WINGbusiness Heft 02 2023

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ISSN 0256-7830; 56. Jahrgang, Verlagspostamt A-8010 Graz; P.b.b. 02Z033720M 2/23 businessWING Erklärbare Modelle des Maschinellen Lernens im Industrieumfeld... 20 Security, Analytics & Collaboration 16 Smart Production Labs - treten Sie ein... Was kann das Smart Production Lab in Kapfenberg? 12

Geistesblitze willkommen!

Wo man seit 1446 auf Hochtechnologie setzt, treffen Geistesblitze auf den richtigen Boden.

Kapfenberg ist Forschungs-, Hochschul- und Industriestandort, Dienstleistungszentrum und Handelsplatz und bietet Rundum-Service von Infrastruktur über Förderungen bis hin zur Zuzugs-Begleitung.

Liebe Leserin, lieber Leser, das Stichwort „Smart Production Lab“ bringt aktuell bei Google über 106.000.000 Treffer. Warum so ein Hype, schreitet doch die Digitalisierung mit SPS und Automatisierung schon seit den 1970er-Jahren voran? Die „neuen“ Elemente der vierten industriellen Revolution – zum Beispiel IoT, cyberphysikalische Systeme, die Cloud, Robotik, Augmented Reality und AI schaffen neuen Nutzen: mehr Effizienz durch günstigere Produktion, mehr Flexibilität durch individualisierte Fertigung (Losgröße 1) und vor allem neue Geschäftsmodelle (z.B. UBER, Wastebox und andere Service-Engineering-Ansätze). Roland Sommer, CEO der „Plattform Industrie 4.0“, bringt diese Vorteile auf den (mittel-)europäischen Punkt: „Industrie

4.0-Technologien sind das Sprungbrett zur Produktion der Zukunft… [und tragen] dazu bei, den Produktionsstandort Österreich langfristig abzusichern.“

Das führte zu neuen Strategien, Forschungsausrichtungen und folglich (Infra-)Strukturen für Unternehmen und Hochschulen. Smart Production Labs sind Lehr- und Forschungsfabriken, in denen die Chancen und Grenzen der digitalen Transformation in der Produktion erforscht, erlernt und ausprobiert werden können, um die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen zu stärken und innovative Lösungen bzw. Geschäftsmodelle zu transformieren oder neu zu entwickeln. Solche Lehr- und Forschungsfabriken stellen für die Betreiber (Hochschulen, Unternehmen) aufgrund des interdisziplinären Charakters der Digitalisierung eine große Herausforderung dar. Eine Aufgabe prädestiniert für Wirtschaftsingenieur:innen, wie die ersten österreichischen Labs zeigen: Das Smart Production Lab des Instituts Industrial Management der FH JOANNEUM in Kapfenberg wurde – wenige Monate nach der Pilotfabrik der TU Wien – im März 2018 eröffnet, gefolgt vom Schumpeter Labor für Innovation und der Smart Factory, beide TU Graz. Hochschulen verfolgen mit einem Smart Production Lab in der Regel mehrere Ziele: (1) Lernumgebung für Studierende, in der sie praxisnahe Erfahrungen sammeln und so ihre Karrierechancen durch Differenzierung verbessern können. (2) Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der intelligenten Produktion. (3) Zusammenarbeit mit der Industrie in Form von engen Partnerschaften, um Technologien und Konzepte in einer realen Produktionsumgebung zu testen und zu validieren. (4) Plattform für Tech-

nologietransfer. (5) Förderung der regionalen Wirtschaft durch neue Arbeitsplätze und gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen.

Das fünfjährige Jubiläum des Smart Production Lab in Kapfenberg ist ein besonderer Anlass um kurz innezuhalten und zu reflektieren: Was lief gut, was soll noch passieren und welche Themen könnten Sie, geschätzte Leser:innen, interessieren? Hier unsere Auswahl für das Top-Thema dieses Hefts:

Den Start mache ich gemeinsam mit Paul Hofmann und Barbara Mayer, um weniger wissenschaftlich, dafür mit viel Verve aufzuzeigen, was das Smart Production Lab in Kapfenberg ist und kann. Danach folgen Christoph Pils, Raphael Hartner und Helmut Hödl, die Security, Analytics & Collaboration als das strategische Fundament der Digitalisierung am Beispiel NTS beschreiben. Im dritten Beitrag von Vitaliy Mezhuyev, Katharina Lackner und Anja Stadlhofer folgt eine KI-Fallstudie aus dem Smart Production Lab zu Modellen des Maschinellen Lernens im Industrieumfeld. Kai Rüdele, Markus Hammer, Matthias Wolf und Christian Ramsauer von der TU Graz zeigen im vierten Beitrag auf, wie Industrie 4.0 und Ressourcenproduktivität in der LEAD Factory zusammenwirken. Jörg Schweiger, Christian Burkart und Sabine Hanusch widmen sich der horizontalen Wertschöpfungsoptimierung mit Hilfe von Digital Procurement, wobei sie speziell Kompetenzbedarfe für Wirtschaftsingenieur:innen herausarbeiten. Technisch-wirtschaftlich betrachten Claudia Brandstätter, Julian Schmidt, Hannes Eberhard, Raphael Hartner und Martin Hackhofer den Prozess vom Prototyp zum weltweiten Roll-out eines cyber-physischen Systems bei voestalpine. Johannes Dirnberger, Kitti Orsolya Posner und ich untersuchen im siebten Beitrag die Wirtschaftlichkeit von Robotic Process Automation am speziellen Beispiel von Citizen-Development-Lösungen im industriellen Einkauf. Schließlich evaluieren Josua Steger, Klaus Seybold und Sabrina Romina Sorko die Wettbewerbsfähigkeit durch menschzentrierte Arbeitsplätze am Beispiel von Assistenzsystemen und neuen Formen der Zusammenarbeit im virtuellen Raum.

Besonders hervorheben möchte ich den Beitrag von Prof. Gunter Nitsche, der mit seiner Expertise und unnachahmlichen persönlichen Art der Lehre Generationen von Wirtschaftsingenieur-Studierenden an der TU Graz und an der FH JOANNEUM begeistert hat. Unbedingt lesenswert!

Ein herzliches und großes Dankeschön gebührt zwei Personen: Christian Burkart, der seine hohen wissenschaftlichen Ansprüche von der WU Wien mit zu uns ans Institut Industrial Management gebracht und mit Akribie, Verlässlichkeit und Freundlichkeit alle acht Publikationsteams hochprofessionell durch den Reviewprozess geleitet hat. Und natürlich Beatrice Freund, die als guter Geist und unermüdliche Chefredakteurin alle Nummern über viele Jahre begleitet hat. Danke!

Ihnen allen, liebe Leserinnen und Leser, einen wunderschönen Sommer, ein gutes Abarbeiten des Liegengebliebenen und hoffentlich die eine oder andere Stunde, um sich mit diesem Heft zu Themen der Digitalisierung zu ajourieren.

