Behörden Spiegel Juli 2020

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Innere Sicherheit

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Mehr als Technologie

V

orausschauende Polizeiarbeit wird heute gern mit neuen technischen Systemen zur Vorhersage von Kriminalität gleichgesetzt. Sie ist allerdings viel mehr, in der analogen Welt ist der polizeiliche Fachterminus hierfür “vor die Lage kommen”. Die Strategie der Polizei Niedersachsen formuliert seit 2013 daraus die Vision “Wir leben vor der Lage”. Seither analysiert und bewertet die Polizei hierzu regelmäßig Umwelttrends in Bezug auf ihre polizeiliche Relevanz. Im Themenfeld Digitalisierung sind daraus eine Vielzahl neuer Projekte entstanden, zum Beispiel PreMAP (“Predictive Mobile Analytics for Police”), die Weiterentwicklung der polizeilichen Analyse (Big Data), die Entwicklung von Künstlicher-Intelligenz(KI)-Software für polizeiliche Einsatzzwecke oder die Entwicklung einer Plattform für digitale Assistenzsysteme. In Lagezentren werden sogenannte OSINT-Manager für Open-Source-Recherchen eingesetzt und in der Öffentlichkeitsarbeit wurde die Nutzung neuer Social-Media-Kanäle massiv ausgeweitet. Vor zwei Jahren wurde der auch auf privaten Endgeräten der Beamtinnen und Beamten nutzbare Polizeimessenger NiMes bereitgestellt und für dieses Jahr ist die Einführung eines neuen internen Sozialen Netzwerkes für die Polizei geplant, um weitere moderne Formen der Zusammenarbeit zu ermöglichen. Vorausschauende Polizeiarbeit ist also mehr als der Versuch einer softwarebasierten Kriminalitätsvorhersage.

Kein Diskriminierungsrisiko In Deutschland finden derzeit lediglich Predictive-PolicingSysteme Verwendung, die unter Nutzung von Mustern aus historischen Kriminalitätsdaten Prognosen über potenzielle Straftaten erstellen. In den Länderpolizeien werden hierfür teils eigene, teils proprietäre Entwicklungen eingesetzt. Die Programme zur Risikobewertung von Krimina-

Behörden Spiegel / Juli 2020

Vorausschauende Polizeiarbeit in Zeiten von Predictive Policing und KI

nen zur Erkennung von Tatserien mit den angrenzenden Bundesländern Hessen und NordrheinWestfalen getestet.

Moderne Analyse und KI

(BS/Stephan Manke) Im Kinofilm “Minority Report” setzt die Precrime-Dienststelle des Washington Police Departments die Precogs Agatha, Arthur Die enorme Zunahme der digiund Dashiell unter Psychopharmaka, um ihre Fähigkeiten zur Verbrechensvorhersage zu nutzen. In ihren Visionen können sie Verbrechen zeitlich talen Beweismittel in den letzten und in Bildern präzise vorhersagen, ohne dass die Täter sich ihres zukünftigen Verhaltens bereits selbst bewusst sind. Trotz Erprobung neuer Jahren erfordert zwingend neue Technologien zur vorausschauenden Polizeiarbeit sind wir derzeit von dieser fiktiven Dystopie weit entfernt. technische Standards, da die litätswahrscheinlichkeiten im öffentlichen Raum erzeugen statistische Wahrscheinlichkeiten, bei denen die Annahme der Begehung zukünftiger Straftaten in einem be- Aufgrund der Corona-Pandemie wird derzeit kaum noch s t i m m t e n in Wohnungen eingebrochen. Das liegt auch daran, dass Raum höher diese immer besser abgesichert sind. In Deutschland wird ist als anders- vorausschauende Polizeiarbeit bisher vor allem zur Vorherwo. Bei diesen sage derartiger Delikte genutzt. Die Technik kann aber noch ortsbezogenen deutlich mehr. Foto: BS/Tim Reckmann, pixelio.de Systemen besteht deshalb grundsätzlich kein Analysekonzepte, die ein MoniRisiko individueller Diskriminie- toring von Social-Media-Posts rungen oder gar Repressalien, da nutzen, können dazugerechnet die Software im Wesentlichen für werden. Während derartige Medie Einsatzplanung von Polizei- thoden beispielsweise im Kontext kräften genutzt wird. der Kreditgewährung bereits weit Zum Bereich Predictive Policing verbreitet sind, ist ihr Einsatz zur sind allerdings auch Systeme Gefahrenvorsorge durch staatzur Verhaltensprädiktion zu zäh- liche Institutionen allerdings len, die zumeist unter Einsatz umstritten. von KI Wahrscheinlichkeiten zu künftigen Verhaltensweisen Flächendeckende Nutzung umstritten von Personen treffen. Hier wären beispielsweise Algorithmen zur Vergleichbar verhält es sich bei Risikobewertung von Gefährdern der sogenannten intelligenten Vioder zur Erstellung von Sozi- deobeobachtung im öffentlichen alprognosen bei Straftätern zu Raum. Ihr denkbarer flächennennen, wie sie unter anderem deckender Einsatz zur Erkenin den USA bereits zum Einsatz nung gefährlicher Situationen oder Verhaltensweisen, etwa von kommen. Bei solchen Systemen mit Per- Gewalthandlungen, Gefahrensisonenbezug besteht per se ein tuationen oder von gefährlichen potenziell höheres Diskriminie- Gegenständen, ist umstritten, rungsrisiko, da die jeweils einge- selbst wenn die Software lediglich setzten Trainingsdaten mensch- einen internen Alert-Dienst zur lichen Verhaltens den Maßstab weiteren Bewertung durch den für das Ergebnis bilden. Auch Menschen auslöst.

