Expose_Taschenlampe_Chryssopoulos

Page 1

Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

MIT EINEM KOPF VOLL WÖRTER DURCH DIE STRASSEN DER STADT1 Christos Chryssopoulos‘ beeindruckende „Chronik“ über Athen in Zeiten der Krise2 von Theo Votsos

„Das letzte Bild, das sich mir während meines Spaziergangs bot: ein Müllsammler, der mit beiden Händen einen fahrbaren Abfallcontainer nach etwas Verwertbarem durchwühlte und dabei das Innere des Behälters mit einer kleinen Taschenlampe ausleuchtete, die er zwischen die Zähne geklemmt hatte. Ich war noch zu weit entfernt, als dass ich ihn hätte richtig sehen können. Einen Moment lang schien es mir, als hätte der Mann aufgeschaut und zu mir herübergeblickt.

1

In der Straße war es dunkel, der Nachthimmel sternenklar. So, aus der Entfernung hatte ich fast den Eindruck, der schwache Schein der kleinen Taschenlampe gliche einem Stern. Dann beugte der Mann sich wieder über den Container. Für einen Augenblick nur waren Müll und Sternbilder einander ansichtig geworden.“ (S. 119)

Mit

diesem

eindrücklichen

Bild

endete

der

Spaziergang,

den

der

griechische Prosaautor, Essayist und passionierte Langstreckenläufer Christos Chryssopoulos an einem Dezembertag des Jahres 2011 durch das winternächtliche Athen unternommen und in seinem vorerst letzten Buch Fakos sto Stoma. Ena Chroniko gia tin Athina (Taschenlampe zwischen den Zähnen. Eine Chronik über Athen, Athen 2012) festgehalten hat. 1

Der vorliegende Beitrag wurde in der Ausgabe 249 der Literaturzeitschrift die horen, März 2013, S. 55-68 veröffentlicht 2

Christos Chryssopoulos, Fakós sto stóma. Éna chronikó gia tin Athina (Taschenlampe zwischen den Zähnen. Eine Chronik über Athen), Polis Verlag, Athen, Februar 2012, 128 Seiten

© Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

Zugleich setzt die

vom Autor

im Zentrum von Athen tatsächlich

beobachtete Szene vom Müllwühler mit der Taschenlampe zwischen den Zähnen den Schlusspunkt unter diese ebenso erhellende wie originelle Chronik über Athen in Zeiten der Krise. Erst auf der letzten Seite dieses zwischen Dokumentation, Essay und Fiktion oszillierenden Textes erfahren wir also, welche Bewandtnis es mit dem Titel des Werkes auf sich hat. Taschenlampe zwischen den Zähnen ist einerseits ein hochaktuelles, mit eindrucksvollem Bildmaterial angereichertes Dokument der gegenwärtigen Situation in der griechischen und spätestens seit dem Winter 2009 auch europäischen (Krisen-)Hauptstadt; andererseits ist es aber auch die subjektiv-imaginäre Annäherung des erzählenden Spaziergängers an sein eigenes Athen, an eine Stadt, die ihm vertraut und zugleich fremd, mitunter sogar trügerisch erscheint.

„Soweit ich mich heute, da ich dies alles aufschreibe, noch zu

2

erinnern vermag, war ich, als ich auf die offene Straße trat, in einer etwas unerfreulichen, ärgerlichen Gemütsverfassung. Die abendliche Stadt, die sich vor meinen Augen ausbreitete, erschien mir anders zu sein als sonst, geradeso, als sähe ich sie zum ersten Mal. Obwohl das eigentlich nicht ganz richtig ist. Die Stadt kam mir nicht fremd vor, die mir so vertrauten Zeichen konnte ich mit der allergrößten Leichtigkeit wiedererkennen. Und trotzdem schien etwas falsch zu sein. Als wäre in der letzten Zeit etwas unmerklich kaputtgegangen. Auf dieselbe Weise, wie Maschinen kaputtgehen, bei denen, bevor sie endgültig ihren Geist aufgeben, irgendetwas aus den Fugen gerät, sie noch irgendwelche ungewöhnlichen Geräusche von sich geben oder ihr Rhythmus sich plötzlich verlangsamt. Alles, was ich sah, wirkte auf eine subtile Art bedrohlich. Selbst von den unbeseelten Dingen wie den Müllbergen am Straßenrand, der aufgeplatzten Straßendecke und den zahllosen, in die Bürgersteige eingelassenen Eisenpollern ging eine unbegreifliche Bedrohung aus. © Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

Rasch vergaß ich, dass ich oben in meiner Stube soeben noch düster über ein leeres Blatt Papier hingebrütet hatte. Alle Lust zur Aufzeichnung,

alle

Hoffnung,

dieses

pessimistische

Unbehagen

festzuhalten, war verflogen.“ (S. 18)

Schon in diesem Abschnitt aus dem Anfang des Buches wird deutlich, dass wir es hier mit einer besonderen Art von Chronik zu tun haben. Auch in seinem

inzwischen

Chryssopoulos

vor

zehnten allem

Werk als

präsentiert

Literat.

sich

Trotz

seines

„Chronist“ dezidiert

dokumentarischen Blicks ist Taschenlampe zwischen den Zähnen also in erster Linie keine auf Objektivität abzielende Stadtreportage, sondern vielmehr das reife Zeugnis einer unkonventionellen – aufgrund der gelungenen

Stilmischung

und

der

zahlreichen

Querverweise

auf

literarische sowie außerliterarische Quellen –, geradezu modellhaften postmodernen Literatur, die sich nichtsdestoweniger auf der Höhe ihrer

3

Zeit

bewegt.

