chilli cultur.zeit

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LEINWAND

FILMVERGNÜGEN BEIM

SOMMERNACHTSKINO

L'IMMENSITÀ

Meine fantastische Mutter

MUSIK

POWERSOUND VON DER

MADDIS'SON BRASS BAND

LITERATUR

8 GRAD VERLAG GIBT DEM

SÜDWESTEN EINE STIMME

HEFT NR. 6/23 13. JAHRGANG
Penélope Cruz

Als Kind schon Bücherwurm

Etwa 242.000 Bücher zählte die Stadtbibliothek Freiburg vergangenes Jahr. E-Books ausgenommen. Seit Juli kümmert sich Meike Jäger um den Bestand –und bringt nicht nur Erfahrung mit an den Münsterplatz, sondern auch Energie und Charme.

„Ein besseres Büro hätte ich mir nicht wünschen können“, sagt Meike Jäger in ihrem Büro mit Münsterplatzblick. Seit Juli ist sie die neue Leiterin der Freiburger Stadtbibliothek. Gerade lernt sie die neuen Kollegen, das Haus und die Zweigstellen kennen.

„Das ist immer sehr spannend für mich, denn jede Bibliothek ist anders und hat ihren eigenen Charme“, sagt die 36-Jährige, die bereits mit acht Jahren wusste, dass sie Bibliothekarin werden wollte. „Ich hatte keine Ahnung, was das für ein Beruf ist, aber ich wusste, dass ich irgendwann auf der anderen Seite stehen möchte“, sagt die Wahlfreiburgerin.

Mit neunzehn stand sie im hessischen Dietzenbach das erste Mal als

Aushilfe hinter der Ausgabe – und kam nicht mehr davon los. Jäger studierte Bibliotheks- und Informationswissenschaften in Köln, hängte in Leipzig den Master in Bibliothekspädagogik an. Es folgten Stationen in den Städten Dessau-Roßlau in Sachsen-Anhalt und Schkeuditz in Sachsen. Seit 2020 hatte sie in Frankfurt die Leitung der Zentralen Kinder- und Jugendbibliothek inne. Nach Freiburg kam sie eher zufällig. Aus Neugierde, wohin es ihre alten Kommilitonen verschlagen hatte, verfolgte sie ab und an auf der Plattform „Open Biblio Jobs“ alles rund um Stellenanzeigen und Finanzen – und fand die Ausschreibung für die Stadtbibliothek. „Für eine kurze Zeit war ich wie paralysiert. Es war die perfekte Kombination aus fachlichem Anspruch und wunderschöner Stadt“, begründet sie ihre Bewerbung. Einfach war der Umzug in den Breisgau allerdings nicht. „Ich habe nur Wohnungsabsagen bekommen und habe mich gedanklich schon mit einem Campingplatz oder Airbnb abgefunden“, erzählt Jäger und lacht. Zu ihrem Glück bekam sie kurz vor knapp dann doch noch einen Zuschlag – und fährt seitdem jeden Morgen mit dem Rad zur Arbeit.

Zu ihren Aufgaben gehören die Verwaltung, die Vernetzung der Zweigstellen, die Programmplanung und die konzeptionelle Weiterentwicklung der Bibliothek. Zudem hat sie einige Arbeiten von Vorgängerin Elisabeth Willnat geerbt. So auch das Projekt „Open Libary“, das in den Stadteilen Rieselfeld und Mooswald umgesetzt werden soll. „Unsere Medien können von den Bürger·innen ja selbstständig ausgeliehen und zurückgegeben werden“, erklärt Jäger. Auf Grundlage dieses Systems liege es nahe, die Öffnungszeiten zum Ausleihen zu erweitern. „Die Bürger·innen haben dadurch einen größeren Zeitraum, um Bücher auszuleihen.“ Zudem wird im Herbst das Bibliothekssystem umgestellt, das hält alle Mitarbeiter·innen ordentlich auf Trab.

Privat liest die Frau mit dem Lippenpiercing am liebsten Fantasy und Sciene Fiction. Ein Lieblingsbuch hat sie nicht, auch das Bücherregal in ihrer Wohnung ist überschaubar. „Natürlich habe ich Bücher, an denen Erinnerungen hängen, aber ansonsten mache ich es wie alle anderen hier. Ich leihe mir die Bücher aus und erfreue mich an den Geschichten.“

Meike Jäger freut sich auf ihre neuen Aufgaben – und darauf, Freiburg zu entdecken.
MEIKE JÄGER ÜBERNIMMT DIE LEITUNG DER FREIBURGER STADTBIBLIOTHEK
Foto: © jp 40 CHILLI CULTUR.ZEIT JULI/AUGUST 2023
von Jennifer Patrias

Das Dunkle, Irrationale, Bedrohliche

Am 24. September startet die Saison 2023/24 am Theater Freiburg. Es ist die zweite für Generalmusikdirektor André de Ridder und die vorletzte für Intendant Peter Carp. Gemeinsam wollen sie die Zuschauer in zwei unterschiedliche Welten einführen und neue Geschichten erzählen.

Musiktheater

Carp widmet die kommende Saison der „Märchenzeit“. Nicht den Märchen mit den Prinzen und Prinzessinnen oder den guten Feen. Sondern denen, die das Dunkle, das Irrationale und Bedrohliche thematisieren. Im Eröffnungskonzert „Hänsel & Gretel“ am 1. Oktober geht es um die Urängste von Kindern und Erwachsenen. Dabei will sich Regisseurin Kateryna Sokolova dem zeitlosen Meisterwerk von Grimm und Humperdinck annähern. Am 2. Dezember folgt „The Rake’s Progress“ unter der musikalischen Leitung von Ektoras Tartanis, am 27. Januar das Musical „Company“ und am 16. März Giuseppe Verdis „Don Carlos“. Am 11. Mai geht es mit de Ridder bei „Game on: Zauberflöte“ in eine Welt zwischen Oper und Videospiel.