3 WINGbusiness 2/2023 EDITORIAL
Ihr Martin Tschandl Smart Production Labs Prof. Mag. Dr. Martin Tschandl Leiter des Instituts Industrial Management | FH JOANNEUM

Top-Thema: Smart Production Labs

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Martin Tschandl, Paul Hofmann, Barbara Mayer Was kann das Smart Production Lab in Kapfenberg? 12 Eine der größten Lehr- und Forschungsfabriken für Industrie 4.0 in Mitteleuropa zieht nach seinen ersten fünf Jahren Bilanz Christoph Pils, Raphael Hartner, Helmut Hödl Security, Analytics & Collaboration 16 Das strategische Fundament der Digitalisierung Vitaliy Mezhuyev, Katharina Lackner, Anja Stadlhofer Erklärbare Modelle des Maschinellen Lernens im Industrieumfeld: Eine Fallstudie aus dem Smart Production Lab 20 Kai Rüdele, Markus Hammer, Matthias Wolf, Christian Ramsauer Ressourcenproduktivität und Industrie 4.0 in der LEAD Factory 26 Jörg Schweiger, Christian Burkart, Sabine Hanusch Digital Procurement 31 Entwicklungstendenzen und Kompetenzbedarf für industrielle Einkaufsmanager Claudia Brandstätter, Hannes Eberhard, Raphael Hartner, Martin Hackhofer, Julian Schmidt Vom Prototyp zum weltweiten Roll-out: Eine technisch-wirtschaftliche Betrachtung anhand eines cyber-physischen Systems 36 Johannes Dirnberger, Kitti Orsolya Posner, Martin Tschandl Wie wirtschaftlich sind RPA-Citizen-Development-Lösungen? 42 Insights aus einer UiPath-Fallstudie im industriellen Einkauf Josua Steger, Klaus Seybold, Sabrina Sorko Wettbewerbsfähigkeit durch zukunftsfähige, menschzentrierte Arbeitsplätze: Assistenzsysteme und neue Formen der Zusammenarbeit im virtuellen Raum 47
5 WINGbusiness 2/2023 Inhaltsverzeichnis EDITORIAL Smart Production Labs 3 Führung/Profession Gunter Nitsche Die Auswirkungen des BREXIT auf die im österreichischen Firmenbuch eingetragenen britischen Private Companies Limited by Shares (Ltd.) WING-INTERN WING-Mentoringprogramm 2023 erfolgreich gestartet----+ 25 Harald Hagenauer WING-Forum 2023 51 WING-REGIONAL Andreas Leitgeb, Georg Micheu HIRSCH SERVO GRUPPE Treffen der Wirtschaftsingenieure von Kärnten und Osttirol, 4. Mai 2023, HIRSCH Servo AG Glanegg 30 10-jähriges Jubiläum des Studiengangs Wirtschaftsingenieurwesen FH Kärnten feiert 10 Jahre Wirtschaftsingenieurwesen und setzt die erfolgreiche Veranstaltungsreihe „Wirtschaftsingenieure verbinden“ fort 41 WING-Netzwerk Christian Burkart Vortragsreihe „Unternehmensführung in der Praxis“, diesmal mit Infineon-CEO Sabine Herlitschka 53 IMPRESSUM Impressum 54

Gunter Nitsche

Die Auswirkungen des BREXIT auf die im österreichischen Firmenbuch eingetragenen britischen Private Companies Limited by Shares (Ltd.)

Deskriptoren: BREXIT, Limited, GesBR

Normen: § 10 IPRG, § 142 UGB, §§ 1175-1216e ABGB

1 Einleitung

Die Bestimmungsgründe für die Wahl der Rechtsform, in welcher ein Unternehmen errichtet und betrieben werden soll, werden vor allem durch das Gesellschaftsrecht, das Gewerberecht und das Steuerrecht bestimmt. Aus der Sicht des Gesellschaftsrechts stehen die Fragen der persönlichen Haftung für unternehmensbezogene Verbindlichkeiten einerseits und die Fragen der Kapitalaufbringung als Voraussetzung für die Vermeidung einer solchen persönlichen Haftung andererseits im Vordergrund. [1]

Seit der Anhebung des Stammkapitals einer GmbH von ATS 100.000,-auf ATS 500.000,-- durch die Novelle zum GmbH-Gesetz 1980 [2] wurde vermehrt auch die Errichtung einer britischen Private Company Limited by Shares (Ltd.) als Alternative in Betracht gezogen. Denn das MindestStammkapital einer Ltd. beträgt nur ein britisches Pfund, umgerechnet ca. EUR 1,10.

1.1 Ltd. mit Verwaltungssitz in Österreich vor 1995?

Schon vor dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union [3] am 01.01.1995 gab es aus diesem Grund wiederholt Überlegungen, den Vorteil der Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen mit dem Vorteil der geringeren Kapitalaufbringung zu verbinden. Es wurde erwogen, im United Kingdom (nicht selten auf einer der Kanalinseln Jersey oder Guernsey) eine Ltd. zu gründen, mit dem Ziel, in weiterer Folge in Österreich eine Zweigniederlassung zu errichten. Für die Anmeldung der

Zweigniederlassung im damaligen österreichischen Handelsregister bestimmte § 13b HGB, dass – soweit nicht das englische Recht Abweichungen nötig machte – sinngemäß die Vorschriften für die Hauptniederlassung anzuwenden seien. Das Problem bestand jedoch in der Zeit zwischen 1986 und 1994 darin, dass aufgrund des § 108 GmbHG [4] die Eintragung der Zweigniederlassung zu versagen war, wenn die Ltd. nicht nachweisen konnte, dass sie im United Kingdom rechtlichen Bestand hatte und dass sie sich auch dort „in wirklicher und regelmäßige Geschäftstätigkeit“ befand. Reine „Briefkastengesellschaften“ erfüllten diese Voraussetzung nicht. In Übereinstimmung mit dem damals gültigen § 108 GmbHG ordnete § 10 des österreichischen Gesetzes über das internationale Privatrecht (IPRG) an, dass sich das Personalstatut einer juristischen Person nach dem Recht des Staates bestimmt, in welchem der Rechtsträger den tatsächlichen Sitz seiner Hauptverwaltung hat. Aus dem Personalstatut sind die maßgebenden Regelungen für das Entstehen, Leben und Erlöschen der Gesellschaft abzuleiten.

In der Literatur ist die Frage des Personalstatuts einer juristischen Person ausführlich behandelt worden: „Diesbezüglich können zwei Theorien unterschieden werden: die Sitz- und die Gründungstheorie. Nach der Sitztheorie ist Personalstatut einer juristischen Person das Recht des Landes, in dem die juristische Person ihren tatsächlichen Verwaltungssitz hat. Nach der Gründungstheorie ist jenes Recht maßgeblich, nach dem die juristische Person gegründet wurde. Die

Sitztheorie herrscht in Kontinentaleuropa, die Gründungstheorie im common law vor. In Österreich gilt gem § 10 die Sitztheorie.“ [5]

Wenn eine Gesellschaft in einem Drittstaat gegründet und in das dortige Handelsregister eingetragen wurde, ihre Geschäftstätigkeit aber ausschließlich in Österreich ausübte und somit ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in Österreich hatte, unterlag sie österreichischem Recht. Dieses versagte jedoch derartigen Konstruktionen mit einer „Briefkastenfirma“ im Drittstaat und der operativen Tätigkeit in Österreich seine Anerkennung. Aus der Sicht des österreichischen Rechts sind solche Gesellschaften nicht rechtsfähig und folglich auch nicht parteifähig. [6] Aufgrund der eindeutigen Anordnung des ehemaligen § 108 GmbHG ergab sich in Verbindung mit § 10 IPRG, dass es im Hinblick auf die in Österreich herrschende Sitztheorie nicht möglich war, im Inland eine Zweigniederlassung einer im United Kingdom registrierten, folglich nach österreichischem Recht nicht rechtsfähigen Briefkastenfirma im (damaligen) Handelsregister eintragen zu lassen. Vor Eintragung der inländischen Zweigniederlassung durfte die Gesellschaft jedoch ihren Geschäftsbetrieb in Österreich nicht aufnehmen. [7]

Mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union kam es zu einer grundlegenden Änderung der Rechtslage. Die Niederlassungsfreiheit ermöglichte die freie Wahl des Verwal-

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1.2 Ltd. mit Verwaltungssitz in Österreich ab 1995

tungssitzes des eigenen Unternehmens innerhalb der EU. Nunmehr konnten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz in einem bestimmten Mitgliedstaat der EU hatten, ihren tatsächlichen Verwaltungssitz über die Grenze hinweg in einen anderen EU-Mitgliedstaat verlegen, ohne die ihnen nach dem Recht des Registerstaates zukommende Rechtsfähigkeit zu verlieren.

Die vier Grundfreiheiten (freier Warenverkehr, freier Personenverkehr, Dienstleistungsfreiheit, freier Kapital- und Zahlungsverkehr) bilden die Grundlage des Binnenmarktes der Europäischen Union. Ihre rechtliche Grundlage findet sich im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Die Niederlassungsfreiheit resultiert aus dem freien Personenverkehr. [8]

1.3 Verwaltungssitz und Niederlassungsfreiheit: Die „Centros“Entscheidung

Die erste Entscheidung, in welcher sich der EuGH mit der Reichweite der Niederlassungsfreiheit auseinandersetzte, war die „Centros-Entscheidung“ [9]. Die Ehegatten Bryde waren dänische Staatsangehörige.

Frau Bryde war Direktorin der Centros Ltd., einer am 18. Mai 1992 in England eingetragenen „private limited company“. Der Sitz der Centros befand sich an der Adresse eines Freundes ihres Ehemannes. Das Gesellschaftskapital betrug GBP 100,--. Es war weder in die Gesellschaft einbezahlt noch zu deren Verwendung individualisiert.

Die Ehegatten Bryde wollten mit der Centros Ltd. ihre Geschäftstätigkeit in Dänemark aufnehmen und stellten daher den Antrag an die zuständige Erhvervs- og Selskabsstyrelse (Zentralverwaltung für Handel und Gesellschaften), im dänischen Handelsregister eine Zweigniederlassung der Centros Ltd. einzutragen. Die Zentralverwaltung lehnte die Eintragung mit der Begründung ab, Ziel der Gründung der Centros Ltd. sei die Umgehung der für eine Kapitalgesellschaft in Dänemark geltenden Vorschriften über die Aufbringung des gesetzlichen Mindesthaftkapitals. Die Eheleute Bryde machten geltend, dass die Verweigerung der Eintra-

gung der Zweigniederlassung ihrer nach englischem Recht errichteten und dort registrierten Gesellschaft in Dänemark eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstelle. Der EuGH entschied zugunsten der Ehegatten Bryde.

„Die Vorlagefrage ist dahin zu beantworten, dass ein Mitgliedstaat, der die Eintragung der Zweigniederlassung einer Gesellschaft verweigert, die in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, rechtmäßig errichtet worden ist, aber keine Geschäftstätigkeit entfaltet, gegen die Artikel 52 und 58 EG-Vertrag verstößt, wenn die Zweigniederlassung es der Gesellschaft ermöglichen soll, ihre gesamte Geschäftstätigkeit in dem Staat auszuüben, in dem diese Zweigniederlassung errichtet wird, ohne dort eine Gesellschaft zu errichten und damit das dortige Recht über die Errichtung von Gesellschaften zu umgehen, das höhere Anforderungen an die Einzahlung des Mindestgesellschaftskapitals stellt.“ [10]

1.4 Verwaltungssitz und Niederlassungsfreiheit: Die „Überseering“Entscheidung

Zur Frage der (Un-)Vereinbarkeit der Sitztheorie mit der Niederlassungsfreiheit nahm der EuGH auch in der Entscheidung „Überseering“ [11]

Stellung:

Die „Überseering BV“ war eine am 22.08.1990 in das Handelsregister von Amsterdam eingetragene Gesellschaft niederländischen Rechts. Diese erwarb ein Grundstück in Düsseldorf, das sie renovieren ließ und anschließend für den Betrieb eines Motels gewerblich nutzte. Im Jahr 1994 erwarben zwei deutsche Staatsangehörige sämtliche Geschäftsanteile an der „Überseering BV“. Aufgrund wesentlicher Mängel bei der Renovierung klagte die „Überseering BV“ die beauftragte Baufirma auf Zahlung von DM 1.163.657,77. Das OLG Düsseldorf vertrat die Ansicht, dass die „Überseering BV“ als Gesellschaft niederländischen Rechts aufgrund der tatsächlichen Verlegung ihres Verwaltungssitzes nach Düsseldorf nunmehr in Deutschland nicht mehr rechtsfähig und demnach auch nicht parteifähig sei.

Der EuGH sah in der Auffassung des OLG Düsseldorf eine unzulässige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, wenn ein Mitgliedsstaat einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedsstaats gegründet worden war und dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat, die Rechtsfähigkeit abspricht, dies mit der Begründung, dass diese Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in sein Hoheitsgebiet verlegt habe. [12] Das vom OLG Düsseldorf angesprochene Erfordernis, die selbe Gesellschaft in Deutschland neu zu gründen, komme der Negierung der Niederlassungsfreiheit gleich.

1.5 Verwaltungssitz und Niederlassungsfreiheit: Die „Inspire Art“Entscheidung

Neuerlich bestätigte der EuGH den Vorrang der Gründungstheorie vor der Sitztheorie in der Entscheidung „Inspire Art“. [13]

Die „Inspire Art“ wurde am 28.06.2000 als Private Company Limited by Shares mit Sitz in Folkestone, United Kingdom, gegründet. Ihr einziger Geschäftsführer (Director) wohnte in Den Haag, Niederlande. Die Gesellschaft errichtete eine Zweigniederlassung in Amsterdam. Diese war unter der Firma „Inspire Art Ltd.“ im Handel mit Kunstgegenständen tätig. Im niederländischen Handelsregister war die „Inspire Art Ltd.“ als Zweigniederlassung der Gesellschaft mit Sitz im United Kingdom ohne einen Zusatz eingetragen. Die niederländische Handelskammer verlangte, dass der Firmenwortlaut um den Zusatz vervollständigt wird, dass es sich um eine formal ausländische Gesellschaft handelt. Als Konsequenz dieses Zusatzes wären die Vorschriften des niederländischen Gesellschaftsrechts über das Mindestkapital zur Anwendung gelangt. Auch diesmal sprach der EuGH aus, dass die Gründung einer Zweigniederlassung jenen Vorschriften unterliegt, die in dem Staat gelten, in welchem die Gesellschaft gegründet wurde. Dies gilt auch für jenen Fall, in welchem die Tätigkeit dieser Gesellschaft ausschließlich in jenem Mitgliedstaat ausgeübt wird, in welchem die Zweigniederlassung eingetragen ist. Eine Einschränkung, die

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Vorschriften des Mitgliedstaates, in welchem die Zweigniederlassung eingetragen ist, über das Mindeststammkapital einzuhalten, besteht nicht. Denn ansonsten würde die Gesellschaft an der Ausübung ihrer Niederlassungsfreiheit behindert.

