Michael Müller. Ernstes Spiel. Catalogue Raisonné. Vol. 4.1, Am Abgrund der Bilder – „Birkenau“

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Michael Müller At the Abyss of ­Images – “Birkenau”

Volume 4.1

Serious Game – Catalogue Raisonné



邁克爾·穆勒

瀕臨圖像的深淵 ——「比克瑙」 認真的遊戲—— 藝術家作品全集 第4.1卷



Michael Müller

Am Abgrund der Bilder – „Birkenau“

Vorwort Gero Heschl

13

Am Abgrund der Bilder: „Birkenau“ Lukas Töpfer

23

1. „Ein hässliches Buch“: Anstelle eines Anfangs

23

2. „Warum lächelt er die ganze Zeit?“: Ein unermesslicher Massstab

24

3. „Komm, folge mir“: Die Messung

30

4. „Freundlich“: Anstelle eines Zentrums

40

5. „Sonderkommando“: Die Summe und der Rest

48

6. „Richter“, „Müller“, „Birkenau“: Hauptwerke und Werkkomplexe

62

7. „Ich bitte dich, mein Freund“: Anstelle eines Endes

82

werkgruppe „am abgrund der bilder“ michael müller

179

Michael Müllers Birkenau-„Exerzitien“ Überlegungen zur „mise en abyme“ des Undarstellbaren Anne-Marie Bonnet

247

Am Abgrund der Bilder ausstellungsansichten, St. Matthäus-Kirche

263

anhang 287 Das Unermessliche „Birkenau“ und der Abgrund des Angemessenen Lukas Töpfer

289

bildnachweis

317

Impressum 319


邁克爾·穆勒

瀕臨圖像的深淵 ——「比克瑙」

前言 格羅·赫施爾

瀕臨圖像的深淵:「比克瑙」 盧卡斯·特普費爾 1. 「一本醜陋的書」:代序

2. 「他為什麼一直在微笑?」:一個無法丈量的尺度 3. 「來吧,跟隨我」:度量

4. 「弗羅因德利希」:不是只有一個中心 5. 「特勤隊」:總數和剩餘

6. 「里希特」、「穆勒」、「比克瑙」:主要作品和作品組合 7. 「請求你,我的朋友」:代跋

作品組《瀕臨圖像的深淵》

邁克爾·穆勒的比克瑙「精神練習」 關於不可再現的再現的思考 安妮-玛丽·博内特 《瀕臨圖像的深淵》 在聖馬太教堂的展覽現場視圖 附錄

不可名狀 「比克瑙」——適當性的深淵 盧卡斯·特普費爾

图片来源 出版信息

16

84 84 86 94 110 118 140 174 179

254

263 287

298 317 319


Michael Müller

At the Abyss of Images – “Birkenau”

foreword Gero Heschl

17

At the Abyss of Images: “Birkenau” Lukas Töpfer

85

1. “An ugly book”: Instead of a Beginning

85

2. “Why does he smile all the time?”: An Immeasurable Standard

87

3. “FOLLOW ME”: The Gauge

95

4. “Freundlich”: Instead of a Center

111

5. “Sonderkommando”: The Sum and the Remainder

119

6. “Richter,” “Müller,” “Birkenau”: Major Works and Complexes of Works

141

7. “I have a request for you, dear finder of these writings”: Instead of an End

173

“at the abyss of images” series michael müller

179

Michael Müller’s Birkenau “Exercises” Thoughts on the “Mise en Abyme” of the Undepictable Anne-Marie Bonnet

255

“at the abyss of images” Exhibition views, St. Matthew’s church

263

appendix

287

The Unfathomable “Birkenau” and the Abyss of the Appropriate Lukas Töpfer

299

image credits

317

Imprint

319


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Gero Heschl

Vorwort

1 Die erste Auseinandersetzung Müllers mit dem Thema ist vermutlich die Zeichnung Von Brauns Aufbruch zu den Sternen (1994/2007), die im unteren Teil die Kohlezeichnung eines Häftlings des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora reproduziert, auf der ein unterirdischer Stollen angedeutet ist, in dem Zwangsarbeiter aus dem Konzentrationslager die Rakete V2 bauen mussten.

2 Wie der Zufall – der in diesem Fall hoffentlich produktiv war – es wollte, wurde Richters Birkenau-Zyklus als Teil einer Dauerleihgabe von hundert Werken in der ebenfalls auf dem Kulturforum beheimateten Neuen Nationalgalerie parallel zu der Ausstellung gezeigt – eine ungeahnte und sicher zu begrüßende Nähe zweier so unterschiedlicher künstlerischer Befassungen mit dem Thema Birkenau.

„Fragen sind der erste Schritt zur Erkenntnis. Und auch das ist eine Qualität relevanter Kunst, Dinge neu, anders erscheinen zu lassen, sie beständig neu zu befragen“, merkte die Kunsthistorikerin Anne-Marie Bonnet in einem Vortrag an, den sie im Januar 2023 anlässlich der Ausstellung Mögliche und unmögliche Bilder im Museum im Kulturspeicher Würzburg hielt. Die Ausstellung, die vom 26. November 2022 bis zum 19. März 2023 gezeigt wurde, war die erste öffentliche Präsentation eines Werkkomplexes von Michael Müller, der sich ausschließlich und intensiv der Frage nach den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten eines künstlerischen Umgangs mit dem Holocaust widmet. Ein Thema, das sich zwar in Müllers Œuvre seit Längerem wiederholt findet, doch hier eine neue, eine gesteigerte Intensität und Fokussierung erfuhr.1 Die umfangreichste Arbeit des Werkkomplexes, der von April bis September 2023 in variierter Konstellation in der St. Matthäus-Kirche auf dem Berliner Kulturforum zu sehen war, ist das 16-teilige Werk Mögliche und unmögliche Bilder #I (2022), eine Auseinandersetzung mit Gerhard Richters 2014 entstandenem Birkenau-Zyklus, der auf den vier Fotografien des sogenannten „Sonderkommandos“ von AuschwitzBirkenau beruht, den einzigen direkten und unmittelbaren visuellen Zeugnissen des Vernichtungsgeschehens des Holocaust.2 Dieses Werk Müllers bildet in gewisser Weise das Gravitationszentrum, um das auch einige der anderen Kunstwerke kreisen und auf das sie sich beziehen, ohne jedoch damit ihre Eigenständigkeit zu verlieren, wovon nicht zuletzt der lange Entstehungszeitraum von 2013 bis 2022 der Arbeiten zeugt. Sie alle vereint, dass sie ein vorsichtiges Fragen aus unterschiedlichen analytischen Richtungen, aus verschiedenen Perspektiven und in einem weiten Spektrum künstlerischer Medien – Malerei, Skulptur, Fotografie, Text und Konzept – sind, die eine eindeutige, eine definitive und endgültige Antwort verweigern und sich nur auf die Offenheit des Fragens, den Erkenntnisfortschritt durch stetige, aktuelle Überprüfung berufen. Müller lässt die (partikulären) Antworten, die seine Werke trotz allem sind, nebeneinander bestehen, zerstört und übermalt sie nicht, sondern offenbart ihre Schwächen, das Ungenügen, das Scheitern einer jeden Antwort, für das Ganze zu stehen. Das Bestehenlassen der Antworten schafft eine Möglichkeit des produktiven Vergleichens, die Müller auch Richters Birkenau-Bildern wieder einschreibt, indem er die von Malschichten verdeckten unterschiedlichen Antwortversuche Richters freilegt: von den aus Richters Sicht wohl gescheiterten realistischen Gemälden der „Sonderkommando“Fotografien hin zu den abstrakten Übermalungen und deren fotografischen Reproduktionen. Sie werden wieder freigelegt und zurück ins Werk gesetzt, sichtbar gemacht. War die eine Antwort vielleicht doch genauer als die andere? Unter Müllers Befragungen finden sich auch die Möglichen und unmöglichen Bilder im Fluchtpunkt #III, die sich mit dem Ort des Geschehens – dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau – beschäftigen. Die vier Bilder – drei in Schwarz-Weiß, eines in Farbe –, die den heutigen Zustand des Birkenwaldes festhalten, durch den die entkleideten Opfer, so bezeugt es eine der „Sonderkommando“-Fotografien, in die Gaskammern laufen mussten, sind Handy-Fotografien, die in den Untertiteln das genaue Datum und den Ort Page 13 Ernstes Spiel / Volume 4.1 / Page 645


ihres Entstehens angeben. Es sind die vom Handy automatisch gespeicherten Metadaten (etwa: 28. Juni 2013, 13:51, Auschwitz II-Birkenau), als würde diese Exaktheit den Fotos etwas hinzufügen, ihre Aussagekraft, ihre Faktizität unterstreichen oder verändern, bestätigen, bekräftigen oder auch negieren: „Wäre der Name nicht, würde man an Sommer und Natur denken“, so Bonnet. Doch was sie damit eigentlich zeigen und offenlegen, indem sie sich auf etwas von ihnen Unterschiedenes, Abwesendes beziehen, ist, was den Fotografien – oder genauer: dem Fotografen – des „Sonderkommandos“ verwehrt blieb: Zeit, Genauigkeit, Abstand, Freiheit. Denn zwar entstanden drei der vier Fotografien Müllers innerhalb von zwei Minuten, 13:51 bis 13:52 Uhr (es sind die schwarz-weißen Bilder), doch das vierte, das farbige, entstand bereits 40 Minuten zuvor um 13:11 Uhr. Zwischen diesen Fotografien lag ein Prozess: Das zuerst entstandene Foto, bei dem die Perspektive und der Standort, von dem aus fotografiert wurde, bewusst gewählt sind, ist ein Schnappschuss, der versucht, mit einer Beliebigkeit des Mittels – es ist das ständig verfügbare Handy – unmittelbar das festzuhalten, was ist, hier und jetzt, getreu in Farbe. Doch, so fragt Müller, was sagt das aus, wie authentisch ist dieses Jetzt, wie gerecht wird es dem Ort, der Geschichte, der Geschichte dieses Ortes? Diese Fragen, die in diesem Fall zuerst ein Ausprobieren sind, führen 40 Minuten später – Zeit, um zu reflektieren und auszuprobieren, zu verwerfen und zu wiederholen – zu drei weiteren Fotografien. Ist eine Verfremdung, ein Entfärben ins Schwarz-Weiße, den fotografischen „Farben“ der Vergangenheit, vielleicht genauer, getreuer, aussagekräftiger? Der Versuch bleibt, was er ist, eine Befragung, er gibt keine Antwort, bleibt offen. Auch sind da die per Aceton-Transferdruck direkt auf die Wand des Würzburger Museums aufgetragenen, in die Wand (wie es der Künstler bezeichnet) „tätowierten“ Fotografien des „Sonderkommandos“ des Werks Mögliche und unmögliche Bilder (unter der Haut) #IV (2022), die mit der Bausubstanz des Ausstellungshauses verbunden werden, den Bildträger immobilisieren und eine physische Zerstörung erschweren, eine Dauer und Präsenz erzwingen. Und trotzdem: Was passiert, wenn man sie dann doch wieder – mit Gewalt, mit einer Säge – aus der Wand schneidet, von der Haut reißt? In der Ausstellung in der St. Matthäus-Kirche ist dies zu sehen, durchgespielt: Eine Wandplatte, herausgelöst aus dem Museum im Kulturspeicher, eingepflanzt in die Wand der Kirche, an einen anderen Ort. Sie verbirgt es nicht, ist nicht verspachtelt, nicht der Wandfarbe angepasst gestrichen – die Geschichte des Werks bleibt sichtbar. Und was ist mit der nahezu zärtlich leuchtenden Pflanze, die sich an einem Randstein in Birkenau in ihrer Farbigkeit ein Leben erkämpft und doch vergänglich und mittlerweile wohl vergangen ist, in der Fotografie Mögliche und unmögliche Bilder (BirkenauOrange) #VII (2013), die in dem abstrakten Gemälde Birkenau in Farbe (2022) widerhallt? Darf man diese unmögliche Schönheit zeigen? Wie getreu muss man sein? Löst die verpixelte, niedrige Auflösung des Handy-Fotos das alles nicht doch wieder aus der Welt heraus, verwischt es zu einer bloßen Ahnung? Und warum können wir dort, auf dem abstrakten Gemälde, diese Pflanze erkennen, obwohl es doch nur Farben auf einer Leinwand sind? Ist sie auch auf diesem Bild noch dort, dort in Birkenau oder ist es „nur“ ein Bild hier und heute in diesen beiden Ausstellungen? Birkenaugrau (Der Wahrheitsschwur) (2022), von einem kleinen Detail an der unteren rechten Kante abgesehen ein monochromes Gemälde, trägt einen Titel, der einem Markennamen gleicht und auf das künstlerische Verfahren der Besetzung verweist: auf die einem Namen eingeschriebene Verbindung zu einem Künstler, so wie Anish Kapoors exklusive Nutzungsrechte an Vantablack, das berühmte Yves-Klein-Blau oder eben Gerhard Richters Stil, seine Formensprache, die Arbeit mit der Rakel, die unverwechselbar mit dem Künstler Richter verbunden ist. Und dennoch ist Birkenaugrau doch schlicht „nur“ grau, ein graues Bild, eine Rückführung auf den Grund jeden Bildes, auf sein Material, die aufgetragene Farbe. Trotzdem öffnet sich ein Netz an Verbindungslinien, sobald man erfährt, dass die kleinen nicht-grauen Farbreste am unteren Rand entstanden, weil der Künstler im Atelier beim Malen an dem danebenstehenden Bild, Birkenau in Farbe (2022), mit dem Pinsel abgerutscht ist und sich so das eine Bild in das andere eingetragen hat. Oder, dass das Grau aus den gesammelten und gemischten Farbresten der Arbeit an Mögliche und unmögliche Bilder #I stammt. Page 14 Ernstes Spiel / Volume 4.1 / Page 646


