Johann Bernhard Fischer von Erlach 1656-1723

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Andreas Kreul

Johann Bernhard Fischer von Erlach 1656–1723 Studien zu Werk und Rezeption

… auch als Vorwort zu verstehen:

Hidden Epiphanies/Ostranenie als Prinzip

Die Menschen im Entwurff einer Historischen Architectur. Bilder ohne Worte

Ex parte enim cognoscimus.

Über eine mögliche Ordnung in den Zagreber Zeichnungen zum Entwurff einer Historischen Architectur

Die Kollegienkirche in Salzburg.

Ein Tempel der Weisheit und des Glaubens

Die Kollegienkirche in Salzburg im Kontext möglicher „Gesamtplanungen“ für Salzburg

Der Prunksaal der Hofbibliothek in Wien

Das Ornament als Zeichen und Form einer ursprünglichen Setzung. A gentle digression über einen zuweilen irreführenden Begriff

Barock im Widerstand. Die „englischen Beziehungen“ des Johann Bernhard Fischer von Erlach

Zwischen Pathos und Neuordnung. Die Fischer von Erlach-Monographien von Albert Ilg

George

Kunoth: Die Menschen im Entwurff einer Historischen Architectur. Worte ohne Bilder Postskriptum Nachweise Impressum 7 18 44 82 104 128 144 152 168 182 186 196 224 Inhalt

Johann Georg Fahrnbauer

Porträt Johann Bernhard Fischer von Erlach, 1895 (Mit dem Originalklischee für das Buch von Albert Ilg, Die Fischer von Erlach. Leben und Werke Joh. Bernh. Fischer’s des Vaters, Wien 1895, gedruckt)

… auch als Vorwort zu verstehen:

Hidden Epiphanies/Ostranenie als Prinzip

Ich mag Vorworte, aber ich lese sie selten. Sich ein Vorwort als eine Art schmerzlosen Eingriff in ein Buch vorzustellen, als Abk. des gesamten Inhalts oder gar als ein mentales capriccio oder antipasto auf das, was nun folgt, ist gegenwärtig nicht intendiert. Die hier versammelten Aufsätze waren und sind – so es die Beschaffenheit der Themen zuließ – der Fischer von Erlach-Forschung gewidmet. Die Augen der Liebhaber und die eigenen selbst zu Rate zu ziehen, war stets mit der Lizenz verbunden, sich einer Freiheit jenseits des Cento der Kunstgeschichtsschreibung zu bedienen.

Gegen die bei Selbstberauschung und anderen Gemütsbelustigungen verharrenden Wissenschaftler und Baumeister der Gegenwart setzte der Architekt und famose Wiener Architekturtheoretiker Jan Turnovský à la Viktor Šklovskij auf Ostranenie. 1 Nur im Fremdwerden mit der eigenen Sache liegen mitunter die verläßlichen Aussichten, die Architektur (und ihre Betrachtung!) haben muß, um im besten Sinne wieder wissenschaftliche Poesie2 werden.

In einer Rezension aus dem Jahre 1983, Barocke Hofkunst in Wien als politisches Programm?, von Norbert Nußbaum über das bis heute einflußreiche Buch von Franz Matsche, Die Kunst im Dienste der Staatsidee, übt Nußbaum scharfe Kritik an Matsches einseitiger ikonographischer Ausrichtung: „Hier und an vielen ähnlichen Stellen fehlt eine kritische Beurteilung auch und gerade jenes ikonographischen Umfeldes, das von den Wiener Concettisten nicht genannt werden konnte. Dazu gehört sicher auch die in einem Brieffragment Fischers überlieferte Erläuterung zum ersten Schönbrunner Entwurf, daß es seine Absicht gewesen sei, ‚das neue königliche Palatio zu Schennbrunn so auff dem berg zu erbauen wie es von der Khönige Burg zu Persepolis oder Tschehelminar vermeldt wird undt gleich Cyro sein Reich [von da aus] überschauete Unsere Majestat biß an die gränzen von Hungarien sehn kan. Sollten aber vor der Premier Terrazza unsere Cavaliers yhre ringelspill bey dem Gezeldt der Kh.en Majestat turnieren, so die persischen Cavaliers zu Isphahan tuen (…)‘. Auch diese Allusion auf eine Selbstdarstellung des Kaisers im großpersischen Stil kommt bei M. nicht vor und hätte schwerlich mit dem habsburgischen Tugendkanon harmoniert, mit der Pietas und der Modestia.“3

Epiphanies are hidden in the most ordinary moments: the casting of a shadow, the smell of a match igniting, an unusual phrase overheard or misheard. A dedication to the practice of showing up on a regular basis is the main requirement.