2 Auswirkungen des Beitritts Österreichs zur EU am 01.01.1995

Mit dem Beitritt Österreichs zur EU wurde auch der „acquis communautaire“ [14] zum Bestandteil der österreichischen Rechtsordnung. Nicht nur das Primärrecht der EUVerträge und das Sekundärrecht (sämtliche Verordnungen und Richtlinien), sondern auch die Urteile des Gerichtshofes wurden damit Teil des österreichischen Rechts. Gemäß der „Costa/Enel - Entscheidung“ [15] kommt dem Gemeinschaftsrecht der absolute Anwendungsvorrang gegenüber anderslautenden nationalen Rechtsvorschriften zu.

Damit konnte auch die bisher in Österreich geltende Sitztheorie in den Anlassfällen nicht länger aufrechterhalten bleiben. Die in § 10 IPRG verankerte „Sitztheorie“ wurde durch die „Gründungstheorie“ des EuGH überlagert.

Das Ziel einer Gesellschaftsgründung ohne persönliche Haftung der Gesellschafter für unternehmensbezogene Verbindlichkeiten konnte nunmehr „billiger“ erreicht werden. Ein Gründungskapital von GBP 100,-- war die Regel. Maßgebliche Rechtsgrundlage war der britische Companies Act 2006. [16]

Als Konsequenz wurden auch nach dem Vorbild der „Centros Ltd.“ von Österreich aus zahlreiche „Private Companies Limited by Shares“ gegründet, deren protokollierter Sitz im United Kingdom lag, deren geschäftlicher Sitz sich jedoch in Österreich befand. Einer Erhebung des KSV 1870 vom Juli 2022 zufolge gab es am 01.01.2018 noch 438 Gesellschaften, bei denen diese Voraussetzungen zutrafen. Die Zahl sank mit 01.01.2019 auf 393. Ein Jahr später waren es 348, mit Stand 01.01.2022 gab es noch 217 im österreichischen Firmenbuch eingetragene Ltds. [17]

3 Folgen des BREXIT

Aufgrund des am 24.01.2020 unterzeichneten und mit 31.01.2020 wirksam gewordenen Austrittsabkommens [18] zwischen dem United Kingdom und der EU ist das United Kingdom seit 01.01.2021 nicht mehr Teil des Europäischen Binnenmarktes. Damit fällt auch im Verhältnis zwischen Österreich und dem United Kingdom die Niederlassungsfreiheit als Rechtsgrund für die Unanwendbarkeit des § 10 IPRG weg. Vergeblich sucht man im Austrittsabkommen nach einer „Fortsetzungsklausel“ für die Weitergeltung der EuGH-Judikatur zur Niederlassungsfreiheit oder für den Weiterbestand der Rechtsfähigkeit britischer „Briefkastenfirmen“ in den verbliebenen Mitgliedstaaten der EU. Wie sich aus den Materialien zu §10 IPRG ergibt, bestimmt sich das auf die britische Ltd. anwendbare Recht nunmehr wieder nach dem tatsächlichen Sitz der Hauptverwaltung. Maßgebend ist der Ort, an dem die Zentralverwaltung tatsächlich geführt wird. Im Sinn der vom OGH angewendeten „Sandrock’schen Formel“ gilt jener Ort als Sitz der Hauptverwaltung, „wo nach außen erkennbar die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung effektiv in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt“ werden. [19]

4 Konsequenzen für die rechtliche Beurteilung der Ltd.

Nunmehr fällt eine Ltd. als österreichische Zweigniederlassung einer „Briefkastengesellschaft“ im United Kingdom nicht mehr unter den Anwendungsbereich der Gründungstheorie. Vielmehr wird ihr seit 01.01.2021 – nach Ablauf des im österreichischen Brexit-Begleitgesetz [20] vorgesehenen Übergangszeitraums – die Anerkennung als Kapitalgesellschaft nach britischem Recht in Österreich versagt. Da infolge des Brexit-Referendums die Grundlage für diese Anerkennung entfiel, wurde für den Fall, dass zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich kein Austrittsabkommen zustande kommen sollte, das Brexit-Begleitgesetz (Bre-BeG 2019) geschaffen, nach dem bis 31.12.2020 die Rechtsfähigkeit solcher Gesellschaften aufrecht bleiben sollte. [21] Aufgrund des

geltenden numerus clausus im Gesellschaftsrecht stellt sich die Frage, welche Zuordnung zu einer in Österreich anerkannten Rechtsform seit 01.01.2021 möglich ist. Die Qualifikation als Kapitalgesellschaft scheidet mangels Erfüllung sämtlicher dafür bestehender Formalvoraussetzungen aus. Auch für die Personengesellschaften des Unternehmensrechts sind die Voraussetzungen (Eintragung als OG oder KG im Firmenbuch aufgrund einer diesbezüglichen Anmeldung durch die Gesellschafter) nicht erfüllt.

5 Judikatur des OGH zur Ltd. mit Verwaltungssitz in Österreich nach dem BREXIT

Das Problem, wie mit der im österreichischen Firmenbuch eingetragenen Zweigniederlassung einer britischen „Briefkasten“-Ltd. umzugehen sei, war Vorfrage eines Prozesses, den die HOBO Management Ltd. (HOBO Ltd.) mit satzungsmäßigem Sitz in Brookfield Gardens, West Kirby, Wirral, durch ihre österreichische Zweigniederlassung mit der im österreichischen Firmenbuch eingetragenen Firmenbuchnummer FN 276750k und dem tatsächlichen Sitz der Hauptvertretung in der Traviatagasse 12-16/2/12, 1230 Wien, gegen die B. GmbH in Wien führte. Die HOBO Ltd. vertreten durch die Geschäftsführerin und Alleingesellschafterin Astrid Schaffler, begehrte (nach Klagsausdehnung) EUR 33.667,93 aus einem Bauvorhaben. Das Erstgericht traf folgende Feststellungen: Das Unternehmen wurde ausschließlich in Österreich betrieben. Hier hatte die HOBO Ltd. ihren Verwaltungssitz. Kein Geschäftsführer oder Gesellschafter hatte je seinen gewöhnlichen Aufenthalt am (Gründungs-)Sitz der HOBO Ltd. in Wirral. Sämtliche Kontaktdaten verweisen auf den tatsächlichen Sitz der Hauptverwaltung in Österreich. Seit dem Jahr 2014 hält Frau Astrid Schaffler alle Geschäftsanteile und damit auch 100% der Stimmrechte. Das Gründungskapital der HOBO Ltd. beträgt GBP 2,--. Das Erstgericht wies die Klage zurück. Durch den BREXIT sei es zum Verlust der Rechtsfähigkeit der HOBO Ltd. gekommen. Eine nicht

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rechtsfähige britische Ltd. könne in Österreich – als rechtliches „nullum“ – auch nicht als Prozesspartei eine gerichtliche Klage erheben. [22]