Schauspiel

Beim Saisonauftakt am 15. September betritt das Publikum in „The Museum of uncounted voices“ einen zum Museum stilisierten Raum – und kann sehen, wie die Grenzen innerhalb der Sowjetunion entstanden sind. Am 21. Oktober feiert mit William Shakespeares „Win-

termärchen“ eine Romanze um Eifersucht und Verrat Premiere. Es folgen elf weitere Theaterpremieren, darunter die Uraufführung „Future 2000“ von Uwe Mengel, „Die Räuber“ von Friedrich Schiller und „Familie Schroffenstein“ von Heinrich von Kleist.

Konzertprogramm

Unter dem Motto „Neu hören“ startet am 24. September die Konzertspielzeit. „Sie soll eher ein wenig auflockern, nachdem die erste Saison sehr getaktet war“, sagte de Ridder unlängst vor Journalisten. Das möchte er direkt mit Paul Dukas’ „Der Zauberlehrling“ erreichen. Mit dem Philharmonischen Orchester versucht dieser, einen verheerenden Zauberspruch unter Kontrolle zu bringen. Das 1. Sinfoniekonzert am 31. Oktober trägt den Titel „Halloween Fantastique“ und orientiert sich am Horror-Klassiker „The Shining“ von Stanley Kubrick.

Das 2. Sinfoniekonzert stellt mit der Amerikanerin Ellen Reid eine Komponistin vor, die zum ersten Mal in Deutschland zu hören ist. Das fünfte Konzert unter der Leitung von Ektoras Tartanis trägt den Titel „Tartanis trifft Theodorakis“. Zweieinhalb Jahre nach Theodorakis’ Tod wird seine selten gespielte Sinfonie Nr. 1 in Freiburg uraufgeführt. Weitere Spielzeithighlights sind die Filmmusik- und Stummfilmkonzerte, die Podcast- und die Freiburg.Phil.Club-Konzerte.

Tanz

Die sechs Tanzveranstaltungen basieren auf zeitgenössischem Tanz und Performancekunst von der Republik Côte d’lvoire über Belgien und Frank-

reich bis hin nach Brasilien. Das Highlight: die „Tanzplattform Deutschland“. Nach 18 Jahren kehrt das Fest für zeitgenössischen Tanz wieder nach Baden-Württemberg zurück – und Freiburg ist vom 21. bis 25. Februar 2024 Dreh- und Angelpunkt der internationalen Tanzwelt.

Junges Theater

Auch Annika Kirschke von der Musikvermittlung hat einiges zu verkünden. Der Klassiker „Peter und der Wolf“, das Adventssingen und die Familienkonzerte bleiben bestehen. Neu im Programm ist die Kinderoper „Die Operntode meiner Mutter“ nach dem Bilderbuch von Carla Haslbauer. Das Kinderfestival „Klong“ kehrt nach zwei Jahren Pause zurück. Und beim Sitzkissen- und Mitmachkonzert „Rudi Ratte sucht Ärger“ soll der Namensgeber nicht nur für gute Laune, sondern auch für jede Menge Unfug sorgen.

WIE DAS THEATER FREIBURG IN DIE NEUE SAISON STARTET Generalmusikdirektor André de Ridder geht die zweite Saison entspannter an. von Jennifer Patrias
JULI/AUGUST 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 41 KULTUR
Foto: © Marco Borggreve

Luftige Sichtweisen

AUSGEZEICHNETE FILME IM SOMMERNACHTSKINO IM INNENHOF DES SCHWARZEN KLOSTERS

Seit Jahren gehört das Sommernachtskino genauso zu Freiburg wie der Sommer selbst. Und die Veranstalter, Michael Isele und Ludwig Ammann als Geschäftsführer der Kinos Friedrichsbau, Harmonie und Kandelhof, haben sich dafür einen der bezauberndsten historischen Outdoor-Orte der Stadt gesichert: den Innenhof des ehemaligen Ursulinenklosters, in dem heute die Volkshochschule residiert.

Mehrstöckig, nur mit Fenstern versehen und ansonsten schnörkellos, sorgen diese Mauern für Geräuschdämmung von und nach außen – und verhindern, dass die Zuschaueraugen während der Vorführungen durch abendliche Stimmungen und Ereignisse in der Umgebung abgelenkt werden und von der Leinwand abschweifen.

Diese ist direkt unter dem tiefgezogenen Dach der Kirche installiert, die die beiden Seitengemäuer miteinander verbindet. Wenn nach Einbruch der Nacht (derzeit 21.45 Uhr,

Sommerabenden auf luftige Kinoerlebnisse einzulassen. Gelegenheiten gibt es genug; bis 2. September steht hier täglich ein Film mit einer besonderen Geschichte auf dem Programm. Oder Filme mit noch gar keiner Kinogeschichte: Wie in all den Jahren zuvor gehören auch heuer wieder etliche Premieren dazu. Unter den Filmen, die hier vor ihrem offiziellen Kinostart gezeigt werden, sind „L’Immensità“ (26.7.), „Im Herzen jung“ (2.8.) oder „Rehragout-Rendezvous“ (9.8.) und einige mehr.

Der von der kleinen, zwischen Rotteckring und Brunnenstraße verlaufenden Gasse „Am Schwarzen Kloster“ aus zugängliche Patio wirkt so, als sei er eigens als Freiluft-Kinosaal konzipiert worden: Lang, nicht zu breit und nicht zu schmal, nicht verwinkelt und seitlich von zwei teilweise begrünten Hauswänden sowie vorne von der an der Rathausgasse gelegenen Klosterkirche mit dem Türmchen umgrenzt.