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1 | Project Eines Gartten-Gebäu neu Persianischer Bau-artt Gefälschte Zeichnung

Kunoth, Die Historische Architektur Fischers von Erlach, 1956

2 | Brieffragmente

Gefälschter Brief Fischer von Erlachs

Kunoth, Die Historische Architektur Fischers von Erlach, 1956

Niemand wird bestreiten wollen, daß die Kritik an und um nicht beachtete Quellen wichtig ist, allein hier wird sie fatal. Zitiert doch Nußbaum einen seit langem als Fälschung bekannten Brief4 aus dem 1956 erschienenen Werk von George Kunoth, Die Historische Architektur Fischers von Erlach – der bewußt in kein Standardwerk über Fischer von Erlach aufgenommen wurde.5 Kunoth hatte in seinem Buch ein Brieffragment (vermeintlich aus dem Prager Staatsarchiv) und eine Zeichnung, Project Eines Gartten-Gebäu neu Persianischer Bau-artt (Privatbesitz, ohne näheren Nachweis), abgebildet (Abb. 1 und 2).6 Die Brieffragmente sind wie die im gleichen Kontext veröffentlichte Zeichnung eine reine und zudem eher plumpe Erfindung, wohl von Kunoth selbst; ob sie als bloßer Scherz von Studenten der Kunstgeschichte7 anzusehen wären, wie es Hans Sedlmayr weiland (1976) getan hat, mag dahingestellt sein. Jedem aufmerksamen Leser hätte ohnehin die Diskrepanz zwischen dem Briefinhalt und der Ausgabe vom Entwurff einer Historischen Architectur (1721) auffallen müssen: Fischer hätte wohl kaum in „seinem“ Brief die Bedeutung der Königsburg in Persepolis/Tschehelminar (Abb. 3) so prominent herausgestrichen, da er sie (die Königsburg) doch, als einziges Blatt (!), aus der Ausgabe des Entwurffs einer Historischen Architectur von 1721 entfernte – gegenüber der Version von 1712!

Dementsprechend ist über diese Fälschungen auch seit einem Menschenalter kein großes Aufheben gemacht worden.8 Jedoch scheint ein erneuter Hinweis darauf angebracht zu sein, findet sich der inkriminierte Brief doch gleich in mehreren Publikationen der letzten Jahre wieder. So taucht er bei Maja Karić, Marija Perkec und Vesna Vlašić Jurić in ihren beiden Publikationen der Zagreber Zeichnungen auf. Sie nehmen Bezug auf den Brief im Hinblick auf den Entwurf und die möglichen Inspirationsquellen von Schloß Schönbrunn9 (wie zuvor Nußbaum auch), zitieren allerdings als Beleg nicht Kunoth (der in der Zagreber Edition gar nicht auftaucht!), sondern Sussan Babaie, die den Brief10 in ihrem Buch Sacred Sites of Kingship als Dokument erwähnt –aber eben selbst auch nicht Kunoth als Nachweis anführt, sondern ihrerseits auf einen Aufsatz11 von Ebba Koch verweist. In diesem Aufsatz von Ebba Koch wird schlußendlich Kunoth als Quelle belegt. Fast gleichzeitig zur kroatischen Edition der Zeichnungen zum Entwurff einer Historischen Architectur hatten Marco Folin und Monica Preti in ihrem Buch Da Gerusalemme a Pechino, da Roma a Vienna. Sul „Saggio di architettura storica“ di J. B. Fischer von Erlach den gefälschten Brief Kunoths ebenfalls zitiert.12 Und sie wiederholen dies in ihrem Beitrag Die historische Architektur von Johann Bernhard Fischer von Erlach in dem Sammelband Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656–1723) und die Baukunst des europäischen Barock. 13 Der Umstand ist besonders prekär, da mit dem falschen Zitat stets eine nachgerade kunsthistorische Sichtweise Fischer von Erlachs auf seine Entwürfe unterstellt wird. Eine Wahrnehmung,14 die sich nicht zuletzt auch in der von Monica Preti und Marco Folin

