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Şeyda Kurt

Şeyda Kurt / Von der Macht eines widerständigen Gefühls

Şeyda Kurt ist freie Journalistin* und Autorin*, Moderatorin* und wirkte auch schon bei unterschiedlichen Podcasts mit. Im März erscheint jetzt endlich ihr neues Buch "Hass", in dem sie dieses allgegenwärtige Gefühl von seiner schöpferischen Seite erkundet: Als Kategorie der Ermächtigung, die Menschen in ihrem innersten Unbehagen abholen und mobilisieren kann, als widerständiges Handwerk – und nicht zuletzt als dienliches Gefühl, das uns hilft, uns in einem Ozean aus möglichen Reaktionen auf die Welt zurechtzufinden. Foto: Harriet Meyer

Wir freuen uns sehr, dass du mit uns deine Buchpremiere feiern wirst. Kannst du dich noch an deine erste erinnern? Ist dir etwas besonders in Erinnerung geblieben?

Es sind viele schöne Erinnerungen. Es ist mir einfach als eine durch und durch schöne Premiere in Erinnerung geblieben. Ich glaube, was ich richtig schön fand, war, dass meine Freund:innen alle da waren und in der ersten Reihe saßen, richtig Spaß hatten und sich betrunken haben. Es war natürlich auch toll, dass meine Freundin Fatima moderiert hat. Ich kann jetzt gar nicht so ein Highlight sagen, aber mir hat die Location sehr gefallen, draußen, Sommer. Die Buchpremiere hat ja schon ein bisschen später als die Buchveröffentlichung stattgefunden. Es war für mich also auch total schön zu sehen, dass es trotzdem voll war, alle Bock drauf hatten und mit sehr viel Input und Zärtlichkeit dahin gekommen sind, weil das Buch ihnen schon vorher etwas gegeben hat. Später haben wir noch ein bisschen auf den Tischen getanzt.

Radikale Zärtlichkeit war sehr erfolgreich, du wurdest zu vielen Interviews eingeladen und liest und moderierst seither auch auf verschiedenen Veranstaltungen. Wie ist es für dich, in der Öffentlichkeit und auf der Bühne zu stehen?

Ich glaube, durch die Lesungen mit Radikale Zärtlichkeit habe ich mittlerweile schon eine Routine entwickelt. Ich weiß auch, dass ich am Anfang sehr verunsichert war und das Gespräch mit den Moderator:innen gesucht habe, genau wissen wollte, was passiert und welche Fragen gestellt werden. Mittlerweile bin ich eher so: “Hey Leute, macht einfach euer Ding”. Ich kenne das Buch jetzt in- und auswendig und kann mir nicht mehr vorstellen, dass noch eine Frage oder Diskussion kommt, die mich irgendwie schockiert. Trotzdem ist “auf der Bühne sein” auch immer eine Herausforderung, weil es sehr viel mit meinem psychischen und gesundheitlichen Zustand zu tun hat. Du musst vor einem Publikum sitzen und funktionieren, manchmal klappt das jedoch einfach nicht so gut.

Jeweils ein halbes Jahr. Das ist für ein Buch, das als Sachbuch oder Essay einen wissenschaftlichen Anspruch hat, sehr wenig Zeit. Das hat natürlich auch mit den Absprachen des Verlags zu tun, aber ich habe auch nicht den Anspruch, in einem Buch alles zu erzählen. Ich bin nicht die Person, die alles weiß.

Ich bin ein Mensch, der sich sehr viel widerspricht und dazulernt. Ich habe schon beim ersten Buch gesagt, dass ich das Buch heute nicht mehr so schreiben würde und ich glaube, über Hass werde ich spätestens in ein paar Wochen dasselbe denken, wenn ich mit Leuten in Gespräche damit gehe. Es soll auch gar nicht für sich selbst stehen, als ein statisches Etwas, das dann in sich geschlossen ist und einfach vollkommen, sondern es soll eine Gesprächsgrundlage darstellen. Ich mache neben meinem Job seit Jahren auch politische Basisarbeit und die spannenden Dinge passieren immer im Gespräch und in der Öffentlichkeit und nicht in der stillen Kammer, in der ich meine Gedanken und Gefühle verknüpfe. Es sind schwere Themen und ich möchte so viele Menschen wie möglich ansprechen und mitnehmen. Ich weiß auch aus eigener Erfahrung, dass es manchmal besser ist, wenn Sachen kürzer und Gedanken eher Impulse sind, die Leser:innen dann für sich selbst weiterspinnen können.