Ergänzt wurde die Ausstellung auch um die plastische Arbeit Kopflose (nach Otto ­ Freundlich) und die dreiteilige Arbeit Vergleichen (beide 2022), die sich mit der Geschichte von Otto Freundlichs Skulptur Großer Kopf aus dem Jahr 1912 beschäftigen. Freundlichs Skulptur wurde 1937 in der nationalsozialistischen Propaganda-Ausstellung Entartete Kunst in München unter dem Titel Der neue Mensch gezeigt, während der Wanderung zu einer weiteren Ausstellungsstation vermutlich beschädigt oder zerstört – zumindest verliert sich ihre Spur – und von den Nationalsozialisten durch eine grotesk entstellte und überzeichnete Reproduktion ersetzt, deren Spur sich später ebenfalls verliert. Müller hat versucht, die originale Skulptur als Teil seiner Serie Heilungen zu rekonstruieren. Ursprünglich bei Freundlich in Gips geformt, lässt Müller seine Plastik in Bronze gießen und verleiht ihr so eine zumindest materiell standhaftere Dauer, unempfindlich für mechanische Beschädigungen und den Einfluss von Wasser. Die Arbeit Vergleichen zeigt in drei Bildern die ursprüngliche, die nationalsozialistische und M ­ üllers Fassung nebeneinander. Was passiert, wenn man einen Verlust, der zu der Geschichte eines Kunstwerks gehört und ihm gewaltvoll aufgedrückt wurde, nicht akzeptiert, die Zeit zurückdrehen, sie für eine andere Dauer stabilisieren möchte – mit dem harten und kalten Metall der Bronze? Oder muss man vielleicht, so unmöglich es vielleicht auch sein mag, nicht doch den Verlust schlicht und einfach bestehen lassen, eine Leerstelle in der Welt? Dass all dies die Besucherinnen und Besucher der beiden Ausstellungen nicht nur auf einer intellektuellen Ebene anspricht, sondern auch unmittelbar affektiv, reflektieren die verzerrten, leidenden, gekrümmten und verzweifelten Figuren zur Befragung empathischer Reaktionen (2022) – auch hier wieder, und diesmal sogar explizit im Titel, eine Befragung. Dass jede (empathische) Reaktion auch alles andere einfärbt, illustriert der in der Würzburger Ausstellung hinter der Skulpturengruppe angebrachte Spiegel, in dem sich neben den Besucherinnen und Besuchern auch die Skulptur Kopflose (nach Otto Freundlich) und alle anderen gezeigten Werke spiegeln – etwas weiter entfernt im Spiegel, irgendwie hinter der Wand, an dem Leid (der Figuren/des betrachtend Anwesenden) vorbei. Nicht nur das offene Fragen und die Unsicherheit jedes Versuchs ist den Werken Müllers implizit, sondern sie sind auch notwendigerweise auf „Anderes, Werkfremdes“ angewiesen, so der Kunsthistoriker Lukas Töpfer in seinem Essay, der hier zu lesen ist. Anderes, das ihnen „zur Seite gestellt sein“ muss. Töpfer, der seit langer Zeit mit Müller eng verbunden und im beständigen Austausch ein Begleiter, aber vor allem ein kritischer Beobachter von Müllers Schaffen ist, kontextualisiert die gezeigten Arbeiten in seinem Text, der im Januar und Februar 2023 entstand – also in der Zeit zwischen den beiden Ausstellungen. Er bespricht Müllers Werkkomplex „auf Abwegen und mit Verzögerungen, in einem stotternden Rhythmus“ und lässt andere Stimmen zu Worte kommen, schriftliche Zeugnisse von „Sonderkommando“-Mitgliedern – in einer erkämpften Sprache für das die Sprache Verschlagende, lange in der Erde von Birkenau vergraben – und Berichte von den wenigen Überlebenden. Dass Töpfer nicht immer ­Müllers Sicht teilt, sie auch kritisiert und infrage stellt, ist dem Vorgehen dieses Buches und zugleich des gesamten Projektes von Müllers Beschäftigung mit dem Thema inhärent, denn die Frage, jedes Fragen – diese eigentümliche, existenzielle und, wenn sie denn ernst gemeint ist, so oft beängstigende Tätigkeit – ist nicht nur auf die bedingungslose Offenheit eines Gegenübers angewiesen, auf die Bereitschaft, sich dem anderen zuzuwenden, sondern auch – hilflos – der Gefahr ausgeliefert, ein Nein als Antwort zu bekommen. Dass dies nicht das Ende eines Gespräches sein muss, sondern auch ein anderer Anfang sein kann, eine Vertiefung, zeigt Töpfers Essay.

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格羅·赫施爾

前言

「提問是取得認識的第一步。這也是重要藝術作品所擁有的一個特質,即以

新的、不同的方式展現事物,不斷重新向它們提問。」藝術歷史學家安妮-瑪麗·

博內2023年1月值維爾茨堡文化博物館舉辦的《可能和不可能的圖像》展覽之際 所做的一次演講時這樣説道。該展展期為2022年11月26日至2023年3月19日,是 邁克爾·穆勒首次公開展示其專門深入探討以藝術方式處理納粹大屠殺主題的可

能性與不可能性問題的一組綜合作品。這個主題很久以來就一再出現在穆勒的作 品中,但現在是以全新的、更强烈、更聚焦的方式呈現出來1。

這組綜合作品在本書出版期間在地處柏林文化論壇的聖馬太教堂展出,其中尺

寸最大的作品是由16個部分組成的《可能和不可能的圖像#I》(2022年),該作 品是對格哈德·里希特2014年完成的《比克瑙》組畫的推敲分析。這組組畫是里希

特根據奧斯威辛-比克瑙滅絕營所謂的「特勤隊」囚工拍攝的四張照片創作的,這 些照片是大屠殺滅絕事件唯一直接的視覺見證2。從某種意義上說,穆勒的這件作 品構成了展覽的引力中心,其他一些藝術作品環繞這個中心佈置在兩旁,與中心存 在某種關聯,但又不失各自的獨立性,這一點也體現在創作這些作品的漫長、即從

2013年到2022年的時間跨度上。它們的共同點,是從不同的分析方向、不同的視

角,運用各種藝術媒介——繪畫、雕塑、攝影、文字、觀念等,謹慎地提問而且 拒絕提供明確、無疑、最終的答案,它們僅想表明提問的開放性和通過不斷、當 下的審視來獲取更多認識。穆勒的作品對提問有著特定、不同的回答,但無論如 何他允許這些答案並存,沒有毀掉或再用繪畫蓋住這些答案,而是揭示出它們的 弱點,揭示出每個答案其實都不足以、都無法代表整體。允許答案存在,使比較 成爲可能,穆勒將此想法也運用到了里希特的《比克瑙》組畫上。他把里希特覆 蓋住的回答嘗試,又一層層揭開:從在里希特看來可能是失敗的「特勤隊」照片 的寫實臨摹,到抽象的畫上作畫以及對最後作品的拍照復製。穆勒揭開了這一層 層,並把每一層還原為作品,變得可見。或許其中一個答案比另一個答案更精確?

穆勒的提問作品,也包括《消失點中可能和不可能的圖像#III》(2013

年)­,直面的是大屠殺地點——奧斯威辛-比克瑙滅絕營。這四張照片——三張 黑白一張彩色——拍的是當年那些脫掉衣服的受害者在跑向毒氣室時不得不穿

過的那片樺樹林的現狀,「特勤隊」所拍照片中的一張就證明了這一場景。這 四張照片是用手機拍的,作品副標題中給出了確切的時間、地點,這是手機自

動存儲的元數據(如:2013年6月28日,13點51分,奧斯威辛集中營二號營區 比克瑙),就好像這種精確性會賦予照片一些内涵,强調或改變、確認、肯定

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1

穆勒第一次涉足這個主題可能是題爲《馮·布勞

恩的星際之旅》(1994/2007年)的素描。該素描下 面部分複製了米特堡-多拉集中營一名囚犯的炭筆 畫,畫上標了一條地下通道,被關押在集中營的人被 迫在地下通道建造V2火箭。 2

巧合的是——希望這一巧合起到了的建設性的作

用,里希特的《比克瑙》組畫作為100件永久借展作 品的一部分在也位於文化論壇的新國家美術館與穆勒 的展覽同期展出。兩個展覽如此近距離地同時展出, 當然是值得歡迎的,因為兩位藝術家以不同的藝術手 法來處理比克瑙主題。


Gero Heschl

Foreword

1 Müller’s first grappling with this theme was presumably the drawing Von Brauns Aufbruch zu den Sternen (Von Braun’s Departure for the Stars) (1994/2007), which reproduces in its lower part a charcoal drawing by an inmate of the MittelbauDora concentration camp, which suggests one of the sub­ terranean galleries in which laborers from the ­concentration camp were forced to produce the V-2 rocket.

2 As chance — which in this case was hopefully productive — would have it, Richter’s Birkenau cycle is part of the per­manent loan of a hundred works that were on display at the Neue ­Nationalgalerie, also at the Kulturforum, in parallel with our exhibition — an unexpected and surely welcome proximity of two very different artistic approaches to the theme of ­Birkenau.

“Questions are the first step toward knowledge. And that, too, is a quality of relevant art: making things seem new and different, constantly questioning them again,” ­remarked the art historian Anne-Marie Bonnet in a lecture she gave in January 2023 on the occasion of the exhibition Mögliche und unmögliche Bilder (Possible and Impossible Pictures) at the Museum im Kulturspeicher Würzburg. The exhibition, which was shown from November 26, 2022 to March 19, 2023, was the first public presentation of a complex of works by Michael Müller that is exclusively and intensely dedicated to the question of the possibilities and impossibilities of an artistic approach to the Holocaust. This is a theme that has been repeated in Müller’s œuvre for a long time but here found a new, heightened intensity and focus.1 The most extensive work in this complex, a variation of which was on view in the St. Matthäus-Kirche (St. Matthew’s Church) at the Kulturforum in Berlin from April to September 2023, is the sixteen-part work Mögliche und unmögliche Bilder #I (2022) — an attempt to engage with Gerhard Richter’s Birkenau cycle of 2014, which is based on the four photographs of the so-called “Sonderkommando” of Auschwitz-­ Birkenau, the only direct and immediate visual documentation of the annihilation process of the Holocaust.2 In a sense, this work by Müller represents the center of gravity around which several other artworks orbit and to which they refer but without losing any of their autonomy, as is demonstrated not least by the long period in which the works were produced: from 2013 to 2022. They are united by the fact that they represent a careful questioning from different analytical directions, from various perspectives, and in a broad spectrum of artistic media — painting, sculpture, photo­ graphy, text, and concept — yet refuse to offer a clear, definitive, and final answer and refer only to the openness of the question, to the progress of knowledge by means of constant, updated testing. Müller allows the (particular) answers that his works offer despite everything to stand side by side, not destroying or painting over them but revealing their weaknesses, the insufficiency, the inability of any answer to stand for the whole. Letting answers stand creates an opportunity for productive comparison that Müller also reinscribes in Richter’s Birkenau pictures by exposing Richter’s ­various attempts at an answer that he had covered with layers of paint: from Richter’s realistic paintings of the Sonderkommando photographs, which he presumably regarded as failures, to the abstract overpaintings and their photographic reproductions. They are exposed again and reintroduced into the work, made visible. Was the one answer perhaps more precise than the other? Müller’s questionings also include the Mögliche und unmögliche Bilder im Fluchtpunkt #III (Possible and Impossible Pictures in the Vanishing Point #III), which ­concern the location of the event: the Auschwitz-Birkenau extermination camp. The four images — three in black-and-white, one in color — which show the present appearance of the birch forest through which the undressed victims had to walk to the gas chambers, as attested by one of the Sonderkommando photographs, are mobile phone photos that indicate, in their subtitles, the precise time and place they were taken. Page 17 Ernstes Spiel / Volume 4.1 / Page 649


