des Priesters, der auf sie zukommt, fliehend. In dieser Zeichnung prallen auf komische Weise Symbole der Autorität (religiös, militärisch) und der Freiheit (die Wilde, der Künstler) aufeinander. Die Art der Darstellung ist für Karikaturen typisch, die in den anarchistischen und antikolonialen Netzwerken geschaffen und verbreitet wurden, in denen Derain zumindest zeitweise aktiv war.15 Wie Patricia Leighten aufzeigt,16 sind sich de Vlaminck, Odilon Redon, Roussel, Maillol oder Derain regelmässig bei den Banketten des Kunsthändlers Ambroise Vollard begegnet, der dazu beitrug, die Fauves in Frankreich und im Ausland bekannt zu machen.17 Ebendieser Kunsthändler hatte 1901 den illustrierten Almanach von Alfred Jarry herausgegeben, in dem Ubu colonial erschien, ein satirisches Sittenbild, das Groteskes mit Absurdem mischte, um die Kolonialisierung anzuklagen. Derains Figur der «Rothaut» greift deutlich den Stil der Zeichnungen von Bonnard auf, die Jarrys Text illustrierten. Jarry publizierte in der anarchistischen Revue blanche oder in L’Assiette au beurre Seite an Seite mit Félix Valotton oder Toulouse-Lautrec, die von Derain und seinen ihm Nahestehenden ebenfalls bewundert wurden; die Figur musste diesen also geläufig sein. Übrigens erschienen in diesen Zeitschriften auch die Karikaturen, welche die Skandale anprangerten, die mit der Kolonialisierung des französischen Kongo, des belgischen Kongo sowie in Dahomey in Zusammenhang standen, wie Leighten beschreibt. Und ist es kein Zufall, dass die Objekte, von denen sich die Fauves inspirieren liessen, genau aus diesen Regionen stammten.

AUS RICHTUNG DER KOLONIEN

Die erste Maske, die Vlaminck erwarb, stammte aus Gabun. Aus der Region des 1885 auf der Berliner Konferenz zwischen Belgien, Frankreich und Portugal aufgeteilten Kongo stammten die Berichte über Skandale, die die Intensivierung des Handels mit Elfenbein und Kautschuk betrafen. 1905 wurde Savorgnan de Brazza infolge des Mords an einem Kongolesen, der 1903 mit Dynamit getötet worden war, mit einer Untersuchungsmis-

54
{5} André Derain, République française (Französische Republik), 1904 Bleistift, Tinte und Aquarell auf Papier, 65 × 32,5 cm Musée Fournaise, Chatou {6} Fang-Maske (Gabun), vor 1906 nach Frankreich gekommen, heute im Centre Georges Pompidou, Paris

