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Wiederentdeckt!

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Verlagsvorstellung

Verlagsvorstellung

Vergessenen Schriftstellerinnen auf der Spur...in

Frauen schreiben seit Jahrhunderten. Aber sie wurden weniger wahrgenommen, schlechter beurteilt, aus dem Kanon geschrieben und im Anschluss schneller vergessen. Die Liste von Autoren, deren Werke man unbedingt mal gelesen haben sollte, ist lang – aber auch überwiegend weiß und männlich. Noch heute ist der literarische Kanon auffällig unausgewogen, dabei haben all diese Schriftstellerinnen ihre Spu- ren hinterlassen und aus ihrer Sicht und über ihre Realitäten geschrieben. Ihre Schicksale, Wünsche und Träume warten nur darauf, kennengelernt und wiederentdeckt zu werden. Wir möchten euch hier fünf großartige Autorinnen vorstellen, deren Werke unbedingt mehr Aufmerksamkeit verdient haben und die wir euch von Herzen empfehlen.

Alba de Céspedes ist eine kubanisch-italienische Schriftstellerin, Journalistin und Wiederstandskämpferin. Ihr erster Roman fiel bei Erscheinen wegen seiner "zu selbstbestimmten Frauenfiguren" der Zensur zum Opfer und erregte in den 1930er Jahren den Unmut des faschistischen Regimes. Die Autorin wurde während des Krieges zweimal inhaftiert, da sie im aktiven Widerstand war. Jahre später arbeitete sie als Radio- und Fernsehjournalistin, schrieb Prosa, Lyrik und fürs Theater. Ihre Romane wurden zu internationalen Bestsellernn. 2021 wurde Das verbotene Notizbuch vom Insel Verlag wiederentdeckt und neu veröffentlicht. Ihr Roman Aus ihrer Sicht ist dieses Frühjahr erschienen und Franzi hat für euch reingelesen: Der Roman erzählt von Alessandra, die in Rom in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen ist. Alessandra möchte sich nach dem Tod der Mutter nicht mit der vorgelebten Frauenrolle zufriedenstellen und fordert Gleichberechtigung von Mann und Frau. In einem von Faschismus und dem Patriarchat beherrschten Italien entspinnt sich das intime und hochpolitische Schicksal einer Frau, die das Unmögliche möglich macht: Resignation in Rebellion zu verwandeln. Aus ihrer Sicht ist eine herzzerreißende Liebesgeschichte und ein authentisches Zeitdokument. Große Leseempfehlung auch für alle Elena Ferrante-Fans!

Alba de Céspedes: Aus ihrer Sicht. Insel Verlag, 637 Seiten, 28 €

Maria Borrély wurde in Marseille geboren und lebte ein Leben voller Kämpfe. Sie führte ein Leben zwischen Aufbruch und Rückzug. Mistral, der erste von insgesamt vier Romanen, die innerhalb weniger Jahre entstanden, wurde 1930 auf Empfehlung von André Gide bei Gallimard veröffentlicht. Maria Borrélys Wunsch, selbst zu schreiben, entstand in der Künstler-Gruppe, der sie neben Jean Giono, dem Maler Bernard Thévenet, Gabriel Péri, Édouard Peisson und Paul Maurel angehörte. Nun erscheint die Neuübersetzung von Amelie Thoma im Kanon Verlag und unser Buchhändler Rafael hat den Titel für dich gelesen: "Der Mistral ist ein kalter, trockener, oft starker Fallwind, der über die Provence fegt. In Maria Borrelys Roman ist er allgegenwärtig. Als Hintergrundrauschen, als brutale Naturgewalt, als Freund und Feind der Bauern in der Haute de Provence. Die Geschichte handelt jedoch nicht nur vom Wind und der rauen Schönheit der Natur, es geht auch um Marie, die an einer unerwiderten Liebe zugrundegeht. Beim Lesen spürt man förmlich die Brise, von Borrély heraufbeschworen in lyrischer Sprache. Erstaunlich aktuell liest sich diese Geschichte, die in den Dreißiger Jahren erschienen ist. Es geht nämlich nicht nur um tragische Liebe und Wind, es geht auch um die Veränderung der Natur, die Verwüstung des Landes, ständig werden Bäume gefällt, um die Marie dann trauern kann. Die handelnden Personen ernten und arbeiten und sammeln und reden in einem Fort miteinander und haben zumindest in mir so etwas wie eine idyllische Ruhe, aber auch eine leichte Sehnsucht ausgelöst. Außerdem halte ich Mistral für sehr ergiebig und tief, was dazu einlädt, den nur knapp über hundert Seiten zählenden Roman immer wieder zur Hand zu nehmen, genau zu lesen und sich im besten Fall darüber auszutauschen. Ich kann jedenfalls allen Menschen empfehlen, dieses Buch zu lesen und anschließend nach Frankreich zu fahren. Ich habe zumindest große Lust bekommen, mich von diesem Wind umwehen zu lassen."