Das Rekursgericht hielt die Klage für zulässig. Durch den BREXIT habe sich die HOBO Ltd., die aufgrund des § 10 IPRG nicht mehr als Ltd. fortbestehen könne, von einer werbenden Gesellschaft in eine Liquidationgesellschaft verwandelt. [23]

Der OGH kam zum Ergebnis, dass weder das Erstgericht noch das Rekursgericht richtig entschieden hätten. Zwar sei dem Erstgericht insoweit zu folgen, als die Rechtsfähigkeit einer britischen Ltd. mit Hauptverwaltungssitz in Österreich aus österreichischer Sicht nicht mehr bestehe. [24] Doch seien solche Gesellschaften entgegen der Auffassung des Erstgerichts nicht als „rechtliches nullum“, somit als Rechtsträger, der sich gleichsam „in Luft aufgelöst“ hätte [25], zu beurteilen, sondern „durch die Brille materiell-österreichischen Gesellschaftsrechts“ zu sehen und einer vom österreichischen Recht im Rahmen des „numerus clausus“ anerkannten Gesellschaftsform zuzuordnen. [26]

Die Auffassung des OLG sei unzutreffend, weil der Verlust der Rechtsfähigkeit auch für die Ltd. als Abwicklungsgesellschaft gilt. Eine nach der Rechtsprechung nicht rechtsfähige Gesellschaft ist auch in ihrer Liquidationsform nicht rechtsfähig. [27]

Der OGH gelangt zu folgendem Ergebnis: „Dies spricht aber dafür, die Rechtsform einer Ltd., die bisher nach europarechtlichen Vorgaben als eigenständiger Rechtsträger anzuerkennen war, bei der diese Anerkennungsgrundlage Brexit-bedingt aber weggefallen ist, dann, wenn der Sitz ihrer Verwaltungstätigkeit ein Inlandssitz ist, nach österreichischem Gesellschafterstatut nunmehr als Gesellschaft bürgerlichen Rechts anzusehen bzw im Fall eines Alleingesellschafters von der Zuordnung an ihn als Einzelunternehmer auszugehen (§ 142 UGB analog).“ [28]

In einer Folgeentscheidung, die ebenfalls die Streitteile der gegenständlichen Entscheidung betraf, schloss sich auch der 10. Senat des OGH der Rechtsmeinung des 9. Senats des OGH an. [29]

6 Konsequenzen für die Gesellschafter und die handelnden Personen

Eine im United Kingdom registrierte Ltd., die in Österreich weiter unternehmerisch tätig ist, die vielleicht auch über ein gewisses Vermögen verfügt und allenfalls auch Verbindlichkeiten zu erfüllen hat, kann sich durch den Verlust der Anerkennung als Kapitalgesellschaft nach englischem Recht nicht einfach „in Luft auflösen“. Insofern war die erstinstanzliche Entscheidung jedenfalls verfehlt. [30] Vergeblich sucht man im Austrittsabkommen zwischen dem United Kingdom und der EU nach Übergangsregelungen.

Daher verbleiben zwei mögliche Lösungen: Die erste Lösung wäre die Auflösung der Ltd. aufgrund des Wegfalls der rechtlichen Grundlage für ihr Bestehen und der Übertritt in das Liquidationsstadium. Diese Auffassung wurde vom OLG Wien vertreten.

[31] Eine derartige Konsequenz hat der Gesetzgeber in Österreich bereits einmal vorgesehen. Anlässlich der Erhöhung des Stammkapitals von ATS 100.000,-- auf ATS 500.000,-- wurde die amtswegige Auflösung bei Nichterfüllung der erforderlichen Kapitalerhöhung trotz Mahnung und Setzung einer sechsmonatigen Nachfrist angeordnet. [32]

Die zweite Lösung ist die Zuordnung der Ltd. zu jener Rechtsform, die immer dann vorliegt, wenn sich zwei oder mehrere Personen zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks zusammenschließen. Das ist die GesBR (§§ 1175 – 1216e ABGB) als rechtliches „Auffangnetz“ für sämtliche unternehmerischen Tätigkeiten, die keiner der übrigen anerkannten Rechtsformen zuzuordnen sind. Sollte nur mehr eine einzige Person unternehmerisch tätig sein, liegt ein Einzelunternehmen vor, für das die Bestimmungen der §§ 1ff UGB Anwendung finden. Jedenfalls endet das Trennungsprinzip, wonach die Ltd. selbst Trägerin von Rechten und Pflichten war.

Der Übergang des Gesellschaftsvermögens erfolgt in sinngemäßer An-

wendung des § 142 Abs 1 UGB im Weg der Gesamtrechtsnachfolge.

7 Fazit

Die Konsequenzen der OGH-Entscheidung sind weitreichend. Durch den Entfall des Schutzschildes der juristischen Person kommt es zur persönlichen Haftung jener Personen, die die Rechtsform der Ltd. gewählt haben, um eben dieser Haftung zu entgehen. Dies gilt nicht bloß für neu eingegangene Verbindlichkeiten seit dem 01.01.2021, sondern gleichermaßen auch für Altschulden. Für die nunmehr persönlich haftenden Gesellschafter stellt sich die Rechtslage so dar, als hätte es die Ltd. nie gegeben. Neben der Haftung für Verbindlichkeiten aus Warenbestellungen, Auftragsvergaben oder Kreditaufnahmen bei Banken kommen beispielsweise auch Lohn- und Abfertigungsansprüche von Arbeitnehmern, Schadenersatzansprüche Dritter oder Ansprüche aus Produkthaftungstatbeständen usw in Betracht.

S

oweit es schon anhängige Verfahren bei Gericht gibt, sind diese mit den Gesamtrechtsnachfolgern fortzusetzen. Diese treten in bestehende Prozessverhältnisse ein, ohne dass es einer rechtsgeschäftlichen Eintrittserklärung bedarf. Im Fall des Unterliegens haften sie persönlich und unbeschränkt für die Prozesskosten.

Das Bundeskanzleramt hat auf seiner Webseite aus diesem Grund auf die Notwendigkeit rechtzeitiger Handlungen hingewiesen. Vorgeschlagen wurde die Einbringung des Betriebs in eine Personen- oder Kapitalgesellschaft, die in einer österreichischen Rechtsform errichtet ist, oder eine grenzüberschreitende Verschmelzung der Ltd. mit einer österreichischen Kapitalgesellschaft. [33] Wie aus der abnehmenden Zahl der Ltds. im österreichischen Firmenbuch zu erkennen ist, sind offenkundig auch einige Gesellschaften dieser Anregung gefolgt. Für die anderen gilt die Empfehlung, die unternehmerische Tätigkeit so rasch wie möglich zu beenden. Die bereits eingetretenen Konsequenzen der Gesamtrechtsnachfolge lassen sich freilich nicht mehr aus der Welt schaffen.

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Quellen:

[1] Krejci, Gesellschaftsrecht I – Allgemeiner Teil und Personengesellschaften (2005) 4,34; Mader/Klampferer, Merkmale der GmbH (Stand 20.8.2022, Lexis Briefings).

[2] BGBl 1980/320; umzusetzen war die Kapitalerhöhung bis 31.12.1986 bei sonstiger amtswegiger Auflösung der Gesellschaft.