Ende August 21 Uhr) nur noch die Leinwand leuchtet und der Blick von hier mal nach oben wandert, gibt es also lediglich Aussicht auf ein Stück Sternen- oder Wolkenhimmel über der dunklen Kulisse mit Dachreiter. Und die Leinwand hält – wie unlängst selbst erlebt – sogar leichten Regenschauern stand.

Beste Voraussetzungen also, sich –unter Mitnahme etwa eines Fahrradcapes – an lauen oder auch kühlen

Insgesamt gibt es etwa 60 Filme zu sehen; das Festival wurde früher als sonst bereits am 30. Juni eröffnet – und lockte bisher schon viele Besucher auf die bequemen und in beinfreiheitlichem Abstand ordentlich aufgereihten Plastikstühle, auf denen wieder freie Platzwahl ohne Abstand möglich ist: „Wer früh kommt, hat die besten Plätze“, sagt Ludwig Ammann, der die Auswahl der Filme heuer seinem Kollegen Michael Isele überlassen hat. Und da dürfen außer den Highlights des vergangenen Kinojahrs wie „Triangle of Sadness“ (21.7. & 1.9.) oder „Tár“ und „Close“ (29./30.7.) wie immer auch frühere große Erfolge wie „Nomadland“ (16.8.) nicht fehlen, ebenso sowie Klasse Klassiker – darunter Emir Kusturicas legendärer Film „Schwarze Katze, weißer Kater“ (24.7.). INFO

Sommernachtskino im Schwarzen Kloster, bis 2. September 2023

www.sommernachtskino.de

Lauschiger Rahmen für nächtliches Filmvergnügen: der Innenhof des ehemaligen Ursulinenklosters in Freiburg.
42 CHILLI CULTUR.ZEIT JULI/AUGUST 2023 KINO
Foto: © Sommernachtskino

MIT LIEBE UND ENTSCHLOSSENHEIT

L’IMMENSITÀ – MEINE FANTASTISCHE MUTTER

IM HERZEN JUNG

Frankreich 2022

Regie: Claire Denis

Mit: Juliette Binoche, Vincent Lindon u.a.

Verleih: Arsenal

Laufzeit: 116 Minuten

Start: 13. Juli 2023

Emotionale Schieflage

(ewei). Als Sara und Jean Urlaub am Meer machen, sind sie noch ein Herz und eine Seele. Und, so scheint es bei den Aufnahmen im Wasser, fast ein Körper. Doch so nah sie sich sind, so unterschiedlich, ja unvereinbar sind sie doch: Sara ist Radioredakteurin bei einem großen Pariser Sender, Jean ist arbeitslos. Der ehemalige Rugby-Profi lebt seit seinem nicht näher begründeten Gefängnisaufenthalt im großzügigen

Appartement der erfolgreichen Intellektuellen – und von ihrem Geld. Dass er mit seinem Leben und dem seines halbwüchsigen, bei der Großmutter lebenden Sohnes nicht wirklich zurechtkommt, scheint sie nicht zu bemerken.

Als Sara nach der Rückkehr unverhofft ihrem früheren Partner François begegnet und dieser Jean für einen Job anheuert, geraten die drei in eine äußerst heftige emotionale Schieflage. Wobei der einst verschmähte, nun wieder begehrte Liebhaber ziemlich teuflisch intrigiert. Silberner Bär der Berlinale 2023.

Italien 2022

Regie: Emanuele Crialese

Mit: Penélope Cruz, Luana Giuliani u.a.

Verleih: Prokino

Laufzeit: 94 Minuten

Start: 27. Juli 2023

Fremd im Leben

(ewei). Außer einer tiefen Liebe und Vertrautheit verbindet ein Gefühl die schöne Clara ganz besonders mit ihrer burschikosen Tochter Adriana: Beide sind Außenseiter, fühlen sich fremd in ihrem Leben, finden keine Anerkennung.

Clara, die für ihre Ehe mit dem zunehmend cholerischen Felice aus Spanien nach Italien zog und seine wohlhabende Großfamilie gleichsam mitheiratete, findet in der lieblos gewordenen Beziehung weder Halt noch Zugehörigkeit. Und die 12-jährige Adriana spürt, dass sie im falschen Körper lebt. Sie kleidet und stylt sich wie ein Junge, stellt sich nach dem Umzug der Familie in ein schickes Neubaugebiet an der Peripherie Roms den Nachbarn als Andrea vor. „Ihr habt mich nicht richtig gemacht“, sagt sie/er der Mutter.

Zwar hat Clara Verständnis für die tiefe Krise ihres Kindes, doch sie lebt wegen ihrer eigenen Probleme so sehr am Rand eines Nervenzusammenbruchs, dass sie die Identitätsfindung nicht unterstützen kann.

Frankreich 2021

Regie: Carine Tardieu

Mit: Fanny Ardant, Melville Poupaud u.a.

Verleih: Alamode

Laufzeit: 112 Minuten

Start: 3. August 2023

Widerstand zwecklos

(ewei). Das erste Mal begegnen sich Shauna und Pierre im Krankenhaus in Lyon. Er ist Ende 20 und behandelnder Arzt der todkranken Mutter seines besten Freunds. Sie ist Architektin und beste Freundin der Patientin, der sie Beistand leistet. Nach kurzem Gespräch über deren aussichtslose Prognose verschwindet sie.