Chryssopoulos

ist

nicht

darauf

aus,

ein

möglichst

realitätsgetreues, endgültiges Abbild des krisengebeutelten Athen zu liefern,

sondern

präsentiert

die

Stadt

als

einen

sich

permanent

wandelnden, offenen, an Vieldeutigkeit oder gar Widersprüchlichkeit kaum zu überbietenden literarischen Erfahrungsraum. In diesen fließen der beobachtende Passant und dessen subjektive Art, zu beobachten und zu interpretieren, ebenso ein wie das Beobachtete selbst. Zwar hat die gegenwärtige Verfasstheit von Athen Chryssopoulos daran gehindert, in die reine Fiktion zu flüchten, ihm vielmehr die Rolle des Beobachters geradezu auferlegt, allerdings füllte er, wie er im Nachwort des Buches ausführt, diese Rolle mitnichten im Sinne eines herkömmlichen Chronisten aus.

„Darüber hinaus ist die Erfahrung einer Stadt immer mehr, als ihre momentane Erfahrbarkeit hergibt. Wie alle Städte ist auch Athen einem ständigen, unmerklichen Wandlungsprozess ausgesetzt; der © Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

Wandel lässt sich allerdings solange nicht konkret erfassen, bis die Veränderungen jene kritische Masse annehmen, die sie manifest werden lassen: entweder als Missmut oder als Hochgefühl. Der Schriftsteller

begleitet

diesen

kaum

wahrnehmbaren

Veränderungsprozess, unterliegt doch sein Dasein der Bedingung der Beobachtung, und seine Aufgabe ist es, Mutmaßungen darüber zu äußern, was sich verändert. Einige davon werden sich vielleicht bewahrheiten, die meisten wohl nicht. Dennoch hinterlässt er, ohne sich dessen bewusst zu sein, eine Spur, und sei es auch nur die seiner Subjektivität.“ (S. 127 f.)

Die Spur, die Chryssopoulos mit seiner Chronik gezogen hat, ist jedenfalls jetzt schon beachtlich, wovon nicht zuletzt die eindrucksvolle Schneise zeugt, die das Buch nach seinem Erscheinen in Form von begeisterten Rezensionen durch den griechischen Blätterwald geschlagen hat. Weit

4

stärker ins Gewicht fällt jedoch, dass es dem Autor mit dieser Chronik über Athen ganz offensichtlich gelungen ist, eine Spur in der Zeit zu hinterlassen und damit den Anspruch einzulösen, den er selbst gerade in den gegenwärtigen Zeiten an die Literatur stellt, nämlich einerseits aktuell zu sein und andererseits Wirkungsmacht in konkrete gesellschaftliche Situationen hinein zu entfalten. Wobei es für diese Art von engagiertem literarischem Stadtportrait durchaus Vorläufer auch in der jüngeren griechischen Literaturgeschichte gibt. Man denke etwa an die Prosa von Michel

Fais

und

dessen bereits 2002

veröffentlichten, mit Texten

unterlegten Fotoband Die Stadt auf Knien, in dem das damals noch weitgehend unsichtbare Athen der Obdachlosen, Flüchtlinge und anderer Randexistenzen eindrucksvoll eingefangen wurde. Als Referenzpunkt diente Chryssopoulos aber vor allem die sensible und facettenreiche Meditation über den Athener Omonoia-Platz und dessen Passanten, die Jorgos Ioannou (1927-1985), eine der bedeutendsten Gestalten der griechischen Nachkriegsliteratur, in seinem inzwischen als klassisch © Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

geltenden Werk Omonoia 1980 angestellt hat. Tatsächlich steckt diese, von Ioannou bereits zu Beginn der 1980er Jahre (das Jahrzehnt übrigens, in

dem

für

viele

Griechen

das

gegenwärtige

Elend

Griechenlands

womöglich seinen Anfang nahm) gezogene Spur in der Zeit eine der Fährten ab, auf denen Chryssopoulos bei seinem aktuellen Streifzug durch Athen

wandelt.

Nicht

von

ungefähr

entstammt

eines

dem

Buch

vorangestellten Mottos Ioannous Omonoia 1980.

