Redwall 3

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Brian Jacques Die Rache des Fuchses

Die heiße Mittagssonne brannte unerbittlich auf Orlando die Axt herab.

Der gewaltige Dachs marschierte über die weitläufige Westebene. Die Schönheit des blütenreichen Graslands, dessen Grün sich in Gold verwandelt hatte, interessierte ihn nicht.

Orlando die Axt folgte dem Fuchs.

Der Dachs wischte sich mit der großen, staubigen Pfote über die Augen. Sonnenlicht brach sich in der riesigen zweischneidigen Kriegsaxt, die auf seiner Schulter ruhte. Sein Zuhause lag geplündert hinter ihm. Es gab dort nichts mehr außer Verwüstung und Einsamkeit.

Orlando die Axt folgte dem Fuchs.

Vor zwei Sonnenaufgängen war er dem seltsamen Fuchs und seiner Bande begegnet. Sie waren ihm aus dem Weg gegangen, während er in den Hügeln am Fuß der Berge nach Nahrung und den kleinen Felspflanzen gesucht hatte, die

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PROLOG

seine Tochter Auma so gern mochte. Orlando fürchtete sich vor keinem Tier. Er war an dem Fuchs vorbeigegangen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, dass sich seine Spur bis zu seinem Bau zurückverfolgen ließ. Am nächsten Morgen war er beladen mit Nahrung und Felsblumen nach Hause gekommen. Auma war weg gewesen, der Bau zertrümmert und geplündert.

Orlando die Axt folgte dem Fuchs.

Vor drei Wintern war seine Frau Grimnase gestorben und seitdem zog er ihre kleine Tochter allein auf. Orlando liebte nichts so sehr wie Auma. Er hatte ihr die Jahreszeiten beigebracht, ihr die Ebenen und die Berge gezeigt. Nun hatte er diese Ebenen und Berge hinter sich gelassen. Nur noch ein Gedanke trieb ihn an: Er musste seine Tochter finden und die Kreatur, die sie entführt hatte.

Orlando die Axt folgte dem Fuchs.

Der Dachs schritt über das weite Land. In seinem breiten Brustkorb baute sich ein tiefes Knurren auf, ein schrecklicher Laut, der zu einem heulenden, wütenden Gebrüll anschwoll. Es hallte von den Bergen auf der anderen Seite der sonnendurchfluteten Ebene wider, als er die Kriegsaxt mit einer Pfote hochhob und die Augen zusammenkniff, bis sie zu blutunterlaufenen Schlitzen wurden, durch die sich die Welt vor ihm rot färbte.

Orlando die Axt folgte dem Fuchs.

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ERSTES BUCH Slagar der Grausame

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Aus dem Tagebuch von John Kirchenmaus, Historiker und Chronist der Rotwall-Abtei im Moosblumenland.

Der längste Tag dieser Jahreszeit, des Sommers der Goldenen Ebene, steht kurz bevor. Heute nahm ich mein Buch und die Feder, um etwas zu schreiben. In meinem ruhigen kleinen Arbeitszimmer war es kühl und dunkel. Mit rastlosem Geist setzte ich mich hin, nahm die Feder in die Pfote und lauschte dem fröhlichen Treiben in den sonnendurchfluteten Kreuzgängen unserer Abtei. Ich konnte die Einsamkeit nicht länger ertragen, die ausgelassene Stimmung da draußen zog mich an, doch ich durfte meine Pflichten als Chronist nicht vernachlässigen. Also ging ich mit Buch und Feder nach draußen und dann die Treppe hinauf bis zur Krone der Außenmauer, direkt oberhalb des Kriegerhäuschens, das als Torhaus an der Schwelle der Rotwall-Abtei fungiert. Was für ein wunderschöner Tag! Der Himmel war in diesem Sommer ganz besonders blau und es ließ sich keine einzige

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Wolke blicken. Bienen summten träge unter dem heißen Blick der Sonne, während Grashüpfer ununterbrochen zirpten und sägten. Im Westen erstreckten sich die weiten Ebenen in der Hitze wabernd bis zum Horizont. Bedeckt wurden sie von einem atemberaubenden Teppich aus Butterblumen und Löwenzahn und dazwischen einigen Schlüsselblumen. Wir hatten noch nie so viele gelbe Blüten gesehen. Abt Mordalfus nannte die Jahreszeit den Sommer der Goldenen Ebene. Was für eine kluge Wahl. Ich sah, wie er am Glockenturm mit hochgekrempelten Ärmeln um die Ecke kam. Keuchend half er jungen Waldbewohnern beim Aufstellen der Sitzbänke für das große Fest. Dies war die achte Jahreszeit des Friedens und des Überflusses seit den Kriegen.