15 Jahre später treffen sie sich im irischen Ferienhaus der Verstorbenen wieder; Pierre, mittlerweile bekannter Onkologe und glücklich verheirateter Vater zweier Kinder, erkennt Shauna sofort. Zwar knistert es recht schnell zwischen den beiden, doch die inzwischen bald 71-jährige, längst geschiedene Großmutter hat in ihrem Leben mit romantischen Gefühlen abgeschlossen. Und Pierre liebt seine Frau – und fühlt sich ihr gegenüber verpflichtet. Als er tags darauf nach Lyon zurückreist, lädt sie ihn zu ihrer Geburtstagsfeier nach Paris ein. Er zögert, denn er spürt, dass gegen die Liebe aller Widerstand zwecklos ist. Und dass mehr in der Luft liegt als eine Affäre.

Foto: © Arsenal Foto: © Alamode
KINO
Foto: © Prokino

Groß, wild, laut

Sie sehen aus wie eine quietschbunte Blaskapelle, bieten aber einen Mix von HipHop über Balkan bis Reggae. Die Maddis’son Brass Band (MBB) aus Freiburg gibt’s seit rund 15 Jahren. Nach ersten Erfolgen wurde es während der Pandemie ruhig. Jetzt nehmen die neun Musiker·innen einen neuen Anlauf. Am 12. Juli spielen sie im Actionzelt des ZMF.

Sie waren Vorband von LaBrassBanda, spielten in ihren besten Zeiten mehr als 50 Shows im Jahr und zocken auch mal in einer Touri-Bimmelbahn in Spanien. Die Maddis’son Brass Band ist so manchen Freiburger·innen ein Begriff. Wenn die Rechnung aufgeht, machen sie sich auch bald wieder überregional einen Namen.

„Wir sind am Starten“, sagt Bandleader Mathias Herzog.

Der 34-Jährige hatte die Idee zur Band schon 2006. Damals sollte er als Schüler an der Waldorfschule in Freiburg-St. Georgen eine Jahresarbeit anfertigen. So schrieb er erste Songs und gründete mit Klassenkamerad·innen die Maddis’son Brass Band. Maddis, weil das sein Spitz-

name ist. Son (Sohn), weil die Gruppe wie eine Familie zusammensteht.

Haben sie bei der ersten Schulshow gleich die Hütte abgerissen? „Na ja“, sagt Herzog und grinst. Der Stil sei damals noch anders gewesen. „Richtig los ging es erst 2008“, erzählt der Saxofonist. Da hätten sie den Sound „runtergeholt“. Mit Bariton-Saxofon und Sousafon sei es basslastiger und tanzbarer geworden. Schon damals umfasste die Kapelle neun Musiker·innen. Im bisher besten Jahr 2012 spielten sie mehr als 50 Shows, erinnert sich Herzog.

von Till Neumann Treiben es bunt: Die neun Musiker·innen der Urban Brass Band MBB. Foto: © Iwo Deibert
44 CHILLI CULTUR.ZEIT JULI/AUGUST 2023
Fotos: © Maddis’son Brass Band

Hauptberuflich ist der Familienvater Holzblasinstrumentenmacher. Den Style seiner Band beschreibt er als Mix aus treibenden Bässen, funky Beats und fernöstlichen Melodien. Garniert wird das hin und wieder mit Gesang oder Rap. In der Regel von Herzog, in der Breisgau-Ode „Freiburg“ singt auch mal Trompeter Simon Goldschagg. Neben eigenen Songs covert die Band den Deutschrap-Klassiker „Türlich, türlich“ von Das Bo. „Als Rausschmeißer“, erklärt der Frontmann.

Proben in Modulen

RATHAUS SETZT AUF MOBILE MUSIKRÄUME

Das Ringen um Proberäume geht weiter: Nach den gescheiterten Plänen für eine Musikzentrale am Güterbahnhof ist nun auch das Kellermusiklabor KA52 Geschichte. Nach monatelanger Prüfung und Stillschweigen hat das Rathaus einen Vorschlag für einen Modulstandort beim Eschholzpark vorgelegt. Eine endgültige Lösung gibt’s weiterhin nicht.

Sie spielen auf der Straße, bei Festivals und in der Bimmelbahn

Auch in der neuesten Single „Perfektion“ rappt der Bandgründer. Mit drückenden Bläsern groovt das lässig – und erinnert an die Münchner HipHop-Kapelle Moop Mama. „Je höher du fliegst, desto tiefer der Fall“, textet Herzog in dem kritischen Statement zur Hochglanz-Selfie-Karriere-Welt.

Nach einem Corona-Down geht es jetzt wieder nach oben. Zuletzt spielten sie im „Pausenraum“ in Freiburg-Zähringen. Ihre Stärke sieht auch Trompeter Lukas Stein in den Liveshows. Der 33-Jährige schätzt die „Wucht der Auftritte“. Energie und Leidenschaft zeichnen für ihn die Gruppe aus. „Ihr habt ja echt Spaß auf der Bühne“, höre er oft als Feedback.

Groß, wild und laut. So könnte man das urbane Blasorchester nennen. Ein weiteres Markenzeichen: „MBB plays everywhere“. Die Gruppe spielt Kinderkonzerte, auf Hochzeiten und Firmenfeiern. Ein Video zeigt sie auch mal bei einer rollenden Show in einer Touribahn in Spanien oder am Straßenrand im französischen Perpignan.

Straßenmusik ist seit jeher ein Steckenpferd der Gruppe. Doch der Wunsch ist klar: Es sollen mehr Festivals werden. Ein Anfang ist die Newcomer-Bühne des ZMF. Am 12. Juli tritt die Gruppe dort im Actionzelt auf. Wo sie gerne mal spielen würden? „Beim Woodstock der Blasmusik in Österreich“, antwortet Herzog. Das passe wie Arsch auf Eimer. Unrealistisch sei das nicht. Es braucht dann bloß Vorlauf bei der Planung. Mit insgesamt 16 Kindern in der Band ist die Logistik ihr wohl größter Gegner.