„Hinter dem Bild lauert das Martyrium. Aber wo schon hat das Martyrium seinen Hinterhalt nicht errichtet? Das Beste wird sein, du hältst dich dort auf, ohne dass man dich kennt, du beobachtest, ohne dass man dich bemerkt, du sprichst, ohne dass du dich verpflichtest.“ (zitiert auf S. 11)

Erst recht „lauert das Martyrium“ im heutigen Athen hinter jeder Ecke und

5

selbstredend auch hinter jedem Bild, dessen Chryssopoulos auf seinen Fußmärschen durch das winterliche Athen des Jahres 2011 ansichtig wird: wie etwa das Bild des Müllsammlers mit der Taschenlampe im Mund oder jenes einer zusammengekrümmten, an eine riesige Schnecke erinnernden menschlichen Existenz, über die der erzählende Spaziergänger stolpert, oder

immer

wieder

das

Bild

von

den

ehemals

der

geschützten

Privatsphäre vorbehaltenen und nunmehr auf offener Straße vollzogenen Maßnahmen zur Körperpflege und Erhaltung der Körperfunktionen; Bilder, die allesamt die in den letzten Jahren – vielleicht doch nicht mehr so unmerklich – vonstatten gehenden Veränderungen am Stadtkörper von Athen anzeigen, die „der Schriftsteller in einer etwas unerfreulichen“, ja sogar ängstlichen „Gemütsverfassung begleitet“. Die „Drohkulisse“, die im Zuge der Krise über die Stadt ausgebreitet wurde, scheint real zu sein. Allzu gewärtig sind uns noch die unangenehmen Empfindungen des Erzählers, als er auf die offene Straße trat, um zu seinem Spaziergang aufzubrechen: „Alles, was ich erblickte, wirkte auf eine unterschwellige Art © Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

bedrohlich“. Möglicherweise sieht er sich daher genötigt, den „Rat“ von Ioannou beinahe wörtlich zu befolgen und unerkannt, wenn möglich sogar unsichtbar seine „Chronistenpflicht“ zu erfüllen. Ganz sicher ist dies jedoch eine bewusste Entscheidung. Die Distanz zum Beobachteten, die Nichterkennbarkeit, ja sogar die Unsichtbarkeit, oder mit anderen Worten die (vorübergehende) Aufgabe der Identität des Beobachters scheint geradezu Prämisse für die Chryssopoulos vorschwebende Form der literarischen Beobachtung zu sein: „Auch ich wollte zwischen den Umrissen der Passanten verschwinden, so wie sie sich in den dunklen Schaufenstern spiegelten […] Meine Empfindungen versuche ich vor den Augen meiner Mitmenschen zu verbergen. Ich versuche, unsichtbar zu werden.“ Dass der Erzähler und Spaziergänger in Taschenlampe zwischen den Zähnen kein Chronist im herkömmlichen Sinne ist, dürfte aus den weiter oben zitierten Passagen bereits deutlich geworden sein. Es sei noch einmal

6

daran erinnert, dass ihm schon zu Beginn seines Streifzuges „alle Lust zur Aufzeichnung,

alle

Hoffnung,

dieses

pessimistische

Unbehagen

festzuhalten“, vergangen war. Die ihm vom Autor unterlegte Absicht besteht also nicht in der Berichterstattung, sondern vielmehr darin, sich in eine poetische Person zu verwandeln, die mit der Stadt eins wird. Offenkundig hegt er den Wunsch eines umherirrenden Stadtnomaden, der verschwinden, ein – wie er selbst sagt – Spiegelbild in einem Schaufenster werden will. Die Erzählung legt kein biographisches Zeugnis von ihm ab, genauso

wie

sie

streng

genommen

auch

nicht

Bericht

zur

gegenwärtigen Lage Athens erstattet. Die Begebenheiten, die während des Spaziergangs beobachtet werden, dienen laut Chryssopoulos dem durch die Straßen Athens schlendernden Erzähler lediglich als Anlässe, um darüber nachzudenken, was es bedeutet, in einer Stadt zu leben, wenn man, wie er selbst einmal in einem Interview gesagt hat, „über einen Kopf voller Wörter verfügt, beziehungsweise hinter diesen Wörtern Zuflucht findet“. Letztlich sind es also die „Wörter“, in erster Linie die eigenen, aber © Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

auch diejenigen anderer (eines Jorgos Ioannou etwa oder einer Marina Zwetajewa, eines Walter Benjamin und vor allem eines Robert Walser, aber auch die „Wörter“ des französischen Poststrukturalismus oder der Autoethnographie) – wobei sich Chryssopoulos aus beiden Quellen mit einer erstaunlichen Leichtigkeit zu bedienen vermag –, die dem Erzähler seine

Unsichtbarkeit

ermöglichen,

ihm

sozusagen

als

einseitig

durchsichtige Folien dienen, durch die er zwar beobachten, aber nicht beobachtet werden kann. Seine hohe Bildung, insbesondere seine umfassenden Kenntnisse der Weltliteratur

und

Chryssopoulos

der

schon

modernen immer

philosophischen

gewinnbringend

Strömungen,

in

seine

hat

Arbeiten

eingebracht, seit er 1996 sein literarisches Debüt gab. Damit geprotzt hat er in seinem für sein junges Alter bemerkenswert umfangreichen Werk jedoch nie, sein Wissen vielmehr stets in den Dienst seiner jeweils eigenen, originär künstlerischen Beweggründe gestellt. Auch wenn es in

7

seinen Büchern von literatur- und kulturgeschichtlichen Anspielungen, Zitaten und Querverweisen nur so wimmelt, sind sie niemals Selbstzweck, sondern als kompositorische Elemente in ein literarisches Gesamtkonzept eingebettet, das sich nicht zuletzt ihretwegen durch eine hybridische, bisweilen auch die Lesbarkeit erschwerende anarchische Struktur, durch eine

philosophisch-essayistische

Originalität

auszeichnet.

