Die Nacht von Sevilla. Fußballdrama in 5 Akten

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Die Nacht von Sevilla

Fußballdrama in fünf Akten

Ein dokumentarisches Theaterstück

Mit Essays von Gunter Gebauer, Peter Lohmeyer und Matías Martínez

Die Nacht von Sevilla

Fußballdrama in fünf Akten

PERSONEN

Harald »Toni« Schumacher, deutscher Torwart

Ulrich »Uli« Stielike, deutscher Abwehrspieler

Manfred »Manni« Kaltz, deutscher Abwehrspieler und Kapitän

Karlheinz Förster, deutscher Abwehrspieler

Bernd Förster, deutscher Abwehrspieler

Hans-Peter Briegel, deutscher Mittelfeldspieler

Wolfgang Dremmler, deutscher Mittelfeldspieler

Paul Breitner, deutscher Mittelfeldspieler

Felix Magath, deutscher Mittelfeldspieler

Pierre »Litti« Littbarski, deutscher Stürmer

Klaus Fischer, deutscher Stürmer

Karl-Heinz »Kalle« Rummenigge, deutscher Stürmer

Horst Hrubesch, deutscher Stürmer

Bernd Franke, deutscher Reservetorwart

Hans »Hansi« Müller, deutscher Reservespieler

Josef »Jupp« Derwall, deutscher Bundestrainer

Erich Ribbeck, deutscher Assistenztrainer

Jean-Luc Ettori, französischer Torwart

Marius Trésor, französischer Abwehrspieler

Manuel Amoros, französischer Abwehrspieler

Gérard Janvion, französischer Abwehrspieler

Maxime Bossis, französischer Abwehrspieler

Alain »Gigi« Giresse französischer Mittelfeldspieler

Jean Tigana, französischer Mittelfeldspieler

Michel Platini, französischer Mittelfeldspieler und Kapitän

Didier Six, französischer Stürmer

Bernard Genghini, französischer Stürmer

Dominique Rocheteau, französischer Stürmer

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Patrick Battiston, französischer Abwehrspieler

Christian Lopez, französischer Abwehrspieler

Bruno Bellone, französischer Reservespieler

Michel Hidalgo, französischer Nationaltrainer

Charles Corver, Schiedsrichter aus den Niederlanden

Robert Valentine, Linienrichter aus Schottland

Bruno Galler, Linienrichter aus der Schweiz

Rolf Kramer, Reporter Zweites Deutsches Fernsehen

Jean-Michel Larqué, Co-Kommentator Antenne 2

Thierry Roland, Chefsprecher Antenne 2

Maurice Vrillac, französischer Mannschaftsarzt

Karl-Heinz Heimann, Chefredakteur Kicker Sportmagazin

Alain Cayzac und Guillaume Evin, französisches Autoren-Duo

Pierre-Louis Basse, französischer Autor

Bernard Morlino, französischer Poet

Jean Cau, französischer Schriftsteller und Journalist

Francis Huster, französischer Schauspieler und Regisseur

Philippe Delerm, französischer Schriftsteller

Helmut Schmidt, Bundeskanzler Bundesrepublik Deutschland

François Mitterrand, Staatspräsident Frankreich

Spanischer Arzt

Erich Deuser, deutscher Physiotherapeut

Jean-Paul Sereni, französischer Physiotherapeut

Internationale Presse

SCHAUPLATZ

Estadio Ramón Sánchez Pizjuán in der südspanischen

Stadt Sevilla in der autonomen Region Andalusien

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8. JULI 1982. DEUTSCHLAND TRIFFT IM ZWEITEN HALB -

FINALE DER XII. FUSSBALL-WELTMEISTERSCHAFT IN SPANIEN AUF FRANKREICH. DER GEWINNER SPIELT IM FINALE DREI TAGE SPÄTER IN MADRID GEGEN ITALIEN.

19:30 Uhr. Die Spieler der deutschen und französischen Nationalmannschaft treffen im Stadion ein. Sie steigen aus den Mannschaftsbussen und gehen in die Umkleidekabinen. Danach werden sie den Rasen betreten, in ihre Kabinen zurückkehren, in denen die Zeugwarte die Trikots, Hosen, Stutzen und Fußballschuhe bereitgelegt haben. Die deutsche Mannschaft belegt die Kabine des heimischen Vereins FC Sevilla. Es hängen Christus- und Marienbilder an der Wand. Die französische Mannschaft ist in der neutralen Kabine für Gastvereine.