Im Herbst 2021 hätte das unterirdische Proberaumzentrum KA52 öffnen sollen. Rund eineinhalb Jahre später ist klar: Daraus wird nichts. Die Kosten sind weit über die geplanten 1,1 Millionen Euro gestiegen, und nun hat die Besitzerin den Nutzungsvertrag mit dem Rathaus wegen Eigenbedarfs gekündigt.

Parallel dazu legt die Stadtverwaltung nach mehr als einem halben Jahr Suche für einen Modul-Proberaum-Standort die Karten auf den Tisch. Geprüft wurden, so heißt es in einer Beschlussvorlage für den Haupt- und Finanzausschuss des Gemeinderats, die Asphaltfläche vor der Stadthalle und die Stadthalle selbst, die Wendeschleife Möslestraße, die Parkplatzfläche am Bahnhof Littenweiler, die Wendeschleife Endhaltestelle Vauban, das D4-Gebäude auf dem Güterbahnhofareal, eine Wiesenfläche Im Zinklern, eine andere beim Kunstwerk „Bandstand“ im Rieselfeld und eine Wiese an der EdithStein-Schule beim Eschholzpark. Nur die sei tauglich für eine „zeitnahe pragmatische Lösung“. Dort könnten sechs Doppelmodule mit einer Fläche von 216 Quadratmetern platziert werden. Dazu ein eingeschossiges Einzelmodul mit 18 Quadratmetern für einen Proberaum, ein Lager oder ein Büro.

Langfristig müssten die Module jedoch umziehen, da der Ort baurechtlich nur eine befristete Genehmigung zulässt. Als dauerhafte Fläche ist daher die Schönauer Straße 3 in Haslach anvisiert. Sie dient aktuell als stadteigenes Zentrum für den Katastrophenschutz. Eine Nutzung bedürfe aber noch einer „umfangreichen Prüfung“. Zudem stünde sie nicht vor 2026 zur Verfügung: „Eine Inbetriebnahme von Modulen auf dem Gelände der Schönauer Straße 3 wäre somit sicher nicht vor 2027/2028 zu erwarten.“

Das Rathaus möchte, dass die Module ab Mitte 2024 in Betrieb gehen. Für Bands heißt das: Eine kurzfristige Alternative ist in Sicht. Eine langfristige Lösung nicht.

Proberäume: Solche Module sollen beim Eschholzpark aufgestellt werden.

Dreht auf: die Band um Frontmann Mathias Herzog (in Grün).
Foto: © Meom MUSIK

Kein Ende in Sicht

MARC & TILLMAN FROM ALONE TO 1000 PEOPLE (EP) Pop/Rock

3 FRAGEN AN KATIE MELUA

Songs wie „Nine Million Bicycles“ haben Katie Melua berühmt gemacht. Vor ihrem Gig auf dem ZMF am 26. Juli hat chilli-Volontär Pascal Lienhard mit der britisch-georgischen Künstlerin telefoniert.

„Love & Money“ ist Ihr 9. Studioalbum in 20 Jahren. Wie schaffen Sie es, so produktiv zu bleiben? Ich liebe es einfach, Platten zu machen. Ich finde es auch nicht einschüchternd, unter Druck zu arbeiten. Ich mag die Tatsache, dass Leute Geld auf den Tisch legen, damit ich Alben aufnehmen kann. Natürlich bringt das auch eine gewisse Verantwortung mit sich. Aber es ist einfach toll, mit meiner Kunst Geld zu verdienen. Ich werde so lange Musik machen, bis man mir sagt, dass ich aufhören soll.

Ihr Konzert auf dem ZMF wird Ihr viertes in Freiburg sein. Was verbinden Sie mit der Stadt?

Es ist eine so schöne und liebenswerte Stadt. In der Altstadt gibt es großartige Architektur. Ich fühle mich sehr geehrt, wieder hier spielen zu können.

Freiburg ist eine Fahrradstadt. Sie werden hier kaum auf „Nine Million Bicycles“ verzichten können. Sind Sie es manchmal leid, jeden Abend die älteren Songs zu spielen?

Nein, gar nicht. Songs wie „Nine Million Bicycles“ oder „The Closest Thing to Crazy“ werden nicht langweilig. Wir spielen auch nicht so viele Shows. Es ist so besonders und schön, Paare im Publikum zu sehen oder Menschen, die sich bei den Songs umarmen.

Ganzes Interview auf: chilli-freiburg.de

Gänsehaut und Easter Eggs

(pl). Es ist ihre Debüt-EP, musikalische Anfänger sind Marc Lehmann und Tillman Duft beileibe nicht. Kennengelernt hat sich das Duo beim Musikstudium in Freiburg. Auf „From Alone to 1000 People“ präsentieren die Künstler eine Mischung aus vielen Stilen, vor allem Rock und Pop. Die sechs Songs bleiben im Ohr, auch wenn sich etwas mehr Mut ausgezahlt hätte.

Mit „World is broken so am I“ geht’s düster los. Die Gesangsleistung von Lehmann ist top, im Refrain haut die verzerrte E-Gitarre von Duft rein. Obendrauf gibt’s ein Solo auf den sechs Saiten. In eine ähnlich melancholische Kerbe schlägt die Ballade „Alone in the Dark“, in der es um Einsamkeit geht. Live dürfte die Nummer zum Gänsehautmoment werden. „Savior“ kommt tanzbar daher, Lehmann hat in dem groovenden Stück Songtitel von Taylor Swift wie „Wildest Dreams“ oder „You need to calm down“ versteckt. „Dancing Love“, eine Solonummer von Duft, klingt dagegen eine Spur elektronischer.