Noch kritischer ist die in Berlin ebenfalls erprobte Technik zur Gesichtswiedererkennung zu sehen. So wird im aktuellen KIWeißbuch der EU-Kommission darauf verwiesen, dass aufgrund der erhöhten Risiken besondere Anforderungen an Systeme zur biometrischen Fernidentifikation gestellt werden müssen. Angesichts der Entwicklungen in einigen Staaten sind deshalb in Deutschland derartige Verfahren vor Einführung im Hinblick auf die Intensität des Grundrechtseingriffs intensiver zu diskutieren.

Keine Algorithmisierung um jeden Preis Vorausschauende Polizeiarbeit im Sinne der niedersächsischen Polizeistrategie bedeutet also keine Algorithmisierung der Sicherheitspolitik um jeden Preis. Gleichwohl sind neue Technologien zu erproben und dabei sorgsam auf ihren Nutzen für die Polizeiarbeit und ihre Vereinbarkeit mit datenschutzrechtlichen und ethischen Standards zu prüfen. So wurde beispielsweise im Jahr 2016 das Projekt PreMAP mit einer Prädiktionskomponente zur Risikobewertung auf Grundlage des Near-Repeat-Ansatzes als ein Baustein zur Bekämpfung des Wohnungseinbruchs gestartet. Die bisherigen Erfahrungen sind vergleichbar mit den Erfahrungen in anderen Bundesländern – sie sind im Internet veröffentlicht. Die derzeitige Weiterentwicklung wird zeigen, ob eine Verbesserung der Prognosegüte gegenüber den bisher genutzten Merkmalen erreicht werden kann.

Daneben gehörten allerdings von Anfang an auch andere Komponenten der geobasierten Kriminalitätsanalyse zum Portfolio von PreMAP. So wurde im vergangenen Jahr mit dem PreMAP-Portal eine neue Oberfläche entwickelt, mit der neben der Vorhersage von Risikogebieten weitere auch lokal administrierbare Informationsdienste angeboten werden können. Dazu zählen zum Beispiel die geobasierte Ansicht der täglichen Kriminalitätslage, das sogenannte Kriminalitätsradar mit Auswahlmöglichkeiten unterschiedlicher Deliktsbereiche für die geobasierte Darstellung sowie weitere frei definierbare Lage-Informationsdienste, etwa aktuelle Informationen zu Fahndungen, Haftbefehlen, Schuhspuren usw. Diese Informationsdienste können über die lokalen Analysestellen gestaltet und mit lokalen oder übergreifenden Inhalten versehen werden und sind wahlweise über die Polizei-Arbeitsplätze, über sogenannte Infoterminals in den Wachräumen oder auch über mobile Endgeräte in Streifenwagen abrufbar. Mit spezifisch visualisierten Lageinformationen unterstützt PreMAP alle Beamtinnen und Beamte mobil und trägt dazu bei, dass Informationen bei Streifenfahrten oder Streifengängen noch besser verfügbar sind. Daneben werden derzeit auch Möglichkeiten eines Austauschs von übergreifenden Lageinformatio-

