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Cancel Culture oder die Macht einer Illusion

Ein Beitrag von Dr. Anna Welpinghus

»Wer von ›Cancel Culture‹ redet, versteht darunter ein relativ neues, generelles Klima der Angst, in dem eine besonders progressive Minderheit bestimmt, was man sagen darf und wer re den darf. Ich argumentiere hier dafür, dass es Cancel Culture in diesem Sinne nicht gibt.«

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Manchmal, wenn ich die Zeitung aufschlage, habe ich den Eindruck, an deutschen Universitäten spukt es. Seit wenigen Jahren lese ich immer wieder von einem Gespenst namens »Cancel Culture«.

Dieses Gespenst macht vielen Angst: Lehrende trauen sich nicht, kontroverse Redner*innen zu Seminaren oder Tagungen einzuladen, lese ich. Sie haben Angst, bei ihren Studierenden in Ungnade zu fallen, weil sie einmal ein falsches Pronomen benutzt haben. Sie haben Angst vor Shitstorms in den Sozialen Medien. Und diese Angst lähmt. Aus Angst würden Forschende nicht mehr das sagen, wovon sie überzeugt sind. Sie würden nicht mehr das unterrichten, was sie für wichtig hielten– sondern nur das, was ihren Studierenden nicht weh tue. Die Zensurschere wirke nicht erst dann, wenn etwas gecancelt wird, sondern bereits vorher in den Köpfen der Wissenschaftler*innen.

Das zumindest behaupten die Mitglieder des Anfang 2021 gegründeten »Netzwerk Wissenschaftsfreiheit«, das viel mediale Aufmerksamkeit bekommen hat. Deren Manifest erweckt den Eindruck, Wissenschaft sei nicht primär bedroht durch Sparzwänge oder autoritäre Regierungen. Nein, die Cancel Culture sei die wahre Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit.

Nach meinem Dafürhalten müssen wir uns vor Cancel Culture nicht fürchten: Es gibt sie nämlich nicht. Sie ist tatsächlich ein Gespenst – und mehrnicht.

Diese These mag verwundern. Schließlich beziehen sich die Kritiker*innen der Cancel Culture auf echte Vorfälle – etwa den in Siegen, wo ein Seminar unter Polizeischutz stattfand, oder den in Frankfurt, wo esmassive Proteste gegen eine Konferenz gab. Ich möchte natürlich nicht bestreiten, dass es diese Vorfälle gegebenhat. Ich bestreite, dass sie auf eine neue Kulturan Universitäten hindeutet. Wer von »Cancel Culture«redet, versteht darunter ein relativ neues, generelles Klima der Angst, in dem eine besonders progressive Minderheit bestimmt, was man sagen darf und wer reden darf. Ich argumentiere hier dafür, dass es CancelCulture in diesem Sinne nicht gibt.

Eine Analogie hilft: Wenn ich einmal der Überzeugung bin, dass es in meiner Wohnung spukt, dann vermute ich hinter jedem Türknall ein Gespenst. Und diese Überzeugung hat Wirkung: Meine Angst ist sehr real. Sie beeinflusst, wie ich mich verhalte und steuert meine Aufmerksamkeit. Deshalb kann sie von tatsächlichen Gefahren ablenken, sagen wir mal, von mangelndem Brandschutz. Weiter noch: Wenn mich jemandvon dieser realen Gefahr ablenken will, könnte er versuchen, mich davon zu überzeugen, dass bei mir ein Gespenst sein Unwesen treibt.

Ich behaupte: Mit der Cancel Culture verhält es sich genauso. Sie ist eine Illusion und sie lenkt uns ab von echten Gefahren. Was wir »Cancel Culture« nennen ist nämlich nichts weiter als Teil einer demokratischen Kultur. Sie ist auch keine ganz neue Entwicklung. Demokratische Campus-Kultur ist manchmal anstrengend, aber sie ist vor allem eine Errungenschaft. Und sie kann uns wieder weggenommen werden. Die ungarische Regierung hat der Central European University in Budapest den Geldhahn zugedreht, so dass sie das Land verlassen hat. In Polen ist die Medienlandschaft extrem unter Druck. Die chinesische Zentralregierung sperrt demokratische Studierende in Hong Kong schamlos ein, um nur einige Beispiel zu nennen. Wenn wir auf das Gespenst Cancel Culture fixiert sind, verlieren wir diese realen Gefahren aus den Augen.

Warum sollten wir die Auseinandersetzungen, die Cancel Culture genannt werden, als Teil einer demokratischen Kultur betrachten? Schauen wir uns die vermeintlichen Belege für Cancel Culture an: Studierende organisieren Proteste – sie nehmen damit ihre Rechte auf Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit wahr. Das tun im Übrigen auch ihre Kritiker*innen. Diese Rechte sind demokratische – und liberale – Errungenschaften.

Außerdem stellen die studentischen Aktivist*innen die Autorität ihrer Professor*innen in Frage. Statt zu glauben, dass ihre Professor*innen immer recht haben, sprechen sie sich selbst Expertise über bestimmte Themen zu. Dieser Anspruch, sich auf Augenhöhe zu begegnen, ist auch Teil einer demokratischen Kultur. Es geht dabei nicht nur darum, dass Menschen bestimmte Bürgerrechte haben. Demokratische Kultur ist eben auch etwas Kulturelles.