Otter schwammen träge im Teich der Abtei und rupften essbare Wasserpflanzen aus dem Boden (aber hauptsächlich spielten sie und tollten herum. Ihr wisst ja, wie Otter sind.) Kleine Igel und Maulwürfe hielten sich im östlichen Obstgarten auf. Ich hörte sie singen, während sie reifende Beeren und die ersten Zwetschgen sammelten, ebenso Birnen, Pflaumen und Äpfel, die ihnen Eichhörnchen aus den Bäumen zuwarfen. Hübsche kleine Mausemädchen und junge Wühlmäuse kicherten und lachten. Sie sollten Blumen für die Tischdekoration pflücken, flochten aber auch Kränze aus den Blüten, die sie wie einen Hut aufsetzten. Spatzen flogen hin und wieder an meinem Kopf vorbei. Sie trugen Nahrung im Schnabel, die sie gefunden oder gefangen hatten (allerdings würden wohl nur Vögel und keine anderen Tiere einige der fragwürdigen Dinge essen, die ein Spatz entdeckt). Der Steigerwurf und seine Mannschaft würden

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bald eintreffen und die Backgrube ausheben. In der Zwischenzeit ging das geschäftige Treiben unter mir weiter und hinter der Abtei erhob sich unser geliebter alter Moosblumenwald. Er ragte grün und gelassen empor. Keine Brise rauschte durch das dichte Laub. Eichen, Eschen, Ulmen, Buchen, Eiben, Ahorn, Hornbäume, Tannen und Weiden rahmten mit ihren hell- und dunkelgrünen Blättern und Nadeln den Norden und den Osten unserer Abtei schützend ein.

Nur zwei Tage noch bis zu den alljährlichen Festivitäten. Ich bin so aufgeregt wie ein junger Waldbewohner! Doch als Historiker und Chronist kann ich nicht einfach meine Kutte zusammenraffen und mich ins Getümmel stürzen. Ich werde also meine Schreibarbeiten so schnell wie möglich beenden und dann vielleicht zu einigen der Ältesten im Keller gehen.

Ich weiß, dass sie das eingelagerte Oktoberbier und den Brombeerwein probieren, nur um zu gewährleisten, dass Geschmack und Temperatur annehmbar sind. Das gilt besonders für den Holunderbeerenwein vom letzten Herbst. Ihr wisst natürlich, dass ich das nur tue, um einige alte Freunde zu unterstützen.

(Chronist der Rotwall-Abtei, ehemals aus Sankt Ninian)

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Die Strahlen der Nachmittagssonne fielen durch die Lücken in den Wänden und des Dachs der Sankt-NinianKirchenruine auf das Unkraut und die Dornen, die zerbrochene, morsche Sitzbänke überwucherten. Eine kleine Wolke aus Mücken löste sich rasch auf, als Slagar an ihr vorbeiging. Durch die zerbrochene Tür warf der Fuchs einen Blick auf den gewundenen, staubigen Pfad, der scheinbar ziellos in Richtung Süden bis zum Waldrand verlief.

Slagar beobachtete den Pfad schweigend. Sein Atem klang rau unter der purpurroten, mit einem Diamantmuster versehenen Schädelmaske, die seinen ganzen Kopf bedeckte. Wenn er etwas sagte, klang seine Stimme heiser und krächzend, als hätte er einst eine schreckliche Verletzung an der Kehle davongetragen.

»Da kommen sie. Öffnet rasch die Seitentür!«

Ein langer, bunter Karren mit einer regenbogenfarbenen Abdeckung wurde von einem Dutzend abgerissener, an die

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Deichsel geketteter Tiere in die Kirche gezogen. Ein Hermelin saß auf der Kutscherbank. Mit einer langen, dünnen Weidenrute schlug es brutal auf die Ziehenden ein.