KARLHEINZ FÖRSTER Ich lege meine Armbanduhr ab, es ist genau 20 Uhr. Ich habe noch nie im Stadion von Sevilla gespielt. Gerade war ich draußen und habe mir den Rasen angesehen. Ich will mit den Füßen fühlen, wo ich gleich spielen werde. Der freundliche Beifall der Zuschauer tat gut. Das kann ein gutes Spiel werden, so wie zuletzt in der Zwischenrunde gegen Spanien. In der Kabine habe ich mir den Platz auf einer der Holzbänke ausgesucht. Ganz hinten in der Ecke. Ich mag nicht mittendrin sitzen. Ich schaue zu meinem Bruder Bernd und muss lächeln, obwohl ich das Ritual schon seit Jahren kenne. Er zieht

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immer zuerst den linken Stiefel an, dann kommt der rechte. Mir ist das gleich. Karlheinz, sagt der Bundestrainer, du spielst gegen Didier Six, den kennst du ja aus deinem Verein, vom VfB Stuttgart. Mehr sagt er nicht. Und wenn Didier nun nicht spielt, schießt es mir durch den Kopf, dann spiele ich eben gegen Rocheteau oder Soler. Ich fühle mich ein wenig alleingelassen. Schön wäre es, wenn jetzt jemand sagen würde: Also, gegen den Rocheteau spielst du so und gegen Soler so. Manche sprechen jetzt eine Dreiviertelstunde vor dem Spiel von daheim, von ihrer Frau und von den Kindern. Da klingt unheimlich viel Sehnsucht durch. Ich verdränge diese Gedanken. Ich habe nur ein Ziel: Ich will Weltmeister werden!

TRÉSOR Im Bus ist es still, ich betrachte die Landschaft, aber ich sehe nichts und bin überrascht, wie schnell wir vor diesem Stadion in Sevilla sind. Wir stellen die Taschen in der Kabine ab, gehen raus und inspizieren den Rasen. Im Stadion sehe ich zur Linken unsere Anhänger. Sie feiern uns. Die Tribünen sind voll besetzt, voller Farben. Das tut gut. Ich lasse mich jetzt noch zehn Minuten lang massieren. Kein Ton in der Kabine. Es ist still. Absolut still.

HIDALGO baut sich in der Kabine vor seinen Spielern auf. Heute Abend haben wir eine fantastische Chance, nämlich die, ein Halbfinale zu spielen! Heute Abend seid ihr verantwortlich für die Qualität des Spiels. Heute Abend seid ihr für eure individuelle Rolle verantwortlich. Heute Abend seid ihr verantwortlich für eure technischen Fähigkeiten.

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Ich wiederum, ich bin für das Ergebnis verantwortlich!

Mit der Qualität, die wir haben, das weiß ich, werden wir ein großartiges Ergebnis erreichen können. Ohne Angst. Im Gegenteil, wir haben alles zu gewinnen! Den Einzug in ein WM-Finale. Darum müssen wir spielen. Nicht mit 100 Prozent. Darum müssen wir mit mindestens 101 Prozent spielen!

DERWALL spricht in der Kabine ebenfalls zu seiner Mannschaft. Die Franzosen werden versuchen, das Tempo aus dem Spiel zu nehmen. Deshalb ist es wichtig, in den ersten 30 Minuten ein Tor vorzulegen, unbedingt. Dann müssen sie aus ihrer Hälfte herauskommen!

KARLHEINZ FÖRSTER Ich habe vorhin mit meiner Mutter telefoniert. Meine Frau und mein Vater sind in Sevilla. Ich brauche mir also keine Gedanken zu machen. Wie spät ist es? Kurz vor halb neun. Das ist das Signal, die Schnürsenkel ein wenig fester, aber noch nicht ganz fest zuzuziehen. Beim Warmlaufen ist das nicht erforderlich. Halb neun. Ich blicke zu den anderen. Wie auf ein unsichtbares Kommando erheben wir uns und gehen hinaus. Ich denke in diesem Augenblick noch einmal an das, was auf mich zukommt. An die Franzosen, an Six, an Rocheteau und an Soler. Dann komme ich ans Tageslicht. Es ist feuchtwarm. Die Zuschauer, es sind mehr als vor einer halben Stunde, klatschen wieder freundlich, und ich sehe, dass eine Deutschlandfahne geschwungen wird. Ich spüre ein wenig Nervosität. Ich mache Gymnastik,

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Intervallübungen, lasse mir von Erich Ribbeck die Bälle zum Köpfen hochwerfen. Ich spüre, wie die Gelenke geschmeidig werden, ich gewinne zunehmend an Selbstsicherheit.