Wer sind deine literarischen Vorbilder? Welche Bücher haben dich besonders geprägt?

Aber grundsätzlich macht mir das immer noch sehr viel Spaß. Denn das Buch, das du veröffentlichst, ist ja eine Momentaufnahme von einer Debatte oder von einem Gespräch oder Gedanken, die ich hatte und das, was eigentlich so spannend ist, folgt danach, im Gespräch mit Leser:innen. Das führt dann auch wiederum zum Dialog mit mir und meinem Buch und zwischen mir und mir selbst. Die Gedanken und Gefühle, die ich daraus mitnehme, haben in den letzten zwei Jahren eine Menge mit mir gemacht.

Warum nur diese 170 Seiten? Hast du eine Begrenzung vom Verlag oder setzt du dir selbst eine?

Beides. Erstmal habe ich beide Bücher in einer ziemlich kurzen Zeit geschrieben.

Eine große inhaltliche Inspiration war das Buch Selbstverteidigung der französischen Philosophin Elsa Dorlin. Ich habe das Buch nicht im Zusammenhang mit meinem Buch gelesen, sondern bevor überhaupt klar war, dass ich dieses Buch schreiben werde. Das habe ich im Sommer gelesen, als Radikale Zärtlichkeit erschienen ist. Genauso wie die Texte des dekolonialen Denkers und Philosophen Frantz Fanon. Aber dann auch klassische marxistische Theorien oder Texte von abolitionistischen Feministinnen wie Angela Y. Davis und anderen Menschen aus der Schwarzen sozialistischen Befreiungsbewegung. Und auch Texte von und über die Frauenrevolution in Nordostsyrien, über die ich auch schreibe.

Es war wieder so ein großes Konglomerat aus verschiedenen Stimmen und verschiedenen politischen Bewegungen. Stilistisch hatte ich auch Vorbilder oder auch eher Inspirationen. Unter anderem The Dream House von Carmen Maria Machado. Ihr Buch ist ein Archiv aus Fragmenten, in dem sie über Gewalt in queeren Beziehungen spricht. Das hat mich inspiriert.

Stilistisch hat mich auch Weinen von Heather Christle inspiriert, einer US-amerikanischen Autorin. Das Buch habe ich vor vielen Jahren gelesen. Die Autorin hat auch eine ähnliche Herangehensweise: Sie schreibt über kulturelle, psychologische, politische Implikationen des Weinens, es geht viel um Geschlecht und ihre eigenen Traumata als neu gewordene Mutter, um ihr Leid und ihre Depressionen. Auch sie schreibt sehr fragmentiert in manchmal längeren und manchmal kürzeren Absätzen.

Du hast mit deinem ersten Buch ein Archiv der Zärtlichkeit zusammengestellt und jetzt ein Archiv des Hasses. Radikale Zärtlichkeit und Hass, wie kommt das zusammen? Muss das überhaupt zusammenkommen?

Ich habe in den letzten Jahren, auch im Gespräch mit Leser:innen gemerkt, dass es eine totale Schlagkraft hat, politisch über Gefühle zu schreiben und dass es Menschen krass mobilisieren kann. Das chilenisch feministischen Kollektiv LASTESIS sagt dazu: “Mit Gefühlen zu arbeiten ist ein subversives Geschenk an die Welt.” Ganz ursprünglich sollte das Thema meines zweiten Buches ein anderes sein, der Vertrag mit dem Verlag war schon unterschrieben: diskriminierungssensibel Fluchen und Beleidigen. Ich habe das Thema dann umgewandelt.

Es sollte an das andocken, was ich im ersten Buch geschrieben habe, sowohl stilistisch als auch inhaltlich und eine Weiterführung der Debatte sein, oder dieses Dialoges, den ich mit mir selbst führe. Zum Hass kam ich, weil auch immer wieder die Frage kam, von Leser:innen oder Menschen, mit denen ich im Gespräch war: Zärtlichkeit, ja, schön und gut, aber bis wohin eigentlich und was braucht es darüber hinaus? Kann Zärtlichkeit alleine eine andere Welt schaffen? Was mich auch immer an politischen Gefühlen interessiert, ist der Bereich, wo sie so naturalisiert werden und wo ihnen eine gewisse Natur und ein gewisses Wesen zugeschrieben wird. Also auch immer die Frage, über welchen und über wessen Hass sprecht ihr eigentlich? Ich finde es super spannend, bei politischen Gefühlen auf die Herrschaftsund Machtverhältnisse zu schauen und bei Liebe ist das ein großes Thema. Aber mir wurde dann auch im Laufe der Recherche klar, dass Hass ein noch viel krasseres Thema ist, weil es da eben noch viel mehr um Ohnmacht und Widerstand und die Frage "Wer darf eigentlich hassen?" geht. In diesem Sinne dockt die Zärtlichkeit auch ganz gut an, weil es ja eigentlich auch um einen Hass gehen soll, der am Ende auch Zärtlichkeit hervorbringt. Das klingt am

