Wein und Raum

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Vorwort

Weingenuss – der Kult Seit dem Altertum nimmt der Wein in den Hochkulturen respektive im Leben der Menschen eine einzigartige Stellung ein. Sie zeichnet sich sowohl durch die Vielfältigkeit des Erzeugnisses wie auch durch eine weit darüber hinausgehende Wertvorstellung aus. Kein anderes Agrarprodukt und Genussmittel konnte jemals diesen Stellenwert erreichen. Die außergewöhnliche Wirkung, die dem Wein zugesprochen wird, besteht nur vordergründig in seinen sensorischen und berauschenden Eigenschaften. Vielmehr wird Wein mitunter als »göttliches« Getränk apostrophiert und mit einem »Mysterium« gleichgesetzt. Doch die einstmals transzendente Verbindung des Getränks Wein mit mythischen und übersinnlichen Mächten ist längst ein Relikt aus der Vergangenheit. Anstelle von Dionysos, Bacchus oder mittelalterlichen Weinheiligen weisen Beschäftigung und Umgang mit Wein heute andere Inhalte auf. Da sie aber vielfach über ökonomische Prozesse und einfache Konsumgewohnheiten hinausreichen, repräsentieren auch sie durchaus kulturelle Werte. Das Spektrum einer modernen »Weinkultur« reicht von klassischen Darstellungsformen in bildender Kunst und Musik über gelungenes Design für Ausstattung und Präsentation des Produkts Wein bis zu vielfältigen Aktivitäten, in denen Wein in folkloristischem oder festlichem Auftritt gefeiert wird. Das »Mysterium Wein« wurde somit von der »Faszination Wein« abgelöst. Derartige Veränderungen waren allerdings nur möglich, indem Wein als Konsumgut an Attraktivität gewann. Wein in der heute üblichen Bereitung und Beschaffenheit hat mit dem gleichnamigen Produkt vergangener Jahrhunderte nur noch rudimentär etwas gemein. Entscheidende Produkteigenschaften wie ein bestimmtes Maß an Bekömmlichkeit, verlässliche Qualitätsnormen und zuverlässige Herkunftsbezeichnungen sowie eine verbrauchsgerechte Angebotsgestaltung beförder-

ten in den letzten Jahrzehnten die zunehmende Popularität des Weingenusses. Weltweite Distribution und Verfügbarkeit sowie ein weitgefächertes Preisgefüge eröffneten dem »Rebensaft« nahezu alle Absatzkanäle und Marktsegmente – vom volkstümlichen Schoppenwein bis zum elitären Luxusgetränk. Unabhängig vom quantitativen Wachstum zeichneten sich in diesem Zeitraum prägnante Veränderungen bei der Güte der Erzeugnisse ab, die als Folge erheblicher Verbesserungen der Erzeugungsmethoden global zunahm. Im Weinanbau ist es vor allem die Konzentration auf bewährte und international bevorzugte Rebsorten, rationelle Bearbeitung und Ernteverfahren. Diese Grundlagen werden in der Kellerwirtschaft ergänzt durch neueste Technologie – nicht selten kombiniert mit dem Einsatz traditioneller Weinbereitung zum Beispiel im Barriqueholzfass. Ein solches stichwortartiges Profil zeitgemäßer Weinherstellung lässt sich indes nicht unisono auf die gesamte önologische Praxis übertragen. Tatsächlich führen zahlreiche Variationen erst zum eigentlichen individuellen Charakter des Erzeugnisses Wein. Die sich daraus ergebenden Differenzierungen reichen vom preiswerten, »industriell« erzeugten Produkt bis zur »handwerklich« erstellten Kreszenz als Beleg für authentische Weingewinnung. In der Tat formen spezifische Umweltfaktoren, vor allem Klima, Lage und Boden, die mit dem Fachbegriff »Terroir« umschrieben werden, die unverwechselbare Originalität eines Weines. Und gerade das Erkennen dieser Merkmale und ihres Einflusses auf das Erscheinungsbild eines Weines ist für immer mehr Menschen Anlass und Vergnügen, sich mit dem Kulturprodukt Wein zu beschäftigen. Dabei erfährt man »Kultur« übrigens in mehrfacher Weise: Zum einen in der ursprünglichsten Form als landwirtschaftliche Kultur (agricultura), aber dann vor allem in veredelter Version, und zwar als Erlebnis für die Sinne, als Stimulanz und nicht zuletzt als Medium der Geselligkeit und Kommunikation.

Somit erstreckt sich der Weinkult inzwischen auf die unterschiedlichsten Lebensbereiche. Als Begleiter zeitgemäßer Esskultur spielt er ebenso eine unverzichtbare Rolle wie als Bestandteil eines weinorientierten Tourismus, Mittelpunkt weinkultureller Events oder als Sammelobjekt, Investitionsgut und Statussymbol. Nicht zuletzt bestimmt Weinkennerschaft auch das Prestige einer Persönlichkeit, sodass die Aneignung von Weinwissen häufig zur reizvollen Nebenbeschäftigung wird. Bedeutsamstes Glied in dieser Kette vom Weinmachen zum Weingenießen ist der Anbieter. Wenn auch mit unterschiedlichen Bezeichnungen – ob Berater, Weinexperte, Verkäufer, Sommelier oder Weingastronom –, handelt es sich prinzipiell stets um die gleiche Aufgabe: mit Eloquenz, Sachverstand und Glaubwürdigkeit beim potenziellen Kunden und Gast Interesse, Zuneigung, Begeisterung zu wecken. Dass zum Funktionieren einer solchen Vermittlung das jeweilige Umfeld, Ambiente und Interieur, die Architektur und Gestaltung, der besondere Raum für das Erlebnis Wein eine wesentliche Rolle spielen, zeigen die in diesem Buch zusammengestellten Beispiele aus den unterschiedlichsten Angebots- und Vermarktungsbereichen. Für unseren ersten Band, »Wein und Architektur«, berücksichtigten wir – der spezifischen Thematik entsprechend – die verkaufsorientierte Weinpräsentation nur marginal. Da sie jedoch für den erfolgreichen Weinabsatz in Erzeugung, Handel und Gastronomie hohe Bedeutung besitzt, konzentriert sich der vorliegende Band auf die Vorstellung von exemplarischen Projekten, die jeweils typisch sind für die große Bandbreite der Weinvermarktung in Europa. In ihrer Gesamtheit vermitteln sie nicht nur interessante Anregungen für architektonische und gestalterische Lösungen, sondern reflektieren das reizvolle Panorama zeitgemäßer Weinkultur. Heinz-Gert Woschek im Juli 2014 7


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