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Inhalt II
8 Interview Şeyda Kurt
Wie kommen radikale Zärtlichkeit und Hass zusammen? Şeyda Kurt holt mit ihrem neuen Buch Hass dieses knirschende Gefühl aus der Verbannung und hat mit uns darüber gesprochen, wie sie sich auf die Spurensuche gemacht hat, welche Autor:innen bei ihr im Regal stehen und welche Musik sie mit diesen Gefühlen verbindet.
16 Manesse Verlag und vergessene Autorinnen
Wir haben wieder einen Verlag, den wir euch aus einem besonderen Grund ans Herz legen wollen: Der Manesse Verlag verlegt Klassiker der Weltliteratur aus allen Epochen und Kulturen. Hierbei stehen Autorinnen und besonders solche, die in Vergessenheit geraten sind, im Vordergrund.
22 Fünf Fragen an Verena Keßler
Im März haben wir mit der Autorin eine wunderschöne Buchpremiere in der Backfabrik gefeiert. Im Interview verrät uns Verena Keßler nun, wer ihre literarischen Vorbilder sind und warum sie das Thema Mutterschaft interessiert.
26 Unsere Freund:innenbuchmit Mohamed amjahid
Kennst du sie auch noch? Ganz unten im Karton versteckt: die Freund:innenbücher. Voller Träume, Traumberufe und den Namen deiner nie vergessenen Katzen und Hamster? Bei uns gibt's jetzt die BUCHBOX!-Edition, in der wir all unsere Lieblingsautor:innen das beantworten lassen, was wir schon immer über sie wissen wollten.
32 Ausflüge rund um Brandenburg
Die grauen Wolken verziehen sich, die ersten Vögel trällern schon ihr Liedchen und das Fahrrad darf endlich wieder aus dem Keller. Also raus an die frische Luft und Brandenburgs schönste Orte entdecken!
38 Unsere liebsten Literatur-Podcasts
Nicht nur unsere Buchhändler:innen geben euch super Lesetipps, sondern auch diese wunderbaren Menschen sprechen über Literatur, erzählen, was alles aktuell gelesen werden muss und stellen die Menschen hinter den Büchern vor.
40 Kinderseiten
Auf welchen Spielplatz gehst du am liebsten? Wo hat sich der Teddybär versteckt? Wie ensteht ein Buch? Und wer sind Ted und Nancy? Die Antworten kannst du alle auf den Kinderseiten entdecken und natürlich auch wieder ganz viel Lesestoff von unseren Buchhändler:innen.
Tuberkulöse Männer auf Schwärmerei
Jetzt hat es auch mich erwischt, ich liege bei geöffnetem Fenster im Bett und heftiger Husten hält mich vom Schlafen ab. In Görbersdorf, ein bisschen nach 1900, wird auch gehustet. Mitteleuropäisches Kurklima, Berge im Hintergrund, Körper abhören, Atmung entspannen, saisonale Delikatessen aus geplatzten Fischbäuchen. Genesen oder sterben. Männliche Gespräche von männlichen Stereotypen, der Wissenschaftler, der Künstler, der Philosoph, etc. Das Fieber setzt ein. Nach ein paar Seiten muss ich ständig an den Satz denken: Man muss die Klassiker gelesen haben. Und immer, wenn ich mit einem dieser Klassiker durch war, wusste ich mehr über die männliche Perspektive auf un sere Welt. Fenster auf, frische Luft tut der Lunge gut. Der Horror von Empusion besteht nicht nur in den zart eingestreuten Albtraumbildern durch die Autorin, die die Leser:innen vollkommen unvorbereitet treffen, Olga Tokarczuk lässt die Zeit der Klassiker über Zunge und Lippen ihrer Figuren rinnen. Ab in die Gedärme klassischer Männlichkeit. Aber dieses Buch würde keine Empfehlung von mir bekommen, wäre da nicht ein Blick, etwas das sich im Getöse dieser Patienten und in der Stille der Berge verborgen hält. Etwas das aus diesem Buch entspringt, wie aus einem Kokon. Das neue Buch von Olga Tokarczuk, meine Köstlichkeit des Jahres 2023.