或者還有否定其説服力、其事實性。博內認為,「如果沒有標題,人們會聯想到 夏天和大自然」。然而由於其援引的是與其不同、不在場的東西,因此這幾幅 照片實際上想呈現和揭示的,是「特勤隊」照片——或者更確切地說是其攝影 師——被剝奪的東西:時間、準確性、距離、自由。因為盡管穆勒的四張照片

中有三張是在兩分鐘之內拍的,即13點51分至13點52分(黑白照片),但第四張

(彩色照片),卻是在40分鐘之前,即13點11分拍的。在這些照片之間,有著 一個過程:先拍那張的視角和拍攝者所站的地方是刻意選擇的,拍攝本身是隨

手快照,用無時不在、隨手可及因而具有某種隨意性的手機,試圖直接、如實地 捕捉到此時此地的東西,包括色彩。但穆勒問道,這能說明什麽?這個現在有多 真實?它對得起這個地方、這段歷史、這個地方的這段歷史嗎?這些提問,在此 情況下首先還只是個試試看,40分鐘之後——40分鐘的思考、嘗試、推翻、重 來——生成了另外三張照片。這種陌生化、褪色,即褪為黑白兩色——過去照

片的「顔色」——的处理难道會更準確、更真實、描述效力更強嗎?這一嘗試 依然還是不離本質,它是一個提問,它不提供答案,保持開放。

還有作品《可能和不可能的圖像(在皮下)#IV》(2022)所借用的囚

犯「特勤隊」拍攝的照片,通過丙酮轉移印花法直接印到、用藝術家的話來 説是「紋身」到了維爾茨堡博物館的墻上,與展覽空間的建築墻體融爲一體,

使圖像載體固定化,加重了物理破壞的難度,迫使作品持續在場。然而盡管 如此,當人們還是——用暴力、用鋸子——把它們從墻上切割下來,從肌

膚上撕下來時,會怎麽樣呢?這樣做的結果,可以在聖馬太教堂的展覽上

看到:一塊墻板,從維爾茨堡文化博物館的墻上分離出來,被移植到聖馬太 教堂這另外一個地方的墻上。被移植的痕跡,並沒有被隱藏起來,與教堂

墻體的縫隙沒有被抹去,也沒有被塗成與墻面一致的顏色——作品的歷史保 留可見。

而在題爲《可能和不可能的圖像(比克瑙橙色)#VII》(2013年)的照片

上那散發著一絲溫柔耀眼之光、夾在比克瑙路邊石縫中以絢麗色彩掙紮求生、 然而無奈生命短暫現在可能已逝、但卻重現在抽象畫《彩色的比克瑙》(2022

年)中的植物,又怎麽解釋呢?允許展示這種不可能的美嗎?若允許,那又必須 如實到何種程度?手機照片像素化,分辨率不高,不是又讓所有的一切變得不真 實,變得模糊,變成一種純粹的預感嗎?而我們為什麽能在抽象畫中辨別出這個 植物,盡管畫布上只有色塊?它在這幅畫上,是不是也在那兒,在比克瑙那兒, 還是它「只是」一幅畫,此時、此地,在這兩個展覽上?

作品《比克瑙灰色(真相誓言)》(2022年)除了右下方邊沿的一個小細節

外,是一幅單色畫,它的標題就像一個品牌名稱,指向的是藝術上的佔據過程, 即一個名稱所隱含的與一名藝術家的關係,譬如安尼什·卡普爾對梵塔黑的獨家使

用權、著名的伊夫·克萊因藍,還有格哈德·里希特的風格。他的形式語言,他使

用刮板進行的創作,都與里希特這位藝術家有著明確無疑的聯系。但《比克瑙灰 色》就「只」是灰色,一幅灰色的畫,回歸到每幅畫的基礎,即每幅油畫都要打 的底色,底色用的物料。然而,當我們了解到,它下方的一小塊非灰色的殘餘顔 料是由於藝術家在工作室畫與其相鄰的《彩色的比克瑙》(2022年)時,畫筆滑

脫,碰到《比克瑙灰色》,從而將一幅畫畫進了另一幅畫上時,或者這灰色顔料 來自於藝術家創作《可能和不可能的圖像#I》時收集的、混好但沒用完的殘餘顔 料時,一片關聯脈絡就豁然打開。 Page 18 Ernstes Spiel / Volume 4.1 / Page 650


This is the metadata automatically stored by the mobile phone (for example, 28. Juni 2013, 13:51, Auschwitz II-Birkenau), as if this exactness added something to the photo­ graphs, underscoring their expressiveness, their facticity, or changing, confirming, corroborating, or even negating it: “If not for the name, one would think of summer and nature,” says Bonnet. But what they actually show and reveal by referring to some­ thing other than, absent from themselves is what was denied the Sonder­komman­do photographs—or rather their photographer: time, precision, distance, freedom. Because, although three of Müller’s photographs were taken within two minutes, from 1:51 to 1:52 p. m. (the black-and-white images), the fourth one, the color one, had been taken forty minutes earlier at 1:11 p. m. A process took place between these photographs: the first photo, for which the perspective and the standpoint from which it was taken were chosen deliberately, is a snapshot, which uses an arbitrary method — the always available mobile phone — to try to capture directly what is, here and now, faithfully in color. Yet, Müller asks, what does that say, how authentic is that now, how much justice does it do to the place, history, the history of this place? These questions, which in this case are initially a test, lead forty minutes later — time to reflect and try out, to reject and repeat — to three more photographs. Is a defamiliarization, a de-colorizing into black-and-white—the “colors” of the photographs of the past—perhaps more precise, more faithful, more expressive? The experiment remains what it is: a question, offering no answer, remaining open. Also to be seen there are the Sonderkommando photographs that were applied directly to the wall of the museum in Würzburg as acetone transfer prints, “tattooed” on the wall (as the artist calls it): those of the work Mögliche und unmögliche Bilder (unter der Haut) #IV (Under the Skin) (2022), which are combined with the very fabric of the exhibition building, immobilizing the pictorial medium, making physical destruc­ ­tion more difficult, forcing duration and presence. And nevertheless: what happens when they are indeed cut out of the wall again—with violence, with a saw—ripped from the skin? This can be seen, played out, in the exhibition in the St. Matthäus-­Kirche: a wall panel removed from the Museum im Kulturspeicher, planted into the wall of the church, in a different location. It is not concealed, is not plastered over, is not painted to match the color of the wall — the work’s history remains visible. And what about the almost delicately glowing plant that struggles for a colorful life by a curb in Birkenau and yet is perishable and has presumably perished in the meantime, in the photograph Mögliche und unmögliche Bilder (Birkenau-Orange) #VII (2013), which reverberates in the abstract painting Birkenau in Farbe (Birkenau in Color) (2022)? Is it permitted to show this impossible beauty? How faithful must one be? Does the pixilated, low resolution of the mobile phone photo not, after all, remove everything from the world again, blurring it into a mere suggestion? And why can we recognize this plant in the abstract painting even though it is merely colors on a canvas? Is it also in the painting still there, still in Birkenau, or is it “only” an image here and today in these two exhibitions? Birkenaugrau (Der Wahrheitsschwur) (Birkenau Gray [The Oath to Truth]) (2022), a monochrome painting apart from a tiny detail on the lower right edge, has a title like a brand name and refers to the artistic method of laying claim: to the registered connection of an artist with a name, like Anish Kapoor’s exclusive rights to Vanta­ black, the famous Yves Klein blue, or Gerhard Richter’s style, his formal language, working with a squeegee, which is unmistakably linked to the artist Richter. And yet Birkenaugrau is after all simply “just” gray, a gray painting, a tracing back to the ground of every painting, to its material, the applied paint. Nevertheless, a whole net­ work of connecting lines opens up as soon as one learns that the small remnant of not-gray paint on the lower edge resulted because, when the artist was painting the work next to it in the studio, Birkenau in Farbe, the brush slipped and thus carried the one painting into the other. Or that the gray is made from the collected and mixed remnants of paint from working on Mögliche und unmögliche Bilder #I. The exhibition was supplemented by the three-dimensional work Kopflose (nach Otto Freundlich) (Headless [after Otto Freundlich]) and the three-part work Page 19 Ernstes Spiel / Volume 4.1 / Page 651


展覽還展出了雕塑作品《無頭(模仿奧托·弗羅因德利希)》和由三個部分

組成的作品《比較》(均為2022年),這些作品都與奧托·弗羅因德利希創作于 1912年的雕塑作品《大頭》有關。弗羅因德利希的這件雕塑於1937年被納粹拿

到慕尼黑的納粹宣傳展《頹廢的藝術》上展出,作品標題被改爲《新人》,估計 該作品在被轉移到另一展覽地的過程中被損壞或被摧毀,反正它無影無蹤了。納 粹後來用一個怪異扭曲、誇張過度的復製品取而代之,但這複製品後來也銷聲匿 跡了。穆勒試圖重塑原始雕塑,作為他《療愈》系列的一部分。弗羅因德利希的 原作是用石膏做的,而穆勒則使用了青銅澆鑄,使其雕塑至少在材質上更耐受, 不怕水,不易受到機械損坏。作品《比較》的三張照片並列展示了這件雕塑作品 的三個版本:原作、納粹版、穆勒版。當一個人不接受屬於一件藝術作品的歷史

的、被暴力強加的損失,因而想讓時光倒流,藉助堅硬而冰冷的金屬——青銅—— 以期延長作品壽命時,會發生什麽?或者——無論怎樣不可能——乾脆就讓這損 失存在,讓這世界有一個空白?

這兩個展覽不僅在理性層面上引發觀者注意,而且也通過作品《調查同理

心反應的形象》(2022年)那些扭曲、痛苦、彎曲、絕望的人物形象,在情感

層面上直接對觀者產生作用。這又是一種提問、一種探究,而且這次甚至是在 標題中就明確表明。每一個(同理心)反應也會影響到所有其他方面,這一點 就反映在維爾茨堡展覽時安裝在這組雕塑後面的鏡子中。鏡面中除了觀者自己

以外,還可以看到雕塑《無頭(模仿奧托·弗羅因德利希)》和所有其他參展作

品——在鏡中稍遠的地方,在墻後什麽地方,在離開(人物形象/在場觀者的) 痛苦的地方。

穆勒的作品不僅内含坦率開放的提問和每次嘗試的不確定性,而且也必然地

依賴於「藝術作品之外的其他東西」,藝術史學家盧卡斯·特普費爾在他為本書撰

寫的評論文章中這樣寫道,即,其他的、必須「并列展出的」東西。特普費爾與 穆勒有著長期密切的關係,與穆勒不斷交流,是穆勒的伴隨者,但首先是穆勒作

品的批判性觀察者,他在文中對展出的作品進行了背景介紹。該文寫於2023年 1月和2月,換句話說,是在兩個展覽之間。他以「出現走題、延遲情況,節奏顯

得不夠連貫」的方式剖析了穆勒的這組綜合作品,也援引了其他人的看法,包括

「特勤隊」成員的書面證詞——用一種奮鬥而來的語言來表達無以言表的、長期 埋藏在比克瑙地下的東西,以及少數倖存者的報告。特普費爾並非總是贊同穆勒 的觀點,他也批評和質疑穆勒的觀點,這是本書編撰做法以及穆勒圍繞這一主題