Anfang eher widersprüchlich, wie auch "radikale Zärtlichkeit" für viele Menschen widersprüchlich geklungen hat. Aber wir leben in einer Welt der Widersprüche und ich glaube, es geht eben darum, sich diese Widersprüche aus einer politischen-, macht- und herrschaftskritischen Perspektive anzuschauen und zu fragen: “Wie können wir für eine radikale, zärtliche Gesellschaft am Ende vielleicht auch strategisch mit denen arbeiten?”

Du beschreibst, dass Hass einsam ist. Wie kann Hass zu etwas Gemeinsamen und Kollektivem werden und wie verändert er sich dadurch? Du sprichst dabei von strategischem Hass, kannst du uns dazu etwas sagen?

Um die Gemeinsamkeit herauszuarbeiten, ist es wichtig, ein Archiv der hassenden Menschen anzulegen, also zu schauen: Welche Menschen haben gehasst in der Geschichte? Warum wurden diese Geschichten unsichtbar gemacht? Denn starke politische Bewegungen basieren auch auf Denk-, Erzähl- und Widerstandstraditionen.

Zu meinen Lesungen kommen oft Menschen, die ganz aufgelöst und verzweifelt sind und fragen: “Was sollen wir machen und wie sollen wir Zärtlichkeit schaffen?” Ich antworte dann oft: “Hey, wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Wir können auf eine feministische Tradition von Jahrhunderten schauen, wo gewisse Dinge schon gedacht, erprobt und getan wurden.” Deshalb ist es mir auch wichtig, in meinem Schreiben diesen Schleier der Unsichtbarkeit zu heben und ganz unterschiedliche Geschichten des Hasses zu erzählen, die auch etwas Widerständiges haben.

Deswegen gibt es zum Beispiel auch die chilenische Revolutionärin Luisa Toledo oder den Hass von jüdischen Widerstandskämpfer:innen etc. Wichtig ist, dann zu schauen, wie das damals schon in eine gewisse Strategie übersetzt wurde. Ich schreibe dann auch, dass Hass an sich weder gut noch schlecht ist, aber dass mich an ihm fasziniert, dass er diese Zähe hat. Hass kann eine gewisse Beharrlichkeit erzeugen, weil er nicht wie die Wut punktuell explodiert, sondern er hat etwas Zähes, genauso wie auch Unterdrückungsformen zäh sind. Er kann mahnen, am Ball zu bleiben und sich immer wieder daran erinnern, durch gewisse Rituale und Geschichten, die wir uns erzählen, und Strategien, die wir ausarbeiten, immer weiter in diesen Kampf zu gehen. Deswegen ist am Ende die Frage, wie dieser Hass in gewisse Widerstandsstrategien eingebaut werden kann. Vielleicht eben als Punkt, zu dem wir immer wieder zurückkommen, eine Erinnerung oder eine Form, wie wir auch entscheidet, sollte man so viel Energie hinein legen, als wäre das Morgen davon abhängig.

Menschen emotional mobilisieren. Das kann sehr unterschiedlich sein.

Inwiefern nehmen dabei Social Media eine besondere Rolle ein?

Ich finde Kommunikation auf Social Media generell sehr schwer. Ich mache sehr viel über Social Media und habe Netzwerke und Menschen, mit denen ich in Kontakt bin. Aber ich würde sagen, dass Social Media da eher kontraproduktiv ist, weil super viel einfach versickert in diesen Gefilden und Storys und Unterhaltung. Es ist extrem schnelllebig und ich mache auch andere Form von politischer Arbeit, also politische Basisarbeit, z.B. in dem Kiez, in dem ich wohne und wenn ich da mit Leuten ins Gespräch gehe, wird oft gesagt, dass in den letzten Jahren, vor allem seit der Pandemie, die Menschen verlernt haben miteinander zu sprechen. Nachhaltige Gespräche zu führen, die auch in die Vertikale gehen und eben auch fordernd sind, wurde eben verlernt. Und ich glaube, dass Social Media da eine große Rolle spielt und dann auch mit dem Hass nicht gut umgegangen wird. Eben nicht strategisch umgegangen wird. Für mich ist stellt sich dann immer die Frage, was dabei heraus kommt und wo sich wirklich auch Strukturen und Öffentlichkeit im Großen und Ganzen verändern. "Was ist nachhaltig?" - das ist auch die Frage, die mich beim Hass interessiert: Kann der Hass dazu führen, dass er irgendwie nachhaltig mobilisiert und sie immer wieder an die Ungerechtigkeit erinnert?