[3] Durch das Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union, BGBl 1994/744.

[4] In Kraft bis 30.06.1996.

[5] Verschraegen in Rummel (Hrsg), ABGB3 § 10 IPRG Rz 2.

[6] Fucik in Fucik/Klauser/Kloiber (Hrsg), ZPO12 § 1 (Stand 1.8.2015)

„Parteifähig ist, wer rechtsfähig ist. Die Parteifähigkeit und Handlungsfähigkeit ist nach dem Personalstatut zu beurteilen (§§ 9, 10, 12 IPRG).“

[7] Vgl Schönherr/Nitsche, HGB27 (1981) § 107 GmbHG E 2.

[8] Die Regelungen zur Niederlassungsfreiheit finden sich in Art 49 AEUV.

[9] EuGH 09.03.1999, C-212/97 (Centros Ltd gegen Erhvervs- og Selskabsstyrelsen).

[10] EuGH 09.03.1999, C-212/97 Rz

39.

[11] EuGH 05.11.2002, C-208/00 (Überseering BV gegen Nordic Construction Company Baumanagement GmbH).

[12] EuGH 05.11.2002, C-208/00 Rz 82.

[13] EuGH 30.09.2003, C-167/01 (Kamer van Koophandel en Fabrieken voor Amsterdam gegen Inspire Art Ltd.).

[14] Unter dem Begriff "acquis communautaire" (gemeinschaftlicher Besitzstand) versteht man sämtliche geltende Rechtsvorschriften in der Europäischen Union, die für alle Mitgliedstaaten verbindlich sind.

[15] EuGH 15.07.1964, RS 6-64 (FLAMINIO COSTA GEGEN E.N.E.L.).

[16] UK Companies Act 2006, 8th November 2006 https://www.legislation.gov.uk/ukpga/2006/46/contents.

[17] Erhebung des KSV 1870 mit Stand 08.Juli 2022 (Philipp Zelnicek KSV 1870).

[18] ABKOMMEN über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, ABl L 29/7.

[19] Ratka, Sitztheorie, in RDB Keywords1 (Stand 11. 10. 2021); OGH

28.08.1997, 3 Ob 93/97s.

[20] Brexit-Begleitgesetz 2019 – BreBeG 2019, BGBl I 2019/25.

[21] BREXIT und limited liability company mit Verwaltungssitz in Österreich, Webseite des OGH zu OGH

27.01.2022, 9 Ob 74/21d https://www. ogh.gv.at/entscheidungen/entscheidungen-ogh/brexit-und-limited-liability-company-mit-verwaltungssitz-inoesterreich/.

[31] OGH 27.01.2022, 9 Ob 74/21d Rz 8-11.

[32] Kastner, Gesellschaft mbH Gesetz-Novelle 1980, JBl 1980, 617; Art III, §§ 6 - 8 des Bundesgesetzes über die Änderung des Gesetzes über Gesellschaften mit beschränkter Haftung, BGBl 1980/320.

[33]https://www.bundeskanzleramt. gv.at/themen/brexit/gesellschaftsrecht.html; Die grenzüberschreitende Verschmelzung hätte allerdings noch vor dem 31.12.2020 erfolgen müssen.

Autor:

Univ.-Prof. i.R. Dr. Gunter Nitsche, BA (WSU)

9 Ob 74/21d

10 Ob 41/21h.

Juristisches Studium an der Karl Franzens Universität in Graz; Fulbright-Stipendium an der Washington State University; seit 1988 Gastprofessor an der Technischen Universität Graz; Gastprofessor an mehreren Fachhochschulen; ständiger Berater der Holding Graz; Berater mehrerer Unternehmen, insbesondere in der E-Wirtschaft; Vortragender für die Rechtsanwaltskammer, die Kammer der Notare und die Kammer der Wirtschaftstreuhänder; Funktionen als Mitglieds des Vorstands mehrerer Privatstiftungen und als Mitglied des Aufsichtsrats der KNAPP AG; seit 2009 Of Counsel bei GrafIsola Rechtsanwälte.

10 WINGbusiness 2/2023 FÜHRUNG/PROFESSION
OGH 27.01.2022, 9 Ob 74/21d Rz 6. [23] OGH 27.01.2022, 9 Ob 74/21d Rz 8f. [24] OGH 27.01.2022, 9 Ob 74/21d Rz 27. [25] OGH 27.01.2022, 9 Ob 74/21d Rz 35. [26] OGH 27.01.2022,
Rz 30.
OGH
Rz 34.
OGH
Rz
[29] OGH
[30] OGH
Rz 35f.
[22]
[27]
27.01.2022, 9 Ob 74/21d
[28]
27.01.2022, 9 Ob 74/21d
36; RIS-JUSTIZ RS0134015.
24.05.2022,
27.01.2022, 9 Ob 74/21d
Univ.-Prof. i.R. Dr. Gunter Nitsche, BA (WSU)

WE

11 WINGbusiness 2/2023 INSERAT
CAN BE HEROES www.nts.eu/jobs

Was kann das Smart Production Lab in Kapfenberg?

Eine der größten Lehr- und Forschungsfabriken für Industrie 4.0 in Mitteleuropa zieht nach seinen ersten fünf Jahren Bilanz

Die „Bilanzanalyse“ zeigt ein erfreuliches Bild: Auf der Aktivseite, der Mittelverwendung, stehen die Infrastruktur einer voll digitalisierten, ehemaligen Produktionshalle, viele angreifbare und ständig erneuerte Use Cases für Industrie und Studierende, eine Menge Goodwill und überschaubare Forderungen. Auf der Passivseite, der Mittelherkunft, findet sich vor allem Eigenkapital und die vielen Inputs und Stunden des Instituts Industrial Management sowie seiner Industriepartner. Und für die Zukunft ist Neues geplant: noch mehr Technologie, noch mehr Analytics und AI…

1. Was ist das Smart Production Lab?

Das Smart Production Lab am Campus Kapfenberg der FH JOANNEUM wurde im März 2018 als universitäre Lehr- und Forschungsfabrik für digitale Produktion eröffnet. Sie fungiert seit Beginn als Drehscheibe für Industrie-4.0-Aktivitäten in der Region und österreichweit und dient als Lehrfabrik für die Digitalisierungs-Qualifikation von Studierenden und Führungskräften bzw. Mitarbeiter:innen industrieller Betriebe. Dabei liegt der Fokus in der angewandten Forschung nicht nur auf digitalisierungsaffinen Großunternehmen, sondern speziell auch auf KMU, und erlaubt als Kompetenz-Plattform die Erprobung neuer Technologien und Digitalisierungskonzepte fernab der operativen Produktion von Partnerunternehmen.

Wie jede Lehr- und Forschungsfabrik in Österreich hat auch das Smart Production Lab in seiner Kombinati-

on und Ausrichtung ein einzigartiges Profil. Seine Infrastruktur in Verbindung mit dem breiten Knowhow des Wirtschaftsingenieurinstituts Industrial Management bietet eine flexible und ideale Spielwiese für interdisziplinäre, digitale Transformationsvorhaben. Es umfasst sowohl Produktionsanlagen als auch Stateof-the-Art Softwareumgebungen, die eine papierlose, transparente und voll integrierte Produktion vom Kundenauftrag bis zur Produktauslieferung zeigen.