的整個項目所固有的,因為提出的問題,每次提問本身——這種奇特的、非常重

要的、如果是認真的話往往是令人擔心的行爲——不僅依賴於對方無條件的坦率

開放性,依賴於對方願意關注他人的意願,而且也使提問者——無助地——陷入

得到否定回答的風險。但這並非一定是對話的結束,它也可以是另一個開始, 一種深化,特普費爾的文章亦闡明了這一點。

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Vergleichen (Compare) (both 2022), which concern the history of Otto Freundlich’s sculpture Grosser Kopf (Large Head) from 1912. Freundlich’s sculpture was shown in the National Socialist propaganda exhibition Entartete Kunst (Degenerate Art) in Munich under the title Der neue Mensch (The New Man) and while traveling to another venue was presumably damaged or destroyed — its trail is lost, at least. The National Socialists replaced it with a grotesquely distorted and exaggerated reproduction, whose trail is also lost later. Müller tried to reconstruct the original sculpture as part of his Heilungen (Healings) series. Freundlich had originally worked with plaster; Müller had his sculpture cast in bronze and thus gave it a sturdier existence, at least in a material sense, not susceptible to mechanical damage or the influence of water. Vergleichen displays the works side by side in three photographs: the original version, the National Socialist one, and Müller’s. What happens when one does not accept a loss that is part of the history of a work of art and was violently forced on it, wants to turn back time, and to stabilize it for another length of time — with the cold and hard metal of bronze? Or should one not perhaps, as impossible as it may sound, plainly and simply let the loss be: a void in the world? That all of this speaks to visitors to both exhibitions not just on an intellectual level but also by immediately affecting the emotions is reflected in the distorted, suffering, bent, and despairing Figuren zur Befragung empathischer Reaktionen (Figures for Questioning Empathetic Reactions) (2022) — here again, and this time even ex­plicitly in the title: a questioning. In the exhibition in Würzburg, Müller illustrates that every (empathetic) reaction also colors everything else by placing a mirror behind this group of sculptures, in which not only the visitors but also the sculpture Kopflose (nach Otto Freundlich) and all of the other works shown are reflected — somewhat further removed in the mirror, behind the wall somehow, passing over the suffering (of the figures/viewers). Not only are open questioning and the uncertainty of any experiment implicit in Müller’s works, but they are also necessarily dependent on “something else, something foreign to the work,” as the art historian Lukas Töpfer writes in his essay in this volume. Something else that is “placed next to” them. Töpfer, who has been closely connected to and in constant interchange with Müller for a long time and is a follower but also a critical observer of Müller’s work, contextualizes the exhibited works in his text, written in January and February 2023 — that is, in the time between the two ex­ hibitions. He discusses Müller’s complex of works “on detours and with hesitations, in a stuttering rhythm” and lets other voices speak: the written testimonies of Sonder­ kommando members — in a hard-won language for that which robbed of language, long buried in the soil of Birkenau—and the reports from the few survivors. That Töpfer does not always share Müller’s view but also criticizes and questions it is inherent to the method of this book as well as to the entire project of Müller’s work on this theme, since the question, any questioning — this peculiar, existential, and, if it is intended seriously, often terrifying activity — is dependent not only on the unconditional openness of a counterpart, the willingness to turn to the other, but also on the willingness to subject oneself — helplessly — to the risk of getting no for an answer. Töpfer’s essay shows that this need not be the end of a conversation but can also be a different beginning, a deepening.

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Lukas Töpfer

Am Abgrund der Bilder: „Birkenau“

1. „Ein hässliches Buch“: Anstelle eines Anfangs

1 Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, aus dem Ungarischen von Christina Viragh, Berlin: Rowohlt 1996, S. 209. Die Episode beginnt auf S. 208 wie folgt: „Da und dort vermischten sich verdächtige Rauchschwaden mit freundlicheren Dämpfen […] und mein suchender Blick fiel bald auf einen Trupp dort unten, von dem mühsam dampfende Kessel geschleppt wurden, mit quer über die Achseln gelegten Stangen, und in der herb riechenden Luft erkannte ich von fern her, kein Zweifel, den Duft von Kohlrübensuppe.“ 2 1929 in Budapest geboren, wurde Kertész 1944 nach Auschwitz und später nach Buchenwald deportiert. Sein Roman Sorstalanság [dt. Roman eines Schicksallosen] erschien im ungarischen Original im Jahr 1975. 2002 erhielt Kertész den Nobelpreis „für ein schriftstellerisches Werk, das die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte behauptet“. 3 Es wurde oft darauf aufmerksam gemacht, wie abgeschlossen die Welt der Konzentrationslager für die Gefangenen gewesen sei. Der Buchenwald-Überlebende David Rousset schreibt etwa in seinem 1946 erstveröffentlichten Buch Das KZ-Universum, aus dem Französischen von Olga Radetzkaja und Volker Weichsel, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2020, S. 19: „Es ist ein Universum für sich, abgeschottet von allem, ein seltsames Reich, in dem eine mit nichts zu vergleichende Notwendigkeit herrscht. Der Abgrund der Lager.“ – Hannah Arendt schreibt in ihrem 1950 erstveröffentlichten Essay „Die vollendete Sinnlosigkeit“, in: Dies. Nach Auschwitz. Essays & Kommentare, aus dem Amerikanischen von Eike Geisel, Berlin: Edition Tiamat 1989, S. 7–30, hier S. 23: „Es ist kaum nachvollziehbar, und man macht sich nur unter Grausen eine Vorstellung davon, wie total die Lager von der Außenwelt isoliert waren: so als wären die Lager und ihre Insassen nicht mehr Teil dieser Welt.“ 4

Kertész (wie Anm. 1), S. 207.

1.1 Kohlrübensuppe, der freundliche, herbe Geruch von Kohlrübensuppe: Sogar in diesem verbirgt sich, allem zum Trotz, der letzte Rest einer Schönheit. Der Hunger legt ihn wohl frei, ein tiefer, alles durchdringender Hunger, ein Hunger jedoch, der eine schutzlose Hoffnung bei sich trägt: „in mir“, so überkommt es den jungen Ich-Erzähler György in Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen inmitten des Konzentrationslagers Buchenwald, einen unempfindlich gewordenen, vom Leiden abgestumpften Heranwachsenden in jenem Moment, in dem er die herbe, freundliche Kohlrübensuppe bemerkt: „in mir war die verstohlene, sich ihrer Unsinnigkeit gewissermaßen selbst schämende und doch immer hartnäckiger werdende Stimme einer leisen Sehnsucht nicht zu überhören“, einer Sehnsucht, die zuletzt doch noch den Wunsch zu sterben durchbricht: „ein bißchen möchte ich noch leben in diesem schönen Konzentrationslager.“1 Ein schönes Konzentrationslager, so steht es geschrieben bei einem Autor, der wider Erwarten Auschwitz und Buchenwald überlebt hat – was für ein Wort: „schön“. Kertész wurde mit 14 Jahren nach Auschwitz deportiert2, in einem Alter also, in dem er noch keine stabile Weltsicht herausgebildet hatte. In seinem eindrucksvollen, autobiografisch geprägten Roman eines Schicksallosen übermittelt er seinen Lesenden eine Ahnung von jener Offenheit, mit welcher ein sehr junger Mann – vielleicht er selbst – einer Lagerwelt begegnen musste, die an keinem zuvor bekannten Maßstab gemessen werden kann. Die „Schönheit“, die für Augenblicke die Grenzen seiner Welt zum Zittern bringt, einer Welt, die grausamerweise mit einem Konzentrationslager in eins fällt3, diese „Schönheit“ formt vermutlich die vage Ahnung einer anderen Zukunft, die sich im herben Duft einer Suppe – sogar in diesem – tröstend andeutet. Plötzlich geht es nicht mehr nur um ein möglichst schmerzloses Sterben („vielleicht mit der Kugel, vielleicht anderswie, mit einer der tausenderlei Methoden, für die meine Kenntnisse nicht ausreichten […]. Auf jeden Fall hoffte ich, es würde nicht weh tun“4 ). Plötzlich geht es wieder um jenen wesentlichen Rest, um jenen nicht besitzbaren Zusatz, der viele Namen hat, darunter die „Schönheit“. Etwas im Umkreis der Suppe – es breitet sich aus, es durchdringt die Welt. Dafür lohnt es sich zu leben, vielleicht, vermutlich, zumindest ein bisschen. Die Schönheit: Sie bewahrt und übermittelt zugleich in gelungener Form diesen ungewöhnlichen, ebenso verstörenden wie versöhnlichen Augenblick. Kertész’ Roman eines Schicksallosen übersetzt ein Vergangenes in die Gegenwart, in Form eines Werks, das – wohl oder übel – auch am Schönen partizipiert. Es lässt sich wohl kaum bestreiten, dass Kertész’ Satz poetisch gelingt, dass seine widerstreitenden Worte einen seltsam stimmigen, bleibenden Eindruck hinterlassen. Zwei Maßstäbe, die eigentlich nicht zusammenpassen (dürften), werden hier in Form eines Substantivs und eines Adjektivs aneinandergedrängt („in diesem schönen Konzentrationslager“), deren Assoziationsräume unterschiedlicher, ja gegensätzlicher kaum sein könnten und die einander, bei aller Nähe, fremd, verfremdet gegenüberstehen. Sie erzeugen so gemeinsam eine Page 23 Ernstes Spiel / Volume 4.1 / Page 655


bleibende Irritation, eine unauflösbare, niemals bis ins Letzte verstehbare ethische und ästhetische Spannung. Der Satz gelingt wohl auch deshalb, weil diese Spannung sich nicht auflösen lässt, sondern vielmehr eine Form findet, in der sie sein kann und zum Nachdenken zwingt. Warum aber muss das Grausame der Vergangenheit überhaupt zu einem „Werk“ werden, zu einem Werk, das auch am ästhetischen Maßstab gemessen werden und „gelingen“ kann?5 Warum sich nicht auf möglichst genaue Zeugnisse beschränken, die (nur) dem Anspruch genügen, „wahr“, und nicht zugleich auch dem Anspruch, „schön“ zu sein? Kann das Grauen nur dann zum Werk werden, wenn es den Keim einer Hoffnung birgt? Wenn ein letzter Rest von Schönheit sich in ihm auffinden und hervorheben lässt? Kohlrübensuppe, der freundliche, herbe Geruch von Kohlrübensuppe in einem schönen Konzentrationslager in einem schönen, gelungenen Buch …

1.2 In einem Interview, das ein Arzt und Überlebender der Shoah am 30. September 1982 über seine Erfahrungen im Konzentrationslager geführt hat, kommentiert dieser bescheidene wie hochgeschätzte alte Mann ein Buch seines guten Freundes und Mitgefangenen in Auschwitz III/Monowitz, Primo Levi. Dieses Buch – Ist das ein Mensch? – gehört zu den bekanntesten und sicher wichtigsten, literarisch wertvollen Zeugnissen der unmittelbaren Nachkriegszeit („eines der schönsten Zeugnisse über Auschwitz“, so Georges Didi-Huberman6 ). 1947 veröffentlicht, wird es bis heute viel gelesen, nicht zuletzt aufgrund seiner ebenso klaren wie nüchtern-poetischen Sprache. Levis Freund, Leonardo De Benedetti, wird also 1982 gefragt, ob er denn nie daran gedacht habe, etwas zu schreiben, eine Erinnerung zu hinterlassen. Die Antwort: „Nein, nein, weil … aus dem einfachen Grund, dass man nach dem Buch von Primo Levi nichts mehr schreiben kann, er hat schon alles geschrieben. Und wenn ich das schreiben wollte … würde ich ein hässliches Buch schreiben und ungeschickt das wiederholen, was er schon so gut gesagt hat. Finden Sie nicht?“7 Er würde ein hässliches Buch schreiben, so denkt er, dieser gute Mensch, dem Primo Levi 1983 einen rührenden und hochachtungsvollen Nachruf gewidmet hat („Ricordo di un uomo buono“, Erinnerung an einen guten Menschen).8 „Er war nicht schön“, so heißt es dort über das Aussehen seines Freundes, eines Menschen, „der dir beisteht, so gut er kann, unaufdringlich […] mit tiefer Anteilnahme für deine Probleme“. „Er war nicht schön; er war von faszinierender Hässlichkeit, deren er sich auf fröhliche Weise bewusst war und die er einsetzte wie ein Komiker seine Maske einsetzen würde.“9 Er würde ein hässliches Buch schreiben, so denkt er, dieser hässliche Mensch, dieser gute Mensch, den Primo Levi wie kaum einen anderen Freund geschätzt zu haben scheint.

2. „Warum lächelt er die ganze Zeit?“: Ein unermesslicher Maßstab 2.1 Das vorliegende Buch widmet sich Werken von Michael Müller, die einen Zyklus von Gerhard Richter namens Birkenau kommentieren und einen grausamen historischen Sachverhalt im gleichnamigen Vernichtungslager Auschwitz II/Birkenau in unterschiedlicher Form künstlerisch aufzuarbeiten versuchen. So eigentümlich direkt die kritischen Kommentare zu Richter auch sein mögen: Sie werden durch viele weniger auffällige, stillere, ja verwundete Werke von Müller begleitet, die in einigen Fällen deutlich vor dem Birkenau-Zyklus datieren (eine Werkgruppe, die sich um vier Gemälde aus dem Sommer/Herbst 2014 zentriert). Zu diesen stillen, verwundeten Werken gehört eine kleine Fotografie, die einen Randstein zeigt, belebt von einem eigensinnigen Gewächs (Abb. 1). Ganz gewöhnlich wirkt dieses Bild, und trotzdem enthält es – als würde es bluten, als würde in ihm etwas bluten – ein verstörendes Moment. Dort lebt Page 24 Ernstes Spiel / Volume 4.1 / Page 656

5 Kertész selbst gibt bereits 1960, ca. 15 Jahre vor der Fertigstellung seines Romans, eine vorläufige Antwort auf diese Frage (eine Antwort unter vielen). Zu lesen steht sie in einem jüngst veröffentlichten Buch namens Heimweh nach dem Tod. Arbeitstagebuch zur Entstehung des „Romans eines Schicksallosen“, hg. und ins Deutsche übertragen von Ingrid Krüger und Pál Kelemen, Hamburg: Rowohlt 2022, S. 36–37: „Die Form ist also keine Erfindung, sondern in diesem Fall die Wahrheit, und wenn in Wirklichkeit alles krude und unzusammenhängend war, wenn von dem Ganzen auch nur ein verschwommener, nebelhafter Eindruck geblieben ist, muss es auf dem Papier doch anders aussehen, muss einen Sinn erhalten, so wie sich auch im Leben ein Sinn daraus ergeben hat. Ergeben hat – jawohl, jetzt hat sich ein Sinn daraus ergeben, jetzt, da der Fluch zum Segen wird, in der Form, dass er zum Werk erhöht wird. […] Es ist eine gütige Ironie des Schicksals, dass ich dieses Buch schreibe, weil mein Buchenwald-Abenteuer dadurch einen Sinn kriegt. Auf diese Weise humanisiere ich das Schicksal, die bloße Tatsache des Buches ist ein Protest gegen die schiere Zufälligkeit der Dinge […].“

6 Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, aus dem Französischen von Peter Geimer, München: Wilhelm Fink 2007, S. 151.