»Los! Hängt euch rein, meine Kleinen!«

Dem Karren folgte eine Mischung aus Gesindel und Taugenichtsen: Hermeline, Frettchen und Wiesel. Sie waren ebenso gekleidet wie ihre Kameraden, die mit Slagar auf sie warteten. Sie trugen breite Schärpen, in denen rostige Dolche, Metalldornen oder Messer steckten. Einige hatten einen Speer dabei oder eine seltsam aussehende Axt mit nur einer Klinge.

Slagar der Grausame trieb sie zur Eile an. »Na los, schwingt die Pfoten und schließt die Tür!«

Der Kutscher sprang vom Karren. »Sie sind alle hier, Slagar«, meldete er, »nur der Otter nicht. Der war zu schwach, um mitzuhalten, deshalb haben wir ihn erledigt, in den Graben geworfen und mit Farnen bedeckt. Um den Rest werden sich die Insekten und Würmer kümmern.«

Der Fuchs schnaubte mürrisch unter seiner Maske.

»Hauptsache, ihr wurdet von niemandem gesehen. Neuigkeiten verbreiten sich in Moosblume schnell. Wir müssen uns verstecken, bis Fitch zurückkommt.«

Die zwölf an die Deichsel geketteten Gefangenen, Mäuse, Eichhörnchen, ein paar kleine Igel und eine junge Dächsin, waren ausgemergelt.

Ein junges Eichhörnchen, das gerade einmal ein paar Jahreszeiten alt war, stöhnte mitleiderregend. »Wasser, bitte gebt mir Wasser.«

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Das Hermelin, das als Kutscher fungiert hatte, schlug mit seiner Weidenrute brutal auf das arme Eichhörnchen ein.

»Wasser? Ich geb dir Wasser, du kleine Kröte. Aber erst mal kriegst du meinen Stock zu spüren!«

Slagar trat auf das Ende der Rute und verhinderte so, dass das Hermelin noch einmal zuschlagen konnte. »Halbschwanz, du Idiot, willst du Sklaven, die man verkaufen kann, oder einen Haufen totes Fleisch? Benutz deinen Verstand, Hermelin. Gib dem Vieh was zu trinken. Hier, Schring, gib allen was zu trinken und ein paar Wurzeln oder Blätter zu essen, sonst können wir nichts mit ihnen anfangen.«

Das Frettchen namens Schring lief sofort los, um Slagars Befehl auszuführen.

Halbschwanz zog an der Weidenrute, aber Slagar trat nur noch fester zu, sodass er sie nicht befreien konnte.

»Halbschwanz, mein Freund, ich glaub, du wirst langsam taub. Hatte ich dir nicht befohlen, mit dem Karren im Wald zu bleiben?«

Halbschwanz ließ die Rute los. »Ja, und das hab ich auch gemacht, wann immer es ging«, sagte er aufgebracht. »Aber habt Ihr schon mal versucht, ’nen Karren und zwölf Sklaven durch diesen Wald da draußen zu ziehen?«

Slagar der Grausame hob die Weidenrute auf. Die Maske straffte sich an seinem Kinn, als er scharf einatmete. »Du vergisst dich, Hermelin. Ich muss keinen Karren durch den Wald ziehen. Ich bin hier der Chef. Als ich mir eben den Pfad angesehen habe, seid ihr rotzfrech in der Mitte gefahren, als hättet ihr nichts zu befürchten. Und das am helllichten Tag.

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Weißt du nicht, dass ein Wächter von der Spitze der RotwallAbtei eure Staubwolke hätte sehen können?«

Halbschwanz erkannte die Warnzeichen nicht. »Is doch egal.« Er zuckte mit den Schultern. »Hat ja keiner was gemerkt.«

Slagar schwang wütend die Rute und Halbschwanz schrie vor Schmerzen. Er duckte sich neben den Karren, konnte aber den Schlägen, die auf seinen Kopf, die Schultern und den Rücken einprasselten, nicht entgehen.

»Das ist nicht egal, Schleimhirn. Und es ist auch nicht egal, dass du mir widersprichst. Ich bin hier der Anführer. Wenn du das nicht kapierst, zieh ich dir die Haut ab!« Slagars Krächzen nahm mit jedem Schlag der Weidenrute zu.

