Lieber König Harrow, ich hoffe, du machst dir nicht zu viele Sorgen um Ezran und mich. Eine Ewigkeit scheint vergangen zu sein, seit wir von zu Hause weg sind, dabei ist es erst eine Woche her. Wir mussten verschwinden, denn wir haben etwas gefunden, von dem die Welt geglaubt hatte, es wäre vernichtet: das Ei des Drachenprinzen! Ich hab versucht, dir davon zu erzählen, aber Lord Viren hat mich daran gehindert, deine Gemächer zu betreten. Also haben Ezran und ich beschlossen, durch die Welt zu reisen, nach Xadia, und das Ei seiner Mutter zurückzubringen. Beut haben wir bei uns, falls du nach ihm suchst. Wir hoffen, dass wir den Krieg aufhalten können, wenn die Drachenkönigin ihr Ei von Menschen zurückbekommt.





Es ist ein Wahnsinnsabenteuer. Ich lerne sogar, wie man zaubert! Seltsamerweise bin ich irgendwie sogar gut darin. Und es fühlt sich gut an, endlich mal gut in etwas zu sein. Seltsam gut.
Auf unserer Reise haben wir einen Haufen Überraschungen erlebt. Nichts lief, wie wir es geplant hatten. Während der letzten Woche haben wir in Wäldern geschlafen, wurden vom Banther-Landsitz gejagt und sind mit einem Ruderboot die Stromschnellen hinuntergesaust. Unten angekommen, griff uns ein Seemonster an: Es fand wohl, Beut wäre der perfekte Snack! Der hat das zwar alles gut überstanden, aber er hatte so große Angst, dass ich ein paar ganz neue Farbtöne bei ihm gesehen hab.
Während eines gewaltigen Schneesturms lag das Ei ein paar Minuten lang in einem zugefrorenen See, und wir dachten schon, alles sei verloren … Doch dann ist etwas Unglaubliches passiert. Wir haben es geschafft, das Ei bis auf die Verfluchte Caldera zu schleppen, wo wir ein paar gute Hinweise bekommen haben, und … Ich will es kurz machen. Die Schale ist aufgebrochen, und wir haben nun noch jemanden, um den wir uns kümmern können: Der Drachenprinz ist hier! Er ist das mächtigste Geschöpf auf der Welt, und er ist wohl das süßeste Wesen, das ich je gesehen hab.
Diese Reise ist nicht immer leicht – tatsächlich ist sie wohl das Schwerste, was ich je gemacht habe. Aber wir müssen sie nicht allein durchstehen. Wir reisen mit einer neuen Freundin: Rayla,
ein Mondschatten-Elfenmädchen. Es stimmt nichts von dem, was ich so über Elfen gedacht hab. Rayla ist liebenswürdig und gut. Sie ist furchtlos, schnell und stark …
Aber ich will nicht weiter von ihr schreiben, denn ich muss dir noch etwas sagen. Ezran meint immer wieder, dass du dich bestimmt freuen würdest, wenn ich dich „Papa“ nenne. Ich weiß, du bist nicht mein erster Vater, mein Vater-Vater … Den gibt es nicht mehr. Aber vielleicht hat Ezran recht, und du wärst hiermit einverstanden? Lass mich meinen Brief also noch einmal beginnen.
Lieber Papa, ich liebe und vermisse dich. Ezran und ich werden gut aufeinander aufpassen, bis wir dich wiedersehen.
Dein Callum»Alle kommen, Essen fassen!«
Callum spitzte die Ohren. In seinem Magen, wo Nahrung hätte sein sollen, herrschte quälende Leere. Lujanne schien eine Ewigkeit gebraucht zu haben, um das Frühstück zu machen. War sie nicht eine Magierin? Hätte sich nicht einfach etwas heraufbeschwören können?




Er eilte zu dem langen Holztisch hinüber, der auf der Lichtung stand, nahm Platz und sah sich auf der Caldera nach Rayla um. Es war immer noch ein komisches Gefühl, mit einem Mondschatten-Elfen befreundet zu sein, insbesondere mit einer Attentäterin, die geschickt worden war, um seinen kleinen Bruder umzubringen. Doch Ezran und er – die beiden Prinzen von Katolis – waren noch am Leben, und nun gehörte Rayla zu seinen besten Freunden aller Zeiten. Er sah sie allerdings nirgends. Vielleicht schlief sie ausnahmsweise mal aus.