BELLONE macht sich mit den französischen Ersatzspielern warm und beobachtet den deutschen Gegner. Briegel, Hrubesch, Rummenigge – die sind ja zwei Meter groß, ihre Oberschenkel enorm! Das wird ein körperlich geführtes Match!

Jupp Derwall und Michel Hidalgo winken ihre Mannschaften in die Kabine. In der Kabine.

KARLHEINZ FÖRSTER Ich bin tropfnass. Die Haare kleben am Kopf. Aber ich fühle mich gut. Nun wird der Bundestrainer wohl sagen, gegen wen ich endgültig spielen werde.

DERWALL ganz väterlich. Kalle, es bleibt dabei, du spielst gegen Six!

Ein Physiotherapeut schüttet etwas Salz in eine Flasche Mineralwasser. Förster trinkt einen Schluck daraus und zieht die Schnürsenkel fest.

SCHUMACHER blickt auf die Heiligenbilder in der Kabine. Wir verlieren hier heute nicht! Wir stehen unter dem Schutz von Maria!

9 ERSTER AKT

HRUBESCH Hier hängen diese Heiligenbilder. Mir kann hier gar nichts passieren! Uns allen nicht. Wir erreichen das Finale. Feierabend!

BREITNER Ich gehe in dieses Spiel wie in jedes andere: Ich bin hier, um das Spiel zu gewinnen! Mir ist es wurscht, ob da eine oder zwei Milliarden Menschen zuschauen – oder nur fünf. Das interessiert oder beeinflusst mich nicht. Wozu bin ich Fußballer? Wozu bin ich Profi? Wozu spiele ich? Um zu gewinnen!

20:53 Uhr. Vor den Kabinen ertönt die Pfeife von Schiedsrichter Charles Corver. Die Spieler beider Mannschaften treten aus den Umkleideräumen. Gemeinsam formieren sie sich im Spielertunnel. Die französischen Spieler betreten den Rasen über den linken Stadionaufgang, die deutschen über den rechten. Michel Platini, Jean-Luc Ettori, Manuel Amoros und Maxime Bossis kommen als erste Franzosen, danach folgen Gérard Janvion, Marius Trésor, Jean Tigana, Alain Giresse, Bernard Genghini, Dominique Rocheteau und Didier Six. Für Deutschland laufen Manfred Kaltz, Harald Schumacher, Hans-Peter Briegel, Klaus Fischer, Uli Stielike, Bernd Förster, Paul Breitner, Karlheinz Förster, Wolfgang Dremmler, Felix Magath und Pierre Littbarski auf. Helfer in gelben T-Shirts und roten Hosen treten lose Rasenstücke fest. Das Stadion ist mit 68.000 Zuschauern ausverkauft.

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An der Betonwand über dem Stadion-Unterrang hängt eine Tafel, die Helfer händisch bedienen. Auf ihr ist zu lesen: Alemania 0 0 Francia.

TRÉSOR Der Lärm im Stadion ist ohrenbetäubend. Ich höre unsere Fans die Marseillaise singen, ich habe Gänsehaut.

KRAMER sitzt an seinem Reporterplatz und beginnt seine Fernsehreportage für das Zweite Deutsche Fernsehen. Guten Abend, liebe Zuschauer, hier ist das Stadion Sánchez Pizjuán in Sevilla! Wir warten auf das zweite Halbfinalspiel. In einer Stadt, wo die Temperaturen nicht ganz so hoch sind wie in den vergangenen Tagen, nämlich 33 Grad, es weht ein leichter Wind. Wir haben die Aufstellung bekommen. Sie alle zu Hause erwarten natürlich heute von der deutschen Mannschaft einen Sieg, eine ähnlich gute Leistung wie im Spiel gegen Spanien. Die Franzosen sind die eigentliche Überraschung in der Runde der letzten Vier. Sie haben sich gesteigert – sie hatten einen schwachen Start, ähnlich wie der Europameister. Beide Trainer haben ihre Formationen leicht umgebaut. Magath ist in der deutschen Mannschaft dabei. Er spielt natürlich eine andere Rolle, in einer anderen Position als Karl-Heinz Rummenigge. Der verletzte Kapitän sitzt heute auf der Bank. Es ist fraglich, ob er überhaupt bei dieser Weltmeisterschaft noch einmal zum Einsatz kommt.

11 ERSTER AKT
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