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Taktische Einsatzmedizin: Wenn Notfallmedizin der Taktik folgt

Wenn Notfallmedizin der Taktik folgt

Spezialisten für taktische Einsatzmedizin (TEM) sind seit Jahrzehnten fester Bestandteil vieler Militäreinheiten. Im Bereich der Polizei- und der zivilen Schutz-, Sicherheits- und Rettungskräfte (BORS) hat die Entwicklung erst vor einigen Jahren begonnen. Angesichts einer steten Zunahme von Gewaltdelikten sollte sich das ändern – zumal TEM auch bei Unfällen und Suizidversuchen mehr als wertvoll ist.

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» Nicht nur beim Militär, sondern auch für Blaulichtkräfte sind TEM-Massnahmen eminent wichtig – um Verletzten in speziellen Einsatzlagen helfen zu können.

Die Geschichte der TEM

Schwerverwundete sind auf dem Schlachtfeld keine Seltenheit, sondern Realität. Daher gehören Sanitäter zum Berufsbild des Militärs – auch in der Schweiz, Gründungsnation des Roten Kreuzes. Waren es früher Zugssanitäter, verfügt die Schweizer Armee heute über Einheitssanitäter mit breitem Wissen in der Notfallmedizin, welche Verwundete medizinisch versorgen und stabilisieren. Dabei gehört die Versorgung penetrierender Verletzungen und schwerster Blutverluste zum «Standard-Repertoire».

Das Vorgehen militärischer TEM-Kräfte orientiert sich an evidenzbasierten, international anerkannten Guidelines. Diese basieren auf dem 1993 vom U.S. Special Operations Command (USSOCOM) initiierten Forschungsvorhaben «Tactical Combat Casualty Care» (TCCC) (dt.: taktische Versorgung Gefechtsverletzter). Die Guidelines kombinieren stressresistente Abläufe und Taktiken mit einfach anwendbaren, wirkungsvollen Sanitätsmitteln. Eine Besonderheit der TCCC-Richtlinien ist, dass diese auch definieren, zu welchem Zeitpunkt im Einsatz die Behandlung Verwundeter wie stattfinden soll. Dabei liegt der Fokus klar auf der Taktik. Diese bestimmt den Ablauf der medizinischen Versorgung. Seit der Erstauflage von 1996 werden die TCCC-Guidelines vom «Committee on TCCC» (CoTCCC), einem Gremium einsatzerfahrener Militärärzte, Notfallmediziner, Medics (Einheitssanitäter) und Spezialkräfte, kontinuierlich verbessert und ergänzt.

Die Ziele von TEM

Das Hauptziel von TEM ist grundsätzlich dasselbe wie in der zivilen Notfallmedizin: Leben retten. Allerdings hat dabei die Taktik grosse Bedeutung, denn es gilt, den Auftrag zu erfüllen und weitere Verletzte zu vermeiden. Überdies kommen bei der TEM keine Fachkräfte wie Notärzte und Rettungssanitäter zum Einsatz, sondern primär Einsatzkräfte mit erweiterten Fähigkeiten, deren primäre Aufgabe nichts mit Notfallmedizin zu tun hat. Die Kompetenz, im Einsatz Nothilfe leisten zu können, ist eine relevante Zusatzfähigkeit.

Im nicht-militärischen Umfeld herrschte lange die Ansicht, dass die zivilen Rettungsdienste immer und rasch an den Einsatzort können. Dies aber galt weder früher noch heute –nicht nur in besonderen Einsatzlagen wie Amokläufen. Im Gegenteil sind auch in der Schweiz genug Bespiele für Einsatzsituationen bekannt, in denen die zivilen Rettungsdienste nicht sofort zu den Verletzten gelangen konnten, weil die taktische Lage es nicht gestattete. Ein sehr bekannter Fall war jener Einsatz am Rosenhügel in Chur im Jahr 2000. Damals wurde ein Polizist während einer Intervention schwer verletzt und konnte aufgrund der taktischen Lage während mehrerer Minuten nicht evakuiert werden. Zudem genügt bereits eine noch laufende gewalttägige Auseinandersetzung mit Verletzten, dass Rettungsdienste aufgrund der Wahrung des Selbstschutzprinzips nicht handeln können. In dieser Zeit können in TEM geschulte Einsatzkräfte die Rettungskette schliessen – bis die Lage gesichert ist und der zivile Rettungsdienst zum Einsatz kommen kann.