Das Duo versteht sein musikalisches Handwerk. Jedoch wäre es spannender, wenn Marc & Tillman ab und an weniger massentauglich unterwegs wären – wie im orchestral angehauchten „Nightingales came by“, auf dem auch Gastmusiker zu hören sind. Potential hat das Duo in jedem Fall.

Globus-Groove

(tln). Die Band Malaka Hostel meldet sich mit dem dritten Album zurück. Die fünf Freiburger kommen aus dem Wagenburg-Milieu und sind vielgereiste Vagabunden. So finden sich in ihren Songs Einflüsse aus vielen Ecken der Welt. Global Umpa nennen sie den Blumenstrauß an Styles.

Bunt treiben es die Malakas um Sänger Viktor Myron Wagner auch auf „Gogo Vago“ (Los, los Faulpelz). Die Band setzt auf Tanzbares, mal zum Jubeln, mal zum Mitsingen, mal zum Nachdenken. Eine ekstatische Gitarre eröffnet den Ball in „Vagos Dream“. Gefolgt von einem wilden Mix aus Bläsern inklusive Mundharmonika und Drums. Was auch in einem Zirkuszelt funktionieren könnte, macht hier Lust zu tanzen.

In „Bon Voyage“ gibt’s einen französischen Chorus, in „Me Voy“ spanischen Gesang von Tatán, Frontmann der Freiburger Band El Flecha Negra. Das deutschsprachige „Sternentaucher“ liefert Ska-Elemente, „Phoenix“ kommt mit rockigerem Sound und arabischen Vocals einer Sängerin daher. Orientalisch klingt’s bei „Yai Gibi“.

Wer in 32 Minuten um den Globus grooven möchte, ist bei den Malakas richtig. Das Album ist eine Reise, die wenig roten Faden bietet, dafür umso mehr Überraschungsei-Momente. Live zu sehen gibt’s das am 19. Juli im Badische-Zeitung-Zelt des ZMF.

Platte desMon a st
Foto: © RBK Fusion
46 CHILLI CULTUR.ZEIT JULI/AUGUST 2023 MUSIK
MALAKA HOSTEL GOGO VAGO (LP) Global Pop

... zu Melanie Müller

Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Retro-Vibe

(pl). Eine knallbunte Wand und ein typisches 60s-Outftit: Das Cover der Debüt-EP von Mieke zeigt, wo es hingeht. Vor allem die Beatles spielen auf „I'm With The Band“ eine große Rolle. Doch auch an Gesellschaftskritik spart die Freiburger Musikerin nicht.

Mieke ist nicht nur Sängerin, sondern spielt auch Klavier, Ukulele und Gitarre. Musikalisch wirft sie gerne einen Blick in den Rückspiegel. Das zeigen auf der aktuellen EP schon die Titel: Den Auftakt macht „1957“, Schlusspunkt ist „1963“. Kenner·innen wissen, was gemeint ist: 1957 lernten sich John Lennon und Paul McCartney kennen, 1963 erschien die erste LP der Pilzköpfe. Da ist es konsequent, dass die ersten Takte der Platte an ihren Hit „Get Back“ erinnern. Das atmosphärische „Somehow, Someday“ lässt dagegen an die psychedelische Phase der Beatles denken.

Ein Highlight ist das bluesige „Money Factory“. In den Lyrics rechnet Mieke mit Sexismus, Rassismus, Waffengewalt, Faschismus und Kapitalismus ab. Gegen Ende dockt die Musikerin musikalisch am Gospel an und präsentiert die Liebe als Antwort. Kann man kitschig finden, funktioniert musikalisch aber super. Auch wenn es an manchen Stellen am Wiedererkennungswert fehlt, ist Mieke mit „I'm With The Band“ eine kurzweilige Zeitreise gelungen.

Gegen die Angst

(tln). Mit zwei Singles hat sich die Ein-Mann-Band Wen Anders gerade vorgestellt. Hinter dem Indie-Projekt steckt der Freiburger Stefan Karl. Der Sänger, Gitarrist und Produzent mag es psychedelisch. Seine Musik sei „wie die dünnen Rauchschwaden einer Zigarette, die im Schein eines verhangenen Kronleuchters Gestalt annehmen“.

Mit „Nicht schlecht“ hat der Musiker mit Retro-Look einen vor sich hin wabernden Chill-Track geschraubt, der als verkappte Liebeserklärung an einen Mensch gelesen werden kann –oder an den Alkohol. „Bisschen angetrunken sind wir gar nicht mal so schlecht“, haucht er ins Mikro. Und erzählt von schwerelosem Sex. Dazu gibt’s verträumte Gitarrenriffs.

Die Rauchschwaden sind zu hören. Ein Glockenspiel sorgt für schimmernde Strahlen. Herrlich neben der Spur rieselt das durch die Kopfhörer.

Lässig kommt auch „Ich will mehr“ daher. Im Herbst soll eine EP folgen. Produziert ist das alles in Eigenregie im heimischen WG-Zimmer-Studio. Wen Anders möchte mit seiner Musik „Menschen die Angst nehmen“. Musik ist hier Therapie, die dem ehemaligen Musikpromoter aus Stuttgart geholfen hat, einer „Wand aus Depressionen und emotionaler Erschöpfung“ zu entkommen. Gerne mehr davon.