Smart Production bzw. Industrie

4.0 wird dabei in den Disziplinen IoT, Beschaffung, Logistik, Enterprise Resource Planning (ERP), Manufacturing Execution Systems (MES), 3D-Druck, kollaborative Robotik, Augmented/Virtual Reality (AR/VR) und künstliche Intelligenz für die vertikale als auch horizontale Integration verschränkt betrachtet. Der DNA des Instituts Industrial Management

entsprechend, werden die relevanten technische Entwicklungen zusätzlich aus Sicht der Wirtschaftlichkeit (z.B. Amortisation, OEE) bewertet. Die Forschungsfabrik ist darüber hinaus auch Drehscheibe für den Austausch von Wissenschaft und Industrie zu Fokusthemen der digitalen Transformation von Produktionsunternehmen. Eine wesentliche Rolle nehmen die Kooperationspartner ein. Die knapp 20 regional bis international agierenden Industrieunternehmen sind mit ihrer inhaltlichen Impulsgebung und finanziellen Unterstützung seit dessen Gründung eine wichtige Säule des Smart Production Lab. Innerhalb dieses Netzwerks gibt es vielfältige Zusammenarbeit in unterschiedlichen Formaten:

„ Für einen übergreifenden Austausch finden zyklisch RoundTable-Diskussionen zu ausgewählten Themen mit Impulsen aus Industrie und Wissenschaft

12 WINGbusiness 2/2023 TOP-THEMA
Foto: IWI/Kanizaj Martin Tschandl, Paul Hofmann, Barbara Mayer

unter Beteiligung von interessierten Vertretern der Industrie, Forscher:innen und Studierenden im Lab statt.

„ Monatliche, kostenfreie LabFührungen ermöglichen Besucher:innen, digitale Produktion live erleben zu können. Expert:innen des Instituts zeigen digitale Prozesse – vom Kundenauftrag bis zur Produktauslieferung – und dahinterliegende Datenflüsse und betonen Sinn und Verwendung von Analytik und Reporting rund um die parallel stattfindende Live-Produktion eines Demoprodukts.

„ Ein Großteil des Maschinenparks ist darüber hinaus im Rahmen eines FabLab öffentlich nutzbar. Die interessierten Besucher:innen erproben digitale Technologien, bauen nicht lieferbare Teile aller Art mittels neuer 3D-Druck-Fertigungsmethoden nach, oder ergänzen Ihren Prototyp mit einem Gehäuse.

So wird die Lehr- und Forschungsfabrik der zentralen Rolle des Wissenstransfers auf vielen Ebenen gerecht: als innovative Multifunktionsumgebung für digitale Produktion mit Fokus auf Lehre, industrielle Weiterbildung, angewandte Forschung, sowie Knowhow-Austausch und -Vermittlung, auch niederschwellig für die Öffentlichkeit.

2. Wie kam es zustande?

Initialpunkt des Smart Production Lab war das im Rahmen der Hightech-Strategie der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2011 neu ausgerufene Label für die eigentlich seit Jahrzehnten stattfindende Automatisierung und Digitalisierung in Produktionsunternehmen: Industrie 4.0 (Tschandl & Mallaschitz, 2016, S. 87). Bereits 2013 fokussierte das Institut Industrial Management aufgrund seiner beiden Lehr- und Forschungsschwerpunkte – der vertikalen (ERP & MES) und horizontalen (SCM) Prozess-Integration – auf die (neue) Digitalisierung der Produktion im Schwung von IIoT, cyberphysikalischen Systemen und dem Kometenschweif an Technologien, die diese Entwicklung begleiten und gleichzeitig befeuern. Einem ersten, kleinen

Abbildung 1: Das Konzept-Modell des Smart Production Lab (Tschandl et al., 2020, S. 493)

Industrie-4.0-Labor mit einer auf I4.0-aufgewerteten Mikrofabrik von Festo, einer ersten Implementierung von SAP S/4 HANA und 3D-Druckern folgte der Plan, die ehemalige Produktionshalle der Böhler-Forschung am Campus Kapfenberg der FH JOANNEUM für eine große Lehr- und Forschungsfabrik für Industrie 4.0 zu nutzen.

Die ausbleibenden Förderungszusagen zwangen zu einer steirischen Direttissima: Die Stadt Kapfenberg erkannte die Bedeutung für den Hochschulstandort und übernahm mit über 1,2 Mio Euro den Umbau der 1960er-Halle – 600 m2 groß, 7,5m hoch – in eine hochmoderne, helle Produktionshalle des 21. Jahrhunderts. Knapp 20 (Industrie-) Unternehmen haben bis jetzt in definierten Partnerschaften Geld und/ oder notwendige Sachleistungen (Hard-/Software) im Wert von über 2 Mio. Euro eingebracht, und das Institut hat selbst in Hardware und mit tausenden Mitarbeiter:innen-Stunden in den Aufbau und die Weiterentwicklung des 2018 eröffneten „Smart Production Lab“ investiert, das heute mit einem Wert von ca. 5 Mio. Euro ein wesentliches Asset der Region für akademische Lehre und angewandte Forschung darstellt. Parallel wurde das Curriculum des Masterstudiums

International Industrial Management mit zwei inhaltlichen Vertiefungen, Smart Production & Services und Supply Chain Engineering, neu konzipiert. Beide Bereiche spiegeln wesentliche Forschungsschwerpunkte im Bereich Industrie 4.0 des Instituts wider.

3. Was ist das Konzept der Lehr- und Forschungsfabrik?

Das Konzept des Smart Production Lab hat drei Dimensionen (siehe Abbildung 1). Die y-Achse stellt den Inhalt dar, die x-Achse beschreibt die Methodik der Inhaltsvermittlung, während sich die z-Achse auf die Funktionen und damit die unterschiedlichen Zielgruppen wie Studierende, KMU oder wissenschaftliches Personal abbildet. Dieses Konzeptmodell eröffnet ein weites Feld, wie unterschiedliche Zielgruppen für Lernen, Training und Forschung angesprochen werden können (Tschandl et al., 2020, S. 492f).

Die erste Dimension bezieht sich auf die inhaltliche Ausrichtung , nämlich der Vernetzung von Mensch, Maschine und IT entlang der Wertschöpfungskette (horizontale Integration) unter Einbindung von Lieferanten und Kunden sowie innerhalb der Produktion selbst (vertikale Integration).

Abbildung 2: Die inhaltliche Landkarte des Smart Production Lab (Tschandl et al., 2020, S. 493)

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In der zweiten Dimension befinden sich die Entstehung, Prozessierung und Nutzung der Daten im Zentrum der erarbeiteten Use Cases, die als angreifbare Bausteine den Kern der methodischen Ausrichtung des Smart Production Labs darstellen. Use Cases beschreiben technologiegetriebene Anwendungsszenarien mit dem Ziel, verschiedenen Interessengruppen aktuelle und zukünftige Anwendungen mittels digitaler Transformation und unter Berücksichtigung der Anforderungen von Seiten der Unternehmensstrategie, des sich wandelnden Marktumfelds und der individuellen Ziele der Mitarbeiter:innen aufzuzeigen. Die exemplarischen Umsetzungen (Use Cases) reichen von technologischen State-of-the-art Use Cases mit Produkten und Werkzeugen, die bereits am Markt erhältlich, aber oft neu für Mittelstandsunternehmen sind (mit KMU als Hauptzielgruppe) bis hin zu komplexen, forschungsrelevanten Use Cases (mit Großunternehmen als Hauptzielgruppe).