Du meintest bei Radikaler Zärtlichkeit, dass es ein Werk wäre, das du für Freund:innen geschrieben hast, die sich vorher noch nie so richtig mit Feminismus beschäftigt haben und ihnen dadurch einen Einstieg in die Thematik an die Hand geben wolltest. Wie sieht das mit Hass aus? Hat sich dein gedankliches Zielpublikum erweitert?

Es war diesmal schmerzhafter zu schreiben. Bei meinem ersten Buch war ich sehr aufgeregt, aber ich hatte noch so eine Leichtigkeit dabei.

Welche drei Dinge sollten wir über Hass wissen?

1. Hass ist weder gut noch schlecht. Die Frage ist, welches Handeln daraus resultiert für eine radikale, zärtliche Gesellschaft.

2. Hass muss aus der Versenkung geholt werden, weil er eben oft dafür benutzt wurde, unterdrückte kolonisierte Menschen zu entmenschlichen, weil ihnen Hass als Natur zugeschrieben wurde und sie auf Teufel komm raus versuchen mussten, nicht diesem Bild zu entsprechen, d.h. diesen Hass zurückzuerobern, kann was Empowerndes haben.

3. Wenn man sich die Frage stellt: "Wen oder was hasst man?", dann sollte “Menschen hassen” immer die letzte Option bleiben. Aber wenn man sich für den Hass

Das war anders. Als ich Radikale Zärtlichkeit schrieb, hatte ich tatsächlich immer eine Freundin im Kopf und habe mir sie als mein Publikum imaginiert. Diesmal hatte ich keine bestimmten Menschen im Kopf. Ich glaube, hätte ich das getan, wäre vor allem der zweite Teil nicht so passiert, weil ich dann mehr den Anspruch gehabt hätte, etwas zu haben, das stringenter ist. Aber das wollte ich diesmal nicht. Diesmal war es vielmehr ein Dialog mit mir selbst und beim Schreiben gab es ein viel größeres Chaos. Gleichzeitig hatte ich aber auch das Publikum vor Augen, das Radikale Zärtlichkeit schon gelesen hat. Welche Themen könnten sie interessieren, welche Fragen könnten sie haben? Das waren so meine Gedanken. Es gab auch immer Leute, die auf mich zugekommen sind und meinten, dass Radikale Zärtlichkeit sie auf eine gute Art und Weise radikalisiert hätte. Ich habe mich also gefragt, wie ich die Leute wieder auf eine gute Art und Weise radikalisieren könnte, aber auch, wie ich das ebenso für mich selbst schaffen könnte.

Was hat sich für dich in dem Schreibprozess verändert? Hast du dadurch für dich was Neues über den Hass gelernt?

Es war diesmal schmerzhafter zu schreiben. Bei meinem ersten Buch war ich sehr aufgeregt, aber ich hatte noch so eine Leichtigkeit dabei. Bei dem jetzigen Thema gab es viel mehr Fallstricke und es war schon krass. Es hatte auch damit zu tun, dass ich mich dafür entschieden habe bei diesem letzten Teil so sehr undogmatisch an das Schreiben ranzugehen und ein bisschen meine eigenen Widersprüche und meinen Denk- und Schreibprozess nochmal stärker transparent zu machen als ich das bei bei Radikaler Zärtlichkeit getan habe. Und weil es natürlich auch sehr viel um eigene

Traumata geht und ein Schreiben, das stark fragmentiert ist. Ein Trauma hinterlässt Menschen, die keine stringente Lebensgeschichte mehr haben und es ist ein sehr traumabezogenes Schreiben in dem Sinne, selbst wenn es im selben Moment auch ein sehr widerständiges Schreiben war. Ich habe sehr viel über mich selbst gelernt und bin auch mit einer großen Fülle an Ideen, Themen und Geschichte daran gegangen. Es war ein Puzzeln, Zusammenfügen und viel Archivarbeit. Ich war auf jeden Fall froh, als es vorbei war.