»Morgen, Callum«, sagte Ezran, der nach ihm eintraf. »Junge, hab ich Hunger. Aber ich glaub, Beut hat sogar noch größeren Hunger.« Ezran deutete auf die Leuchtkröte zu seinen Füßen.

Callum schaute Beut an. Die Fähigkeit seines kleinen Bruders, wahrzunehmen, was in Tieren vorging, war immer wieder erstaunlich. Gewöhnlich konnte zwar auch Callum selbst Beuts Stimmung an seiner gegenwärtigen Färbung ablesen, aber die war immer noch gelb mit blaugrünen Sprenkeln – Beut war so grantig wie eh und je (alle, die Beut besser kannten, wussten natürlich, dass sich hinter seiner Fassade des »Griesgrams« Loyalität, Mut und sogar eine mürrische Art von Liebe verbargen).
»Ach, seine Haut hat ihn nicht verraten«, meinte Ezran. »Und auf Leuchtkrötisch hat er’s mir auch nicht gesagt, sondern in der Sprache, die alle verstehen – mit einem Magenknurren!« Ezran kicherte. »Aber ich glaub, Zym hat von allen den größten Hunger.«
Azymondias, der Drachenprinz, den sie alle »Zym« nannten, kam zu Ezran und Callum herübergetollt. Vor einer Woche hatte dieser hinreißende, welpenhafte Drache mit den langen Wimpern und dem sanften Herzen noch in einem Ei gesteckt. Und nun war er geschlüpft und bei bester Gesundheit! Es war etwas schwer zu glauben, dass es Zyms Bestimmung sein sollte, zu einem mächtigen, epischen Erzdrachen heranzuwachsen. Callum tätschelte ihm den Kopf, und Zym fing sofort an, an seinen Fingern zu knabbern.
»Geduld, Kumpel«, sagte Callum. »Frühstück kommt gleich.«
»Brr! Ava! Komm zurück, Mädchen!«
Eine riesige Wölfin kam auf die Lichtung geprescht, gefolgt von Ellis. Ellis war das mutige Mädchen, das sie auf die Verfluchte Caldera geführt hatte, auf der Suche nach der Mondmagierin Lujanne. Die hatte vor Jahren Ellis’ Haustier geheilt, die Wölfin Ava. Sie war riesig, aber dennoch so zahm (und so flauschig) wie ein Kätzchen. Infolge einer alten Verletzung fehlte ihr ein Bein, aber sie schien es weder zu bemerken noch
sich etwas daraus zu machen. Sie schleckte Zym längs über die Wange.
Callum seufzte. Sie hatten Glück gehabt, auf ihrer Reise so viele neue Leute und Wesen kennenzulernen. Schließlich wäre Zym vielleicht nie ausgeschlüpft, wären sie nicht Ellis, Ava und Lujanne begegnet.
Doch Callum hatte noch einen Grund, sich glücklich zu schätzen: Er würde gleich das verlockendste Festmahl verzehren dürfen, das er je gesehen hatte.
»Elfen und Menschen hierher.« Lujanne zeigte auf den geschmückten Tisch. »Alle mit drei oder mehr Beinen können sich da drüben hinsetzen, bei Phö-Phö.« Sie deutete auf eine Lichtung in der Nähe, wo ihr Haustier, der riesige Mondphönix, stand. Phö-Phö bewachte vier große Schalen mit ihren ausgebreiteten Federn, doch Callum konnte erkennen, dass sie randvoll mit wimmelnden Wurmdingern waren. Ava, Zym und Beut hüpften zu ihr hinüber und stürzten sich sofort auf das Futter.
»Du hast dein Haustier ›Phö-Phö‹ genannt?«, fragte Ellis Lujanne mit ihrer piepsigen Stimme.
»Sie ist ein Mond-Phönix«, sagte Lujanne. »Ihr Name ist die Abkürzung von Phönix-Phönix.«
Phö-Phö krächzte und schlug mit ihren strahlend blauen Schwingen, als sie ihren Namen hörte.
»Können wir probieren, was wir wollen?« Callum blickte gierig zu einem Schokoladenkuchen mit Glasur hinüber. Ezran hatte sich bereits an einer Platte voller Kekse bedient, aber Callum wollte nicht unhöflich sein.