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vorgenommenen italienischen Übersetzung des Buchtitels von Fischer von Erlach, Saggio di architettura storica, niederschlägt. Saggio für Entwurf (statt des besseren Progetto15) klingt viel zu gelehrt für Fischer von Erlach. Denn es ist nicht nur ein Bescheidenheitstopos, wenn Fischer von Erlach im Vorwort seines Buches genau diesen „gelehrten Aspekt“16 explizit ablehnt.

Früher hätte ein Pasquill à la Erosion der Erudition ausgereicht, doch diese mehrfache Bezugnahme auf den Brief in den „aktuellen“ Publikationen hat Herbert Karner, der selbst dem Brief aufgesessen war, zu einer eindringlichen und vorbildlichen Analyse und Aufdeckung der Umstände am Ende der 1950er Jahre geführt.17

Hartmut Beck hatte im Hinblick auf Die neue historische Architektur des Johannes Gachnang in Erinnerung an Johann Bernhard Fischers von Erlachen (1966) geschrieben, die Blätter Gachnangs (Abb. 4) seien „Gedankenräume“,18 und hat treffend das „historische“ an Fischers Architektur als etwas bezeichnet, das eben nicht „Gewesenes, Reduzierbares“ meine, „sondern ans Licht geförderte Anregung, Grundlegung, der man sich technisch oder gedanklich verpflichtet fühlt, also Gegenwärtiges“.19 Damit, allora, blickt jedes neue Projekt vorwärts! Es ist, wie Gundula Rakowitz meint: konvexe Zeit. Die Zeit der historischen Re-

3 | Die Königsburg in Persepolis, 1712

Johann Bernhard Fischer von Erlach, Entwurff einer Historischen Architectur, Wien 1712, Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Cod. Mscr. 10791, fol. 40

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4 | Johannes Gachnang

Lâle Devri, 1970

Blatt 11 der Folge Die neue historische Architektur des Johannes Gachnang.

Das byzantinische Buch Privatbesitz

präsentation dagegen scheint notwendigerweise voll, nichts entgeht ihr oder wird von ihr abgezogen. Aber die Gegenwart weist in dieser Zeit der Repräsentation auf eine „Leere“, eine Abwesenheit hin. Was stellt daher die Repräsentation nicht demnach auch dar, wenn nicht eine Abwesenheit, einen Mangel? Also eine konkave Zeit? Aber diese konkave Zeit birgt Möglichkeiten (Potenziale), die nur die praktische Dimension (riskant und daher nicht nur theoretisch) eines Projekts bewerkstelligen kann: dann eben wieder als konvexe Zeit. Nur der völlig artifizielle Charakter eines jeden neuen architektonischen Projekts, so könnte man in Anwendung einer Formulierung von Gundula Rakowitz und mit Fischer von Erlach sagen, rettet uns vor der konkaven Zeit, 20 einer retrograden Zeit. Einer Zeit, die alles in ihrer Macht stehende tun würde, um sich zu etablieren – wenn nicht das riskante, innovative und imaginäre, das „fremdgewordene“ Element eines jeden neuen Projekts eingreifen würde!

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Pier Paolo Tamburelli sieht in den dargestellten Menschen im Entwurff einer Historischen Architectur, die er im übrigen mit 6.072 Personen21 angibt, gar den eigentlichen Auslöser zu einer Theorie der Architektur, die es ansonsten bei Fischer von Erlach partout nicht gibt. Im Entwurff