steigenden Datenmengen mit Personal allein auf Dauer nicht mehr zu bewältigen sind. Das heute noch übliche Weiterreichen auf mobilen Datenträgern gefährdet die forensischen Standards in den Ermittlungen. Deshalb sind moderne und für alle Beteiligten gemeinsam nutzbare Analyseund Speicherumgebungen zu schaffen, in der große Datenbestände innerhalb konkreter Strafverfahren verknüpft und ausgewertet werden können. Dazu ist auch der Einsatz von KI in Form des maschinellen Lernens unumgänglich. Mit der Einstellung von mehreren KI-Entwicklern konnte im Landeskriminalamt Niedersachsen bereits eine Software entwickelt werden, die Ermittlungskräfte künftig besser bei der extrem beanspruchenden Sichtung kinderpornografischer Dateien unterstützt, indem sie die bislang manuell zu sichtende Datenmenge massiv reduziert. Bei allen Entwicklungen steht die niedersächsische Polizei von Beginn an fest im Verbund des Programms “Polizei 2020”. Hier wird sie ihre Erfahrungen mit der Erprobung neuer Technologien einbringen und – wo immer gewünscht und möglich – zur Verfügung stellen.

Stephan Manke ist Staats­ sekretär im Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport. Foto: BS/Niedersächsisches ­Ministerium für Inneres und Sport

Einsatzfähigkeit war immer gegeben

Lageorientiertes Vorgehen

Bayerische Polizei hat Corona-Krise gut bewältigt

Eingriffe bei Verstößen auf Demonstrationen

(BS) Jürgen Köhnlein ist neuer Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) in Bayern. Er folgt auf Rainer Nachtigall, der zum (BS/bk) Das Einhalten von Infektionsschutzverordnungen gilt auch bei Vorsitzenden des Bayerischen Beamtenbundes (BBB) gewählt wurde. Über die wichtigsten Vorhaben seiner Amtszeit sprach er mit Behörden Demonstrationen. Doch wie wird bei Verstößen gegen die Verordnungen Spiegel-Redakteur Marco Feldmann. bei Versammlungen vorgegangen? Behörden Spiegel: Herr Köhnlein, welche Themen stehen auf Ihrer Agenda? Köhnlein: Zum Zeitpunkt meiner Amtsübernahme waren für mich die Auswirkungen der Corona-Krise am greifbarsten. Mein Hauptaugenmerk lag dann auch direkt darauf, wie die Bayerische Polizei unter Pandemiebedingungen arbeitet. Dabei konnten wir zeigen, dass der Bayerischen Polizei der Spagat zwischen der Aufrechterhaltung der Einsatz- und Arbeitsfähigkeit einerseits und dem notwendigen Arbeits- und Gesundheitsschutz andererseits gelungen ist. Wir waren weiterhin einsatzfähig und haben es ganz gut geschafft, unsere eigenen Beschäftigten vor den Coronabedingten Gesundheitsgefährdungen zu schützen. Auch wenn das am Anfang nicht einfach war. Behörden Spiegel: Was waren die Probleme? Köhnlein: Da es sich um ein weltweites Problem handelte, hatten wir anfangs Ausrüstungsprobleme hinsichtlich der Schutz­ausstattung. Außerdem gab es Schwierigkeiten in Hinblick auf die Kontakte innerhalb der Dienstgruppen. Diesbezüglich mussten wir neue Dienstund Arbeitszeitmodelle etablieren, um die Ansteckungsgefahr innerhalb der Polizei zu verringern. Dafür wurden auch Beamte

“ Wir waren weiterhin einsatzfähig und haben es ganz gut geschafft, unsere eigenen Beschäftigten vor den Corona-bedingten Gesundheits­gefährdungen zu schützen.” Jürgen Köhnlein ist neuer Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) in Bayern. Foto: BS/DPolG Bayern

und Tarifbeschäftigte teilweise ins Homeoffice geschickt. Daraufhin stellten sich neue Fragen in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dieses Thema wird uns in den kommenden Monaten noch weiter beschäftigen. Denn wir haben gezeigt, dass ein Teil der Polizei auch gut von zu Hause aus arbeiten kann. Behörden Spiegel: Was beschäftigt Sie noch? Köhnlein: Mich beschäftigt noch sehr die Gewalt gegen Polizeibeamte. In Bayern hatten wir im vergangenen Jahr 2.600 im Rahmen ihrer Dienstausübung verletzte Polizisten zu beklagen. Es gab sogar drei versuchte Tötungsdelikte zulasten meiner Kolleginnen und Kollegen. Das ist ein großes Problem und absolut nicht hinnehmbar. Die Zahl der Attacken hat in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich zugenommen. Problematisch sind