»Natürlich, mein Lieber«, sagte Lujanne. »Bedient euch einfach.«
»Du hast das beste Essen hier oben«, meinte Ezran mit vollem Mund, Kekse in beiden Händen. »Was ist dein Geheimnis?«
»Nun ja …«, fing Lujanne an. Sie tippte sich mit einem langen, formschönen Fingernagel gegen die gebräunte Wange. Ihr Mundwinkel zuckte. »Mein Geheimnis ist, dass das alles nicht echt ist.« Sie lächelte.
»Nicht echt?«, fragte Callum. »Wie meinst du das?« Er hatte die Zähne in eine knusprige geschichtete Pastete geschlagen. Nichts hatte je flockiger, buttriger, ergötzlicher geschmeckt als dieser delikate Turm der Verzückung.
»Du weißt schon, nicht echt eben«, sagte sie. »Es sind köstliche Illusionen.«
Callum nickte kauend, obwohl er keine Ahnung hatte, wovon Lujanne redete.
»Eigentlich esst ihr gerade Raupen.« Lujanne lächelte süß.
Callum hielt mitten im Bissen inne. Dann legte er die exquisite Leckerei, die er in Händen hielt, zurück auf den Tisch. Er versuchte, sich auf das Gefühl zu konzentrieren, wie das Essen im Mund schmolz, das flockige Glück, doch nun, da er wusste, dass es sich um einen Zauber handelte, nahm er allmählich die sich windenden Larven wahr, die offenbar von einer Illusion getarnt gewesen waren.
»Oh, du meinst bestimmt ›wie die Raupen‹?«, fragte Ezran und strich sich ein paar lange dunkle Locken aus den Augen. »Wie in: ›Guck mal, die fressen ja wie die Raupen!‹«
Callum warf Ezran einen Seitenblick zu. Sein kleiner Bruder aß immer noch mit Genuss. Er wollte ihm erklären, dass es beim Wort Raupen kein kulturelles Missverständnis geben konnte, aber ihm war zu übel.
Callum blickte zum Haustierbereich hinüber, wo die vier Tiere die Schnauzen in wuselnden Larven vergraben hatten. Callum konnte nur hoffen, dass Ezran den letzten Bissen noch hinunterschluckte, ehe er der unerfreulichen Wahrheit gewahr wurde.
»Äh … nein«, sagte Lujanne. »Siehst du, was Phö-Phö da frisst?«
»Die Schale Würmer da?«, fragte Ezran vorsichtig.
»Das sind Raupen«, sagte Lujanne. »Technisch gesehen keine Würmer, sondern Insektenlarven. Extrem nahrhaft!«
Ezran hielt sich den Bauch. In seiner Nähe kaute Ellis weiterhin auf etwas herum, das wie ein Stück BlaubeerenSchokoladen-Kuchen aussah.
»Ist mir egal«, meinte Ellis. »Würmer. Fliegen. Der Müll von gestern. Dieser Illusionskuchen ist der beste, den ich je hatte.« Sie schnitt sich noch eine Scheibe ab, während Ezran sich leise ins Gras übergab.
»Hallo, alle zusammen!« Rayla sprang von einer Erhöhung herunter und winkte mit beiden Armen.
Rayla! Callum stand auf, denn er wollte dringend die ganze Raupensache hinter sich lassen.
»Na, du hast ja gute Laune«, sagte Ellis zu Rayla.
»Schon ein schönes Gefühl, wieder zwei funktionierende Hände zu haben.« Rayla wackelte vor Aufregung mit den spitzen Ohren. Dann fiel ihr Blick auf Ava mit ihren drei Beinen, und sie wirkte ein wenig verlegen. »Äh, nichts für ungut, Ava.« Aber Ava hechelte nur glücklich und kehrte zu ihren Raupen zurück.
»Wisst ihr was, Leute? Ich kann wieder mit beiden Schwertern schritzen und schratzen.« Rayla schwang sich auf einen zerklüfteten Felsen und wirbelte ausgelassen ihre beiden Klingen herum. Dann ließ sie sie rasch wieder einfahren.
»Außerdem kann ich klatschen, Handstand machen – und diese eine Pose, die man macht, wenn man ’ne tolle Nummer gezeigt hat.« Rayla klatschte, warf sich in einen perfekten Handstand und endete formvollendet auf den Füßen, beide Arme emporgereckt.
»Das ist so toll, Rayla!«, rief Ezran aus.