Wo und wann schreibst du am liebsten?

Ich bin eine super langweilige, disziplinierte Schreiberin. Ich schreibe am liebsten am Schreibtisch in Totenstille und habe oft Ohropax drin, weil mich jedes kleinste Geräusch ablenkt. Aber manchmal tut es auch ganz gut im Zug zu schreiben. Ich war ja super viel unterwegs in den letzten zwei Jahren und konnte dann im Zug schreiben, vor allem wenn ich irgendwo festhing. Während alles an mir vorbeigerauscht ist, hatte ich dann das Gefühl, dass mein Gehirn durchgelüftet wird. Aber am liebsten schreibe ich im Bademantel und mit Tee ganz langweilig am Schreibtisch.

Du hast vor kurzem über Instagram eine Playlist zu deinem Buch veröffentlicht. Kannst du uns ein bisschen was über diese Playlist und die Songauswahl erzählen?

Ich bin eine sehr merkwürdige Musikhörerin. Ich höre nämlich einfach immer alles die ganze Zeit, gefühlt 3000 mal und dann gab es ein paar Songs, die mich eh immer begleitet haben, die mich schon bei Radikale Zärtlichkeit begleitet haben. Es gibt musikalische Verknüpfungen für mich persönlich zwischen dem ersten und dem zweiten Buch. Es gibt Songs, die in das Buch eingeflossen sind, Songs, die ich einfach so gehört habe und ich hatte einfach Lust, das öffentlich zu machen. Es gab auch noch andere Lieder, die super unterschiedlich dazu waren, weil es in dem Buch ja auch um sehr unterschiedliche Geographien, unterschiedliche Kämpfe und unterschiedliche Personen geht.

In der Playlist sind auch Lieder aus der kurdischen Widerstandsbewegung, aber auch aus Südamerika. Ich bin aber auch ein Mensch, der ganz cheesy italienische Schlager hört und die gehören dann eben auch zu mir und zu meinen Denkprozessen.

Und natürlich darf Cher nicht fehlen. Worüber sollte mehr gesprochen werden und worüber weniger?

Worüber weniger geredet werden sollte: offene Beziehungen

Worüber mehr geredet werden sollte: revolutionäre Beziehungen

Vielen Dank, liebe Şeyda, für das Interview.

Interview: Franziska Schwarz eine rasante Road Novel

Wer bei diesem Roman auf eine schöne Familiengeschichte hofft, wird leider enttäuscht. Franks Großvater wird aus dem Gefängnis entlassen. Die ersten Tage verbringt er bei Frank und seiner Mutter. Von warmen Familienbanden fehlt jede Spur. Der Großvater ist ein unberechenbarer Mann, so viel wird Frankie schnell klar. Die Ratschläge fürs Leben, welche er ihm nahebringt, haben nicht die gute Intention wie man sie vielleicht erwarten würde. Doch schnell entwickelt sich die ganze Geschichte zu einer Abwertsspirale und zieht Frankie immer mehr auf eine Ebene mit dem Mann, von dessen Wesen er sich doch eigentlich am weitesten entfernen wollte.

Lasst euch nicht täuschen

Wer noch nie vor dem eigenen Haustier stand und ihm ganz fest geschworen hat, es auch nicht zu verraten, wenn es jetzt sprechen sollte, der lügt. Aber ich kann euch beruhigen. Dieses Buch ist der Beweis, dass Tiere unserer Sprache sehr wohl mächtig sind, auch wenn einige unserer Konzepte etwas absurd erscheinen. Zum Beispiel beim Thema Lebenssinn, da ist Frankie raus. Aber das ganze Blatt wendet sich, als Frankie auf Richard Gold trifft, welcher seinem Leben gerade ein Ende setzen möchte. Denn auf einmal sind beide irgendwie aufeinander angewiesen oder mehr oder weniger einander verpflichtet und heraus kommt eine lustige, aber auch tragische Freundschaftsgeschichte, mit Ecken und Kanten, die eine wilde Reise über Tierbedarfs-Einkäufe, die ersten Casting-Erfahrungen und Begegnungen erzählt und die sogar die Tierärztin ganz gut dastehen lässt. Und das alles kommt von einer Katze.