Info

Institution Schweizerische Vereinigung für Taktische Medizin (SVTM)

Die am 24. April 2010 gegründete SVTM ist ein Zusammenschluss aktiver und ehemaliger medizinisch versierter Angehöriger von Polizei und Militär sowie taktisch geschulter Vertreter des Gesundheitswesens wie Rettungssanitäter und Ärzte. Der Verein engagiert sich für die Anerkennung und Förderung von TEM und hat eine Ausbildungsdoktrin erarbeitet, die vorgibt, auf welcher taktischen Stufe welche Fähigkeiten beherrscht werden sollten. Für polizeiliche Frontkräfte existiert das Level A, welches Basiswissen umfasst. Es wird in einem eigenen Grundkurs ausgebildet und sowohl an der Interkantonalen Polizeischule Hitzkirch (IPH) als auch an der Zürcher Polizeischule (ZHPS) wird nach den Vorgaben des LevelA-Manuals unterrichtet. Zudem strebt die SVTM eine enge Vernetzung und Ausbildung von TEM-Kräften in der Schweiz an und ist nationale Anlaufstelle für TEMBelange aller Einsatzkräfte und Formationen. Die SVTM arbeitet nur mit behördlichen Institutionen zusammen und schreibt keine öffentlichen Kurse aus. Aktueller Präsident ist Dr. med. Omar Abdel Aziz, Oberarzt für Anästhesie am Universitätsspital Basel sowie Stellvertretender Ärztlicher Leiter der Sanität in der Rettung Basel-Stadt. Kontakt: praesident@taktischemedizin.ch

» TEM-Kräfte müssen betont realitätsnah üben. Gut ausgebildete Figuranten, die aufwendig geschminkt werden, sind dabei unerlässlich.

Wichtig ist überdies der psychologische Effekt von TEM: Das Wissen darum, dass in TEM geschulte Einsatzkräfte effizient helfen können, ist entscheidend für die mentale Verarbeitung des Einsatzes – vor allem, wenn eigene Kräfte verletzt wurden. Es verhindert ein Ohnmachtsgefühl, das vor allem durch Laienhelfer im Nachgang eines Einsatzes als belastend empfunden wird. Zudem setzt die Bevölkerung voraus, dass Einsatzkräfte jederzeit und in jeder Lage effizient helfen können.

Ablauf von TEM-Massnahmen

Das Vorgehen von TEM orientiert sich an den drei Phasen (militärisch) respektive Zonen (BORS-Umfeld) eines Einsatzszenarios. In der «Care Under Fire»-Phase (rote/heisse Zone), also unter unmittelbarer Bedrohung, findet nur eine minimale medizinische Versorgung statt. In «Tactical Field Care»-Phase (warme/gelbe Zone) kann teilgesichert eine erweiterte medizinische Versorgung stattfinden. In der «Tactical Evacuation Care»-Phase (kalte/grüne Zone) wird die verwundete Person auf die Evakuation vorbereitet.

Die Beurteilung und die Behandlung folgen dabei dem XABCDE-Schema (siehe Box). Der erste Fokus liegt auf der Behandlung schwerer Blutungen, Störungen der Atemwege und der Atmung. Denn aus den Einsätzen militärischer Bodentruppen ist bekannt: Fast zwei Drittel aller potenziell rettbaren Verletzten verstarben an unkontrollierten Blutungen, etwas weniger als ein Drittel an Störungen der Atemmechanik und nur ein kleiner Teil an einer Verlegung der Atemwege.

Diese Grundsätze gelten im militärischen Umfeld und auch, wenn Blaulichtkräfte nach Terroranschlägen, Gewaltdelikten oder schweren Unfällen Nothilfe leisten. In jedem Fall sorgt das XABCDE-Schema für eine korrekte Abfolge der Schritte sowie für einheitliche Zusammenarbeit und Kommunikation.