Diesen

Diskurskultur

und

Hauptmerkmalen

eine der

erfrischende Literatur

von

Christos Chryssopoulos begegnen wir in ausgeprägter Form auch in seinem jüngsten Werk, das sich in einem wichtigen Punkt allerdings grundlegend von seinen bisherigen Publikationen unterscheidet: „Zum bisher ersten Mal ist die Strategie des Schreibens von einem Gefühl der Dringlichkeit ersetzt worden. Deshalb beschloss ich, dass dieses Buch, wenn es erscheint, sofort erscheinen muss, ohne erst «in der Schublade zu reifen»“ (Interview mit der Zeitung Kathimerini, 25.2.2012). Dasselbe, von der bedrängenden Realität Athens ausgelöste Dringlichkeitsgefühl, das den Autor auf die Straße getrieben und ihn gezwungen hat, sich – mit © Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

einem Kopf voller „Wörter“ wohlgemerkt – auf die Bilder, die Symptome einer an der Krise krankenden Stadt einzulassen, hat ihn auch beim Schreiben seiner „Chronik“ angetrieben, als es darum ging, die „Wörter“ und die Bilder zusammenzuführen, und ihr eine Unmittelbarkeit verliehen, die trotz des Verzichts auf jeglichen Objektivitätsanspruch möglicherweise eine reichere Realität über das gegenwärtige Athen zu Tage fördert als es eine realistische Reportage je vermocht hätte. Chryssopoulos ging es, wie gesagt, nicht um die Aufzeichnung des Krisenelends in Form von Fakten und Zahlen; seine Beobachtungen auf der Straße, auf der Haut der Stadt, sind zwar unmittelbar, aber immer auch vermittelt durch die Filter der Wörter, die er in seinem Kopf trägt oder hinter denen er sich verbirgt. Durch diese Filter hat er die äußere Realität absorbiert und sie – mit dem immer selben Gefühl der Dringlichkeit schreibend – in reichere Realität, in Literatur umgesetzt, in der zwar keine Fakten und Zahlen, dafür aber die Stimmung und das Lebensgefühl, das existentielle Aroma und die

8

gespenstische

Atmosphäre

Athens

in

Zeiten

der

Krise

besonders

eindringlich eingefangen sind. Wichtige Hilfestellung leisteten ihm dabei der Schweizer Autor und passionierter Spaziergänger Robert Walser und dessen „Wörter“. Im Oktober 2011 erschien erstmalig eine griechische Fassung von Walsers 1917 verfasstem Spaziergang. Dieses wunderschöne Prosastück über die einen Tag währende Schlenderei eines erfolglosen Schriftstellers durch eine schweizerische Stadt und die sie umgebende Natur fiel Chryssopoulos gerade noch rechtzeitig in die Hände und hat ihn zu seinem eigenen „abendlichen Winterspaziergang durch Athen“ inspiriert. Chryssopoulos‘ Werk kann also auch als bisweilen wörtliche Reminiszenz an den Spaziergang Robert Walsers gelesen werden. Wie Walser vor fast einhundert Jahren in einer mittelgroßen Schweizer Stadt verlässt auch Chryssopoulos Geisterzimmer“,

im um

Winter zu

2011

einem

in

Athen

Spaziergang

sein

„Schreib-

aufzubrechen.

und

Walsers

Verspieltheit und spätromantische Lebensauffassung, die im Spaziergang © Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

so kraftvoll durchstrahlen, konnte Chryssopoulos freilich nicht ins Athen der Gegenwart hinüberretten. Dafür ist die Krise dann doch eine viel zu ernste Angelegenheit.

„ICH

TEILE

MIT,

DASS

ICH

EINES

FEUCHTKALTEN

DEZEMBERABENDS, ich weiß nicht mehr genau um wie viel Uhr, da mich die Lust einen Spaziergang zu machen, ankam, das Schreiboder Geisterzimmer verließ und geschwind die Treppe hinunterlief, um in eine Welt hinauszutreten, die keinen Deut weniger kalt und unheilvoll zu sein schien als der innere Zustand, der sich nach meinen ersten Schritten einstellte. Straßen gibt es in allen Städten, aber während sie anderswo aus Gehwegen, Häuserreihen und der leicht gewölbten Oberfläche des Asphalts bestehen, versperren sich die hiesigen Straßen einer Beschreibung anhand eindeutiger Merkmale. Welchen Namen sie

9

auch immer haben, meist ist es, als seien sie eigentlich Metaphern der

immer

selben

unerträglichen,

empörenden,

alles

zunichtemachenden Verwahrlosung. Beifügen könnte ich, dass mir, sobald ich aus der Haustür trat, eine sichtbar angespannte Frau begegnete. Ihre Haut wies jenen glänzend schimmernden

bräunlichen

Farbton

auf,

wie

er

gewöhnlich

Mischlingen eigen ist. Sie blickte unbestimmt in die Straßenschlucht hinab und rief unentwegt: «Εva! Eva!...» In regelmäßigen Abständen, mit lauter Stimme und in der immer gleichen Tonlage, die den Eindruck erweckte, sie selbst sei abwesend. Als hätte sich die Existenz in ihr Innerstes zusammengezogen, und einzig die Stimme wäre zurückgeblieben, um devot denselben einsilbigen Satz zu wiederholen. Es war nicht klar, ob es sich um einen Zuruf oder einen Ausruf handelte. Ob sie aus der Ferne irgendeiner Eva zurief, oder ob der affirmative Tonfall verkünden sollte: «Ιch bin Eva! Ich bin Eva!»

© Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

Ich warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Ihre Augen regten sich nicht. So

ging

ich

an

ihr

vorbei

und

setzte

meinen

Weg

in

die

entgegengesetzte Richtung fort, denn ich wollte nicht, dass mich ihr eintöniger Schrei auf diesem Spaziergang begleitet. Hier und da geistern durch Athen Gespenster, die erschrocken dreinschauen. Woher entstammen diese starren Blicke? Von wo sind sie gekommen? Warum fanden sie sich in der Stadt ein? Warum jetzt? War es irgendwann schon mal so dringend nötig, nach lindernden Lücken in der einförmigen Realität zu suchen? Das Herumirren schweigsamer Menschen durch die Straßen, in den Gebäuden und an den Haltestellen, ihre Anwesenheit und die Wahrnehmung ihrer Anwesenheit hinterlassen keine Zeichen an der Oberfläche des Lebens. Was einzig bleibt, ist der Anblick dieser ausdruckslosen Gesichter. Der Kontakt mit den Gespenstern – mit dem im Jenseits Befindlichen

10

– stellt das Leben wieder auf den Platz zurück, auf dem zuvor nur eine

unreflektierte

Gegenwärtigkeit

waltete.

Die

schattenhaften

Existenzen, denen wir auf der Straße ausweichen, indem wir das Gesicht abwenden oder unserem Spaziergang eine andere Richtung geben, verweisen auf das, was wir nicht sind. Sie mahnen uns, dass es hier auch einen „anderen“ gibt. Letztlich lehren sie uns, in Demut zu leben, im Bewusstsein dessen, dass jeder von uns durch irgendjemanden ersetzt werden kann. Jeder Schritt erschüttert unsere ontologischen Fundamente. Jede Wand ist ein Schrei aus Wörtern. Die Wände haben Münder.“ (S. 15 ff.)

„ICH HATTE GERADE MAL ZWEI HÄUSERBLOCKS ZURÜCKGELEGT. Zwei Merkmale prägen seit kurzem die Stadt: die Dunkelheit und das Umherirren. Die Straßenbeleuchtung schaltet sich in letzter Zeit erst mit Verspätung ein, als versuche die Stadtverwaltung jede noch so geringe Ausgabe zu vermeiden. Womöglich liegt es aber auch an der © Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

Umstellung auf die Winterzeit, dass die Dämmerung zurzeit früher einsetzt. Bei den geschlossenen Hotels wurden schwere Rollläden heruntergelassen, um die Zimmer abzusichern. Drinnen, hinter den Eisengittern ist alles unberührt geblieben, als hätte man das Hotel angesichts einer nahenden Katastrophe völlig überstürzt verlassen müssen: die Gabeln liegen noch in perfekter Ordnung auf den Tischen, die Schlüssel auf der Theke der Rezeption. Überall begegnet man Menschen, die sich planlos, ohne Antrieb oder ein offenkundiges Ziel fortbewegen. Oft bleiben sie nach ein paar Schritten plötzlich stehen, kehren an ihren Ausgangspunkt zurück und brechen abermals zu einer unbegreiflichen Pendelbewegung auf, die an ein autistisches Einschlafritual erinnert. […] Ich war noch nicht dreißig Schritte weit gegangen, als ich beinahe über ein zusammengekrümmtes menschliches Wesen stolperte, das einer

11

riesenhaften

Schnecke

glich.

Bei

genauerem

Hinschauen

erkannte ich einen Mann. In der Hand hielt er ein Stück Pappe. So wie er vornüber zusammengerollt dasaß, sein Gesicht fast den Bordstein berührte, war es mir nicht möglich zu lesen, was darauf geschrieben stand. Der Kehrreim, den er mit gebeugtem Haupt vor sich hinmurmelte, muss folgenden Wortlaut gehabt haben: «Ich habe Hunger. Ich habe Hunger.» Als würde er den Betonplatten seine Sünden beichten. Was ist nur los, dass alle nur noch mit verwaisten Worten reden? Ich denke an diejenigen, die abends planlos durch die Stadt ziehen, und von denen ein jeder sein eigenes einziges Wort entweder vor sich hin stammelt oder es, geschrieben auf ein Stück Papier, vor sich hält. Als wäre ihr ganzes Dasein auf die Länge eines einzigen Wortes zusammengestrichen worden. Das Bild des gebückten Mannes erweckte den Eindruck eines beseelten Stücks Abfall. Etwas weiter daneben hatte sich ein herrenloser Hund hingestreckt, aber auch er hatte mir den Rücken © Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

zugekehrt

und

Fahrzeuge,

betrachtete

während

er

gleichgültig

seine

die

Vorderbeine

vorüberfahrenden gefällig

über

den

Bordsteinrand hängen ließ. […] Ich bückte mich, um den Hund zu streicheln, als ich neben mir einer Gestalt gewahr wurde. Vorher aber habe ich das Auftreten eines Geistlichen zu vermelden. Eines Gemeindearbeiters, der mürrisch vorbeischritt, und sofort danach, ihm mit demselben Gang folgend, eines Militärangehörigen. Ein weiterer Passant darf nicht unbeachtet und

unaufgezeichnet

bleiben.