7 Dt. Übersetzung zit. n. Fabio Levi und Domenico Scarpa: „Ein Zeuge und die Wahrheit“, in: Primo Levi. So war Auschwitz. Zeugnisse 1945-1986, aus dem Italienischen von Barbara Kleiner, München: Carl Hanser 2017, S. 185–244, hier S. 201. Ital. Orig. in Anna Segre: Un coraggio silenzioso. Leonardo De Benedetti, medico, sopravvissuto ad Auschwitz, Turin: Silvio Zamorani 2008, S. 129. 8 Dt. Übersetzung unter dem Titel „Erinnerung an einen guten Menschen“, in: Levi 2017 (wie Anm. 7), S. 167–170. Ital. Orig. „Ricordo di un uomo buono“, in: La Stampa, 11. Oktober 1983, S. 3.

9

Ebd., S. 167.


sie also, diese Pflanze, dort verschenkt sie ihr seltsames Rot, ihr starkes, leuchtendes Orange, am Rand eines Randsteins, irgendwo in Birkenau. Dort lebt sie also, diese Pflanze, kann nicht anders, überlebt, am äußersten Rand einer tiefen Zeit, einer schweren Erinnerung, die ihr fehlt. Dort lebt sie also, diese kleine verletzliche Pflanze, allem zum Trotz. „Schön“ kann sie genannt werden, „schön“ oder „hässlich“, „hässlich“ und „schön“.

10 Claude Lanzmann: Shoah, aus dem Französischen von Nina Börnsen und Anna Kamp, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2011, S. 28–29.

11 Vgl. die Formulierung in einem Zeugnis, das Szlamek Winer bereits im Februar 1942 über diese Zwangsarbeit in Kulmhof abgelegt hat. „DOK. 74: Szlamek Winer berichtet im Warschauer Getto im Februar 1942 über die Ermordung von Juden, Roma und Sinti im Vernichtungslager Kulmhof“, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozia­ listische Deutschland 1933–1945. Bd. 10: Polen. Die eingegliederten Gebiete August 1941–1945, bearbeitet von Ingo Loose, Berlin/ Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020, S. 268–287, hier S. 268. (Auch Podchlebnik wird in diesem Zeugnis erwähnt, S. 282.) 12 Podchlebnik hatte bereits 1961 als Zeuge des EichmannProzesses in Jerusalem von diesem Tag berichtet. 13

So die unübersetzte Formulierung im Film selbst.

14 Diese Formulierung wird seit Raul Hilbergs Studie The Destruction of the European Jews [dt. Die Vernichtung der europäischen Juden] aus dem Jahr 1961 regelmäßig verwendet.

15 Simone de Beauvoir: „Das Gedächtnis des Grauens“ [Vorwort], in: Lanzmann (wie Anm. 10), S. 11–15, hier S. 15.

16 Simone de Beauvoir beendet ihren Text (ebd., S. 15) mit den Worten: „Ein wahres Meisterwerk.“

17 Zur Frage der Undarstellbarkeit vgl. exemplarisch Jean-Luc Nancy: „Das Darstellungsverbot“, in: Ders. Am Grund der Bilder, aus dem Französischen von Emmanuel Alloa, 2. Aufl., Berlin: Diaphanes 2012, S. 51–89, hier S. 52: „In der Öffentlichkeit kursiert bezüglich der Darstellung des Holocaust und der Lager die diffuse, aber dennoch hartnäckige These, die Vernichtung könne oder dürfe nicht dargestellt werden. Die Darstellung sei entweder unmöglich oder verboten, oder aber unmöglich und daher verboten (oder umgekehrt verboten und daher unmöglich).“ Bereits auf derselben Seite erwähnt Nancy Lanzmanns Shoah. 18 „Aber wer, wir?“ – Jedes „Wir“ provoziert diese Frage, die Jacques Derrida an das Ende seines Textes „Fines hominis“ [Les fins de l’homme] gestellt hat, in: Ders. Randgänge der Philosophie, aus dem Französischen von Gerhard Ahrens u. a., 2. überarb. Aufl., Wien: Passagen 1988, S. 133–157, hier S. 157. Wie so oft in den Schriften Derridas, wird auch im vorliegenden Text ein „Wir“ verwendet. Zunächst und zumeist gemeint ist damit: „Wir, die wir lesen“; wir, die wir den Film von Lanzmann, die Fotografien des „Sonderkommandos“, die Bilder von Richter, die Bilder von Müller etc. anschauen (können).

2.2 „Was ist in Chelmno in ihm gestorben? Alles ist gestorben. Alles ist gestorben, aber man ist nur ein Mensch, und man will leben. […] Warum lächelt er die ganze Zeit? Was soll er Ihrer Meinung nach tun, weinen? Einmal lächelt man, einmal weint man. Und wenn man lebt, lächelt man besser ...“10 Mit diesen Worten beginnt ein Gespräch zwischen Claude Lanzmann (kursiv) und Mordechaï Podchlebnik, vermittelt durch eine Dolmetscherin, Fanny Apfelbaum, in Israel. Zu hören sind sie nach ungefähr zehn Minuten in Lanzmanns Shoah, ­einer neunstündigen Dokumentation aus dem Jahr 1985. Podchlebnik gehört zu den wenigen Überlebenden des Vernichtungslagers Kulmhof/Chelmno, in dem er der Gruppe der jüdischen Funktionshäftlinge zugeteilt worden war: den Zwangs-Totengräbern, jiddisch kabronim11, nicht unähnlich dem sogenannten „Sonderkommando“ in AuschwitzBirkenau (siehe unten). Nach etwa 20 Minuten des Films wird Podchlebnik dann weinend gezeigt. Seine Frau und seine Kinder habe er am dritten Tag gesehen, unter den Leichen.12 Um seinen Tod habe er die SS-Männer da gebeten, sagt er mit brechender Stimme. Die Deutschen aber meinten nur, er habe noch Kräfte, er könne noch arbeiten, „ein bisschen“13. Lanzmanns Shoah dürfte der wichtigste unter vergleichbaren Versuchen sein, die Vernichtung der europäischen Juden14 ohne Archivmaterialien ins Bild zu setzen: ohne historische Fotografien oder Filmaufnahmen aus den 1940er-Jahren (etwa der Leichen), zugunsten von ausführlichen Zeitzeugengesprächen und Aufnahmen der heutigen Überreste der Lager (vor allem Auschwitz, Treblinka und Kulmhof ). Ebendeshalb hat vermutlich ein solches Lächeln so viel Gewicht, ein solches nachgeschobenes, noch heute unfassbar grausam erscheinendes „ein bisschen“: weil nichts Vergangenes von ihm ablenkt, obwohl das Lächeln und das Weinen zugleich auch abgrundtief ins Vergangene zurückzureichen scheinen. Simone de Beauvoir hebt genau dieses Merkmal von Lanzmanns Shoah exemplarisch hervor: „Vergangenheit und Gegenwart sind für mich, wie für alle Zuschauer, nicht zu trennen. Ich sagte, daß das Magische an Shoah für mich in dieser ­Verschmelzung liegt. Ich möchte hinzufügen, daß ich eine solche Verbindung von Grauen und Schönheit nie für möglich gehalten hätte.“15 Von Beginn an war Shoah ein Werk, vielleicht sogar – eine problematische Kategorie – ein „Meisterwerk“16, dessen hochkonsequente Programmatik Lanzmann nachdrücklich, ja militant verteidigt hat, ein Werk zudem, das so sorgfältig gestaltet und dadurch so überzeugend war, dass der Eindruck entstehen konnte, jedes Archivbild sei problematisch und das, was heute meist „Shoah“ oder „Holocaust“ genannt wird, sei in gewisser Weise undarstellbar.17 Dargestellt aber wird es natürlich in Shoah, wenn auch indirekt: in diesem gebrochen lächelnden Gesicht, in diesen Augen, in diesem „ein bisschen“, in diesem schönen, alten Mann, der sichtlich lächelt, um nicht zu weinen, weil eben alles in ihm gestorben ist, er aber doch noch ein bisschen leben will. Sehen wir 18 hier nicht eines der vielen (Millionen) Gesichter der Shoah? Hören wir hier nicht einige schwere Sätze, tief ins Schweigen getaucht? Stellen sich hier nicht einige der vielen Fragen, die noch immer zu stellen sind? Warum lächelt er die ganze Zeit? Und warum weint er? Weil er noch lebt?

2.3 Die hoffnungslose, hoffnungslose Gegenwart einer Pflanze. Ein gedankenloses L ­ eben, schönes, schuldloses, zu schönes Leben. Die eingefangene, stillgestellte Gegenwart Page 25 Ernstes Spiel / Volume 4.1 / Page 657


dieser Pflanze (Abb. 1). Eine aufbewahrte Vergangenheit. Die Endlosigkeit dieses Augenblicks. – Der Tod in Form dieses Augenblicks. Der Tod in Form dieser Fotografie. Der Tod in Form dieser unwiederholbaren, hoffnungslos verlorenen Gegenwart. Und dann gibt es noch ein Abbild dieses Bildes dieser Gegenwart (Abb. 2). Eine Ahnung dieses Bildes in Form eines anderen. „Zu schön“. „Denn in einer Gesellschaft muß der TOD irgendwo zu finden sein“, schreibt R ­ oland Barthes, „[…] vielleicht in diesem Bild, das den TOD hervorbringt, indem es das Leben aufbewahren will. […] Mit der PHOTOGRAPHIE betreten wir die Ebene des gewöhnlichen TODES.“19 Dort lebt sie also nicht mehr, diese kleine verletzliche Pflanze.

2.4 In seinem Versuch, dem Birkenau-Zyklus von Gerhard Richter irgendwie näher zu kommen, vier Gemälden, die Richter ausgehend von vier Fotografien aus Birkenau angefertigt hat, hebt der Kunst- und Bildhistoriker Georges Didi-Huberman die landschaftliche Anmutung dieser zuletzt vollständig ungegenständlich geratenen Werke hervor. Der Maler habe durch seine „eigenwillige Technik des ‚Abkratzens‘“, durch die Zerklüftung seiner Oberflächen mithilfe einer Rakel einen Zerstörungsprozess ins Bild gesetzt, eine Zerstörung, die – ein gewagter Zusatz – im Anschluss dann in Begriffen der Natürlichkeit beschrieben wird. So kompliziert und differenziert der abwägende Gedankengang Didi-Hubermans auch sein mag (er sichert ihn, wie so oft, durch melancholische Autoritäten20 ab), so scheint er doch das Historische an unpassender Stelle ins Natürliche – und damit leider: ins vage Unabänderliche – hinübergleiten zu lassen. Didi-Huberman vermutet, Richter habe „den historischen Charakter dieser Zerstörung“, das heißt genau genommen hier: die Vernichtung der europäischen J­ uden, „gleichsam in ein Naturphänomen verwandelt, das Ihren Birkenau-­Bildern eher das Aussehen einer ‚Landschaft‘ oder einer geologischen Formation als das eines Historiengemäldes verleiht.“21 (Didi-Huberman adressiert Richter in Form ­eines Briefes, daher das Page 26 Ernstes Spiel / Volume 4.1 / Page 658

Abb. 1 Michael Müller, Mögliche und unmögliche Bilder (Birkenau-Orange) #VII, 2013

Abb. 2 Michael Müller, Birkenau in Farbe, 2022

19 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, aus dem Französischen von Dietrich Leube, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 103.