Callum war erleichtert, dass ihre Hand wieder ganz geheilt war. Noch vor wenigen Tagen war sie auf verstörende Weise
dunkelpurpurfarben gewesen, eingeschnürt von dem Band am Handgelenk. Rayla hatte sich magisch verpflichtet, den Menschenprinzen umzubringen, Ezran. Da hatten sie sich natürlich noch nicht gekannt. Als Rayla beschlossen hatte, dass sie ihrer Attentäterpflicht nicht nachkommen würde, war die unzerstörbare Bindung immer straffer geworden, bis es so ausgesehen hatte, als würde die Hand demnächst abfallen. Doch der kleine Drache Zym hatte das Problem gelöst, indem er das Band einfach mit seinen Babyzähnen durchgenagt hatte! Leicht für ihn, aber für jeden ein wahres Wunder, der kein legendärer Drache war.
»Und wie geht es euch allen?«, fragte Rayla und hielt sich die nun gesunde Hand ans Ohr.
Es erklang ein Chor aus enthusiastischen Antworten.
»Freut mich, dass es allen gut geht!« Sie blickte sich schelmisch um. Dann wandelte sich ihre Stimme von verspielt zu todernst. »Wir müssen nämlich los.«
»Was? Warum?«, fragte Callum. »Wir sind doch gerade erst beim Mondnexus angekommen.«
Alle anderen ächzten zustimmend. Callum hatte geglaubt, das Drachenei gerettet und ausgebrütet zu haben, würde ihm wenigstens drei oder vier Tage voller Ruhe und Entspannung einbringen.
Doch Rayla beachtete das Gejammer nicht weiter. »Gefahr ist auf dem Weg zu uns, das weiß ich«, erklärte sie. »Je länger wir hier bleiben, desto höher ist das Risiko. Ich will euch keine Angst machen, ich bin nur realistisch.«
»Sie hat recht«, sagte Lujanne. »In der Nacht, da der Drachenprinz geboren wurde, habe ich gespürt, dass etwas nicht stimmt.« Sie schüttelte den Kopf. »Diese seltsamen violetten Irrlichter in jener Nacht wurden von dem neugeborenen Drachen angezogen. Hübsch waren sie ja, aber es steckten dunkle Mächte dahinter, die euch nun wahrscheinlich verfolgen.«
»Niemand mag dunkle Mächte! Und darum …« Rayla schwang beide Hände in Richtung des Rückwegs, um zu signalisieren, dass sie aufbrechen mussten.
»Du lässt keine Gelegenheit mehr aus, deine zwei Hände zu nutzen, was?«, fragte Ezran.
Callum lächelte. Sein kleiner Bruder hatte den Sinn für Humor von seiner Mutter geerbt. Ihre Witze waren oft von einem ermutigenden Lächeln begleitet gewesen, wie nun auch Ezrans.
»Darauf kannst du Gift nehmen«, sagte Rayla. »Außerdem haben wir eine kostbare Fracht abzuliefern. Ein Krieg zieht herauf, wie die Welt ihn noch nicht gesehen hat, es sei denn, wir bringen den Babydrachen heim zu seiner Mutter.«
»Aber Zym … ist doch noch so klein«, meinte Ezran. »Er muss erst lernen, wie man fliegt.«
»Ez hat recht.« Auch Callum war abgeneigt, die relative Sicherheit des Mondnexus zu verlassen, solange Zym noch so verletzlich war. Außerdem hoffte er, dass er hier ein wenig Mondmagie lernen konnte.
»Ezran, du scheinst eine besondere Verbindung zu dem Drachenjungen zu haben«, sagte Lujanne nachdenklich. »Vielleicht könntest du ihm das Fliegen beibringen?«
»Ich?«, fragte Ezran. »Aber ich weiß doch auch nicht, wie man fliegt.«
Callum nickte seinem kleinen Bruder aufmunternd zu. Sicher war Ezran der Richtige für die Aufgabe, auch wenn ihm die Flügel fehlten.
»Ich kann’s ja mal versuchen«, sagte Ezran schließlich.
»Schön«, meinte Callum. »Wir werden als Gruppe stärker sein, wenn Zym fliegen kann. Und noch stärker, wenn ich mehr Magie beherrsche. Vielleicht könntest du mir ein bisschen Mondmagie beibringen, Lujanne?«
»Ich kann dir ein paar Sachen zeigen.«
»Ääähm, Lujanne, ich dachte, du wärst auf meiner Seite«, sagte Rayla. »Dunkle Kräfte, violette Irrlichter, weißt du noch?«
Lujanne zuckte unverbindlich mit den Schultern.