dabei insbesondere die tätlichen Angriffe durch unbeteiligte, außenstehende Dritte sowie die Attacken, die gar nicht in Zusammenhang mit einer Amtshandlung stehen. Darauf kann man sich auch nur bedingt durch ein verändertes Einsatztraining einstellen. Inakzeptabel sind auch die Vorwürfe aus dem politischen Raum, wonach es bei der deutschen Polizei einen latenten Rassismus gebe. Behörden Spiegel: Bei der Bayerischen Polizei soll es in Zukunft zu einer massiven Neuverteilung der Stellen kommen. Wie bewerten Sie das entsprechende Konzept? Köhnlein: Das Konzept begrüßen wir grundsätzlich. Die Neuverteilung ist absolut notwendig. Wir sind sehr zufrieden über die nachhaltige Verstärkung der Bayerischen Polizei. Denn das war jahrelang eine Forderung von

uns als Deutsche Polizeigewerkschaft. Kritisch sehen wir, dass im Vorfeld der Konzepterstellung nicht mit den Gewerkschaftsvertretern gesprochen und der Hauptpersonalrat nicht beteiligt wurde. Dessen Mitglieder haben davon aus der Presse erfahren. Außerdem wird bei dem Konzept die Bereitschaftspolizei zu stark außen vor gelassen. Hierzu wird es in Kürze Gespräche mit den Verantwortlichen geben. Dabei soll geklärt werden, ob und inwiefern hier noch Änderungen und Anpassungen möglich sind. Das wird aber schwierig werden. Denn niemand wird sich gerne seinen Teil des bereits verteilten Kuchens wegnehmen lassen. Behörden Spiegel: Wie bewerten Sie das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz? Köhnlein: Grundsätzlich halten wir von diesem Antidiskriminierungsgesetz nichts. Hier wird eine Gesetzeslücke behauptet, die es in Wahrheit gar nicht gibt. Es existieren schon heute genügend Stellen, bei denen sich die Bürger über angebliches polizeiliches Fehlverhalten und Diskriminierungen beschweren können. Dafür braucht es kein spezielles Gesetz mehr. Die in dem Gesetz vorgesehene Beweislasterleichterung, die für uns eine Beweislastumkehr darstellt, ist rechtlich ein kompletter Systembruch und absolut unnötig.

Bei sonnigem Wetter folgten rund 3.000 Personen dem Aufruf für die Demonstration “Für die Kultur – Alle in einem Boot” auf das Wasser des Landwehrkanals. Trotz der Aufforderung der Veranstalter und den Ermahnungen der Berliner Polizei wurde der Mindestabstand von 1,5 Metern und das Tragen von Masken seitens der Teilnehmer nicht eingehalten. Schließlich wurde die Demonstration in Absprache mit der Polizei aufgrund des NichtEinhaltens der Abstände beendet. Jedoch wurden keine Verfahren aufgrund von Ordnungswidrigkeitsverstößen gegen die SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung (SARSCoV-2-EindmaßnV), welche kürzlich durch die SARS-CoV2-Infektionsschutzverordnung ersetzt wurde, eingeleitet. Das Nicht-Einhalten der Abstände und das Fehlen eines MundNasen-Schutzes wird nach der Infektionsschutzverordnung als eine Ordnungswidrigkeit gewertet und kann mit bis zu 25.000 Euro geahndet werden.

Unterschiedliches Vorgehen in den Ländern Das Land Berlin hat sich dazu entschieden, die Verfolgungszuständigkeit für Ordnungswidrigkeiten neben den originär zuständigen Ordnungsbehörden auch der Polizei zu übertragen. Diesen Weg gingen auch die anderen Bundesländer. Bei den

Versammlungen seien die Ziele der polizeilichen Maßnahmen der Schutz der Versammlung sowie die Durchsetzung der Regelungen der Verordnung, heißt es aus der Berliner Senatsverwaltung für Inneres. Grundsätzlich schreite die Berliner Polizei bei der Eindämmung des CoronaVirus offensiv ein, jedoch hingen die polizeilichen Maßnahmen von der konkreten Einsatzlage und der Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ab. Beim Polizeipräsidium München setze man zwar auf eine kommunikative Linie und versuche, auf das Verständnis der Bürgerinnen und Bürger hinzuwirken, aber greife bei beharrlichen Zuwiderhandlungen und Verweigerern konsequent durch.

Zurückhaltender Ansatz in BaWü In Baden-Württemberg hingegen wolle man die Beachtung der Verordnungen vorrangig der Eigenverantwortung des Einzelnen überlassen. Bei massiven Verstößen während Demonstrationen handle die Polizei in Stuttgart stets lageorientiert. Im Zuge der allgemeinen Lockerungspolitik würde tendenziell eher zurückhaltend vorgegangen. Es gelte abzuwägen, ob durch restriktive polizeiliche Eingriffe nicht unter Umständen eine höhere Gefährdung erzeugt würde als durch eine zurückhaltende Vorgehensweise der Einsatzkräfte.


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