20 Didi-Huberman verweist etwa auf W. G. Sebald, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno.

21 Georges Didi-Huberman: Wo Es war. Vier Briefe an Gerhard Richter, hg. v. Dietmar Elger, aus dem Französischen von Horst Brühmann, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2018, S. 128.


22 Benjamin H. D. Buchloh: Gerhard Richters Birkenau-Bilder, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2016, S. 23.

23 Ebd., S. 24. Auch in einem späteren Text, der Motive des früheren aufgreift und variiert, findet sich eine vergleichbare Stelle. Buchloh schreibt hier, „dass Rot und Grün als die beiden Grundfarben eines grausamen Zyklus von Wachstum und Zerstörung, Erinnern und Vergessen dienen, als ob ihre Komplementarität die Auslöschung und Reanimation des zyklischen Lebens als natürliche vermitteln könnte [as if their complementarity could naturalize the eradication and resuscitation of life].“ Benjamin H. D. Buchloh: „Dokumente der Kultur, Dokumente der Barbarei. Richters Birkenau-Bilder“, in: Gerhard Richter. Malerei, Ausst.-Kat., Metropolitan Museum of Art, New York, 4. 3. bis 5. 7. 2020 („Gerhard Richter: Painting After All“), u. a., hg. v. Sheena Wagstaff und Benjamin H. D. Buchloh, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2020 [deutsche Ausgabe], S. 22–41, hier S. 33.

24 Peter Iden: „Anblicke einer verheerten Welt. Zu Gerhard Richters ‚Birkenau‘-Bildern“, in: „Mit meiner Vergangenheit lebe ich“. Memoiren von Holocaust-Überlebenden, Heft 16, hg. v. Ivan Lefkovits, mit 15 Bildern von Gerhard Richter, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2016, S. 12–19, hier S. 18. 25

Ebd., S. 14.

„Ihren“.) Bereits die Reformulierung der Wendung „dieser Zerstörung“ zeigt deutlich an, warum eine solche Gedankenbewegung problematisch sein könnte. Entsteht so nicht ein Eindruck, der auf keinen Fall entstehen darf: dass die Judenvernichtung dem „natürlich“ zu nennenden Leben und Sterben zugerechnet werden kann? (Ein gewöhn­ licher Tod?) Auch Benjamin Buchloh rutscht an zentraler Stelle in eine Rhetorik des Unabänderlichen ab und behauptet unter Verwendung mehrerer problematischer Naturvergleiche, die Farbgebung der Birkenau-Bilder („die perfide Konstellation der Komplementarität von Grün und Rot“22) würde lesbar als Verweis „auf den schier endlosen menschlichen und historischen Wiederholungszwang, auf den scheinbar unheilbaren und zugleich hilflosen Zyklus von Zerstörung und natürlichem Wachstum, von Vergessen und Erneuern, als seien dies ontologische, nicht historische Bedingungen in einer der blinden Natur verfallenen Geschichte.“23 Buchloh lässt vorsichtig erkennen – wie Didi-Huberman ein differenzierter Denker –, insbesondere durch den abstandswahrenden Konjunktiv des Verbs „sein“ („als seien dies“) und das relativierende „scheinbar“ vor der Evokation des natürlichen „Zyklus“, dass historische Bedingungen nicht der blinden Natur verfallen sind. Trotzdem: Die vage Anrufung eines Naturablaufs überwiegt. (Auch Michael Müller spielt mit den landschaftlichen Qua­ litäten des Gemalten, wenn er – direkter noch als Richter, expo­nierter – auf die Fotografie einer Pflanze verweist und die Anordnung der Farben in seinem Gemälde Birkenau in Farbe [Abb. 2] ganz direkt, ja zu direkt, verräterisch ­direkt an dieser Fotografie orientiert.) Der Schwerpunkt eines Natürlichen kann, wenn es einmal evoziert wurde, recht unproblematisch von der Seite des Verfalls zu der des Wachstums verlagert werden. Gegen Ende eines kurzen, verdichteten Essays über den Birkenau-Zyklus, der 15 von Richter mitgestalteten Memoiren von Holocaust-Überlebenden beigegeben ist, verweist Peter Iden auf eine Werkgruppe von Claude Monet, mit der er ungewollt auch verdeutlicht, was im Rahmen der Kunst alles rettungslos versenkt werden kann. Iden möchte offenbar plausibel machen, dass nur die „Umschrift, also eine Transformation, nicht die Reproduktion irgendeiner Lebenswirklichkeit“ der Kunst zu Gebote steht. „Mit den im gleichen Jahr entstandenen Seerosen in den Gärten von Giverny hat Monet über die Schrecken des Kriegsjahres 1917 konkret nichts mitgeteilt – und doch mehr vermittelt als jede Fotoreportage, indem er versucht hat, Hoffnung zu behaupten gegen die Katastrophen.“24 Was genau uns Monet vermittelt und was genau uns Richter vermittelt: Das bleibt undeutlich, allgemein, eher auf der Ebene des Gefühls. „Hoffnung“ vermittelt Monet, Richter vielleicht: „Wütende Trauer. Verzweiflung.“25 Aber vermitteln sie etwas Konkretes über den Weltkrieg, über Birkenau? Muss nicht zumindest Richter erheblich Konkreteres als Verzweiflung und Trauer vermitteln, weil er eben programmatisch – und sehr konkret – von vier ungewöhnlichen Fotografien ausgeht, die Mitglieder des „Sonderkommandos“ im Sommer 1944 unter himmelschreienden Umständen in Birkenau erkämpft haben? (Wie genau sie erkämpft werden mussten, wird unten noch zu besprechen sein, wie Richter sie transformiert hat, ebenfalls.) Richter ruft also nicht nur – was wäre daran falsch? – Gefühle und Assoziationen hervor, sondern transformiert konkrete fotografische Aufnahmen in allgemeinere, offenere Bilder. Er misst sich also – und darf daher auch gemessen werden – an anderen Bildern, er reagiert auf andere Bilder: Seine Gemälde stehen nicht (mehr) nur für sich. Monet lässt sich zugutehalten, dass er schlicht nichts zum Weltkrieg zu sagen versucht hat. (Was Iden in den Bildern sieht, das sieht er in ihnen – und er sieht: „Hoffnung“.) Richter aber wollte sich offenbar gezielt einem historischen Sachverhalt widmen, der sich metonymisch in einem einzigen anspruchsvollen Namen verdichten lässt: „Birkenau“. Wenn Richter daher im Folgenden ungewöhnlich kritisch analysiert wird (genauso wie einige hochverdiente Kommentatoren seines Werks), dann gilt es zu bedenken, dass Richter selbst sich diesen Anspruch auferlegt, dass er selbst bewusst die beträchtliche ästhetische und ethische Fallhöhe erzeugt hat. Er muss sich – wohl oder übel – nun am Anspruch der Ansichten messen lassen, die das „Sonderkommando“ im Sommer 1944 in Birkenau aufnehmen konnte. Richter provoziert den Page 27 Ernstes Spiel / Volume 4.1 / Page 659


Michael Müller, Birkenau in Farbe (Detail), 2022



Vergleich seiner Gemälde mit den historischen Fotografien, so wie Müller den Vergleich26 seiner eigenen Werke mit Richters Werken provoziert (Abb. 17–22). Es wird bei diesen Vergleichen immer wieder über „Maßstäbe“ zu sprechen sein, über das, was es heißt oder heißen kann, „gelungene“ Bilder des Grauens herzustellen, über die Frage, ob sie „schön“ oder „wahr“ oder vielleicht sogar beides zugleich sein müssen, ob es einen (gebrochenen) Maßstab gibt oder viele verschiedene Maßstäbe. Natürlich wird auch ausführlich über Birkenau selbst zu sprechen sein, über das, was in diesem Lager Tag für Tag für Tag vonstattenging, vielleicht auch über die Hoffnung 27, die sich trotz allem zu Kunstwerken ausformte, unter Umständen, die alles andere als „natürlich“ genannt werden sollten. Es mag geschmacklos sein, Rudolf Höß zu zitieren, den Kommandanten von Auschwitz-Birkenau. In dessen Erinnerungen aber häufen sich lyrische Passagen wie die folgende: „Im Frühjahr 1942 gingen Hunderte von blühenden Menschen unter den blühenden Obstbäumen des Bauerngehöftes, meist nichtsahnend, in die Gaskammern, in den Tod. Dies Bild vom Werden und Vergehen steht mir auch jetzt noch genau vor den Augen.“28 Nicht zufällig verwendet Höß hier das Wort „Bild“ für seine Distanznahme, „Vergehen“ ersetzt „Vergasen“, die „Menschen“ ähneln den „Obstbäumen“. „Wohl gewöhnte ich mich an all das Unabänderliche [sic!] im KL“, so schreibt Höß an anderer Stelle, „doch nie stumpfte ich ab gegenüber menschlicher Not.“29 Auch Lanzmann fragt in Shoah immer wieder, wie das Wetter gewesen sei. Schön sei es gewesen, sagen dann manche seiner Gesprächspartner.

2.5 „Dieselbe Bahnstrecke heute: Tageslicht und Sonne. Langsam schreitet man sie ab – auf der Suche wonach? Nach einer Spur der Leichen? Oder nach den Fußstapfen der Auswaggonierten, die man mit Kolbenstößen zum Lager trieb, unter Hundegebell, von Scheinwerfern angestrahlt, im Hintergrund den Flammenschein der Krema­torien – in einer jener nächtlichen Inszenierungen, wie sie die SS so liebte ...“30

26 Müllers direkte Reaktionen auf Richter waren vom 26. 11. 2022 bis zum 19. 3. 2023 im Museum im Kulturspeicher Würzburg zu sehen. Parallel zu dieser Einzelausstellung mit dem Titel Mögliche und unmögliche Bilder kuratierte er dort eine Gruppenausstellung, ausgehend von der hauseigenen Sammlung, mit dem Titel Die Errettung des Bösen. Diese Ausstellung war wiederum in zwei Teile geteilt: einen Teil mit dem Titel An- und abwesende Schatten und einen Teil mit dem Titel (und deshalb hier diese Fußnote): Vergleichen, > , = 27 Jizchak Katzenelson, ein Zeuge des Aufstands im Warschauer Ghetto, der später in Auschwitz ermordet wurde, verfasste während seiner Inhaftierung in Vittel einen berühmt gewordenen Großen Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk. „Sein Poem ist mit schwarzen Tränen in einen rauchschwarzen Himmel geschrieben“, so formuliert es Wolf Biermann, der deutsche Übersetzer des Gesangs. „In diesen Versen ohne alle Hoffnung schimmert eine Hoffnung nur darum, weil da ein verlorener Mensch seine Verzweiflung überhaupt noch in Worte faßte.“ Jizchak Katzenelson: Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn volk / Wolf Biermann: Großer Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994, hier S. 9.

28 Rudolf Höß: Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, hg. v. Martin Broszat, 30. Aufl., München: Dtv 2021, S. 194. Wie sehr Adolf Hitler darum bemüht war, seine Weltsicht zur „Natur“ in Beziehung zu setzen, kann in Mein Kampf nachgelesen werden, insbesondere in Bd. 1, Kap. 11: „Volk und Rasse“.

29 Ebd., S. 102. Um diesem schrecklichen „Bild“ von Höß zumindest kurz ein anderes entgegenzustellen, sei hier eine Passage aus Georges Didi-Hubermans Buch Sehen versuchen, aus dem Französischen von Horst Brühmann, Konstanz: Konstanz University Press 2017, S. 56, zitiert (ein Buch, das sich ebenfalls anteilig mit der Shoah befasst): „Ich erinnere mich plötzlich an eine einzigartige Episode im Leben Aby Warburgs […]: Im Herbst 1929 entdeckte er, daß ein Apfelbaum im Garten seines Hauses, den er längst für tot gehalten hatte, plötzlich wieder Knospen trieb. Er schrieb eine lyrische Notiz ‚zum Lobe des so spät blühenden Obstbaumes‘ in sein Tagebuch. Warburg starb am selben Tage. Er hinterließ auf seinem Schreibtisch diese denkwürdige Lektion: daß die Kunst des Gedächtnisses manchmal Knospen treibt, ja Früchte entwickelt, wo man sie am wenigsten erwartet hätte.“ 30 Aus der Tonspur zu Alain Resnais’ Film Nuit et brouillard [Nacht und Nebel], 1956, frz. Originaltext von Jean Cayrol, dt. Übertragung und Bearbeitung von Paul Celan.