Es

handelte

sich

um

einen

Müllsammler. Es ist gegen acht Uhr abends. In letzter Zeit ist die Stadt in ein Schweigen gefallen. Die öffentlichen Bauprojekte sind eingestellt worden, und die meisten lassen ihre Autos stehen und ziehen es vor, zu Fuß zu gehen oder sich in die Busse hineinzuzwängen, die, voll wie sie sind, weniger schmutzig wirken.

12

Vielleicht gerade deswegen, weil die Stadt zuletzt so schweigsam wurde, wirkt dieses klirrende durchdringende Geräusch, das im letzten Winter auf den Straßen plötzlich seinen Einzug hielt, so unheimlich. Ein metallisches Gerassel, das uns bis dahin unbekannt war.

Vagabundierende

Materialjäger,

die

mit

klappernden

Einkaufswagen durch die Straßen ziehen und die Müllcontainer nach Dingen

absuchen,

die

noch

irgendwie

verwertbar

sind.

Weggeworfenes Alteisen zumeist oder Kabel. Eines Nachts war die Straße mit kleinen flauschigen Stücken eines schneeweißen

Schaumstoffes

übersät.

Im

Abendwind

oder

im

Luftstrom der vorüberfahrenden Autos wogten sie auf und ab wie Meereswellen.

Es

war,

als

hätte

der

Straßenbelag

zu

blühen

begonnen oder als wäre die Straße zur Kulisse für eine Filmszene geworden, die den Einsatz von Kunstschnee erforderlich machte. Ein dunkelhäutiger Mann versuchte mit seinem Messer, eine ausrangierte Matratze vollständig auszuweiden, um ihr auch noch die letzten, sich © Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

widersetzenden Drahtfedern herauszuoperieren und sie in seinen vollbeladenen Einkaufswagen hineinzustopfen. […] Um ihren Schrott zu verkaufen, müssen die Buntmetallsammler schon tagsüber etliche Kilometer bis zu den Randbezirken der Stadt zurücklegen, wo sich die Sammelstellen für Altmetall befinden. Trotzdem ziehen sie völlig erschöpft noch bis zum Morgengrauen mit ihren Einkaufswagen durch die Stadtteile. […] Der Hund labte sich an einer Wasserpfütze auf dem Gehweg. Zwei elegante Damen mit verblüffend kurzen Röcken und in raffinierten hohen Stiefeln wirken wie eine vorübergehende Dissonanz. Zeit, meinen Spaziergang fortzusetzen.“ (S. 21 ff.)

Wenn nicht anders gekennzeichnet, entstammen sämtliche zitierten Ausschnitte dem Buch Fakos sto stoma (Taschenlampe zwischen den Zähnen) von Christos Chryssopoulos (Athen 2012) und sind von Theo Votsos für die aktuelle Ausgabe

13

der Literaturzeitschrift die horen erstmalig ins Deutsche übertragen worden.

© Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

ÜBER DIE ZEIT, DIE AUSDAUER UND DIE GESCHWINDIGKEIT Der griechische Autor und Marathonläufer Christos Chryssopoulos zum Verhältnis von Schreiben und Laufen

Die Arbeit des Schriftstellers hat viel mit einem Marathonlauf gemein. Auch in dieser Hinsicht bin ich des Öfteren auf den Bahnen anderer Schriftsteller

‚gelaufen‘,

wenngleich

ich

sie

niemals

persönlich

kennengelernt habe. Unter ihnen ist allerdings jemand, in dessen Fußstapfen ich tatsächlich getreten bin – allerdings in entgegengesetzter Richtung. Als Haruki Murakami eines Sommers in den 1980er Jahren erstmals Athen besuchte, dachte er, die Gelegenheit unbedingt nutzen zu müssen, um, wenn auch zur denkbar falschesten Jahreszeit, die „klassische Marathonroute“ zu laufen. Eines Morgens brach er also ganz allein am Hotel Hilton auf und kam, von der drückenden Hitze völlig ermattet,