»Noch ein paar Tage, Rayla – um mehr bitten wir ja nicht«, flehte Callum. »Ich hab meinem Stiefvater einen Brief geschrieben, um ihn in allem auf den neuesten Stand zu bringen. Ich glaub, es gibt eine echte Chance, dass er uns Hilfe schickt, wenn er kann. Das sollten wir noch abwarten.«
»Ein Brief an deinen Stiefvater?«, fragte Rayla. »Den … König?«
»Ja, das habe ich gesagt.« Callum fiel auf, dass Rayla blasser war als sonst. Sie konnte sicher auch eine Pause vertragen.
»Na schön«, gab Rayla nach. »Wir bleiben einen zusätzlichen Tag – einen! Aber ich meine das ernst mit der Gefahr. Ich geh weiter auf Patrouille. Und alle anderen halten die Stellung und bleiben wachsam.« Sie blickte sie der Reihe nach eindringlich an. Schließlich kam sie bei Zym an. »Abgesehen von dir. Du hältst keine Stellung, sondern siehst zu, dass du in die Luft kommst!« Sie flatterte mit den Händen, als wären es Flügel, und der Babydrache schien zur Antwort zu lächeln.
Callum war froh, dass Rayla weiter auf Streife gehen würde, um sie zu beschützen. Noch froher war er jedoch, dass er nun vielleicht genug Zeit haben würde, ein bisschen Mondmagie zu lernen.
Kapitel 2
Die Bresche




Gren wird die Prinzen finden und beschützen. Das muss er einfach.
Dieser eine Gedanke ging General Amaya durch den Kopf, als sie in aller Eile von Katolis in Richtung Bresche aufbrach. Sie hatte ihren treuen Dolmetscher Commander Gren mit der Sicherheit der Prinzen betrauen müssen. Denn ohne ihre Führung würde die Bresche, der geheime Zugang zu den magischen Landen Xadias, angreifbar werden.
Sie grub ihrem Pferd die Fersen in die Flanken, bis der Rhythmus der Hufe auf dem Boden beinahe so schnell hämmerte wie ihr Herzschlag. Die Bresche zu beschützen, war eine gewaltige Verantwortung. Vor Jahrhunderten, nachdem alle Menschen aus Xadia vertrieben worden waren, war der Kontinent wortwörtlich zweigeteilt worden: Die großen Drachen hatten eine tiefe Furche in die Erde gebrannt und sie mit einem Strom aus geschmolzener Lava gefüllt. Die Menschen hatten jedoch eine Entdeckung gemacht: Unter einem monumentalen

Lavafall sprang eine schmale Felskante vor und bildete einen tückischen Pfad über den geschmolzenen Fluss hinweg – eine einzigartige, geheime Verbindung mit Xadia! Die Bresche war ein streng gehütetes Geheimnis des Königreichs Katolis, und Menschen kontrollierten Außenposten auf beiden Seiten des Übergangs. Es war von kritischer Bedeutung, dass Elfen und Drachen niemals von diesem Geheimweg erfuhren, der die Kluft im Kontinent überwand.
Amaya verlangsamte ihr Pferd, als sie der Bresche näher kam. Um den Außenposten auf der Xadianer Seite zu erreichen, musste sie diesen Pfad nehmen, der in der Felswand selbst verborgen lag.
Als sie ihn erreichte, war der Himmel stockdunkel, und man konnte kaum glauben, dass Morgen war. Vorsichtig ritt sie vorwärts und suchte die Landschaft nach allem ab, was womöglich nicht stimmte.
Amaya war taub geboren, hatte jedoch gelernt, in Situationen wie diesen mit ihren Augen zu hören. Sie nahm jedes Detail und jede Bewegung in sich auf, und seien sie noch so klein. Ihr Geist konstruierte eine perfekt detailgetreue Karte von allem vor und hinter ihr – und natürlich in jede andere Richtung –, sodass sie Veränderungen oder Variationen sofort bemerkte.