3. „Komm, folge mir“: Die Messung 3.1 Am Anfang von Michael Müllers ungewöhnlicher Einzelausstellung Mögliche und unmögliche Bilder, die im Winter 2022/23 im Museum im Kulturspeicher Würzburg zu sehen war, stand eine dunkle, zerbrochene Steinplatte (ihr suggestiver Titel: Schwarze Sonne, Abb. 4), die drei Verse aus Goethes Schauspiel Iphigenie auf Tauris zitiert: „UND LASS DIR RATHEN, HABE DIE SONNE NICHT ZU LIEB UND NICHT DIE STERNE. KOMM, FOLGE MIR INS DUNKLE REICH HINAB“31 Diese Verse wurden sichtbar, sobald sich die Fahrstuhltür geöffnet hatte, die seltsamer-, passenderweise der einzige reguläre Zugang zur Ausstellung war. Die rote Nummer des Stockwerks – „2“, nach oben – fand für einige aufmerksame Gäste vielleicht sogar ein leises, unsicheres Echo in einem knallroten Feuermelder, der sich unangemessen nah an die untere Kante der Steinplatte herandrängte (Abb. 3). Kaum denkbar eigentlich, dass Müller diese Nähe nicht bewusst in Kauf genommen hat. („Scheibe einschlagen | Knopf tief drücken“.) Am Anfang stand, gebrochen, also das düstere Wort eines Meisters aus Deutschland, seiner Figur Orest überantwortet, an dessen Schwester Iphigenie gerichtet. Der Meister eines Kulturvolks spricht hier, vermittelt durch einen Griechen, in einem Stück, das paradigmatisch für die „Weimarer Klassik“ steht. Er berichtet in hohem Ton von Page 30 Ernstes Spiel / Volume 4.1 / Page 662

31 Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel, Leipzig: Georg Joachim Göschen 1787, S. 75 (dort in regulärer Groß- und Kleinschreibung, mit Apostroph in „in’s“ und einem Ausrufezeichen hinter „hinab“).


32 Nach der von Müller zitierten Passage hat Orest (der Sohn und Bruder) eine Hadesvision. Er sieht seine eigene Familie – scheinbar versöhnt, erleichtert – im Totenreich: „Ist keine Feindschaft hier mehr unter euch? | Verlosch die Rache wie das Licht der Sonne? […] Mit Fluch beladen stieg er herab. | Doch leichter träget sich hier jede Bürde“ (ebd., S. 77–78). Nur der Ahnherr seines Geschlechts, Tantalus, nur dieser muss immer noch leiden, ein ehemals enger Vertrauter der Götter, der schwer in Ungnade gefallen war: „Götter sollten nicht | Mit Menschen, wie mit ihres Gleichen, wandeln; | Das sterbliche Geschlecht ist viel zu schwach | In ungewohnter Höhe nicht zu Schwindeln“ (ebd., S. 21). 33

Arendt 1989 (wie Anm. 3), S. 21.

34

Ebd., S. 30.

35 Pavel Polian gibt „Im Herzen der Hölle“ sogar als Gesamttitel eines der zwei Konvolute von Gradowski an, zu finden in Briefe aus der Hölle. Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz, aus dem Russischen von Roman Richter, Darmstadt: WBG Theiss 2019, S. 274–365. Aurélia Kalisky erläutert jedoch in ihrer Einleitung zu einer im gleichen Jahr veröffentlichten, alternativen Übersetzung (Salmen Gradowski: Die Zertrennung. Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos, hg. v. Aurélia Kalisky, aus dem Jiddischen v. Almut Seiffert und Miriam Trinh, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2019, S. 57), dass dieser verbreitete Gesamttitel „höchstwahrscheinlich“ auf Chaim Wollnerman zurückgehe, dessen große Bedeutung für die Überlieferung der Schriften auch bei Polian ausführlich erläutert wird. 36 Viele Überlebende haben über ein starkes Gefühl der Irrealität im Lager berichtet, vermutlich, weil sich die Vorgänge dort so sehr von allem bisher Erlebten unterschieden. Vgl. hierzu bspw. Arendt 1989 (wie Anm. 3). 37 Salmen Gradowski: „[Der Weg zur Hölle]“, in: Polian (wie Anm. 35), S. 227–273, hier S. 228, 229 und 230. 38 Herman Strasfogel: „[Ein Brief aus der Hölle nach Hause]“, in: Polian (wie Anm. 35), S. 511–517, hier S. 515. 39 Es gibt zwei unterschiedliche Zählungen der Krematorien in Auschwitz-Birkenau, eine Zählung von I bis V, die das Krematorium im Stammlager Auschwitz I einbezieht, und eine Zählung von I bis IV, die nur die Krematorien in Auschwitz II/ Birkenau umfasst. Im vorliegenden Text wird die Zählung von I bis V verwendet. Das hier genannte Krematorium III ist also das zweite der vier Krematorien in Auschwitz II/Birkenau.

Abb. 3 Eingang zur Ausstellung Mögliche und unmögliche Bilder, Museum im Kulturspeicher Würzburg, 2022–23

einer Kette der Verschuldung, die eine mächtige Familie heimsucht und innerlich zerstört: von einem Vater (ein großer Heerführer), der seine Tochter zu opfern bereit war, von einer Mutter, die diesen Vater – im Glauben, die Tochter sei tot – ermordet, von einem Bruder, der diesen Vater rächt und zuletzt, erneut, von der Tochter, die ihren Bruder in einem Tempel auf Tauris zu opfern gezwungen wird.32 Sehr vieles klingt hier mit, sicher Euripides, sicher auch Dante, aber eben auch das, was nach der „Weimarer Klassik“ im deutschen Kulturvolk um sich griff. Es erübrigt sich zu betonen, was viele Menschen zuvor schon bemerkt haben: dass Buchenwald, das KZ, in nächster Nähe zu Weimar liegt. Es erübrigt sich zu betonen, dass es in Konzentrationslagern wie Buchenwald „nicht so sehr darauf ankam, den Tod sofort herbeizuführen, als das Opfer in einen permanenten Zustand des Sterbens zu versetzen“33, zum Zwecke der „Errichtung einer Welt, in der nur noch gestorben wurde, in der es keinen, aber auch gar keinen Sinn mehr gab“34, wie Hannah Arendt erklärt. Noch nicht bemerkt wurde jedoch eine andere, vermutlich zufällige Nähe, die sich zwischen dem deutschen Dichter und einer der Schriften Salmen Gradowskis ergibt, eines Zwangsarbeiters in Birkenau, der mehrere Texte heimlich im Boden vergraben und der Nachwelt so trotz allem seine Zeugnisse hinterlassen hatte. Gradowski war ein Mitglied des sogenannten „Sonderkommandos“ in Birkenau. Kurze Zeit nach der streng verbotenen Abfassung seiner Schriften wurde er ermordet. Hier spricht er nun zu uns, in einem hohen lyrischen Ton, der seine unwahrscheinliche Hervorbringung im Vernichtungslager umso wundersamer macht (und damit indirekt deutlich zeigt, dass es doch noch klare Anzeichen der Würde, vielleicht sogar Werke der hohen Kunst gegeben hat). Gradowski zeigt uns gleichsam eine Hölle auf Erden. Er befindet sich bereits – so eine mehrfach verwendete Formulierung – „im Herzen der Hölle“35. Durch diese Hölle, eine reale, eine so reale, dass sie fast unwirklich36 wirkt, durch diese Hölle führt er nun uns, die wir seine Texte zu lesen bereit sind. „Komm, stell dich hierhin, warte nicht darauf, bis die Flut vorübergerauscht ist, die Finsternis sich verflüchtigt hat und die Sonne wieder scheint.“ Oder: „Fürchte dich nicht vor den Bildern des Grauens, der Bestialität, die du wirst sehen müssen. Habe keine Angst, und ich zeige dir alles, der Reihe nach. Du wirst deine Augen nicht abwenden können von dem, was du sehen wirst […] Fasse mich an der Hand, du wirst noch Entsetzlicheres sehen.“37 Auch in einem Abschiedsbrief, den das „Sonderkommando“-Mitglied Herman Strasfogel am 6. November 1944 an seine Frau und Tochter gerichtet hat, taucht das immer ­wieder verwendete Bild der Hölle, des Infernos auf. So deutlich wie nirgendwo sonst zeigt Strasfogel hier dessen Grenzen: „Wenn ihr so wollt, ist das eine Hölle, doch ist die Hölle von Dante unwahrscheinlich lächerlich im Vergleich zur echten Hölle hier, und wir sind Augenzeugen, die nicht überleben dürfen.“38 Der Brief wurde im Februar 1945 in einem Aschehaufen aufgefunden, geschützt in einer Glasflasche, versteckt ­hinter Krematorium III.39

3.2 Hinter dem Stein mit Goethes Versen, zum Teil überdeckt, war in Würzburg ein Wandtext zu finden, der auf eines der großen Vorbilder des Weimarer Klassikers verweist: Spinoza – der Text eines sogenannten Bannfluchs, mit dem dieser unzeitgemäße Denker von seiner jüdischen Gemeinde in Amsterdam 1656 belegt worden war (Abb. 4). „Verflucht sei er am Tage und verflucht sei er bei der Nacht; verflucht sei er, wenn er sich niederlegt, und verflucht sei er, wenn er aufsteht […].“ Zu dieser enigmatischen Konstellation kam noch ein drittes Element hinzu: ein Beichtstuhl, in dem die Besucherinnen und Besucher einem Briefwechsel lauschen konnten, den Spinoza mit einem Getreidehändler namens Blyenbergh geführt hat, sicher nicht nur, aber doch vor allem über die Frage nach dem Bösen. Diese ausführliche Korrespondenz, die acht erhaltene Briefe umfasst, gehört zu den lehrreichsten Page 31 Ernstes Spiel / Volume 4.1 / Page 663


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Abb. 4 Michael Müller, Schwarze Sonne, 2007

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Dokumenten aus der Feder des Denkers. Es handelt sich um „die einzigen langen Texte […], in denen Spinoza das Problem des Bösen an sich betrachtet und Analysen und Formeln riskiert, die nicht ihresgleichen haben in seinen anderen Schriften.“40 In einer kleinen, dunklen Kammer konnte nun in Würzburg diesem Briefwechsel beigewohnt werden, konnten Bruchstücke, zufällig aufgeschnappt, jenen tiefen und bewegten Gedankenstrom andeuten, der Denkende und Nachdenkende seit Jahrhunderten gleichsam mit sich reißt, entweder diesseits oder jenseits von Gut und Böse, ­ roßen Gut und Schlecht.41 Wir konnten hören, wie beide Denker mit vielen großen, g Fragen kämpfen, mit der Frage etwa, ob das Böse vielleicht vom Ratschluss ­Gottes abgelöst, also ganz und gar den Menschen überantwortet, profaniert werden müsse, ob Gott, kurz gesagt, „als Gott, d. h. absolut, ohne ihm menschliche Attribute bei­ zulegen“, oder eher „als Richter“42, wie der ungleich schlichtere Blyenbergh meint, aufzufassen sei. Spinoza: „Es genügt uns also zu wissen, daß wir frei sind, und daß wir so seyn können, ohne daß Gottes Beschluß im Wege steht, und daß wir die Ursache des Bösen sind, weil keine Handlung anders, als nur in Rücksicht auf unsere Freiheit bös genannt werden kann.“43 Die Audiofassung des Briefwechsels überschreitet eine Länge von drei Stunden, kann also unmöglich im Ausstellungsraum in ausreichender Vollständigkeit nachvollzogen werden. Blyenbergh und Spinoza werden zudem von derselben Stimme gesprochen, verbinden sich also hier, so unterschiedlich sie denken mögen, in einem Klang. Ja, es kommt sogar noch ein dritter, anonym bleibender Denker hinzu: der Herausgeber der von Müller verwendeten Ausgabe (1919) des Briefwechsels, der sich lediglich als „Verfasser des Spinoza Redivivus und Augustinus Redivivus“ ausweist und der offenbar nie einwandfrei identifiziert werden konnte. Wie seltsam, ausgerechnet diesen Mann in den Briefwechsel störend hineinwirken zu lassen, ebenfalls gleichmütig gesprochen von derselben angenehmen Stimme (in die bei manchen längeren lateinischen Zitaten ein feiner ironischer Beiklang hineinkommt). Mit dem Gestus der Autorität kommentiert der Herausgeber nervtötend ausufernd und sehr oft eigentümlich subjektiv die Briefe Blyenberghs und Spinozas. Immer wieder verweist er dabei auf seine eigenen, anderen (anonym veröffentlichten) Bücher; in einem langen Kommentar verliert er kurzzeitig vollständig den Faden – und meint dann, in wenigen Sätzen ausreichend schlüssig „die Minderwertigkeit der jüdischen und die Höherwertigkeit der christlichen Religion dargetan“44 zu haben. Keinem, wirklich keinem Kommentar kann offenbar sorglos vertraut werden, so autoritär und ehrfurchtgebietend er zu Anfang vielleicht auch klingen mag. Wir müssen, diesseits des Schicksals, diesseits der Regeln einer Gemeinde, diesseits der alten göttlichen Gebote, diesseits der literarischen Klassiker, diesseits all dieser Autoritäten müssen wir letzten Endes doch selbst denken45 – vielleicht ist es das ja, was dieser seltsame, anonyme Herausgeber uns ungewollt mitteilen kann. Vielleicht sagt uns das ja der Beichtstuhl am Anfang der Ausstellung, der uns so einengt, vielleicht sagt uns das ja die Länge der Tonspur, das Palimpsest an Zitaten und Anspielungen. Diese geballte Last an Verweisen mag uns zwar einschüchtern, mag uns herausfordern. Aber sehen wir denn nicht auch, dass die Autorität entzweibrechen kann (Abb. 4)? Müllers Ausstellung begann also – demonstrativ heterogen – mit einer dichten und sehr voraussetzungsreichen Ansammlung von unterschiedlichen Stimmen: mit Goethe, dem Humanisten, Verehrer der Griechen, dem Weimarer Klassiker, der das Schicksal einer mächtigen, verfluchten Familie dichtend nachvollzieht; mit dem Auszug aus einem Bannfluch der jüdischen Gemeinde in Amsterdam, die einen wirklich freien Denker in ihren Reihen eben nicht dulden kann; mit der letzten Endes absurden, ebenso anregenden wie de facto unhörbaren Fassung eines Briefwechsels zwischen Spinoza und Blyenbergh.46 Die meisten werden wohl schlicht an dieser abgründigen Konstellation vorbeigegangen sein, vorbei an diesen Gedankensplittern: „KOMM, FOLGE MIR […]“. Page 34 Ernstes Spiel / Volume 4.1 / Page 666

40 Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, aus dem Französischen von Hedwig Linden, Berlin: Merve 1988, S. 43.