Den Namen Müller als urdeutsch zu bezeichnen, ist sicherlich nicht grundfalsch, wenn er nicht gar der Deutsche Name schlechthin ist. Neben Maier, Schmidt, Huber und Leutheusser-Schnarrenberger natürlich. Nun aber zu Melanie, Melanie Müller, ihres Zeichens Porno-Darstellerin, Reality-TV-Nudel und last but aber auch ziemlich worst Ballermann-Sängerin.

Wer kennt sie hoffentlich nicht, ihre Mallorca-Hits wie „Die Evolution ist in Gefahr – wir müssen poppen“, „Wir sind Mallorcageil“ oder auch „Beim Après-Ski vernasch i di“. Ihre Filmographie, allerdings unter dem schillernden Pseudonym Scarlet Young, liest sich ähnlich beeindruckend. Aber am spektakulärsten mutet ihre Nebenrolle in dem Deutschen Spielfilm „Der schwarze Nazi“ von 2016 an.

Im letzten Jahr hat es sich die Dame nicht nehmen lassen, bei einem Auftritt vor Artgenossen zuerst in das vom Publikum geblökte „Ost, Ost, Ostdeutschland“ miteinzustimmen und dann ein paar Mal mit dem rechten Arm einen draufzusetzen. Zicke zacke zicke zacke wäre schon seit Jahren ihr Schlachtruf und dazu hebe sie eben gerne den rechten Arm. Von der rechten Szene aber distanziere sie sich eindeutig. Alles klar, Frau Müller, warum haben sie’s nicht gleich gesagt. Wir müssen leider dranbleiben – alles was rechts ist.

Es grüßt Zicke zacke Mallorca-Kacke

Ralf Welteroth

für Ihre GeschPo

MIEKE
Indie-Folk/Pop WEN ANDERS NICHT SCHLECHT
Indie
I'M WITH THE BAND (EP)
(SINGLE)
KOLUMNE

Ein hoffnungsmutiges Wagnis

DER JUNGE FREIBURGER 8 GRAD VERLAG HAT SICH BESONDEREN BÜCHERN VERSCHRIEBEN

Derzeit haben die Mitarbeiter des vor zwei Jahren gegründeten kleinen Freiburger Verlags 8 Grad alle Hände voll zu tun: Sechs Bücher für das Herbstprogramm sollen im September erscheinen. Dazu kommen noch ein Adventskalender sowie der Kulturkalender Baden und Württemberg 2024. Der ist sogar schon ab dem 1. August zu haben.

„Zehn bis zwölf Titel im Jahr zu verlegen“, sagt Verlagsgründer und -leiter Matthias Grüb, habe sich das Team aus drei fest angestellten und doppelt so vielen freien Mitarbeiter·innen zum Ziel gesetzt. Und bisher, fügt er hinzu, hätten sie dieses Ziel auch erreicht: Nach dem Startsortiment im Herbst 2022 mit zwei Sachbüchern, zwei Romanen, einer literarischen Landschaftsbetrachtung und den besagten Kalendern kamen im Frühjahr 2023 zwei weitere Sachbücher, ein Roman und eine anekdotenreiche Wertschätzung des „Schwabenmetropöleles“ Stuttgart sowie eine ausgesprochen buchkunstvoll aufgemachte Neuausgabe von

Wilhelm Hauffs Schwarzwälder Märchen „Das kalte Herz“ auf den Markt. Was die Produktionen des im Freiburger Stadtteil Herdern angesiedelten Verlags bei aller Unterschiedlichkeit verbindet: Sie alle haben einen Bezug zu der Region, durch die sich der achte Grad östlicher Länge zieht. Daher der zunächst rätselhaft anmutende und dann durchaus einleuchtende Name des kleinen Unternehmens, das der 51-jährige habilitierte Augenheilkundler zweitberuflich führt.

Der gebürtige Schwabe, der seit knapp 20 Jahren „aus Überzeugung“ in der Region Freiburg lebt und eine eigene Praxis betreibt, bringt so nicht nur seine persönliche Vergangenheit und Gegenwart zusammen. Er will zudem auch die Gemeinsamkeiten der beiden Bestandteile des von ihm so geschätzten Südweststaats deutlich machen.

Deshalb kommt nach Hauff nun eine ebenso bibliophile Version von Eduard Mörikes „Stuttgarter Hutzelmännlein“ in den Handel. Und deshalb folgt auf das vor einem Jahr unter dem Titel „Schreiben in Zeiten des Kriegs“ erschienene Porträt der sozialdemokratischen Stuttgarter Frauenrechtlerin Anna Haag nun eine Biografie der Freiburgerin Lotte Paepcke.

„Fremd im Wirtschaftswunderland“ heißt das Buch über die Autorin

und Journalistin, die als Tochter einer jüdischen Familie die letzten Jahre der Nazizeit im Versteck im Kolleg in Stegen überlebte. Solche Bücher, findet Matthias Grüb, der „schon als Kind irrsinnig literaturliebend“ war, gerade in heutigen Zeiten „sehr wichtig“.

Auf die Frage, ob es nicht ein mutiger Schritt war, in eben diesen Zeiten einen solch speziellen Verlag aufzumachen, zitiert er Schiller: „Wer nichts waget, der darf nichts hoffen.“ Die Bilanz des ersten Jahres zeige, dass „die Geschichten, die wir sammeln und auf den Markt bringen, ihre Leser·innen durchaus finden“. Eine davon, Claudia Kowalds Roman „Menschenkette“, steht auf der Shortlist für den Anna-Haag-Literaturpreis für BadenWürttemberg. Mattias Grüb darf also hoffen.