Olga Tokarczuk: Empusion. Kampa Verlag, 384 Seiten, 26 €


Mit "Going Zero", aus dem Englischen übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié, hat Anthony McCarten einen soliden und atemlosen Technothriller hingelegt, der die schnellwechselnden Bilder wie einen Film vor dem inneren Auge abspielen lässt. Cy Baxter, die Schablone eines Silicon-Valley-Überfliegers, entwickelt, unterstützt von der CIA, ein Programm namens "Fusion", das im Interesse der “Nationalen Sicherheit” Verbrechen vorhersehen und vereiteln soll - und dabei auf die vollumfängliche Überwachung jeglicher Lebensbereiche setzt. Für einen Betatest werden zehn Kandidat*innen - Profis im Spionage-Business sowie auch völlige Newbies - auserkoren, 30 Tage unterzutauchen, während Cys "Fusion"-Teams versuchen, sie zu finden. Sollte es einer Person gelingen, gewinnt sie drei Millionen Dollar, gelingt es der Firma, alle Kandidat*innen aufzuspüren, winkt ein Zehnjahresvertrag mit der CIA, um "den Informationsreichtum der CIA mit der Findigkeit des freien Marktes zusammenzuführen". Im Mittelpunkt steht dabei die Bibliothekarin Kaitlyn Day, der Cy nicht mal wenige Stunden in diesem Testlauf gibt, die aber zu vielen - oh boy! - Überraschungen fähig ist.“Going Zero” hält einige Plot-Twists bereit und entwickelt sich vor allem in der zweiten Hälfte zu einem temporeichen Thriller, der sich ganz der Auseinandersetzung mit den ethischen Grenzen von Big Tech widmet und sowohl Überwachungsstaat als auch Überwachungskapitalismus den Kampf ansagt.

Anthony McCarten: Going Zero. Diogenes Verlag, 464 Seiten, 25 € moralische Dilemmata
In Theresa Pleitners Debütroman „Über den Fluss“ meldet sich eine junge Psychologin nach Studienabschluss als freiwillige Helferin in einem Geflüchtetenlager am Rande einer Großstadt. Schnell stellt sich bei ihr die Einsicht ein, wie wenig sie tatsächlich den Traumatisierten helfen kann – es raubt ihr den Schlaf und treibt sie in die Einsamkeit. Ihre Kollegin Ines hingegen ist pragmatischer und kompromissbereiter, manchmal auch unsensibel bis hin zur Abgestumpftheit. Die Figur zeigt erschreckend deutlich den Grundkonflikt zwischen Idealismus und Pragmatismus. Aber auch das gewaltvolle System der Bürokratie, die Menschen zu Fällen macht - ob sie nun Gäste genannt werden oder nicht - wird eindrücklich beschrieben. Ihre Rolle sieht unter anderem vor, Abschiebungen hinzunehmen und die Menschen notfalls zu entmündigen. Die Autorin hat selbst als Psychologin in einer Unterkunft für Geflüchtete geabeitet und der Roman schafft es deutlich zu zeigen, inwiefern das Helfen auch etwas Übergriffiges haben kann. "Über den Fluss" ist ein aufrüttelnder Roman über Retterfantasien, die Verstrickung in strukturellen Rassismus und moralische Dilemmata.
Theresa Pleitner: Über den Fluss. S.Fischer Verlag, 208 Seiten, 22 €