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einer Historischen Architectur bleibe die Menge, so Tamburelli, formlos vor den Monumenten stehen, und es werde eine Spannung allein durch die Konfrontation der überdefinierten, normalerweise symmetrischen architektonischen Form und der magmatischen, vibrierenden Menge erzeugt: „(…) in the Entwurff the multitude remains formless before the monuments. The tension in the drawings is produced by the confrontation of the hyperdefined, normally symmetrical architectural form and the magmatic, vibrating crowd.“22 Fischer spiele, schreibt Tamburelli, die Unvorhersehbarkeit dieser Menge gegen die Festigkeit der Gebäude aus. Die Menge scheine eine schöpferische Kraft zu besitzen, die systematisch die Grenzen der architektonischen Formen, die sie hervorgebracht habe, überschreite: „Fischer plays the unpredictability of this multitude (which is always the same multitude, throughout the different drawings) against the fixity of the buildings. The multitude that moves through the engravings of the Entwurff seems to possess a creative power that systematically exceeds the limits of the architectural forms it has produced.“23

Gleichzeitig scheint es Fischer (!) so, als könne sich diese schöpferische Kraft nur in diskreten Schritten entfalten. So weist nach Tamburelli der Entwurff einer Historischen Architectur (auch wenn es kaum möglich sei, etwas über Fischers philosophische und politische Einstellungen zu sagen) alle Aspekte einer realistischen Architekturtheorie auf: die Menge (das Gemeinsame), den Staat (das Universelle), die Denkmäler (Architektur): „At the same time, to Fischer it seems that this creative power can unfold only through discrete steps, via closed, stable, concluded forms (forms that clearly do not hide the hallmark of the violence of the states that produced them). Even if it is not possible to say anything about Fischer’s philosophical and political attitudes, the Entwurff exhibits all the aspects of a realist theory of architecture: the multitude (the Common), the state (the Universal), the monuments (Architecture).“24 Eine Fiktion, die es vielleicht dermaleinst noch zu entwickeln gilt.

Kaum ein Werk Fischer von Erlachs, kaum ein Werk der Architekturgeschichte überhaupt vereinigt in sich so (scheinbar) widersprüchliche Fiktionen wie die Karlskirche (Abb. 5) in Wien: Ihrer äußerst breiten und in viele heterogene Einzelerscheinungen aufgelösten Frontseite wurde ein vergleichsweise schmaler Kirchenraum dahintergeblendet; über diesem ruht ein mächtiger Tambour mit Kuppel. Die Karlskirche bleibt daher allemal in ihren Fiktionen: ein Oxymoron, 25 wie Klaus-Jürgen Bauer schrieb. Sie ist Denkmal26 und Kirche, vielleicht sogar „primär Denkmal und erst in zweiter Linie Kirche“,27 und wäre beinahe auch Begräbnisstätte geworden.

Nicht zuletzt durch die Grabungsarbeiten des Bauforschers und Archäologen Paul Mitchell28 in der Karlskirche in Wien ist die Idee der

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5 | Johann Bernhard Fischer von Erlach

St. Karl Borromäus-Kirche, 1715–1737

Foto: Georg Parthen, Berlin

Karlskirche als einer Grabeskirche für Kaiser Karl VI. aufgekommen. Die geplante kaiserliche Begräbnisstätte, so wissen wir heute, ist in dem frühen Planungsstadium und in der ersten Bauphase (1716–1722) noch durch Johann Bernhard Fischer von Erlach29 sogar mit einem eigenen Belüftungssystem und Zugang zu der Gruft unter dem Altarraum ausgestattet30 worden. Der geplante große Retrochor31 und das Doppelsäulenpaar im Altarbereich der Kirche32 hätten der vollständigen Sakralisierung des Kaisers Karl VI. Vorschub geleistet.33

Allein der Sohn, Joseph Emanuel Fischer von Erlach, hat, aus welchen Gründen auch immer, alles in einen bespielbaren Innenraum umgestaltet.34 Doch wer im ursprünglichen Kirchenraum, den wir nicht wirklich kennen, das Ingenium Fischers35 vermißt, der nimmt zumindest den Grundriß (Abb. 6) des Vaters im Entwurff einer Historischen Architectur nicht gebührend zur Kenntnis: namentlich den Hintereingang als Hinterausgang des Vordereingangs!