Michael Köhlmeier: Frankie. Carl Hanser Verlag, 208 Seiten, 24 €

Jochen Gutsch, Maxim Leo: Frankie. Penguin Verlag, 192 Seiten, 22 €

Wenn das Alltägliche das Herz erwärmt

Zwei normale Menschen, die unaufgeregt, ohne große Ziele, aber voller Sanftmut und Bescheidenheit durch das Leben gleiten. So eine ruhige Geschichte bekommt man selten zu lesen, aber genau das macht sie außergewöhnlich, berührend und allemal lohnend. Leonard und Paul streben nicht nach Veränderung – im Gegenteil: Ihre Lebenssituation hat sich irgendwie so ergeben. Sie sind in ihren 30ern, Single und wohnen noch im Elternhaus. Ihr Alltag ist wohlgeregelt und spielt sich eher im Hintergrund der Gesellschaft ab: Leonard ist Ghostwriter für Kinderlexika, Paul arbeitet einmal pro Woche als Aushilfspostbote und absolviert mit seiner Mutter Krankenhausbesuche. Und abends oder am Wochenende treffen sich die besten Freunde auf eine entspannte Runde Gesellschaftsspiele. Während Leonard und Paul sich nicht verändern, verändert sich aber Stück für Stück ihr Umfeld: Menschen heiraten, sterben oder treten neu in ihr Leben hinzu – und langsam scheint es, als müssten die beiden doch aktive Entscheidungen treffen. Voller Humor, Sonderbarkeiten und Sinn für Tiefe entschleunigt dieser irische Debütroman mit seinen warmherzigen Figuren und philosophischen Denkanstößen. Das Indie-Erstlingswerk avancierte in Irland und England zum Buchhändler:innenLiebling und wurde ein Bestseller. Mit ihrer Verlagsgründung machen Torsten Woywod und Frauke Meurer diesen besonderen Text nun auch einer deutschen Leser:innenschaft zugänglich.

Rónán Hession: Leonard und Paul. Woywod & Meurer, 320 Seiten, 26 €

Wenn das Alltägliche das Herz erwärmt

Viele Rezensent:innen waren der Meinung, dass Zeit der Schuld einem Genre zuzuordnen ist, das Der Pate geprägt hat, dieses gewaltige Mafia-Epos von Mario Puzo. Für mich hinkt dieser Vergleich, obgleich es tatsächlich Parallelen gibt. Alles beginnt mit einem Unfall in den Straßen von Delhi: Der Fahrer eines imposanten Mercedes verliert die Kontrolle über seine Limousine und reißt fünf Menschen in den Tod - alle obdachlos, von niederer Stellung in der indischen Gesellschaft. In der Folge wird ein Mann verhaftet, bei dem unklar ist, ob es sich um den tatsächlichen Verursacher des Vorfalls handelt oder ob mit der Verhaftung etwas nicht stimmt. Über mehr als 700 Seiten entwickelt sich ausgehend von diesem Vorfall eine Geschichte von Arm und Reich, von Alt und Neu, von Unrecht und Recht. Der Roman lässt tief blicken hinter die Fassaden der indischen Gesellschaft, ihrer Zerrissenheit und ihrem Wandel. So folgen wir dem Leben von drei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und schmökern die vielen Seiten atemlos durch. Ich finde das Buch packend geschrieben, stilistisch von hohem Niveau und gekonnt strukturiert. Also ein wenig wie Der Pate, aber viel mehr als das.

Deepti Kapoor: Zeit der Schuld. Blessing Verlag, 688 Seiten, 28 €

Waldem

Es ist nicht allein das Wasser, das verdorben ist.

Javi Reys Adaption des 1882 erschienenen Stücks Ein Volksfeind könnte kaum aktueller sein. Thomas Stockmann ist Kurarzt auf einer kleinen Insel. Als der Kurbetrieb durch Umweltbelastung fragwürdig wird, sieht er sich in der Verantwortung, eine unpopuläre und folgenschwere Entscheidung zu treffen. Es geht um die Wahrheit, Moral und Fakten. Es geht um die öffentliche Meinung, Korruption und Fake News. Und es geht um Konsequenzen. So wirft die Geschichte also auch 140 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen Fragen auf, die relevant bleiben. Dabei fühlt sich das Ganze aber nicht wie ein mahnendes Sachbuch an, sondern bleibt persönlich, menschlich und zugänglich. Mit klaren Linien und in starken, leuchtenden Farben findet Rey stimmungsvolle Bilder, die den Text und die Handlung begleiten und verstärken. Insgesamt also rund, berei chernd, bedeutungsvoll und sehr, sehr schön.

Javi Rey: Ein Volksfeind. Jacoby&Stuart, 152 Seiten, 32 €

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