Redwall 1

Page 1

Brian Jacques

Der Sturm auf die Abtei

Brian Jacques

Der Sturm auf die Abtei

Übersetzt von CLAUDIA KERN

Rotwall-Abtei und Umgebung

Wiese

Wiese Graben Haupttor Strasse Sankt-NinianKirche
Bauernhof MOOSBLUMENWALD
Fluss Steinbruch

Dass es heißt, ich sei tot Ist mir einerlei.

Heut starb Martin. In Rotwall der Mäuse zwei.

Der Krieger schläft Zwischen Höhlenloch und Saal. Heut starb Martin. Meine mächt’ge Rolle ist deine Wahl. Such nach dem Schwert

Im vorbeifließenden Mondlicht, Bei Nacht, wenn der Norden sich

In des Tages erster Stunde bricht. Tritt über die Grenze Und suche, dann kannst du’s gewahren. Heut starb Martin. Mein Schwert wird euch bewahren. (Reim, der unter dem Wandteppich im Großen Saal steht)

Der Sommer der Späten Rose hatte gerade angefangen. Das Land der Moosblume schimmerte im friedlichen Dunst. Es badete in der zarten, taufrischen Morgendämmerung, erblühte in den sonnigen Mittagsstunden und verblasste in der purpurroten Dämmerung, die eine sanfte Juninacht einläutete.

Die viereckige Rotwall-Abtei stand an der alten Südgrenze. Die schattigen Tiefen des Moosblumenwalds rahmten sie an zwei Seiten ein. Die andere Hälfte der Abtei erhob sich über hügelige Wiesenflächen und ihr altes Tor befand sich in der Westmauer, direkt an einer langen, staubigen Straße.

Von oben sah sie wie ein wunderschönes, düsteres Juwel aus, das vom Himmel gefallen und in einem grünen Mantel aus heller Seide und dunklem Samt gelandet war. Die ersten Mäuse hatten die Abtei aus rotem Sandstein erbaut, der aus Steinbrüchen viele Meilen entfernt im Nordosten stammte. Das Hauptgebäude der Abtei war mit einem Efeu bewachsen, den man Selbstkletternde Jungfernrebe nannte. Wenn der Herbst kam, würden sich die Blätter in einen feuerroten Umhang verwandeln und damit dem Namen und der Legende der Rotwall-Abtei zusätzlichen Glanz verleihen.

Die Mauer

ERSTES BUCH

Matthias bot einen witzigen Anblick, als er durch die Kreuzgänge watschelte. Seine großen Sandalen klatschten auf den Boden und sein Schwanz ragte unter den Falten einer Mönchskutte hervor, die zu groß für ihn war. Er hielt inne, um einen Blick auf den wolkenlosen, blauen Himmel zu werfen, und stolperte über die riesigen Sandalen. Haselnüsse fielen aus dem Binsenkorb in seiner Hand und rollten über das Gras. Er konnte sich nicht halten und folgte ihnen mit wehender Kutte und zuckendem Schwanz. Fump!

Der kleine Mäuserich quiekte bestürzt. Er rieb sich vorsichtig die feuchte Stupsnase, dann sah er sich an, wo er gelandet war: direkt vor Abt Mortimers Füßen!

Matthias kroch sofort auf allen vieren herum, sammelte hastig die Nüsse auf und beförderte sie zurück in den Korb, während er Entschuldigungen stammelte und versuchte, dem strengen Blick des älteren Mäuserichs auszuweichen.

11 1

»Äh, tut mir leid, Vater Abt, ich bin hingefallen, wisst Ihr? Bin über meine Stolper sandalt. Oh, Moment, nein, ich meine …«

Der Abt blinzelte ihn ernst über den Rand seiner Brille hinweg an. Wieder mal Matthias. Was für ein junger Schwachkopf von einer Maus. Letztens hatte er sogar dem alten Bruder Methusalem die Schnurrhaare versengt, als er die Kerzen anzünden wollte.

Dann wurde die Miene des alten Mäuserichs sanfter. Er sah zu, wie der kleine Novize im Gras herumkroch und die glatten Haselnüsse zusammenraffte, die ihm immer wieder entglitten. Abt Mortimer schüttelte den alten grauen Kopf, konnte sich aber ein Grinsen kaum verkneifen, als er sich bückte, um beim Aufsammeln der Nüsse zu helfen.