Bekanntlich (oder auch nicht) hatte schon der exilierte Belgrader Baumeister und Städteplaner Bogdan Bogdanović (1922–2010) eine Generation vor Mitchell ganz keck und zugleich auf höchst subtile Art auf eine Karlskirche als mögliche Grablege hingewiesen: „Zufällig oder nicht verbarg die sehr originelle Planimetrie des ursprünglichen Ent-

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wurfs auch etwas für ein christliches Bethaus Atypisches. Der Tempel sollte in der ganzen Länge durchschreitbar sein. Eine gradlinige Gasse, nennen wir sie so, zog sich durch die ganze Längsachse der Kirche und war mindestens sieben, acht Meter länger, als der heutige Raum erlauben würde. Wieso das? War der Tempel ursprünglich als Mausoleum gedacht?“36 Ecco, hier kann man wahrlich in der Kürze eines Satzes die augenblickliche Vermehrung der Gedanken erblicken.. *

Im Frühstückszimmer der Villa (1925–1928) von Margarethe Stonborough-Wittgenstein, vulgo im Wittgenstein-Haus, das weitgehend auf Pläne von Ludwig Wittgenstein (und Paul Engelmann) zurückgeht, hatte Jan Turnovský jenen Mauervorsprung (Abb. 7) gefunden, der ihn eine ganze Poetik des Bauens hat schreiben lassen.37

6 | Johann Bernhard Fischer von Erlach

Grundriß der St. Karl BorromäusKirche, 1721

Entwurff einer Historischen Architectur, Wien 1721, fol. 116 (mit einer Einzeichnung nach Bogdan Bogdanović)

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7 | Ludwig Wittgenstein/ Paul Engelmann

Grundriß Haus Wittgenstein (Ausschnitt), um 1927

Turnovský, Die Poetik eines Mauervorsprungs, 1987

Dieser unvergleichliche Mauervorsprung Wittgensteins diente einzig dazu, die Symmetrie des Fensters nach innen wie nach außen gleichermaßen zu sichern. In einem Vergleich zwischen den Grundrißsituationen (Abb. 8) bei Wittgenstein, bei Fischer von Erlach (Gartenbelvedere Liechtenstein) und Adolf Loos (Haus Mandl), den Turnovský zieht, wird dies deutlich: „Ist das Äußere wichtiger als das Innere, so wird die Öffnung in einem zurückspringenden Gebäudeteil in die Mitte der Fassade gesetzt und die Asymmetrie der Innenseite hingenommen. Fischer von Erlach bevorzugte bei seinen Bauten diese Lösung. Ist aber das Interieur wichtiger als die Fassade, so wird die Öffnung auf die Mitte der inneren Wandfläche ausgerichtet, wobei die äußeren Verhältnisse unberücksichtigt bleiben. Diese Lösung, beispielsweise von Adolf Loos wiederholt angewendet, ist natürlicher, konstruktiv organischer, weniger formalistisch, denn sie entspricht den Gegebenheiten der Syntax. (…) Gewollt wird im Wittgenstein-Haus freilich beides: der Vorteil der einen wie der Vorteil der anderen Lösung – die äußere wie die innere Symmetrie eines an sich asymmetrischen Gebildes. Der MVS [Mauervorsprung] soll das Unmögliche zuwege bringen. Er ist ein Kuriosum, die Verzweiflungstat eines Amateurs, zeitlos.“38

Die Verzweiflungstat eines Amateurs von beneidenswertem Selbstvertrauen, der aus einer Unordnung eine neue Ordnung schafft, die selbst unordentlich ist,39 die jedoch eine ganz neue Art der Wahrnehmung von Architektur (weil nie zuvor thematisiert!) nach sich zieht. Ostranenie. Wir müssen noch viel lernen, viel forschen. Das stiftet zuweilen Unruhe. Begriffe und Vorstellungen sind oft fatalen Karrieren

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ausgeliefert; Hans Hollein hatte bereits vor fünfeinhalb Jahrzehnten geschrieben: „Eine echte Architektur unserer Zeit ist daher im Begriffe, sich sowohl als Medium neu zu definieren, als auch den Bereich ihrer Mittel zu erweitern. Viele Bereiche außerhalb des Bauens greifen in die ‚Architektur‘ ein, wie ihrerseits die Architektur und die ‚Architekten‘ weite Bereiche erfassen. Alle sind Architekten. Alles ist Architektur.“40 Alles noch nicht eingelöst – und dabei doch ein Statement, daß schon Fischer von Erlach unterschrieben hätte!