Maria Borrély: Mistral. Kanon Verlag, 128 Seiten, 20 €

Amalie Skram lebte, was sie in ihren Büchern propagierte, und schrieb über das, was sie erlebte. In ihrem schriftstellerischen Werk schrieb sie über Scheinheiligkeit und Doppelmoral; ihre Bücher behandeln immer wieder die Themen Prostitution, das Elend der Versorgungsehe und unerfüllte weibliche Sexualität. Die Autorin wurde im norwgischen Bergen geboren und heiratete mit 18 Jahren einen Kapitän, den sie bei seinen Reisen rund um die Welt belgeitet. Nach dreizehn Ehejahren und der Geburt von zwei Söhnen ließ sie sich scheiden und zog nach Oslo, wo sie fortan allein von ihrer schriftstellerischen Arbeit lebte. Elsa aus dem Marketing Team der Buchbox empfiehlt euch die Romantrilogie Die Leute vom Hellemyr, ein naturalistisches Hauptwerk der norwegischen Literatur, das nun auch in Deutschland neu veröffentlicht wurde: Die große Familiensaga, die ihren Anfang im frühen 19. Jahrhundert nimmt, handelt von Bauer Sjur Gabriel, seiner Frau Oline sowie ihren Kindern. Sie leben auf dem Hof Hellemyr, dem "Felsenmoor“. Sie sind „Strile“, bettelarme Landleute, die trotz harter Arbeit arm bleiben. Die junge Protagonistin wird als Säuferin bekannt – eine Lachnummer für Städter:innen und Angstfigur für Kinder und Enkel:innen die versuchen, dem schlechten Ruf der Familie zu entfliehen. Über vier Generationen hinweg nimmt man Teil an ihrem Leben, ungeschönt und unverblümt. Amalie Skram gibt der norwegischen Bevölkerung eine Stimme, Arm und Reich, und schreibt dabei außergewöhnlich direkt über Themen wie Sexualität, Fehlgeburten und frühen Kindstod, über Ehebruch, Machtmissbrauch und hemmungslose Gewalt. In Norwegen bereits ein Klassiker, mit der neuen Übersetzung ins Deutsche wird die zu Unrecht übersehene Autorin nun auch hier in ein neues Licht gesetzt.

Amalie Skram: Die leute vom Hellemyr. Guggolz Verlag, 4 Bände ca. 1200 Seiten, 69 €

Etty Hillesum war eine junge jüdische Intellektuelle, die während der deutschen Besatzung ihres Heimatlandes, der Niederlande, Tagebuch schrieb. Unsere Buchhändlerin Charlotte hat ihr Tagebuch gelesen und meint: "Ihre Aufzeichnung sind nicht nur ein berührendes Zeitdokument, sondern setzen sich auch eindringlich mit der Herausforderung des Erhalt allen Guten und Menschlichen im Angesicht der verführerischen Macht des Faschismus auseinander." Fünf Jahre nach der Erstveröffentlichung liegen Übersetzungen in zwölf Sprachen vor. Sie wollte Ordnung in ihr Leben bringen, den Dingen auf den Grund gehen, Gott finden, aber auch Zeugin des Schicksals ihres Volkes werden. Inmitten des Schreckens berichtet sie von der Suche nach Einfachheit und Achtsamkeit und schließlich nach Licht in der "Hölle auf Erden". Die erlebte sie seit dem Sommer 1942 im Durchgangslager Westerbork, wo sie für den "Judenrat" in der "Sozialen Versorgung der Aussiedler" arbeitete. Ihre Briefe aus dieser Zeit beschreiben den täglichen Horror. Am 7. September 1943 wurde Etty Hillesum selbst nach Auschwitz-Birkenau deportiert und kam dort um. Der letzte Teil des Tagebuchs ist nicht überliefert. Nach der Publikation von Auszügen aus den Tagebüchern 1981 war eine zuverlässige Neuübersetzung des Gesamtwerks überfällig. Die Ausgabe lässt uns eine Schriftstellerin und Denkerin neu entdecken, die zu Recht mit Anne Frank, Simone Weil und Edith Stein verglichen wird.