14

etliche Stunden später am Grabhügel von Marathon an. Murakami beschreibt diese einsame Marathonerfahrung in seinem Buch „Wovon rede ich, wenn ich vom Laufen rede“. Auf der letzten Seite des entsprechenden Kapitels prangt ein schlecht beleuchtetes Schwarzweißfoto, das den Läufer vor dem Denkmal der gefallenen Marathonkämpfer zeigt. Der Marathon, den ich gelaufen bin, weicht von demjenigen Murakamis ab. Er findet alljährlich am ersten Novembersonntag statt. Ich laufe nicht allein, sondern gemeinsam mit vielen tausend anderen Läufern. Und selbstverständlich starten wir alle in Marathon, um die Botschaft rechtzeitig nach Athen zu überbringen. Dennoch – auch wenn Murakamis Athener Marathonlauf die in jeder Hinsicht perfekte Metapher für den literarischen Schreibprozess darstellt (der Läufer läuft allein, die Strecke führt zurück zum Ausgangspunkt, der Lauf findet unter denkbar widrigen Bedingungen statt) – habe ich mit dem japanischen Autor eine grundlegende Erfahrung gemein, die einzig und allein der Tatsache zu verdanken ist, dass wir beide schreiben und beide die 42,2 Kilometer © Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

gelaufen sind. Und dieses Erfahrungswissen verdichtet sich noch durch die Einsicht, dass Literatur keine Frage der Geschwindigkeit ist. Nicht einmal das Anti-Stereotyp der Langsamkeit (jene bekannte, unter anderem der Kunstproduktion unterstellte Redensart: „Gut Ding will Weile haben“) kann im Zusammenhang mit der Literaturproduktion Geltung beanspruchen. Sowohl Schriftsteller als auch Marathonläufer wissen nur zu genau, dass es beim Wettkampf mitnichten darauf ankommt, wie schnell man unterwegs ist. Vielmehr geht es darum, seine Kräfte möglichst gut einzuteilen. Das bedeutet, dass man beim Langstreckenlauf wie auch in der

Literatur

gerade

so

schnell

laufen

sollte,

wie

es

nötig,

beziehungsweise, wie es einem gestattet ist. Murakami schreibt: „Wenn wir auf der Strecke einander überholen, hören wir den Rhythmus des Atems, und wir nehmen wahr, wie ein jeder von uns die Zeit misst.“ Die Kunst des Läufers, wie auch die des Schriftstellers, besteht darin, den eigenen Rhythmus zu finden. Und mit

15

den Jahren lernt man immer genauer, sich selbst und die anderen zu „messen“. Mal ist es erforderlich, schneller zu laufen, beschwingt und begierig dem Leben (wie einem Gegner im Marathonlauf) hinterher zu jagen, das Erlebnis, in dem Augenblick, da man es gewahr wird, miterlebend einzufangen und es (mit einem einzigen Zug, so könnte man meinen) augenblicklich in Worte zu fassen – es bisweilen sogar zu überbieten. Ein anderes Mal ist man hingegen besser beraten, ein gemäßigteres Tempo anzuschlagen, sich zu zügeln, sich vielleicht auch die Zeit zu nehmen, um über das, was man sieht oder fühlt oder anstrebt, nachzudenken. Genauso, wie man hinter einem in Führung liegenden Läufer herläuft und, indem man, ohne zu überholen, den Abstand kurz hält und den Läufer auf diese Weise so lange zermürbt, bis dieser entnervt aufgibt. Auf die gleiche Art und Weise „misst“ der Schriftsteller geduldig die Strecke, die die Wörter abstecken.

© Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

Natürlich gibt es immer wieder auch den Fall, dass man von sämtlichen Gegnern überholt worden ist und, ohne die geringste Aussicht auf den Sieg, lediglich aufgrund des eigenen unbedingten Willens weiterläuft, den Marathon zu beenden. Wie in allen Ausdauerdisziplinen gewinnt auch im Wettkampf der Kunst

nicht

der

Schnellste.

Oder

anders

gesagt:

Während

eines

Marathonlaufs kann man einige Sekunden lang durchaus auch schneller laufen (vielleicht sogar schneller als alle anderen), das Entscheidende ist aber, bis zum Schluss durchzuhalten. Mehr als über alles andere muss man sich darüber klar werden, wie weit man kommen möchte. Das

Schreiben

einer

Chronik

erinnert

durchaus

an

eine

vorübergehende Beschleunigung während des Marathonlaufs. Es setzt voraus, dass der Autor den Entschluss fasst, seinem Atem zu vertrauen und (im wahrsten Sinne des Wortes) den Ereignissen hinterher zu rennen, oder sich auf die Verfolgung eines Eindrucks zu machen, dem es nicht

16

vergönnt ist, in der Zeit zu reifen. Mit anderen Worten: Der Chronist läuft einem vorneweg eilenden ‚Konkurrenten‘ hinterher, indem er – hier sei auf die

beiden

Komponenten

seines

Rüstzeugs

hingewiesen

seine

Schreibfeder vor sich herträgt und auf sein Zeitgefühl vertraut und sich zugleich der Versuchung widersetzt, in die Fiktion zu flüchten. Es gelingt ihm freilich nie, sie ganz und gar außen vor zu lassen. Die Fiktion schleicht sich überall ein, wo geschrieben wird. Selbst bei der Aneinanderreihung nüchterner Fakten ist die Fiktion mit am Werke. Allerdings legt das Genre der Chronik einen größeren Widerwillen gegen die fiktive Handlung an den Tag, da der Chronist dem Luxus der Reflexion entsagt. Die Chronik ist ein distanzloses Sich-Einlassen, ein unmittelbares Eintauchen in das Jetzt. Mit dem Unterschied, dass sie zwar geschrieben wird, indem der Fokus auf das Jetzt gerichtet ist, jedoch nicht ausschließlich auf das Heute abzielt. Denn die reflektierende Beobachtung strebt auch dann noch danach, weiterhin ihre Wirkung zu entfalten, wenn sich das Ereignis bereits vollzogen hat. Daher ist die Chronik als narrative Form nicht per se © Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

oberflächlich, verspielt-ironisch oder ephemer. Insofern bedarf sie einer anderen Art von Ausdauer. Der Ausdauer des Läufers des einen Atemzugs.