»Ach Matthias, Matthias, mein Sohn«, sagte er müde. »Wann wirst du das Leben endlich langsamer angehen, damit du würdig und bescheiden vorankommst? Wie willst du es schaffen, als eine Maus von Rotwall aufgenommen zu werden, wenn du ständig herumläufst und von den Schnurrhaaren bis zur Schwanzspitze grinst wie ein verrückter Hase?«

Matthias warf die letzten Haselnüsse in den Korb und stand mit seinen großen Sandalen ungeschickt auf. Er wusste nicht, wie er das aussprechen sollte, was er im Herzen fühlte.

Der Abt legte dem jungen Mäuserich eine Pfote auf die Schulter. Er wusste, wonach der Novize sich sehnte, denn er herrschte bereits seit vielen Jahren weise über Rotwall und hatte viel über das Mäuseleben gelernt. Er lächelte Matthias an. »Begleite mich. Es ist Zeit, dass wir uns einmal unterhalten.«

12

Eine neugierige Drossel, die auf einem knorrigen Birnbaum hockte, sah zu, wie die beiden Gestalten langsam in Richtung des Großen Saals gingen. Eine Maus trug die dunkle grünbraune Ordenskutte, die andere die hellgrüne eines Novizen. Sie sprachen leise und ernsthaft miteinander. Die Drossel, die sich sehr schlau vorkam, flog hinab zu dem Korb, der noch im Gras stand. Mist! In dem Korb lagen nur harte Nüsse, die noch in ihrer Schale steckten. Die Drossel tat so, als würde sie sich nicht dafür interessieren, damit die anderen Vögel ihren peinlichen Irrtum nicht bemerkten. Sie pfiff ein paar Takte ihres melodischen Sommerlieds und schlenderte dann gelassen zu den Klostermauern, um sich auf die Suche nach Schnecken zu begeben.

Im Großen Saal war es kühl. Sonnenlicht fiel in regenbogenfarbenen Strahlen durch die hohen, schmalen Buntglasfenster. Eine Million farbiger Staubkörner tanzten und wirbelten umher, als die beiden Mäuse über den uralten Steinboden trotteten. Der Abt blieb vor einer Wand stehen, die mit einem langen Wandteppich behangen war. Dies war Rotwalls ganzer Stolz. Der älteste Teil des Teppichs war von den Gründern der Abtei gewoben worden, aber alle darauffolgenden Generationen hatten ihm etwas hinzugefügt. Daher handelte es sich bei diesem Wandteppich nicht nur um einen unbezahlbaren Schatz, sondern auch um eine wunderbare Chronik der frühen Rotwall-Geschichte.

Der weise Abt betrachtete den staunenden Matthias, als er ihm eine Frage stellte, deren Antwort er bereits kannte. »Was siehst du dir da an, mein Sohn?«

13

Matthias zeigte auf die Figur, die in den Teppich hineingewoben worden war: ein heldenhaft aussehender Mäuserich mit einem furchtlosen Lächeln auf dem anmutigen Gesicht. Er trug eine Rüstung und stützte sich lässig auf ein beeindruckendes Schwert, während hinter ihm Füchse, Wildkatzen und Ungeziefer entsetzt flohen. Der junge Mäuserich betrachtete die Figur bewundernd. »Ach, Vater Abt«, seufzte er. »Wenn ich doch nur wie Martin der Krieger wäre. Er war die tapferste, mutigste Maus aller Zeiten!«

Der Abt setzte sich langsam auf den kühlen Steinboden und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.

»Hör mir zu, Matthias. Du bist wie ein Sohn für mich, seit du als arme Waisenmaus vor unseren Toren aufgetaucht bist und um Einlass gebeten hast. Komm, setz dich zu mir. Dann werde ich dir erklären, worum es unserem Orden geht.