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Wir versammeln daher hier grosso modo einzelne zum Teil vor Jahrzehnten geschriebene Texte zu Fischer von Erlach, seinen Salzburger Bauten, der Hofbibliothek in Wien, seinen Beziehungen zu England, Texte zu seinen Interpreten Albert Ilg und George Kunoth, Herzstücke also, cores – vermehrt durch einige neue Wortgefüge, also encores. Der andere Band dieser Edition enthält die vollständig überarbeitete Bibliographie zu den beiden Fischer von Erlach. Ein Buch, das erstmals vor nunmehr über 36 Jahren erschien und wahrlich eine Überarbeitung verdient hatte.

Der große Dank, wenn nicht sogar der größte, geht an Heiko Aping für die graphische Gestaltung des gesamten Buches, den Bildessay zu Beginn und die herrlichen Karten, Georg Parthen für die Überlassung seiner Fotografien, Pablo Schneider vom Deutschen Kunstverlag für die äußerst freundschaftliche Zusammenarbeit und die wunderbare Almut Otto, wie immer, für das unabweisliche Lektorat.

Und aus all diesen Umständen, Gedanken und Papieren ist dieses Buch geformt geworden: par cy me le taille! Aber still: die befana kommt.

Andreas Kreul

Bremen, den 6. Jänner 2024

Fischer von Erlach

Adolf Loos

Wittgenstein-Haus

8 | Jan Turnovský

Drei Skizzen zu Grundrißlösungen im Vergleich

Turnovský, Die Poetik eines Mauervorsprungs, 1987

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1 Turnovský 1987, S. 66. „Turnovský was a man of condensed output and penetrating wit.“ Kleinman 2009, S. 78.

2 Laroque 2010, S. 26–37, hier insbesondere 29; Rakowitz 2017, S. 203. Und natürlich Turnovský 1987, S. 44, der eine Poetik der Architektur forderte!

3 Nußbaum 1983, S. 177–186, hier 181.

4 Kunoth 1956, S. 220 und erläutert S. 230, siehe Abb. 101a–c und 153 in seinem Buch.

5 Um nur einige wenige zu nennen: Kat. Graz/Wien/Salzburg 1956, Aurenhammer 1957a, Aurenhammer 1973, Sedlmayr 1976, Lorenz 1992, Polleroß 1995, Sedlmayr 1996, Sedlmayr 1997, Prange 2004, Dotson 2012, Kreul 2006 und Husty/Nierhaus 2023.

6 Oskar Raschauer erwähnt in seiner Monographie über Schloß Schönbrunn den Brief (nicht die Zeichnung!), schied ihn aber zu Recht, wegen seiner nicht vorhandenen Glaubhaftigkeit, aus seinem Argumentationszusammenhang aus, Raschauer 1960, S. 44.

7 Siehe Sedlmayr 1976, S. 319, 358, der die Zeichnung als ein primitives Pasticcio, „eine mechanische Kontamination“ des Königspalastes von Isphahan mit einem Gartengebäude Fischers charakterisierte, während der Brief eine Mystifikation sei, da wir über keinerlei Informationen zu den Brieffragmenten verfügen und die Schrift nicht barock, sondern eine moderne Nachahmung sei; die spätere italienische Ausgabe Sedlmayr 1996, S. 402, 419, weist darauf genauso hin wie die textidentische deutsche Ausgabe Sedlmayr 1997, S. 408, 425.

8 Siehe Kreul 2006, S. 349.

9 Karić/Perkec/Vlašić Jurić 2023, Textheft, S. 24, Nr. 13; siehe auch zuvor Karić/Perkec/Vlašić Jurić 2018, S. 30. Hier heißt es gleichlautend: „Pri izradi nacrta za Schönbrunn, Fischer se referira na palaču u Perzepolisu (…).“

10 Babaie 2015, S. 183; die mehr oder weniger gleichlautenden Bezüge werden auch in Babaie 2021, unpaginiert [Text rund um die Fußnoten 40 und 41], wiederholt.