»Waaah, Gnade, au, auauau! Bitte hört auf! Nicht noch mehr, Chef!«

Slagar brach die Rute in der Mitte durch und warf sie dem Hermelin verächtlich an den mit Beulen übersäten Kopf. »Ha, du hörst ja auf einmal besser. Hol dir eine neue Weidenrute. Die hier ist abgenutzt.«

Der maskierte Fuchs fuhr zu seinen Sklavenhändlern herum. Sie saßen schweigend und eingeschüchtert da. Der Seidenstoff spannte sich über seinem Gesicht, als er sich vorbeugte. »Das gilt für euch alle. Wer mir den Plan ruiniert, wird sich wünschen, er hätte sich das Leben mit der eigenen

Pfote genommen, wenn ich mit ihm fertig bin. Ist das klar?«

Alle murmelten zustimmend.

Slagar kletterte auf einen morschen Fensterrahmen. Er warf einen Blick in Richtung der Rotwall-Abtei. »Schring,

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bring mir was Vernünftiges zu essen und einen Krug Wein aus dem Karren«, befahl er.

Das unterwürfige Frettchen lief sofort los.

»Dreiklaue, du stellst dich draußen hin, wenn es dunkel wird. Warte, bis Fitch zurückkommt.«

Das Wiesel salutierte. »Jawohl, Chef.«

Der goldene Nachmittag verging friedlich. Ab und zu tanzte ein kleiner Staubwirbel in der Hitze über dem Pfad.

Slagar strich mit der Pfote sanft über die Seidenmaske mit dem Harlekinmuster. Er lächelte darunter, während der Plan, mit dem er sich an Rotwall rächen würde, langsam in seinem verdorbenen Verstand kreiste.

Schon seit Langem trieb ihn Rache an. Manchmal genoss er sogar die brennenden Lanzen des Schmerzes, die durch sein Gesicht zuckten, denn er wusste, dass sich der Tag näherte, an dem die bezahlen würden, die er für seine Verletzungen verantwortlich machte.

Ein Käfer kroch aus dem morschen Holz des Fensterrahmens. Slagar der Grausame spießte ihn sauber mit einer Kralle auf und sah zu, wie sich das Insekt im Todeskampf wand. »Rotwall, haahaahaa!» Das Gelächter des Fuchses ließ alle Anwesenden erschaudern.

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»Mattimeo, Mattimeo!«

Kornblume knetete geistesabwesend ihre Pfoten. Sie ließ einen letzten Blick durch das Höhlenloch schweifen, dann lief sie die Treppe zum Großen Saal hinauf. Es war ruhig und kühl im größten Raum der Abtei. Sonnenlicht fiel durch die Buntglasscheiben und tauchte den alten Steinfußboden in die Farben des Regenbogens.

Die Maus ging hastig nach draußen und murmelte dabei leise: »Wo ist der kleine Knirps denn jetzt schon wieder hin? Ach, Matti, wegen dir bekomme ich noch graues Fell.«

John Kirchenmaus kam gerade recht steif und mit Buch und Feder in den Pfoten die Treppe zur Westmauer hinunter. Er wäre beinahe mit Kornblume zusammengestoßen, die gerade um die Ecke bog.

»Guten Tag, meine Liebe. Meine Güte, du hast es aber eilig.«

Kornblume setzte sich auf die unterste Stufe und seufzte schwer. Sie strich sich mit einer Pfote über die Schnurrhaare.

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»Eilig ist noch geschönt, John. Ich suche schon seit einer Stunde nach meinem Sohn. Hast du ihn zufällig gesehen?«

Der gütige Chronist tätschelte Kornblume die Pfote. »Schon gut, mach dir keine Sorgen. Dein kleiner Matti spielt bestimmt mit meinem Tim und meiner Tess. Die kleinen Schlingel sollten eigentlich Bruder Rufus helfen, die Platzkarten für den Tisch zu schreiben. Ah, da ist er ja. Hallo, Rufus, hast du Tim, Tess oder den jungen Matti gesehen?«

Bruder Rufus kam kopfschüttelnd näher. Er wedelte anklagend mit einer Rolle Birkenrindenpergament. »Ruiniert!«, stieß er hervor. »Seht euch mal die Liste an, die sie hätten schreiben sollen. Die kann ich doch nicht als Platzkarten benutzen. Seht, Abt Mordalfus mit Doppel-B, Basil Hirsch Hase ist ja eigentlich nicht so schwer, oder? Oh nein, sie haben Basil ›Bassil‹ geschrieben und anstatt Hirsch ›Hirse‹!«