Eine tödliche Inszenierung
In der abgelegenen Kleinstadt Money, Mississippi, haben die Einwohner genauso wenig mit Geld zu tun wie mit der amerikanischen Geschichte - könnte man meinen. Doch dann taucht am Tatort eines Mordes an einem arbeitslosen Rednecks die Leiche eines jungen Schwarzen Mannes aus, dessen Bild man eigentlich nur aus den Geschichtsbüchern kennt. Als die Bundesbehörden dazugerufen werden, liegt die weiße Leiche noch in der Leichenhalle, die Schwarze hingegen ist verschwunden und taucht wenig später am nächsten Tatort auf. Was beginnt wie ein mysteriöser Kriminalfall à la Mississippi Burning, entwickelt sich bald zu einer fantasiereichen Reflektion über die Spätfolgen des jahrhundertealten Rassenkonflikts im Geiste Matt Ruffs Lovecraft Country - aber mit weniger Horror und mehr schwarzhumorigem (pun intended) Zynismus. Denn bald tauchen überall die Körper amerikanischer Minderheiten an den Schauplätzen aktueller Morde an Weißen auf und verschwinden kurz darauf wieder. Wenn Geschichte sich immer wiederholt, erst als Tragödie, dann als Farce, dann hat Percival Everett die Farce über die amerikanischen Ursünde des Rassismus geschrieben.
Ab und zu fragt Tilda sich, wie es wäre, ein Leben zu führen so wie die Anderen aus ihrer alten Schule: In Berlin zu studieren, im Ausland zu jobben und Urlaub zu machen, Chancen zu nutzen, die sie nicht hat. Tilda lebt in der Provinz, Zeit für sich hat sie kaum, neben Mathe-Studium und einem Job im Supermarkt kümmert sie sich auch noch um ihre kleine Schwester Ida und die alkoholkranke Mutter. Alles scheint festgefahren, oder nicht? Tilda ist die Ich-Erzählerin und wir erfahren viel über ihre Beziehungen zu anderen Menschen. Es gibt Marlene, eine Freundin, die Tilda jedoch zunehmend fremder wird, und dann ist da auch noch Viktor, in den sich Tilda verliebt. Und natürlich gibt es – immer wieder – Ida. Dieses Buch zeigt eindringlich, wie sehr die Krankheit der Mutter das Leben der Töchter bestimmt und gleichzeitig ist das Buch immer wieder auch sehr warm und liebevoll, z.B. wenn Ida und Tilda sich umeinander kümmern - und an manchen Stellen habe ich einfach nur herzlich gelacht.


Caroline wahl: 22 Bahnen. DuMont Verlag, 208 Seiten, 22 €

Auf dass wir lernen, wieder zu verlernen
CJ Hausers "Die Kranichfrau", aus dem Englischen übersetzt von Hanna Hesse, ist wie der Originaluntertitel verrät, ein Memoir in Essays - mittendrin jenes, das 2019 in The Paris Review viral ging. Hauser beginnt mit 27 sehr unterschiedlichen Episoden über Liebe, um dann bei sich selbst zu bleiben und über popkulturelle, historische und persönliche Narrative die systemische Herabsetzung von (eigenen) Bedürfnissen aufzuzeigen und Liebe (nicht nur die romantische) (miss-)zu verstehen. Es ist ein zweites Aufwachsen, das wir hier verfolgen, wenn CJ Hauser anfängliche Annahmen über Beziehungsmuster hinterfragt und zu neuen Schlüssen kommt, wenn Scully und Mulder nicht wegen ihrer Gegensätze ein gutes Team abgeben, sondern weil sie sich vertrauen, du Mauriers "Rebecca" nicht der naive Vergleich einer zweiten mit der erste Liebe, sondern die Geschichte eines Femizids und seines Vertuschens ist und Lyman Frank Baums "Der Zauberer von Oz" nur der liebevollen Erinnerung an den Großvater standhält. Es sind die Annahmen über Liebe, Fürsorge und Wertigkeit, die uns und Hauser ins Chaos stürzen und es sind ihre Fäden, die alles wieder neu miteinander verknüpfen. Und das bringt Freude, Tränen und viele unterstrichene Sätze - all in one.

CJ Hauser: Die Kranichfrau. C.H. Beck, 336 Seiten, 25 €