Sie brachte ihr Pferd dazu, sich einmal im Kreis zu drehen, und hielt Ausschau nach allem, was wichtig sein konnte. Dabei sah sie sich vor, dem Dampf aus dem Weg zu gehen, der immer wieder aus Ritzen im Boden hervorschoss. Waren die Ohren ihres Pferdes soeben nach links gezuckt?
Amaya ließ ihren Blick in diese Richtung schnellen und ritt langsam auf einen großen Schlot zu. Viel Dampf drang nicht aus dem Loch hervor, gemessen an seiner Größe. Sie stieg ab und beugte sich nach vorn, um es sich genauer anzusehen. Das ist eigenartig …
Plötzlich spürte sie hinter sich Vibrationen im Boden. Das waren eindeutig nicht die Hufe ihres Pferdes. Sofort sprang sie ab und wirbelte herum: Drei Gestalten waren ihr den Pfad entlang gefolgt. Alle drei trugen feuerrote Rüstungen, die ihre mahagonifarbene Haut betonten. Amaya erkannte sie sofort.
Sonnenfeuer-Elfen.
Die Krieger hoben ihre Schwerter und stürmten auf die Generalin zu.
Sie waren feurige, entschlossene Elfen, und es stand drei gegen eins, doch Amaya, mit ihrer Stärke, ihrer Erfahrung und dem mächtigen Schild, übertraf sie alle drei. Einen nach den anderen trieb sie zum Rand des Wegs, bis er schreiend in die feurigen Fluten hinabstürzte.
Außer Atem, aber auf der Hut, blickte Amaya auf. Anscheinend war sie noch nicht fertig.
Ein Stück entfernt stand eine Kriegerin mit einem goldenen Kopfschmuck, und ihre Rüstung funkelte im Feuerschein. Das goldgelbe Gesicht ließ ihre dunkelbraunen Augen deutlich hervortreten. Grimmig blickte sie Amaya entgegen, eine Hand auf dem Schwert, stand jedoch reglos da, ruhig und selbstbewusst. Amaya war sicher, dass sie zu den Sonnenfeuer-Rittern gehörte, den besten Kämpfern Xadias. Sie spürte einen kurzen Anflug der Einschüchterung, doch dann machte sie sich bereit für den Kampf.
Sie blickten einander in die Augen. Dann, mit langsamer, ruhiger Hand, griff die Ritterin nach ihrem Schwert, das in einer Scheide voller Runen steckte. Amaya presste die Zähne aufeinander: Die Waffe hatte eine jener glühenden Sonnenschmieden-Klingen. Es war eine der seltensten Waffen auf der Welt, und ihre Hitze allein konnte einen umbringen.
Plötzlich kam es Amaya so vor, als würden die Ritterin und sie einander schon seit Stunden taxieren – es war Zeit, zur Tat zu schreiten.
»AAAAAAAAAH!«, schrie sie, senkte den Kopf und griff die Ritterin an.
Die beiden Kriegerinnen prallten aufeinander. Die Sonnenschmieden-Klinge schnitt durch Amayas Schwert wie durch Butter und schlug die Klinge entzwei. Amaya würde sich nun auf ihren Schild verlassen müssen.
Die Ritterin attackierte Amaya mehrmals und schwang dabei ihr schweres Schwert mit Leichtigkeit. Die Generalin wich jedem der gefährlichen Hiebe aus, doch die Klinge leuchtete in einem so hellen Orange, dass es sie beinahe blind machte. Einmal traf sie auf den Schild und hinterließ eine schwelende Scharte.
Das Selbstvertrauen der Sonnenfeuer-Ritterin schien mit jedem Schlag zu wachsen. Doch wer sich unverwundbar fühlte, vernachlässigte manchmal seine anderen Sinne – ein Fehler, den Amaya selbst niemals begehen würde.
Deine Klinge mag unbezwingbar sein, dachte Amaya, während sie den Schwingern auswich. Doch du bist es nicht. Sieh zu und lerne.
Sie wartete auf den richtigen Moment, bis sie ein wenig Abstand zu der Ritterin hatte. Dann warf sie sich in die Brust und winkte ihre Gegnerin zu sich.
Die Ritterin biss auch tatsächlich an. Als sie heranstürmte, war Amaya bereit: Sie verpasste ihr einen Seitwärtstritt in den Torso, der sie zurückschleuderte. Die Ritterin landete auf dem Rücken und kam eine Handbreit von der Lava entfernt rutschend zum Liegen.