sion beauftragt. Zwangsarbeit, willkürliche Misshandlungen, Geiselnahmen von Frauen und Kindern … Kautschuk, rotgetränkt vom Blut der Männer, die ihn ernten sollten, war zur Quelle schlimmster Gewalt geworden. Der Handel mit diesem Rohstoff vermischte sich schnell mit dem Handel von Kunstgegenständen. Paul Guillaume, von Jean Cocteau nicht ohne Humor und Ironie als «négrier» («Sklavenhändler») bezeichnet, 18 hat um 1911 in einer Autowerkstatt der Champs-Élysées damit begonnen, mit afrikanischer Kunst zu handeln: «Händler, die mit Kautschuk aus Afrika handelten, brachten von dort oft geschnitzte Elfenbeinarbeiten, Masken und Holzstatuetten mit, um sie zu verkaufen». 19 Doch schon im Herbst 1905 erwarb Vlaminck die berühmte Maske, die er später für 20 Franc an Derain weiterverkaufte20 {ABB. 6} , kurz nachdem er in einem Bistro in Argenteuil zwei Statuetten gekauft hatte. Vlaminck stellt die «beiden Negerskulpturen» in seinem 1929 verfassten (1943 geringfügig überarbeiteten21) rückblickenden Bericht über diese «Entdeckung» mit der Welt des Jahrmarkts in Verbindung. Bei ihm löse diese «das gleiche Erstaunen, den gleichen Eindruck tiefer Menschlichkeit» aus.22 Zunächst galt Vlamincks Aufmerksamkeit einem «jeu de massacre», in dem «die Braut, der Bräutigam, die Schwiegermutter, der Trauzeuge, der Kolonialist, der Concierge, der Bestatter, der Gendarm» in Szene gesetzt werden.23 All diese repräsentativen Figuren stehen, dem Künstler zufolge, für eine «morbide Bedürftigkeit, eine halluzinierende Wahrheit», die er nicht käuflich erwerben kann, weil der Schausteller, Autor dieser Figuren, sich weigert, sie ihm zu veräussern. Vlaminck erwähnt dann die beiden «Negerskulpturen», die er «über dem Tresen eines Bistrots zwischen Picon- und Wermutflaschen» erblickte.24 Sowohl die «zu massakrierenden» Figuren als auch die Statuetten würden auf eine Darstellungsweise zurückgehen, die er als «objektiv, naiv und volkstümlich» bezeichnet.25 Vlaminck setzte sie in Bezug zu einer Vorstellung vom geografischen und sozialen Rand (Vorstädte,26 Kolonien bzw. das Volkstümliche) und rückte sie zudem in die Nähe von ÉpinalBilderbögen oder der Farbdrucke, die er im Alter von zwölf Jahren von Zichorienpackungen kopierte.27 Ankauf und Aufbau einer Sammlung sind in all diesen Fällen Teil eines doppelten Prozesses der Aneignung und der Identifikation: Für de Vlaminck ging es darum, wie der Schausteller oder der Autor der Statuetten etwas zu erschaffen, im Geiste Paul Gauguins, der, um der bürgerlichen Welt zu entfliehen, in seiner Suche nach Erneuerung einige Jahre zuvor in die Bretagne und dann nach Tahiti aufgebrochen war. Die Maske, von der de Vlaminck wiederholt erklärte, er sei der erste gewesen, der sie gekauft habe, und die (dank ihm und ihm zufolge) eine Revolution in der Wahrnehmung von Kunst auslöste28, regte ihn 1905 sehr wahrscheinlich zu Nu rouge an { → S. 197} . Auf diesem Bild ist der rote Körper der Frau auf seine Nacktheit reduziert und vom Bildrahmen begrenzt, um so die sexuellen Attribute hervorzuheben und das Verlangen des Malers auszudrücken. Indem de Vlaminck sich von den plastischen Lösungen inspirieren lässt, die eine Maske bietet und die keineswegs ein Porträt erzeugen (es ging nicht darum abzubilden, sondern eher zu verkörpern), malte Vlaminck ein Gesicht mit vereinfachten, geometrischen Zügen, die bevorzugte Projektionsfläche für den Traum von einem tabufreien, radikalen Anderswo, verwoben mit einer entsprechenden Vorstellung von Natur, angedeutet durch grüne und blaue Töne im Hintergrund. In der Vorstellungswelt der damaligen Zeit und insbesondere der Künstler gingen Exotik, Andersartigkeit und Erotik Hand in Hand. Ironie der Geschichte ist, dass diese Maske zweifellos einen Europäer darstellt und angefertigt wurde, um verkauft zu werden.

18 Jean Cocteau, Vorwort «À Paul Guillaume, négrier» für die von Pierre Bertin bei Paul Guillaume organisierte erste Vorstellung von Poesie und Musik am 13.11.1917: «Vos petits fétiches nègres protègent notre génération qui a pour tâche de rebâtir sur les décombres charmants de l’impressionnisme […] la jeunesse se tourne vers des exemples robustes. C’est seulement à ce prix que l’univers peut devenir le prétexte d’une nouvelle architecture de la sensibilité au lieu de chatoyer toujours entre les cils clignés au soleil. Or, si l’œil nègre va tout nu, si rien n’empêche les choses d’y pénétrer directement, c’est une grande tradition religieuse qui les déforme avant qu’elles ne sortent par la main. L’art nègre ne s’apparente donc pas aux éclairs décevants de l’enfance ou de la folie, mais aux styles les plus nobles de la civilisation humaine» (Archives Paul Guillaume, Musée de l’Orangerie, Paris).

19 Diese Bemerkungen werden dem Künstler und Kunsthändler Paul Brummer zugeschrieben, als er von Laurie Eglington interviewt wurde (Brummer 1934).

20 Zu dieser Maske schreibt Vlaminck: «L’histoire de ce masque nègre devient historique à l’heure actuelle. C’est ce masque qui a déclenché l’art nègre […] C’est la première pièce nègre d’où est sorti le mouvement sur l’art nègre et qui a engendré le cubisme» (Brief von Vlaminck an Ary Leblond, 4.4.1944, Vlaminck 1956/57).

21 Vgl. Vlaminck 2008, S. 112–114.

22 Ebd., S. 94.

23 Ebd.

24 Ebd.

25 Ebd., S. 92.

26 Man findet diese Vorstellung von Randgebieten bei Guillaume Apollinaire, der in 1913 in dem Gedicht «Zone» schreibt: «Tu marches vers Auteuil tu veux aller chez toi à pied / Dormir parmi tes fétiches d’Océanie et de Guinée» (Apollinaire 1975, S. 44).