41 Zu den Kategorien Gut und Böse im Verhältnis zu Gut und Schlecht bei Spinoza vgl. ebd., S. 32–36 (Abschnitt 2.II).

42 Müller verwendet die folgende (ungewöhnliche und in wissenschaftlicher Hinsicht nicht zu empfehlende) Ausgabe: Der Briefwechsel Spinozas. Ein Menschenbild. Erster Teil, vom Verfasser des Spinoza Redivivus und Augustinus Redivivus, 3. Aufl., Halle: Weltphilosophischer Verlag 1919, hier S. 149.

43

Ebd., S. 151.

44

Ebd., S. 158.

45 Halten wir kurz inne und stellen die Frage, was es bedeuten könnte – wie hier so großspurig gefordert –, selbst zu denken („KOMM, FOLGE MIR“). Was kennzeichnet dieses Selbst, das denkt? – In ihrem Text „Was heißt persönliche Verantwortung unter einer Diktatur?“ stellt Hannah Arendt 1964 diese titelgebende Frage, die ausdrücklich weniger auf den direkten, offenen Widerstand gegen eine Diktatur zielt – von dem Arendt weiß, dass er oft kaum möglich war –, sondern eher auf die Option, nicht persönlich zu ihr beizutragen. Was kennzeichnet, anders gefragt, die Menschen, die nicht kollaborierten? „Die Antwort […] ist ziemlich einfach“, so behauptet Arendt mit charakteristischer Leichtfüßigkeit. „Diejenigen, die nicht teilnahmen […], waren die einzigen, die es wagten, selbst zu urteilen. […] Sie stellten sich die Frage, inwiefern sie mit sich selbst in Frieden leben könnten, wenn sie bestimmte Taten begangen hätten; und sie zogen es vor, nichts zu tun. Nicht weil dadurch die Welt sich zum Besseren verändern würde, sondern weil sie nur unter dieser Bedingung als sie selbst weiterleben konnten. Folglich wählten sie auch den Tod, wenn sie zum Mitmachen gezwungen wurden. Um es ganz kraß auszudrücken: Nicht weil sie das Gebot ‚Du sollst nicht töten‘ streng befolgt hätten, lehnten sie es ab zu morden, sondern eher deshalb, weil sie nicht willens waren, mit einem Mörder zusammenzuleben – mit ihnen selbst. Die Voraussetzung für diese Art der Urteilsbildung ist keine hoch entwickelte Intelligenz oder ein äußerst differenziertes Moralverständnis, sondern schlicht die Gewohnheit, ausdrücklich mit sich selber zusammenzuleben, das heißt, […] in jenem stillen Zwiegespräch zwischen mir und meinem Selbst zu stehen, das wir seit Sokrates und Platon gewöhnlich als Denken bezeichnen.“ – Was bleibt noch zu ergänzen? Vermutlich zunächst, dass solch eine Urteilsbildung „ein Minimum an politischer Macht voraussetzt“, wie Arendt schreibt. „Ohnmacht, absolute Machtlosigkeit ist, so glaube ich, eine stichhaltige Entschuldigung“ (die sich auf die Situation des „Sonderkommandos“ in Birkenau übertragen lässt). Und zu sagen bleibt natürlich: „Vorsicht“, auch vor Arendts Autorität. – Arendt: „Was heißt persönliche Verantwortung unter einer Diktatur?“, in: Arendt 1989 (wie Anm. 3), S. 81–97, hier S. 92–94. 46 … einem Briefwechsel, der auf der Wand des Beichtstuhls sogar mit einem weiteren Zitat aus einem weiteren, älteren Brief angereichert wurde: dem zweiten Brief des Apostels Paulus an die Thessalonicher, der über den „Sohn der Zerstörung“ spricht, der, „sich als Gott ausgebend, im Tempel Gottes sitzt“. An der Wand hing zudem ein Gemälde.


47

Höß (wie Anm. 28), S. 186.

48 Gradowski: „Im Herzen der Hölle“, in: Polian (wie Anm. 35), S. 289.

49 Zum Konzentrationslager Mittelbau-Dora vgl. die Forschungen von Jens-Christian Wagner, insbesondere sein Standardwerk Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, Göttingen: Wallstein 2001 (akt. u. erw. Neuauflage 2015).

50 François Le Lionnais: Leonardo in Dora, aus dem Französischen von Jürgen Ritte, Zürich: Diaphanes 2018, S. 12. (Der dt. Titel unterscheidet sich vom franz. Original La Peinture à Dora.)

51

52

Ebd., S. 10.

Ebd., S. 19.

53 Vgl. Harry Mathews: Der Obstgarten. Erinnerungen an Georges Perec, aus dem Amerikanischen von Uli Becker, Zürich: Diaphanes 2018, S. 9: „Ich erinnere mich, schon bevor ich ihn kennenlernte, gehört zu haben, Georges Perec lache gern. Der Mann, dem ich dann aber begegnete, war voller Verzweiflung, mochte er auch, nervös und beinahe zwanghaft, bei gesellschaftlichen Anlässen ein Wortspiel ans andere reihen. ‚Gern zu lachen‘ war seine Art, sich die Leute in aller Freundschaft vom Leib zu halten.“

3.3 „Ich stellte damals keine Überlegungen an – ich hatte den Befehl bekommen – und hatte ihn durchzuführen. Ob diese Massenvernichtung der Juden notwendig war oder nicht, darüber konnte ich mir kein Urteil erlauben, soweit konnte ich nicht sehen. Wenn der Führer selbst die ‚Endlösung der Judenfrage‘ befohlen hatte, gab es für einen alten Nationalsozialisten keine Überlegungen, noch weniger für einen SS-Führer. ‚Führer befiehl, wir folgen‘ […].“47

3.4 „Es schien, als gäbe es von nun an zwei Himmel auf der Welt: einen für alle Völker und einen für uns. Für alle anderen flackern die Sterne am Himmel, sie leuchten mit Liebe und Schönheit – für uns, für die Juden aber erlöschen die Sterne […] und stürzen herunter.“48

3.5 Am 3. November 1944 wurde François Le Lionnais (der 1960 einer der Mitbegründer der „Werkstatt für Potenzielle Literatur“, Oulipo, werden sollte) von Buchenwald in ein Konzentrationslager namens Dora49 überführt, in welchem Häftlinge in unterirdischen Tunnelsystemen unter grausamen Bedingungen an der Konstruktion von Rüstungsgütern, vor allem der berüchtigten V2-Raketen, arbeiten mussten. In seinen Erinnerungen an die Zeit in diesem verborgenen „dunklen Reich“, Erinnerungen, die er 1946 unter dem Titel La Peinture à Dora [Die Malerei in Dora] veröffentlichte, berichtet Le Lionnais, wie er einem anderen, befreundeten Gefangenen so detailgenau wie möglich bekannte Gemälde zu beschreiben versuchte, rekonstruiert aus seinem Gedächtnis, dem sich noch kleinste Details eingeprägt hatten, die einen Rest an Schönheit am Leben erhielten, auch hier, im Lager, trotz allem. „Stein um Stein erbauten wir das wunderbarste Museum der Welt. Und zogen letztlich aus jedem Werk ein einziges Detail, manchmal auch zwei hervor, die einen unendlich größeren Klang hatten, unendlich schwerer wogen und unendlich treffender waren – wahrer waren als die erbärmliche Wirklichkeit, die uns erdrückte, ohne über uns zu obsiegen. Rubens’ Kirmes oder Bauernhochzeit bescherte uns – vorne links – die kleine Eifersüchtige, aber auch – in der rechten Bildhälfte – jenen formidablen Übergang vom menschlichen Tumult zur friedvollen Melancholie der Natur. Wir stibitzten aus Jordaens’ Allegorie der Fruchtbarkeit die Trauben, entführten den kleinen Esel aus Ruisdaels Dünenlandschaft mit Eseltreiber, ließen das wundersame Tuch aus Christus in Emmaus mitgehen. Klopfenden Herzens betraten wir das Zimmer im Hintergrund der Meninas …“50 Nach der Trennung von seinem Gefährten, dem er all diese Werke vor das innere Auge gestellt hatte, unter anderem „[w]ährend der endlosen Stunden des Wartens auf dem Appellplatz“51, beginnt Le Lionnais, sich wieder seinen eigenen imaginären Gemälden zu widmen, die für Augenblicke erstrahlen, um dann für immer und ewig verschwinden zu müssen: „Wenige Wochen vor der Befreiung hatte ich genügend innere Elastizität gewonnen, um mich wieder einem meiner alten Laster hinzugeben: der mentalen Malerei. Ich bin in der Tat der Autor einer großen Anzahl von ­Gemälden, die ich mir, unfähig, sie zu malen, leider nur ausdenken konnte. […] Leider überdauern meine Gemälde in der Regel nur wenige Minuten, manchmal sind es Sekunden. […] Es löst sich alles rasch wieder auf, wie die Zeichnungen des Regens auf einer Fensterscheibe […].52

3.6 Eines der Mitglieder jener wunderbaren Werkstatt für potenzielle Literatur, die Le Lionnais 1960 mitbegründet hatte, einer der verzweifeltsten53, aber sicher auch Page 35 Ernstes Spiel / Volume 4.1 / Page 667


Fig. 19–22 Michael Müller, Possible and Impossible Pictures #I, 2022 View of the exhibition Possible and Impossible Pictures, Museum im Kulturspeicher Würzburg, 2022–23

圖19–22: 邁克爾·穆勒,《可能和不可能 的圖像#I》,2022年 《可能和不可能的圖像》, 維爾茨堡文化博物館, 2022/23年,展覽現場視圖

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(nach Gerhard Richter) Einäscherung Vergaster in den Verbrennungsgräben unter freiem Himmel vor der Gaskammer des Krematoriums V von Auschwitz, August 1944 (Negativ Nr. 277), # I, 2022

(after Gerhard Richter) Cremation of the Gassed in the Incineration Pits Outdoors in front of the Gas Chambers of Crematorium V of Auschwitz, August 1944 (Negative No. 277), # I, 2022

《(模仿格哈德·里希特)在奧斯威辛 集中營五號焚屍爐毒氣室前的焚燒壕里露天火 化被使用毒氣屠殺的囚犯的屍體, 1944年8月,(底片編號277),# I》,2022


(auf Gerhard Richter) Besetzung, Leid als blinder Fleck, WZ /GR: 937-2, 2014, # I, 2022

(on Gerhard Richter) Occupation, Suffering as Blind Spot, CR /GR: 937-2, 2014, # I, 2022

《(回應格哈德·里希特)佔據,痛苦成了盲點, WZ /GR:937-2,2014年,# I》,2022


Spiegelungen des Gleichen, WZ /GR: 937-3, 2014, # I, 2022

Mirrorings of the Same, CR /GR: 937-3, 2014, # I, 2022

《相同作品的鏡像, WZ /GR:937-3,2014年,# I》,2022


Ähnliche Bilder, WZ /GR: 937-4, 2014, # I, 2022

Similar Pictures, CR /GR: 937-4, 2014, # I, 2022

《相似的圖像, WZ /GR:937-4,2014年,# I》,2022


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