Wir sind Mäuse des Friedens. Ach, ich weiß, dass Martin ein Mausekrieger war, aber das war in der wilden, alten Zeit, als man noch Stärke brauchte. Die Stärke eines Helden, so wie Martin. Er traf im tiefsten Winter hier ein, als die Gründer von Füchsen, Ungeziefer und einer großen Wildkatze belagert wurden. Martin war ein so wilder Kämpfer, dass er sich den Feinden allein stellte und sie davonjagte, weit weg von Moosblume. Während dieses Rückzugs stellte sich Martin seinen zahlenmäßig weit überlegenen Feinden zum Kampf. Er erschlug die Wildkatze mit seinem uralten Schwert, das im ganzen Land berühmt wurde, und trug den Sieg davon. Doch bei der letzten blutigen Konfrontation wurde Martin schwer verletzt. Er lag verwundet im Schnee, bis die Mäuse

14

ihn fanden. Sie brachten ihn in die Abtei und pflegten ihn, bis er seine Kraft zurückerlangte.

Dann schien etwas über ihn zu kommen. Er wurde durch etwas, das man nur als Mauswunder bezeichnen kann, verwandelt. Martin ließ den Weg des Kriegers hinter sich und legte sein Schwert ab.

Da fand unser Orden seine wahre Berufung. Alle Mäuse schworen, niemals einem anderen Lebewesen Schaden zuzufügen, solange es sich nicht um einen Feind handelte, der dem Orden Gewalt antun wollte. Sie schworen, die Kranken zu heilen, die Verwundeten zu pflegen und den Armen und Verzweifelten zu helfen. So wurde es niedergeschrieben und so ist es seitdem durch alle Mäusezeitalter geblieben. Heute werden wir von allen geehrt und respektiert. Sogar außerhalb von Moosblume werden wir von allen Tieren zuvorkommend behandelt und selbst Raubtiere lassen alle Mäuse in Ruhe, die unsere Ordenskutte tragen. Sie wissen, dass diese Mäuse sie heilen und ihnen helfen werden. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass Rotwall-Mäuse überall hingehen können, in jedes Territorium, ohne Übergriffe befürchten zu müssen. Diesem Ruf müssen wir immer gerecht werden. Das ist unser Weg und unsere Lebensweise.« Während dieser Rede war die Stimme des Abts immer lauter und würdevoller geworden. Matthias erwiderte seinen strengen Blick voller Bescheidenheit. Abt Mortimer stand auf und legte ihm eine faltige alte Pfote auf den kleinen Kopf, genau zwischen die samtweichen Ohren, die nun beschämt herabhingen.

15

Doch der kleine Mäuserich erwärmte erneut das Herz des Abts. »Armer Matthias, deine Wünsche sind vergebens. Die Zeit des Kriegers ist vorüber. Wir leben in friedlichen Zeiten, dem Himmel sei Dank. Es reicht, wenn du mir, deinem Abt, gehorchst, und tust, was man dir sagt. Irgendwann einmal, wenn ich mich längst zur Ruhe gebettet habe, wirst du an diesen Tag zurückdenken und mich segnen, denn dann wirst du ein wahres Mitglied von Rotwall sein. Komm jetzt, junger Freund, Kopf hoch. Es ist der Sommer der Späten Rose. Viele, viele warme Sonnentage liegen vor uns. Geh und hol deinen Haselnusskorb. Heute feiern wir ein großes Fest – mein goldenes Jubiläum als Abt. Wenn du die Nüsse in der Küche abgegeben hast, musst du noch eine ganz besondere Aufgabe erfüllen. Ja, wirklich, denn ich brauche frischen Fisch für das Abendessen. Hol deine Angel und die Schnur. Sag Bruder Alf, dass er dich mit dem kleinen Boot rausfahren soll. So etwas machen junge Mäuse doch gern, oder? Wer weiß, vielleicht fängst du eine leckere Forelle oder ein paar Stichlinge. Lauf, kleiner Mäuserich.«

Matthias strahlte von den Schnurrhaaren bis zur Schwanzspitze, als er sich rasch verbeugte und davonschlurfte. Der Abt sah ihm freundlich hinterher. Kleiner Schlingel. Er würde den Verwalter fragen, ob er nicht Sandalen in Matthias’ Größe hatte. Kein Wunder, dass der arme Mäuserich ständig stolperte.

16
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.