Es war immerhin ein kleiner Triumph. Doch Amaya wusste, dass sie mit ihren Waffen der SonnenschmiedenKlinge nicht ewig würde standhalten können. Sie nutzte die Gelegenheit, sprang auf ihr Pferd und ritt auf demselben Weg zurück, auf dem sie gekommen war.
»Drachen!«, sagte Viren und rammte die Fäuste auf den Schlachtplanungstisch. »Die Bedrohung durch Xadia wächst jeden Tag. Wacht endlich auf!«

Es war früher Morgen, aber er war schon seit Stunden wach und überlegte sich Strategien, tat etwas für die Zukunft des Königreiches. Ein paar der anderen Ratsmitglieder rieben sich noch den Schlaf aus den Augen.
Viren, der Hochmagier, hatte diese Ratssitzung im Thronsaal einberufen, um die nächsten Schritte für das Königreich Katolis zu besprechen. Die Prinzen waren beide verschwunden; der Thron war verwaist, und es gab keinen klaren Nachfolger. Der Rat würde ihn anhören. Er würde ihnen allen klarmachen, dass der Anschlag auf König Harrow nur der erste Vorfall war und sicher ein ausgewachsener Krieg daraus hervorgehen würde.
»Es wurden beängstigende Schatten in den Wolken gesichtet, hoch über den Städten und Dörfern von Katolis – Kriegsdrachen!«
Ein skeptisches Ratsmitglied machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nun aber mal langsam – Kriegsdrachen? Woher wollt Ihr wissen, dass das ›Kriegs‹-Drachen waren und nicht einfach … Ihr wisst schon, gewöhnliche Drachen?«
Viren lachte verächtlich. Man musste schon arg ignorant sein, um eine solche Frage zu stellen. Er blickte die anderen Ratsmitglieder an und schüttelte den Kopf, ein Versuch, sie auf seine Seite zu ziehen.
»Gigantische zerstörerische Bestien ziehen ihre Kreise am Rande unseres Königreichs«, sagte er. »Das sind nicht unsere Freunde. Es wäre naiv, dem keine Beachtung zu schenken. Sie bereiten sich auf einen Schlag vor. Wir müssen zur Tat schreiten!«
Mit finsterer Miene nahm er das Getuschel zur Kenntnis, das jetzt unter den Ratsmitgliedern ausbrach.
»Nein, wir sollten warten«, sagte Hochklerikerin Opeli schließlich. »Xadia hat Attentäter geschickt, und sie haben dem König das Leben genommen.«
»Ja«, rief Viren aus. Das war doch genau sein Punkt. Wollte Opeli herumsitzen und warten, bis sie wieder angegriffen würden?
»Und nun müssen wir Xadia eine machtvolle Antwort bieten.«
»Aber es hat seitdem nicht das kleinste Gefecht gegeben«, sagte Opeli. »Vielleicht war es das ja mit dem Attentat. Sie hatten ihre Rache, und es wird nun einfach … Frieden einkehren. Alles, was wir jetzt tun, könnte die Eskalation einer Lage bedeuten, die sich eigentlich gerade entspannt.«
»Frieden?!«, sagte Viren höhnisch. »Begreift Ihr denn nicht, in welcher Gefahr wir schweben? Generalin Amaya hat berichtet, dass sich Elfenkräfte auf der Xadianer Seite der Bresche sammeln. Wir müssen uns auf Kämpfe einstellen, und alleine werden wir sie nicht zurückschlagen können.« Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Ich kann nur hoffen, dass ich nicht allein mit meiner Ansicht bin: Wir müssen einen Gipfel der Pentarchie einberufen.« Wenn dieser Konflikt eskalierte, das wusste Viren, war von kritischer Bedeutung, dass die Menschenkönigreiche mit vereinter Kraft agierten. Er blickte sich unter den Ratsmitgliedern um und versuchte in ihren Mienen zu lesen.
Opeli bot ihm wie gewöhnlich die Stirn.
»Ihr überschreitet Eure Befugnisse, Lord Viren«, sagte sie. »Nur ein König oder eine Königin kann ein Gipfeltreffen einberufen. Offen gesagt bezweifle ich, dass die anderen Herrscher auch nur einen Blick auf ein Schreiben werden, das nicht das Siegel des Königs trägt.« Sie verschränkte die Arme.