Die zentralen Basismassnahmen von TEM umfassen • Selbstschutz (Herstellen von Feuerüberlegenheit) • Rettung/Evakuierung Verwundeter • Medizinische Erstdiagnose Verletzter • Stoppen schwerer Blutungen mittels Tourniquet, Druckverband und anderer Hilfsmittel • Offenhalten der Atemwege, manuell oder mit Hilfsmitteln • Management von Thoraxverletzungen mit Hilfsmitteln • Wärmeerhalt Fallschirmjäger während einer Übung. In TEM intensiver geschulte Medics sollten folgende zusätzliche Befähigungen haben: • Legen von intravenösen/intraossären Zugängen (in Venen respektive Knochen) • Schock- und Schmerzbekämpfung mittels Flüssigkeits- und Medikamentengabe

TEM bei Blaulichtkräften

Zwar ist der Nutzen, ja die Notwendigkeit für TEM in BORSKreisen längst bekannt. Dennoch stecken der Know-howAufbau, die Ausbildung sowie die Integration von TEM-Kräften in die Teams vielerorts noch in den Kinderschuhen. Dabei erkennen Spezialisten ein klares Stadt-Land-Gefälle: Während im urbanen Gebiet tätige Einsatzkräfte fast schon regelmässig bei Gewaltdelikten auf verwundete Personen treffen, sind vergleichbare Vorfälle in ländlichen Gebieten seltener und die Awareness der BORS tiefer. Sie alle sollten den Grundsatz «Der Erfolg ist mit dem Vorbereiteten!» in Erinnerung rufen. Gewaltdelikte und Unfälle sind jederzeit und überall möglich. Daher ist eine Basisbefähigung in TEM für alle Blaulichtkräfte sinnvoll.

In der Schweiz sind mittlerweile zahlreiche Polizeikorps bereits in TEM geschult und ausgerüstet. Auch das Personal einiger Rettungsdienste ist hinsichtlich Basiswissen und -massnahmen ausgebildet. Zudem denken vereinzelte Feuerwehren darüber nach, ihre Teams entsprechend zu schulen und einzelne nationale Feuerwehren haben ihre Kräfte bereits mit einem Tourniquet ausgerüstet.

Dieser Trend sollte sich fortsetzen und gestärkt werden. Denn TEM-Fachwissen zahlt sich für Blaulichtorganisationen nicht nur im Fall von Amokläufen oder Terrorangriffen

VBS

» Intensiv geschulte TEM-Kräfte beherrschen auch das Legen eines intravenösen Zugangs für eine Infusion, hier gezeigt von einem Schweizer

aus, sondern auch bei schweren Unfällen oder nach Suizidversuchen. In diversen solchen Fällen konnten in TEM geschulte Polizeikräfte bereits einige Leben retten.

Ausbildung und Ausrüstung

TEM-Einsatzkräfte benötigen eine solide Basisausbildung, medizinischen Sachverstand, taktisches Wissen, hohe Stressresistenz und besonders viel praxisorientiertes Training. Dabei sind laut Dr. med. Omar Abdel Aziz, Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Taktische Medizin (SVTM; siehe Box), neben personellen und finanziellen Ressourcen zwei Dinge wichtig: die Schaffung landesweit einheitlicher, für BORS massgeschneiderter TEM-Richtlinien und die Schaffung von Rechtssicherheit.

Insbesondere braucht es einen zielgerichtet erweiterten Kompetenzrahmen für besonders intensiv ausgebildete und geprüfte Medics, wie sie in einigen kantonalen Polizeikorps bereits existieren. Dazu gehört vor allem die Berechtigung, situationsadäquat weiterreichende medizinische Massnah-

men zu ergreifen, wie sie in der Regel Notärzten oder Rettungssanitätern freigegeben sind, beispielsweise die Anwendung invasiver Massnahmen für die Entlastung eines Spannungspneumothorax, das Legen intravenöser/intraossärer Zugänge sowie die Gabe von Volumenersatz oder Basismedikamenten.