11 Koch 1994, S. 143–165, hier 161–162; die Erwähnung ist (unfreiwillig: nicht ohne Ironie) mit einem Dank an Hellmut Lorenz verbunden, der Koch bei ihren Forschungen zu Fischer von Erlach unterstützt hatte – aber wohl kaum die Fälschung empfohlen haben dürfte.

12 Folin/Preti 2019, S. 148.

13 Folin/Preti 2022, S. 255–269, hier 264–265; und auch Herbert Karner 2022, S. 233–241, hier 233, zitiert den gefälschten Brief.

14 Siehe Folin/Preti 2022, S. 255–269, hier 255–256, die doch selbst auch mit einer Fülle von Invektiven hinsichtlich der nicht vorhandenen Gelehrsamkeit des Entwurffs einer Historischen Architectur aufwarten.

15 Siehe hierzu die italienische Übersetzung von Gundula Rakowitz: Progetto di un’architettura storica –Johann Bernhard Fischer von Erlach, Rakowitz 2016, und besonders Rakowitz 2017, S. 206.

16 „Daß man durch einige Proben von allerhand Bau-Arten das Auge der Liebhaber zu ergötzen, und denen Künstlern zu Erfindungen Anlaß zu geben, mehr im Sinne gehabt, als die Gelehrten zu unterrichten.“ Fischer von Erlach 1721, zwischen fol. 3 und fol. 4.

17 Siehe Karner 2023, S. 402–406.

18 Gachnang 1966, S. 2, siehe hierzu auch Schmidt 1968, S. 4–5.

19 Gachnang 1966, S. 1.

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20 Siehe hierzu Rakowitz 2013, S. 102–109, 155–157, hier 108 „Allora forse anche questo Fischer ci insegna: che solo il carattere pienamente artificiale del progetto architettonico ‚ci salva‘ dal ‚tempo concavo‘ che tutto terrebbe in suo potere se non intervenisse l’elemento arrischiato, innovatore e immaginario, del progetto, della composizione.“

21 Wenn Francesca Pagliaro, Cecilia Tramontano und Jacopo Laura richtig gezählt haben, siehe Tamburelli 2013, S. 146–165, hier 156.

22 Tamburelli 2013, S. 146–165, hier 156.

23 Tamburelli 2013, S. 146–165, hier 156.

24 Tamburelli 2013, S. 146–165, hier 156.

25 Bauer 1996, S. 138–166, hier 142–143.

26 Tremmel-Endres 1996, S. 239–245; siehe auch Polleroß 2008, S. 2–9.

27 Lorenz 1992, S. 150.

28 Mitchell 2011, S. 1–12 [D 2125–2135].

29 Buchinger 2022, S. 185–197, hier 190–191.

30 Buchinger 2022, S. 185–197, hier 192.

31 Stalla 2022, S. 101.

32 Stalla 2022, S. 103.

33 Niebaum 2019, S. 27–54; siehe in diesem Zusammenhang auch das Engagement Kaiser Karls VI. im Hinblick auf die Vollendung des Veitsdoms in Prag, Vácha 2019, S. 79–100.

34 Karner 2021, S. 580–589, hier 588.

35 Karner 2021, S. 580–589, hier 581–582.

36 Bogdanović 2002, S. 58, Hervorhebungen A. K. Seine „Begründung“ kann als Zugriff auf Fischers gesamtes Schaffen bezogen werden: „Eine Tatsache indes ist, daß der symbolische Durchgang durch den Tempel hervorragend in die Welt von Fischers mentalen Bildern

paßte. In seinen baumeisterlichen Phantasmen nehmen räumlichkonzeptuelle Chiffren wie Durchgang, Durchlaß, Ferne, Licht im Gegenlicht einen besonderen Platz ein, also auf die Berufung, auf eine Bewegung dem Licht entgegen.“ Bogdanović 2002, S. 58.

37 Turnovský 1987.

38 Turnovský 1987, S. 70.

39 Turnovský 1987, S. 50.

40 Hollein 1968, S. 2.

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Die Menschen im Entwurff

Einer Historischen Architectur von Johann Bernhard Fischer von Erlach.

Bilder ohne Worte

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| Die Kollegienkirche in Salzburg

2 | Entwurf für ein Lustgebäude mit zwei griechischen Vasen (Ludis scenicis und Äskulap)

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