»Aber das hier ist eine Krise von historischem Ausmaß!«, schrie Viren. Wieso verstand Opeli die Bedrohlichkeit der Lage nur nicht? »Die Menschheit sieht womöglich der Auslöschung
entgegen, wenn wir nicht gemeinsam mit den anderen vier Königreichen etwas tun!«
»Nichts von alledem spielt eine Rolle, solange wir keinen König haben.« Opeli lehnte sich vor und starrte ihn an, bis er den Blick abwenden musste. »Und darum ist unsere oberste –die einzige – Priorität, die Prinzen zu finden. Bis dahin sind uns die Hände gebunden.«
Ein weiteres skeptisches Ratsmitglied grinste, einer Ansicht mit Opeli. Ein anderes gähnte.
»Es scheint, der Rat ist noch uneins«, sagte Viren, »und vielleicht nicht alarmiert genug, um diese Entscheidung zu treffen.« Er warf dem Gähner einen anklagenden Blick zu. »Der Rat wird wieder zusammentreffen, wenn alle ordentlich auf diese Diskussion vorbereitet sind.«
Er verließ den Saal, ehe jemand protestieren konnte. Was die Prinzen anging, war er anderer Ansicht als Opeli. Seine Hände waren in ihrer Abwesenheit nicht gebunden – ganz im Gegenteil. Doch ein gutes Argument hatte Opeli vorgebracht: Die Aufmerksamkeit der anderen vier Königreiche ließe sich nur mit Briefen erringen, die das Königssiegel trugen.
Viren schritt über den Schlosshof hinweg und stieg die Treppe zu König Harrows Gemächern hinauf. Oben angekommen, schauderte er unwillkürlich: Pfeile, von Elfen wie von Königswachen, staken aus der Tür. Die Wände waren mit getrocknetem, verkrustetem Blut überzogen. Einen Moment lang durchlebte er erneut die Nacht der letzten Schlacht, hörte wieder die Schreie und das Chaos. Er schüttelte den Kopf, um die Traumbilder zu vertreiben. Dann betrat er das Schlafzimmer des Königs.
Zwar hatte jemand versucht, im Turm aufzuräumen, doch das Schlafzimmer des Königs war unberührt geblieben. Das Bett war ungemacht. Harrows Habseligkeiten waren zerbrochen und lagen überall verstreut. Ein Pfeil ragte aus dem
gesprungenen Ziffernblatt einer großen Pendeluhr, die stehen geblieben war und noch immer die Zeit des Angriffs zeigte. Die Balkontür stand ein Stück weit offen, und die Vorhänge flatterten sanft in der Brise. In der Ecke saß Pip, der Singvogel des Königs, still in seinem Käfig.
»Freut mich, dass du den Angriff überlebt hast«, sagte Viren zu dem Vogel. Pip gab keine Antwort.
Viren legte sich eine Hand vor den Mund, um einen Schluchzer zu ersticken – und sank auf das ungemachte Bett. Ich vermisse dich bereits so sehr, mein lieber Freund …
Er strich über das weiche Bettzeug, um sich zu beruhigen, doch seine Hand blieb an einem harten Gegenstand hängen: ein kleines Gemälde in einem Rahmen. Er hob es hoch und betrachtete es: Es handelte sich um ein Porträt der königlichen Familie mit Harrow, Königin Sarai, dem jungen Callum und Ezran, noch ein Säugling. Dieses Bild hatte sicher zu dem Letzten gehört, was der König gesehen hatte, bevor die Attentäter gekommen waren.
Viren spürte einen Schmerz in der Brust: ein Gemisch aus Kummer, Reue, Schuld und Verlust. Er kämpfte die Emotionen jedoch nieder, ehe sie so stark anwachsen konnten, dass er die Kontrolle über sie verlor. Er war nicht aus sentimentalen Gründen hier.
Er legte das Porträt wieder aufs Bett. Dann trat er an Harrows Schreibtisch und zog am Griff der mittleren Holzschublade, aus der er den König eine Million Mal Papier und Feder hatte hervorholen sehen.
»Verschlossen«, murmelte Viren. Er schüttelte den letzten Rest Schuldgefühl ab und sprach einen einfachen Zauber. Augenblicklich schoss die Schublade heraus, und Viren sah das königliche Siegel, das neben einem Ball aus rotem Wachs auf einem Stapel Papier lag. Viren steckte alles ein, was er benötigte, und verließ das Gemach.