Aus: Fakos sto stoma, Nachwort, 2012 Ins Deutsche übertragen von Theo Votsos

17

© Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

Bio-bibliographische Angaben

Christos Chryssopoulos, geboren im Dezember 1968 in Athen, ist ein griechischer Prosa-Autor, Essayist und Übersetzer. 2008 wurde er mit dem Preis für Erzählende Prosa der Akademie von Athen ausgezeichnet. Sein literarisches Werk umfasst folgende Titel: „Oi syntages tou Napoleonta Delastou“

(Die

Rezepte

des

Napoleon

Delastos,

Luftig-leichte

Bildungslektüre in fünf Teilen), Athen 1997; „O Manikiouristas“ (Der Manikürist, Novelle), Athen 2000; „The Black Dress“ (Das schwarze Kleid, zweisprachiges artist book, in Zusammenarbeit mit der Fotografin Diane Neumaier), USA 2001; „Encounters“ (Begegnungen, Fotoband), Island 2003; „Periklistos Kosmos“ (Verschlossene Welt, Roman), Athen 2003; „Shunyata“ (Roman), Athen 2004; „Fantastiko Mousio“ (Fantastisches Museum, Roman), Athen 2005; „To Glossiko Kouti“ (Die Sprachkiste, Essay), Athen 2006; „I Londreziki Mera tis Lauras Jackson“ (Der Londoner

18

Tag der Laura Jackson, Roman), Athen 2008 – ausgezeichnet mit dem Preis für Erzählende Prosa der Akademie von Athen; „To Diplo Oneiro tis Grafis“ (Der doppelte Traum des Schreibens, Essay, in Zusammenarbeit mit dem Dichter Charis Vlavianos), Athen 2010; „O vomvistis tou Parthenona“ (Der Bomber vom Parthenon, Eine terroristische Erzählung in sechs Monologen), Athen 2010; „Fakos sto Stoma“ (Taschenlampe zwischen den Zähnen, Eine Chronik über Athen, Athen 2012). Übersetzungen seiner Werke sind bisher in Frankreich, Slowenien, Schweden, Algerien, in den USA, in Neuseeland, in Ungarn, Auszüge seiner Werke auch in Deutschland erschienen. Darüber hinaus hat er an folgenden Anthologien und Sammelerzählbänden mitgewirkt: „I Athina ti Nychta“

(Athen

bei

Nacht),

Athen

2006;

„Granita

apo

Lemoni“

(Zitronensorbet), Athen 2004; „Thrimatismenos Planitis“ (Zertrümmerter Planet), Athen 2004; „Mythistorima mias Polis“ (Roman einer Stadt), Athen 2004; „Me Orthanichta Matia“ (Mit aufgerissenen Augen), Athen 2004; „Onomata“ (Namen), Athen 2008; „Theoria, Logotechnia, Aristera“ © Wortbrücken – Theo Votsos


Überlegungen und Textbeispiele zu Chr. Chryssopoulos‘ TASCHENLAMPE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN

(Theorie, Literatur und die Linke), Athen 2008; „Chameni sto diadiktio“ (Verloren im Internet), Athen 2008; „To Vivlio tou Kakou“ (Das Buch des Bösen), Athen 2009; „I diki mas Ameriki“ (Unser Amerika), Athen 2010. Zudem übersetzt er englischsprachige Literatur ins Chryssopoulos

war

des

Öfteren

Gast

in

Neugriechische. internationalen

Schriftstellerhäusern und hielt Vorträge sowohl in Europa als auch in den USA. Er war Fellow des Programms „Kreatives Schreiben“ der Fakultät für amerikanische

Literatur

der

Aristoteles

Universität

Thessaloniki,

Gastdozent und Fellow des MFA Creative Writing Program und des International Writer’s Program der Universität von Iowa sowie Research Fellow an der Universität von Chicago. Er ist Mitglied des griechischen Schriftstellerverbands und des Europäischen Kulturparlaments (European Cultural Parliament – ECP). Er hat das Internationale Literaturfestival DASEIN in Athen (http://daseinfest.blogspot.com) gegründet, das er gemeinsam mit dem Europäischen Netzwerk „Literature Across Frontiers“

19

leitet. Chryssopoulos publiziert regelmäßig Beiträge in den Zeitschriften „Poiitiki“ (Poetik) und „Athens Review of Books“. In der Zeitschrift „Nea Estia“ hat er im April 2010 die literaturtheoretische Kolumne „O danismenos logos“ (Die geborgte Sprache) eingeführt. Weitere Informationen unter: http://chrissopoulos.blogspot.com

© Wortbrücken – Theo Votsos


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.