27 Vlaminck klopft sich auf seine Schultern, wenn er schreibt: «J’ai été bien longtemps à acquérir la certitude que je ne me trompais pas […]. Actuellement, dans les vitrines des salons cossus, je retrouve les bateaux en verre filé que les forains fabriquaient dans les fêtes de banlieue. Admirés, ils sont posés délicatement, avec d’infinies précautions, et considérés comme des objets d’art. Je suis content de ne pas m’être trompé» (Vlaminck 2008, S. 92).

28 Ambroise Vollard liess von der besagten Maske in der Giesserei Rudier – die Firma arbeitete beispielsweise für Rodin (bis 1904) und Maillol – einen Bronzeabguss herstellen. Dieser Abguss befindet sich heute im Bestand des Musée du quai Branly-Jacques Chirac, Inv.-Nr. 75.14393, Abb. 5.

55

REPRINTS

LE SALON D’AUTOMNE L’ILLUSTRATION, Nº 3271, 4. NOVEMBER 1905 77 LOUIS VAUXCELLES, LE SALON D’AUTOMNE GIL BLAS, 17. OKTOBER 1905 80 LOUIS VAUXCELLES, LA VIE ARTISTIQUE GIL BLAS, 26. OKTOBER 1905 88 MICHEL PUY, LES FAUVES LA PHALANGE, 15. NOVEMBER 1907 92 GELETT BURGESS, THE WILD MEN OF PARIS THE ARCHITECTURAL RECORD, Nº 140, MAI 1910 102
77 LE SALON D’AUTOMNE
L’ILLUSTRATION 4. NOVEMBER 1905 78
79 LE SALON D’AUTOMNE

CHATOU UND COLLIOURE

1900 freundeten sich André Derain und Maurice de Vlaminck an und mieteten bald darauf ein gemeinsames Atelier im Pariser Vorort Chatou, wo beide aufgewachsen waren. Sie unternahmen ausgedehnte Exkursionen im Umland. Die Palette war zunächst eher düster gehalten: Die Künstler erprobten an den Ufern der Seine neue Möglichkeiten der Farbgebung, dafür schien sich die Vegetation der Böschungen besonders zu eignen. Von 1901 bis 1904 leistete Derain Militärdienst, die beiden blieben aber in engem Austausch und setzten ihre gemeinsame Arbeit nach Derains Rückkehr fort. Der Einzelgänger de Vlaminck stand den Kunstinstitutionen ablehnend gegenüber und verdiente sein Geld mitunter als Strassenmusiker, Rennradfahrer und Autor von Groschenromanen, die Derain illustrierte. Im Winter 1904 besuchte Matisse die beiden in Chatou und stellte fest, dass sie ähnliche bildnerische Strategien wie er verfolgten. Im darauffolgenden Sommer reiste die Familie Matisse auf Empfehlung Signacs in das abgelegene südfranzösische Fischerdorf Collioure nahe der spanischen Grenze. Derain schloss sich an und arbeitete mit Matisse Seite an Seite. Hier entwickelten sie eine neue Bildsprache, die um die Darstellung des mediterranen Lichts kreist. Derain schreibt an de Vlaminck aus Collioure: «Ich habe also zwei grosse Punkte, bei denen mir meine Reise viel geholfen hat: 1. Eine neue Auffassung des Lichts, die darin besteht, dass sie den Schatten verneint. 2. Ich bin […] dazu gelangt, alles auszurotten, was die Teilung der Töne so gefährlich macht.»

(Derain 1994, Brief vom 28. Juli 1905), Matisse und Derain entwickelten eine pastose, expressive Malerei, in der das Verhältnis von Licht und Schatten, von Vorder- und Hintergrund neu gedacht wird. Die dort entstandenen Landschaftsbilder waren wegweisend für die weitere Entwicklung des Fauvismus und führten zum Salonskandal von 1905.

130
131
MAURICE DE VLAMINCK , Restaurant de la Machine à Bougival, 1905 Öl auf Leinwand, 60 × 81.5 cm
132
MAURICE DE VLAMINCK , André Derain, 1906 Öl auf Leinwand, 27 × 22.2 cm MAURICE DE VLAMINCK , Bords de la Seine à Carrières-sur-Seine, 1906 Öl auf Leinwand, 54 × 65 cm
133
ANDRÉ DERAIN , Le vieil arbre, 1904 Öl auf Leinwand, 41 × 33 cm ANDRÉ DERAIN , Tête de femme, 1904 Öl auf Holz, 31 × 22 cm
134
ANDRÉ DERAIN , La Rivière, 1904/05 Öl auf Karton, 74 × 90 cm ANDRÉ DERAIN , Les Vignes au printemps, ca. 1904/05 Öl auf Leinwand, 89.2 × 116.3 cm
135
MAURICE DE VLAMINCK , Sous-bois, 1905 Öl auf Leinwand, 60 × 72 cm ANDRÉ DERAIN , Autoportrait à la casquette, 1905 Öl auf Leinwand, 33 × 25.5 cm

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.