Etty Hillesum: Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. C.H. Beck, 989 Seiten, 42 €

Buchi Emecheta (1944-2017), geboren in Lagos in Nigeria, verließ früh die Schule und heiratete 1960 Sylvester Onwordi, mit dem sie seit dem elften Lebensjahr verlobt war. Nachdem sie zwei Kinder geboren hatte, folgte Buchi ihrem Mann nach London, wo er studierte, und trennte sich im Alter von 22 Jahren von ihm, nachdem er ihr Manuskript ihres ersten Buches verbrannt hatte. Im Anschluss schloss sie ein Soziologiestudium mit Auszeichnung ab, versorgte gleichzeitig fünf Kinder und nutze die frühen Morgenstunden, um zu schreiben. Second-Class Citizen beschreibt ihren Lebensweg romanhaft und behandelt den Kampf gegen Sexismus in Nigeria und gegen Rassismus, Sexismus und Klassenvorurteile in England. Das Werk gilt als Meilenstein der Schwarzen Literatur und wird von Autorinnen wie Bernadine Evaristo und Chimamanda Ngozi Adichie verehrt. Bernadine Evaristo nennt sie die "Urmutter der Schwarzen feministischen Literatur" und sie ist mit ihren Bücher über das Leben afrikanischer Frauen in Afrika und Großbritannien die be kannteste Schriftstellerin Nigerias. Während ihr Werk in Großbrittanien vielfach ausgezeichnet wurde, ist es in Deutschland bislang beinahe unentdeckt geblieben.

Buchi Emecheta: Second-class citizen. Aufbau Verlag, 285 Seiten, 23 €

Komm in die Whatsapp-Gruppe!

"Was unterscheidet das Schaf von den Wölfen?" Mit diesen Worten beginnt Maximilian Krach sein Seminar GENESIS EGO, in dem er seinen Teilnehmern beibringt, wie aus einem Loser ein erfolgreicher Mann wird. Denn Maximilian ist erfolgreich - er hat den Aufstieg nach oben geschafft, ist vom Schaf zum Wolf geworden. An seinem Handgelenk glitzert eine dicke Uhr, erst gestern hat er sich aus Langeweile einen Bentley gekauft. Aus Großmut und Nettigkeit will er seinen Jüngern zeigen, dass es nur 3 Dinge braucht, um sein Leben zum Besseren zu wenden: Mindset, Disziplin, Ego! Mirko, ein junger Mann Ende 20 fühlt sich plötzlich wahrgenommen, als er ein Seminar in Gütersloh besucht. Endlich scheint sein Leben einen Sinn zu haben, er gehört zu einer Gruppe dazu! Doch auch ein Wolf zweifelt manchmal, und Maximilian Krach wird irgendwann von der Realität eingeholt ... Sebastian Hotz, den wir (fast) alle als El Hotzo kennen, hat mit MINDSET endlich einen Text verfasst, der über die 144 Zeichen hinausgeht, und ich muss sagen: Auch das kann er gut! Die Story von Maximilan und Mirko ist wirklich sehr unterhaltsam zu lesen. Beim Lesen taucht man in die (mir völlig unbekannte) Welt der Persönlichkeits- und Erfolgscoaches ein, die erst etwas unangenehm, und schließlich einfach nur lustig und faszinierend ist. Man blickt hinter die Kulissen der Männer, die auf Instagram damit werben, Mann müsste nur hier ein bisschen investieren, dort ein wenig produktiver sein und in die Whatsapp-Gruppe kommen. Dass die Realität aber eben ganz anders ist, schwingt schon am Anfang von MINDSET mit, bis zum Ende, als die Bombe platzt. Eine mehr als lustige Geschichte über Männer, Erfolg und Lebenskrisen.

Sebastian Hotz: Mindset. Kipenheuer & Witsch Verlag, 288 Seiten, 23 €

Und? Pläne fürs Wochenende?

Ja. Ich werde Zeit mit Freunden verbringen.

Illustration entnommen aus: Debbie Tung: Book Love. Eine Liebeserklärung an das Lesen. Graphix Loewe Verlag, 144 Seiten, 16 €

Perfektes

WOCHENENDE

Unser Buchhändler Steffen hat "Die Perfektionen" von Vincenzo Latronico gelesen und ihm gleich auch ein paar Fragen gestellt:

Ich kam 2009 nach Berlin. Ich hatte einen nervtötenden Job an einer Universität, mein erster Roman hatte einen Preis gewonnen, und ich wollte das Geld so lange wie möglich behalten. Damals war Berlin der richtige Ort dafür. Heute ist es das nicht mehr. Auch das ist Teil des Buches, wie sich Berlin in den letzten Jahren verändert hat - aus der Perspektive von jemandem, der diese Veränderung zum Teil verursacht hat.