Zudem müssen Möglichkeiten und Ressourcen für Ausbildung und Training etabliert werden, sagt Abdel Aziz: «Im Einsatz, das zeigen die Feedbacks erfahrener Einsatzkräfte, bewähren sich einzig einfache, stressresistente Techniken und Abläufe. Der Grundsatz ‹Übe, wie du kämpfst! › ist eminent. Wissen und Können müssen stufengerecht aufbereitet und ausgebildet werden. Der Ansatz ‹One size fits all› gilt nur für das Basiswissen, während Spezialistenwissen zwingend nur an entsprechende Funktionen ausgebildet werden soll, um Überforderung und damit Ineffizienz zu verhindern. Zudem muss das TEM-Training realitätsnah, häufig, hart und effektiv sein.» Genau diesem Zweck dient der Verein «SMET – Simulation, Moulage und Einsatztraining», den wir Ihnen auf den folgenden Seiten vorstellen.

Ausblick

Für Dr. med. Omar Abdel Aziz muss sich die national unterschiedliche Verbreitung von TEM-Wissen und -Können ändern. Für die Einsatzkräfte wie die Bevölkerung ist es unerklärlich, weshalb ein kantonales Polizeikorps entsprechend hohen Aufwand betreibt, während die Thematik im Nachbarkanton keine Rolle spielt. Das klassische Bild, dass die medizinische Erstversorgung erst beginnt, wenn die Lage komplett gesichert ist, kann bei lang anhaltenden Lagen dazu führen, dass Verletzte sterben. Das darf nicht sein und wird weder von der Bevölkerung noch von der Politik akzeptiert.

Dabei ist die Ansicht, dass TEM eine erforderliche Befähigung für Polizisten ist, nicht nur die persönliche Meinung von Dr. med. Omar Abdel Aziz. Im Bildungspolitischen Ge-

Info

Begriffserklärung Der XABCDE-Algorithmus

Der XABCDE-Algorithmus basiert auf dem in den 1970erJahren vom American College of Surgeons (ACS) entwickelten Ausbildungskonzept «Advanced Trauma Life Support» (ATLS) und definiert einen standardisierten diagnostischen und therapeutischen Handlungsablauf in der Erstversorgung Schwerverletzter. Die SVTM hat den XABCDE-Algorithmus auf die Bedürfnisse der TEM angepasst und in die drei wichtigsten Landessprachen übersetzt. Durch vereinfachte Ausdrücke und Sprache wird eine hohe Akzeptanz beim Anwender geschaffen.

X – Extreme Blutungen stoppen A – Atemweg freimachen B – Brustkorbverletzungen abdecken C – Controlle aller Blutungen D – Defizite Nervensystem E – Ergänzende Massnahmen/Dokumentation

samtkonzept für die Polizei und Strafjustiz 2020 (BGK 2020, siehe Blaulicht 3/2020) ist sie schriftlich festgehalten! Zitat: «Die Polizist/innen sind fähig, an sich selbst oder an anderen Personen Erste Hilfe oder lebensrettende Massnahmen durchzuführen, auch unter taktisch schwierigen Verhältnissen.» Damit ist klargestellt: Polizist sollen nicht, sondern müssen die Befähigung in TEM besitzen.

Zugunsten einer nationalen Koordination befasst sich auf Stufe Schweizerisches Polizeiinstitut eine Arbeitsgruppe mit der Erarbeitung eines nationalen TEM-Lehrmittels. Mitglieder sind neben Polizeiangehörigen auch ein Vertreter der Militärpolizei und zwei Ärzte, unter anderem Dr. med. Omar Abdel Aziz. Für diesen steht fest: Es braucht eine flächendeckende Einführung von TEM-Kompetenzen bei allen nationalen Polizeikräften. Denn TEM ist keine freiwillige Ergänzung, sondern im heutigen Einsatzumfeld eine Pflicht – für Polizeikräfte und die zivilen Rettungsdienste.

» Gemeinsame Übungen von TEM-Kräften, im Bild von Kräften der U.S. Air Force, des National Park Service, der Feuerwehr und der Polizei im Rahmen einer Massenverwundungsübung im Grand Canyon in Arizona, sind für das Zusammenspiel der Kräfte sehr wertvoll.

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