John Kirchenmaus zog ein Taschentuch aus der Jacke. Er schnäuzte sich laut die Nase, um den Lachkrampf, der ihn durchschüttelte, zu überspielen. »Hm, ja, ahaha. Entschuldigung, aber das kann meine Tess nicht gewesen ein. Sie kann ziemlich gut schreiben.«

Bruder Rufus rollte das Pergament fest zusammen. »Das ist der kleine Mattimeo. Er stiftet die anderen an. Ich weiß, dass du das nicht hören möchtest, Kornblume, Gnädigste, aber es ist die Wahrheit!« Er war so frustriert, dass seine Stimme schrill klang.

Kornblume nickte traurig. »Ja, da muss ich dir leider zustimmen, Bruder Rufus. Matti wird zu einem echten Problem.

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Ich wage es nicht, seinem Vater auch nur die Hälfte der Sachen zu erzählen, die er anstellt.«

John Kirchenmaus sah sie über den Rand seiner quadratischen Brillengläser mitfühlend an. »Vielleicht solltet du das besser, wenn du mir diese Worte erlaubst. Der kleine Matti wird irgendwann anfangen müssen, erwachsen zu werden, wenn er je der Krieger von Rotwall werden will, so wie sein Vater Matthias. Mattimeo muss langsam aufhören, sich wie ein verzogenes Balg zu benehmen, und Verantwortung für sich übernehmen. Entschuldige meine Offenheit.«

Kornblume stand auf. »Ich weiß genau, was du meinst, aber vielleicht behandeln wir Matti unfair. Schließlich muss er als Sohn von Rotwalls Krieger großen Erwartungen gerecht werden. Außerdem wird er seit seiner Geburt von fast allen Waldbewohnern, die in diesen Mauern leben, verwöhnt.«

John und Rufus nickten zustimmend. Die peinliche Stille, die daraufhin eintrat, wurde von einer Gruppe kleiner Tiere unterbrochen. Der junge Maulwurf an ihrer Spitze winkte hektisch mit seinen Grabklauen. »Kimmt schnell, Mause, beeilt euch. De kleene Matti bringt de Fitch um!«

Obwohl das kleine Tier den ungewöhnlichen und komplizierten Maulwurfdialekt sprach, verstanden alle sofort, wie dringend die Angelegenheit war.

»Wo? Wo?«, riefen sie. »Bring uns schnell hin!«

Die Gruppe lief um den Südgiebel der Abtei herum und nahm eine Abkürzung zur Ostseite.

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Kornblume hob ihren Rock hoch und entging nur knapp dem Zusammenstoß mit einem Igelkind. Bruder Rufus lief voran.

Jess Eichhörnchen traf als Erstes am Tatort ein. Sie hatte mit ihrem Sohn Sam in einem Apfelbaum im Obstgarten gesessen, als sie beide auf einmal Schreie hörten. Schnell wie ein Vogel schwang sich Jess von Ast zu Ast, dann sprang sie zu Boden und versuchte, die beiden Tiere, die sich ineinander verkeilt durchs Gras rollten, zu trennen. Sie traten, spuckten und bissen, als wären sie von Sinnen. Sam ließ sich fallen, um seiner Mutter beizustehen. Sie packten jeder ein Tier und zogen sie auseinander. Als sie das geschafft hatten, traf die Menge ein.

Mattimeo keuchte schwer. Er versuchte, sich zu befreien, aber Jess schüttelte ihn am Genick. »Bleib ruhig, du kleiner Raufbold, sonst zieh ich dir die Ohren lang«, warnte sie ihn.

Sam hielt den anderen Mäuserich fest. Fitch war zwar klein, erinnerte aber an eine Ratte. Er wehrte sich nicht, sondern schien erleichtert über das Ende des Kampfes zu sein.