Beim Lesen habe ich mich an Die Jahre von Annie Ernaux erinnert. Ist Die Perfektionen für dich Autofiktion?

Der Vergleich schmeichelt mir, aber ich würde mein Buch so nicht bezeichnen. Natürlich haben die Figuren und ihre Geschichten viel mit meinen Erfahrungen gemeinsam; aber alles in allem unterscheidet sich das nicht davon, wie Romane aus dem Leben im Allgemeinen schöpfen. Ich kann mich zwar mit den Figuren identifizieren, aber nicht vollständig. Sie sind eher unglücklich und sie haben auch eine schönere Wohnung.

Inwieweit spielt Nationalität oder Herkunft eine Rolle, wenn man in eine fremde Stadt zieht. Und was noch wichtiger ist, spielt es für die projizierten Sehnsüchte eine Rolle, ob man zugezogen oder einheimisch ist?

Ich denke, dass "Sehnsüchte" hier ein entscheidendes Wort ist. Die Personen, über die ich geschrieben habe, zogen nach Berlin, weil sie von Freiheit und Überfluss träumten, die in der Stadt zu dieser Zeit verfügbar schienen - ein Produkt sowohl ihrer Geschichte, als auch einer cleveren Stadtmarketingstrategie. Ich denke, dass es für Ausländer einfacher war, diese Vision auf die Stadt zu projizieren, ohne ihre konkrete soziale Realität zu berücksichtigen: Sie (wir) lebten in einer Art nichtdeutschsprachiger Blase, die aus Kunstgalerien und Parties und billigen Mieten bestand. Es gab auch viele Deutsche, aber für die war es schwieriger, die Realität so zu ignorieren.

Was macht die Expat-Kultur in Berlin aus deiner Sicht aus?

Es gibt eine große Kluft zwischen denen, die in den 00er und frühen 10er Jahren kamen - angelockt von der "arm und sexy" - Atmosphäre, mit künstlerischen Ambitionen und wenig Geld - und denjenigen, die später kamen, mit Geld und Tech-Jobs. Keine der beiden Gruppen hat sich wirklich auf die Stadt eingelassen (zum Beispiel durch Deutschkenntnis): Ich erinnere mich, als ich das erste Mal nach Charlottenburg ging, wo ich jetzt lebe – 2010, ich war seit zwei Jahren in Neukölln - sagte mir jemand: "Hier sind wir nicht in Berlin, das ist die Hauptstadt von Deutschland." Und jetzt werden diese Früheren immer mehr vertrieben, wegen der steigenden Preise und dem Mangel an Wurzeln.

Wie schätzt du den Einfluss der sozialen Medien auf die Community in Berlin ein?

Ich weiß nicht, ob die sozialen Medien in Berlin einen stärkeren Einfluss haben als anderswo. Ich denke, sie tragen zu einer Art Loslösung von der Realität bei - zu dem Eindruck, dass unsere Leben und unsere Identität durch Kuration und Auswahl definiert werden können, statt durch Geschichte und Geografie bestimmt zu werden. Die Transformation Berlins ist in gewisser Weise ein sehr gutes Symbol für diese Losgelöstheit - und darüber wollte ich in meinem Buch schreiben. Wir nennen diese Losgelöstheit "Gentrifizierung", wenn sie den städtischen Raum betrifft, aber ich denke, sie ist tiefer und umfassender als das. Sie hat mit unserer Identität und unserem Selbstverständnis zu tun.

Rezension

Anna und Tom ziehen als junge digitale Kreative aus Südeuropa in ihren Sehnsuchtsort Berlin, um Freiheit und Selbstverwirklichung im 21. Jahrhundert zu suchen. Nachdem das Paar anfangs fündig wird, bildet Vincenzo Latronico penibel und komplex im Text ab, was sich in der Stadt ausbreitet, sie verändert, wovon auch Annas und Toms Leben nicht unberührt bleiben. War das Berlin, in das sie vor Jahren gezogen waren, überhaupt real? Viele Freunde können sich ihre Leben nicht mehr leisten, alle Drogen sind genommen, jedes hippe Restaurant ist ausprobiert, jeder Flohmarkt besucht. „Die Perfektionen“ ist ein kluger Roman über moderne Mythen. Trotz analytischer Schärfe und stilistischen Wagnissen ist es ein auch ein hochemotionales Werk, das Fragen danach stellt, was von erfüllten Träumen bleiben kann und wie sich Melancholie anfühlt. Wanna feel blue about your Berlin life?

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