Diese Kultur kam unter anderem durch die Studentenproteste und Neuen Sozialen Bewegungen der 60er und 70er in der breiten Bevölkerung an. Ich bin im Westdeutschland der 80er und 90er damit aufgewachsen. Für mich war klar, dass ich meinen Lehrer*innen auch mal widersprechen durfte. Für meine Eltern nicht – deren Generation hat das erst möglich gemacht. Der Anspruch, sich auf Augenhöhe zu begegnen, ist dabei gut für die Wissenschaft – er fördert nämlich Innovation durch offenen Austausch.

Sicherlich gibt es unter den Protestierenden auch Personen, die allzu sehr davon überzeugt sind, dass sie richtig liegen, und deshalb jede Kritik abblocken. Darauf beziehen sich diejenigen, die vor der Cancel Culture warnen: Sie fürchten, bald sei eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe nicht mehr möglich. Es werde viel zu schnell die Moralkeule herausgeholt. Statt demokratische Kultur zu verwirklichen, würden immer mehr Studierende stattdessen ihre demokratischen Rechte nutzen, um die sie zu unterhöhlen. Und davor müsse man sich in Acht nehmen.

Ich sehe das deutlich gelassener. Ich will hier gar nicht jede aktivistische Intervention verteidigen. Und bestimmt gibt es anstrengende Leute unter den Protestierenden; gelegentlich auch unfaires Verhalten. Aber ich bin sicher: Das halten unsere Universitäten aus.

Sie haben es nämlich auch in der Vergangenheit ausgehalten. Die Studierendenproteste der 60er und 70er waren unversöhnlicher, und es gab viel mehr Sympathien für autoritäres Durchgreifen als es heute unter Linken gibt. Die Demokratisierung der Kultur an unseren Universitäten ließ sich aber davon nicht aufhalten. Ich habe in den politisch eher zahmen 00er Jahren studiert. Trotzdem gab es damals auch emotionale Auseinandersetzungen über mutmaßlich rassistische Seminarinhalte und derartige Themen. Diese Auseinandersetzungen waren gelegentlich aufreibend, nicht jeder Streit lief nur zivil ab – aber die Wissenschaftsfreiheit hat davon keinen Schaden davongetragen. Ein kurzer Blick in die Vergangenheit reicht also, um zu sehen, dass das, was heute »Cancel Culture« genannt wird, bereits seit Jahrzehnten existiert und der Wissenschaftsfreiheit trotzdem keinen ernsthaften Schaden zugefügt hat.

Warum geistert die »Cancel Culture« denn dann erst seit ein paar Jahren über den Campus? Ich vermute, das liegt an zwei Entwicklungen.

Zum Ersten setzen junge Generationen erst seit einigen Jahren wirklich neue Themen und bringen neue Sensibilitäten mit. Aus der Generation der Lehrenden können oder wollen dem nicht alle folgen. Gerade den Lehrenden, die sich selbst als progressiv betrachten, mag es schwerfallen, sich mit diesen neuen Sensibilitäten auseinander zu setzen. Früher wussten sie, wie es geht, progressiv zu sein. Jetzt müssen sie sich dafür den Kopf über Pronomen zerbrechen und sind mit dem Vorwurf des Eurozentrismus konfrontiert. Das erst einmal anstrengend und kann zu einer Abwehrhaltung führen. An dieser Stelle kann uns mehr Gelassenheit helfen.

Der zweite Grund macht mir mehr Sorgen. Die Erzählung über Cancel Culture wird auch vom rechten Rand vorangetrieben. Rechtspopulistische und rechtsextreme Akteure bedienen sich gern dieser Strategie: sie bemühen eigentlich liberale Werte, um sie letztlich zu untergraben. Besonders beliebt ist die Meinungsfreiheit. Wenn rechte Positionen auf Ablehnung stoßen, dann wird schnell argumentiert, hier sei die Meinungsfreiheit des Redners (seltener der Rednerin) gefährdet. Dies wird dann als symptomatisch für einen vorgeblichen linken (oder identitätspolitischen) Angriff auf abweichenden Meinungen ganz allgemein gewertet. Diese Strategie ist perfide – denn Rechtspopulist*innen haben allenfalls ein ambivalentes Verhältnis zu Meinungsfreiheit; Rechtsextreme bekanntlich ein denkbar schlechtes.

Durch den Verweis auf ›CancelCulture‹ sollen nämlich ganze wissenschaftliche Disziplinen zurückgedrängt werden, die alte Hierarchien in Frage stellen: Gender Studies, Postcolonial Studies, linke Sozialwissenschaften.

Das ist aber keine Verteidigung von Wissenschafts- oder Meinungsfreiheit, sondern ein Angriff darauf. Der Versuch, diese Disziplinen in die Schmuddelecke zu stellen, ist ein Angriff auf eine pluralistische Gesellschaft, auf liberale Errungenschaften und im Endeffekt auf die Demokratie.

Diejenigen, die den Diskursraum nach rechts schieben wollen, und das Gespenst Cancel Culture dafür nutzen, werde ich nicht umstimmen können. Aber so manche, die Angst vor Cancel Culture haben, sind aufrichtige Liberale, die sich wirklich um die Wissenschaftsfreiheit sorgen. An diese richtet sich mein Plädoyer: Lassen Sie sich nicht vor den rechten Karren spannen! Streiten Sie sich gerne mit Ihren Studierenden – und nehmen Sie sie dabei ernst. Verteidigen Sie die Wissenschaftsfreiheit – aber vor autoritären Regimes, nicht vor engagierten jungen Leuten. Schmieden Sie Allianzen mit Personen, deren Meinung Sie nicht teilen – aber mit Kolleg*innen aus den Postcolonial Studies, nicht mit den geistigen Brandstifter*innen von Rechtsaußen.

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