John Kirchenmaus trat energisch zwischen die beiden. »Was ist denn hier los, hm?«

»Er hat mich eine magere kleine Ratte genannt.«

»Er hat gesagt, ich sei kein Sohn eines Kriegers.«

»Er hat mich am Schwanz gezogen und angesprungen und gebissen und …«

»Ruhe!«

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Alle Tiere erstarrten, als sie das donnernde Knurren der riesigen grauen Dächsin hörten. Konstanze, die Mutter von ganz Rotwall, stellte sich auf die Hinterläufe, sodass sie alle überragte. Sie faltete bedächtig die Vorderpfoten und musterte die beiden kleinen Übeltäter. »Fitch heißt du, richtig? Also, Fitch, du bist zwar neu in unserer Abtei, aber das entschuldigt die Prügelei nicht. Wir Tiere in Rotwall sind friedliebend. Gewalt ist nie die Lösung für einen Streit. Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«

Der rattenartige Mäuserich wischte sich einen Blutstropfen von der Schnauze. »Mattimeo hat angefangen«, wimmerte er kläglich. »Er hat einfach zugeschlagen, obwohl ich gar nichts gemacht hatte. Ich hab nur …«

Fitchs gestammelte Entschuldigungen endeten in einem Winseln, denn er brachte unter dem strengen Blick der Dächsin kein Wort mehr heraus. Sie richtete ihre Tatze auf ihn. »Geh in die Küche. Sag Bruder Hugo, dass ich dich geschickt habe. Du wirst für ihn den Boden schrubben und die Pfannen auskratzen. Ich erlaube keine Kämpfe in der Abtei, auch kein Quengeln, kein Winseln und keine Schuldzuweisungen. Bruder Rufus, geh mit ihm in die Küche, damit er meine Nachricht auch richtig weitergibt.«

Fitch schien sich verdrücken zu wollen, aber Bruder Rufus packte ihn am Ohr und führte ihn ab. »Komm, kleiner Fitch, fettige Pfannen säubern und den Boden schrubben wird dir guttun.«

»Auauau, lass los, du brutaler Kerl«, protestierte Fitch. »Du reißt mir das Ohr ab!«

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Als Fitch weg war, wandte sich Konstanze dem anderen Übeltäter zu. Jess hatte Mattimeo losgelassen. Er stand beschämt da, trat nach einem Dreckklumpen und betrachtete mit gesenktem Kopf seine Pfoten. Er sah nicht, dass seine Mutter und Konstanze einander zunickten. Kornblume gab der Dächsin schweigend ihre Erlaubnis. Mattimeo würde sich eine Standpauke anhören müssen.

»Sohn von Matthias dem Krieger, sieh mich an!«, befahl Konstanze.

Der junge Mäuserich hob kleinlaut den Blick, bis er Konstanze in die dunklen Augen, die nicht zu blinzeln schienen, sehen konnte. Die Zuschauer schwiegen, während die Matriarchin dem jungen Mäuserich ein paar passende Worte sagte.

»Mattimeo, ich muss nicht zum ersten Mal mit dir reden. Ich werde dich nicht um eine Erklärung bitten, weil ich nicht glaube, dass du dich in diesem Fall rechtfertigen kannst. Fitch ist neu hier und gerade erst eingetroffen. Du bist in Rotwall geboren und kennst die Regeln unserer Abtei. Wir leben friedlich mit anderen zusammen, fügen keinem Tier unnötigen Schaden zu, trösten und helfen allen und sind stets gütig.«

Mattimeos Lippe zitterte, als wollte er etwas sagen, aber der strenge Blick der Dächsin brachte ihn zum Schweigen.

»Heute hast du entschieden, ein anderes Tier, einen Gast in unserem Zuhause, anzugreifen«, fuhr Konstanze anklagend fort. »Du, der Sohn meines alten Freundes Matthias der Krieger, der um den Frieden in Moosblume gekämpft

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hat. Mattimeo, ich werde dich nicht mit Aufgaben bestrafen. Die Sorgen, die du deiner Mutter bereitest, und die Schande, die du über deinen Vater bringst, sind die Strafen, die du dir selbst aufgehalst hast. Geh jetzt und sprich mit deinem Vater.«

Mattimeo schlurfte mit gesenktem Kopf davon.

Tess, Tim und Sam Eichhörnchen schwiegen. Sie wussten, dass alles, was Konstanze gesagt hatte, stimmte. Mattimeos zweiter Vorname hätte Ärger lauten sollen.

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