Farbkonzepte Timo Rieke
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Aus technischer Sicht ist die Verwendung von Farbe heute keine besondere Herausforderung mehr. Während in früheren Jahrhunderten natürliche Pigmente und Bindemittel der Wahl der Farbe automatisch Grenzen gesetzt haben, erscheint die heutige Verwendung von Farbe und Material grenzenlos. Es stehen Töne aus 2000-teiligen Farbfächern zur Auswahl, und ehrgeizige Farbordnungssysteme decken möglichst das komplette Spektrum der wahrnehmbaren Farbtöne ab. Während Farbe in früheren Jahrhunderten teuer und besonders gesättigte Farben selten waren, ist sie heute ein relativ preiswertes Gestaltungsmittel und in den meisten Fällen einfach zu verarbeiten. War Farbe früher ein Teil der Natur und der Dinge, hat sie im Lauf der Jahrhunderte ihre Bindung zu Material und Oberfläche verloren und ist heute beinahe universell einsetzbar. Die Freiheit der Farbe Mit der Erfindung kostengünstiger synthetischer Farbstoffe ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der damit einhergehenden Möglichkeit, beinahe jedes Material in jeder Farbe zu gestalten, entstand erstmals auch für breite Bevölkerungsschichten die Freiheit, zu entscheiden, welche Farben für bestimmte Zwecke verwendbar sind. Aus jeder Form der Wahl ergibt sich zwangsläufig die Frage nach Verantwortung und Begründbarkeit. Wer heute mit Gestaltungsarbeiten betraut ist, steht vor der Entscheidung, entweder Farbe zu vermeiden, aus dem Gefühl heraus auszuwählen oder sie bewusst im Hinblick auf den Kontext und die Strategie einzusetzen. Die Regeln der Farbe Wenn Farbe aus technischer Sicht uni versell verwendbar ist, so bestimmt noch immer die Art und Weise der mensch lichen Wahrnehmung ihre Bedeutungs
colorierte Bleistiftzeichnung oh, mummy’ pink blanket von Anne-Lise Coste, 2003
ebenen. So lassen sich aus den Regeln der Wahrnehmung grundsätzliche Regeln zur Verwendung von Farbe herausfiltern. Farbkonzepte bestimmen also die allgemeine Verständlichkeit einer Gestaltung in Bezug zur menschlichen Wahrnehmung im persönlichen und gesellschaftlichen Bereich. Leider gibt es zur Einordnung des Begriffs »Farbkonzept« keine allgemein zugängliche oder bekannte Quelle. Farbkonzepte scheinen sich bisher einer systematischen Einordnung zu entziehen und nur einem Kreis von Profis geläufig zu sein. Dabei stellt die allgemeine Definition grundsätzlicher Regeln einen besonderen Bedarf dar. Einerseits ist die enorme Wirkung der Farbe auf die Qualität einer Gestaltung bekannt, und andererseits fehlen Begründungsstrategien zur Vermittlung qualitativ hochwertiger Farbgestaltungen. Wie also können Farbkonzepte definiert werden? Farbe als Kommunikation Im Designprozess werden Farbkonzepte meist anhand von Moodboards, Farbund Materialcollagen, stofflichen Mustern und sprachlichen Bedeutungszuweisungen sowie Modellen und dreidimen sionalen Darstellungen visualisiert. Die Basis bilden intuitive Experimente sowie empirische Untersuchungen und deren Überprüfung nach den Regeln der Wahrnehmung, der Relevanz und der emoti onalen und kulturellen Verständlichkeit im Hinblick auf Milieus und Zielgruppen. Um einen bestimmten Zweck zu erfüllen, braucht jeder Raum und jedes Objekt eine Festlegung auf Farbe und Materialität in Zusammenhang mit seiner technischen Funktion sowie seiner sensuellen Erscheinung und kulturellen Bedeutung. Farbkonzepte analysieren und erfassen diese vielfältigen Zusammenhänge, formulieren sie strategisch und verorten eine
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Gestaltung sowohl funktional als auch sensuell und kulturell. Ein Farbkonzept ist in diesem Sinn ein interdisziplinäres Kommunikationskonzept für ein Objekt, um eine nonverbale Kommunikation verständlich zu führen. Die Herstellung von Verständlichkeit setzt dabei für den Designer ein breites gesellschaftliches Wissen voraus, um sicherzugehen, dass die Kommunikation auch das erfüllt, was sie soll, nämlich einen bestimmten Raum zu öffnen, in dem sich alle Beteiligten eines definierten Kontexts verstehen. Die Aufgabe von Farbgestaltern ist es, mithilfe von Farbe, Fläche, Form und Material diese Räume, auch im übertragenen Sinn, zu füllen. Die Herausforderung eines Farbkonzepts besteht darin, alle die Sinneswahrnehmungen betreffenden Signalebenen der Farbe kontrolliert zu erfassen und in einem definierten Rahmen wirkungsorientiert anzuwenden. Die Bedeutung einer Farbe ist dabei nur durch ihre Kombination mit anderen Farben und bestimmten Materialien sowie in ihrem örtlichen und inhaltlichen Kontext zu bestimmen. In diesem Zusammenhang ist die Stimmigkeit einer farbigen Botschaft im Hinblick auf kollektive Prägungen, Sehgewohnheiten und Eigenarten der menschlichen Wahrnehmung der Startpunkt für eine Farb gestaltung. Ein Farbkonzept definiert also innerhalb einer Planungsaufgabe den Bezug des Menschen zum Planungsobjekt. Farbe in Verbindung mit der richtigen Form, dem richtigen Raum, der richtigen Belichtung, den richtigen Materialien und passenden strukturellen Anordnungen kann völlig unterschiedliche Harmonien erzeugen, einen Resonanzraum für Emotionen bilden und Spannungsfelder entstehen lassen. Farbkonzepte unterscheiden zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, 43