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Verlag: 8 grad verlag

160 Seiten, gebunden

Preis: 24 Euro

Menschenkette

Verlag: 8 grad verlag

296 Seiten, gebunden

Preis: 24 Euro

„Irrsinnig literaturliebend“: Matthias Grüb von Erika Weisser Foto: © ewei von Cäcilie Kowald Das kalte Herz von Wilhelm Hauff Mit Illustrationen von Christian Sobeck Verlag: 8 grad verlag Seiten, gebunden, Preis: 24 Euro Lotte Paepcke in Baden von Gisela Hack-Molitor
48 CHILLI CULTUR.ZEIT JULI/AUGUST 2023 LITERATUR

DIE KINDER VON BEAUVALLON MUTTERS STIMMBRUCH von Katharina

Mevissen

Verlag:

Wagenbach 2023

126 Seiten, Klappbroschur

Preis: 22 Euro

Zahnloses „Monschter“

(ewei). Einst beherrschte Mutter neun Sprachen. Eine Haus- und eine Garten-Sprache, zudem die in der eigenen Kindheit sowie die später für die eigenen Kinder erdachten Idiome, ebenso eine Körpersprache und Kommunikationsformen mit dem Ehemann und anderen Erwachsenen. Und natürlich auch die sogenannte Muttersprache.

Diese, schreibt Katharina Mevissen, habe sie „als letzte gelernt“: Zwanzig Kurse an der Volkshochschule musste sie nehmen, „bis niemand mehr fragte, woher sie denn käme“. Nie habe Mutter dieser Muttersprache verziehen, „dass sie so viel gekostet hat“. Dennoch vergaß sie sie als Erste wieder.

Doch inzwischen „redet sie mit niemandem mehr“. Außer manchmal mit der Heizung oder mit dem Radio. Denn Erstens lebt sie sehr allein im leeren Haus und Garten und Zweitens verliert sie allmählich die Zähne. Mit dem Ergebnis, dass ihre Stimme tief und die Aussprache undeutlich wird: Zwei Kinder, die sie nach dem Weg zur Eisdiele fragt, „glauben ihr aufs Wort“, als sie ihnen gebisslos nuschelnd versichert, dass sie ein „Monschter“ sei.

Mit diesem teils heiteren, teils tragischen Text ist der jungen, experimentierfreudigen Autorin eine poetisch-surreale und lange nachhallende Abhandlung über äußere und innere Alterungsprozesse gelungen.

DIE KRUME BROT

von Lukas Bärfuss

Verlag:

Rowohlt 2023

224 Seiten, gebunden

Preis: 22 Euro

Glück und Katastrophe

(ewei). Schon der erste Satz lässt ahnen, dass es wohl kein Entrinnen gibt: „Niemand weiß, wo Adelinas Unglück seinen Anfang nahm, aber vielleicht begann es lange vor ihrer Geburt.“ Von einem Ende ist nicht die Rede.

Dennoch hofft man bis zuletzt mit der jungen, tapferen, dem Leben aber abhanden gekommenen Frau. Man wünscht, dass es ihr gelingen möge, sich aus der von Großvater und Vater ererbten Misere zu kämpfen. Beide Männer versagten als Väter, fanden ihren Weg nicht; als italienische Arbeitsimmigranten in der Schweiz hinterließen sie Adelina außer der falschen Abstammung auch einen Berg Schulden.

Ein dritter, ebenso verantwortungsversagender Mann kommt dazu. Mit ihm erlebt die gerade volljährige Fabrikarbeiterin höchstes Liebesglück und tiefe Katastrophe: Nach der Geburt der Tochter lässt er Adelina allein zurück. Ganz allein: Auch ihre Mutter lebt längst wieder in Italien.

Wie schwer es Alleinerziehende in den 1970er-Jahren nicht nur in der Schweiz hatten, hat Lukas Bärfuss in jener Zeit selbst erfahren – als Kind. Mit allen späteren Konsequenzen. Deshalb kommt er seiner Figur sehr nahe, begleitet sie mit Empathie und Unerbittlichkeit. Und macht wütend auf die Verhältnisse, die Menschen in Armut so gut wie keine Chance bieten.

von Bettina Storks

Verlag: Diana 2023

464 Seiten, Klappenbroschur

Preis: 16 Euro

Die Macht des Schweigens

(ewei). Agnes war acht, als sie Lily zum letzten Mal sah: An einem Oktobermorgen im Jahr 1940 wurde sie Augenzeugin der Deportation der jüdischen Familien Sulzburgs in das Internierungslager Gurs. Auf dem Marktplatz steckte Lily ihr ein halbes Foto zu, das ihr Gesicht zeigt. Die andere Hälfte mit Agnes’ Konterfei nahm sie mit auf ihre Reise mit unbekanntem Ausgang.

Lange hält sich Agnes an das Versprechen, nach der Kindheitsfreundin zu suchen. Doch als sie von den Lagern und der Ermordung von Lilys Eltern erfährt, begräbt sie alle Hoffnung auf ein Wiedersehen.

1965 – sie wohnt inzwischen in Freiburg, arbeitet als Lokalnachrichtenmoderatorin beim Südwestfunk-Landesstudio in Günterstal und spricht fließend französisch –flammt diese Hoffnung jedoch wieder auf: Ihr Redaktionsleiter beauftragt sie, eine verschwiegene Geschichte im südfranzösischen Département Drôme zu recherchieren. In einem Ort namens Dieulefit, wo knapp 2000 Einwohner während der deutschen Besatzung etwa 1500 Flüchtlinge versteckt hätten, darunter viele aus Gurs gerettete Kinder.

Agnes wird fündig, ihre Reportage wird vom Sender aber abgelehnt – zu früh für solche Themen, heißt es. Dabei ist dies von Bettina Storks bestens aufgearbeitete Thema damals wie heute von Relevanz.

FREZI
JULI/AUGUST 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 49
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