Die vielseitigen Funktions- und Nutzungsmöglichkeiten spiegeln die dritte Dimension wider, denn Wissenstransfer als wesentliche Zielsetzung einer Hochschule findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. In der Funktion Forschungsfabrik ermöglichen die fünf Forschungsgruppen des Instituts Industrial Management – Digital Shopfloor & Analytics, ERP & MES Systems, Supply Chain Management, Arbeit der Zukunft, Unternehmensführung, Service Engineering und Controlling – eine ganzheitliche Sichtweise auf das Thema digitale Transformation. In Förderund Auftragsforschungsprojekten –oft transdisziplinär unter Einbindung von Studierenden – werden konkrete Problem- und Fragestellungen unter Einsatz digitaler Technologien und Prozesse gelöst und damit Nutzen für (Industrie-)Unternehmen generiert bzw. wissenschaftliche Publikationen und Vorträge vorbereitet. Im Sinne einer forschungsgeleiteten Lehre fließen die Erkenntnisse und Ergebnisse aus der angewandten Forschung mit dem klaren Ziel wieder in die Lehre zurück, die Studierenden als zukünftige Expert:innen für die Industrie bestmöglich auszubilden (Mayer et al. 2020, S. 474-476). Wissenstransfer im Sinne des Life Long Learnings

werden Besucher:innen unterschiedlicher Kompetenzniveaus über Führungen und Workshops angeboten: Einerseits für bereits in der Industrie befindliche Führungs- und Fachkräfte in Form von Trainings- und Weiterbildungsangeboten, andererseits Studierende anderer Studienrichtungen und Schüler:innen aller Altersstufen, für die am Institut einzelne Lehrmodule entwickelt wurden.

Räumlich beinhaltet die Lehr- und Forschungsfabrik eine Lab-in-LabStruktur, indem es drei Sublabore beinhaltet: das Next-Gen-Lab mit SAP, das Security Lab mit dem Informatik-Institut am Campus Kapfenberg und das FabLab. Während die ersten beiden eigene abgeschlossene Räume sind, ist das FabLab ein Nutzungskonzept, wo der Kern des Maschinenparks (CNC-Maschinen, Lasercutter, Vinylcutter, 3D Drucker und Zubehör, Sandstrahler) für eine öffentliche Nutzung zur Verfügung gestellt wird. Niederschwellige Berührung mit digitalen Technologien sind hier klares Ziel. Neben kostenfreien Führungen, Vorträgen, Informationsveranstaltungen und dem FabLab Kapfenberg mit hunderten Teilnehmer:innen in dutzenden Gratis-Events im Jahr können auch Start-Ups das Lab für Prototypenentwicklungen nutzen. Wesentlicher Bestandteil der Lehrund Forschungsfabrik ist das Auditorium, das in einem Medizinhörsaalähnlichen, steilen Setting (damit alle alles sehen) und im Sinne eines Harvard-Style Lecture Theatre (in U-Form, damit man sich bei Diskussionen sehen kann) dem Lehr- und Workshopbereich mit einem direkten Blick auf die Produktionsanlagen ein besonderes Ambiente gibt.

4. Welche Themen werden vorangetrieben?

IoT-Fähigkeit erlaubt die systematische Generierung und Verarbeitung von Daten, daher ist der Fokus in den ersten fünf Jahren unter anderem auf der Digitalisierung von (Brownfield-) Maschinen und -Anlagen gelegen. Dazu werden Sensordaten direkt aus den Anlagen abgegriffen, zum Beispiel über SPS (Speicherprogrammierbare Steuerung), oder über nachträglich eingebaute Sensoren (Retrofitting) generiert.

In den letzten zwei Jahren wurde begonnen, die Daten vom Shopfloor (Edge) mithilfe modernster Messaging- und Streaming-Technologien in die Cloud zu leiten. Dort werden die Daten in modernen Data Warehouses gespeichert, um sie für Analysen und Anwendungen Künstlicher Intelligenz (Hofmann & Tashman, 2020, S. 1) jederzeit verfügbar zu machen. Durch die Integration von Sensoren, die Erfassung und Speicherung der Daten sowie deren Übertragung in die Cloud, können Unternehmen neue Erkenntnisse gewinnen und datengetriebene Entscheidungen treffen, um Effizienzsteigerungen und optimierte Prozesse zu erreichen.

5. Welche aktuellen und zukünftigen Projekte gibt es?

Die Kernprojekte im Smart Production Lab umfassen Datenkompetenz und Produktion. Datenkompetenz bildet das Verständnis der Datenherkunft und deren Einsatz in MES-, ERP- und Analyseanwendungen ab. Im Bereich Produktion rüsten wir nicht nur bestehende Anlagen mit Sensoren aus, um sie intelligenter zu machen, sondern arbeiten an anknüpfenden Use Cases: Zum Beispiel streamen wir Sensordaten direkt in ein cloudbasiertes Data Warehouse, in dem die Daten für schnelle und skalierbare Analysen mit minimaler Verwaltung vereinheitlicht werden. Dann nutzen wir die oft sekundengenauen Sensordaten im Data Warehouse für Condition Based Maintenance (CBM) und vorhersagende Instandhaltung, beispielsweise mittels Anomalieerkennung für Hydraulik und Förderbandgeschwindigkeit. Ein weiterer Use Case visualisiert und analysiert den Alterungsprozess von Anlagenkomponenten mithilfe einer IoT-Middleware und modernster KITechnologien. So können Wartungsarbeiten rechtzeitig geplant werden.

Als University of Applied Sciences sind wir auch in Forschungsprojekten wie COMET (Competence Centers for Excellent Technologies) aktiv. In einem dieser Projekte entwickeln wir ein KI-System zur Überprüfung der Konsistenz von Prämissen und Einschränkungen über Werkstoffe, Anlagen und Sensoren für vorhersagende Instandhaltung (Maksymovm

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et al., 2021, S. 211-224; Malakhov, 2019, S. 149-153). In einem weiteren Forschungsprojekt im Bereich Nachhaltigkeit wird eine Plattform entwickelt, die es ermöglicht, das beste Produkt effizient aus gemischten Abfallströmen herzustellen. Der Beitrag liegt in der Identifizierung der Abfallbestandteile und der Bestimmung der optimalen Aufbereitungsreihenfolge, wozu die Expertise in Echtzeit-Datenerfassung an den Ein- und Ausgangspunkten sowie in der Erfassung von Prozess- und Maschinendaten notwendig sind.

In Zeiten der Digitalisierung sind Analytik und Künstliche Intelligenz (KI) zweifellos die bedeutendsten Trends der kommenden Jahre. Im Smart Production Lab werden Studierende daher Uses Cases mit innovativen und zukunftsweisenden Technologien rund um KI, Analytik und nachhaltige Produktion lernen und realisieren.

Quellen:

Hofmann, Paul/Tashman, Zaid (2020): Hidden Markov Models and their Application for Predicting Failure Events, in: arXiv:2005.09971 [cs.LG], [cs.AI]

Maksymov, Oleksandr S./Malakhov, Eugene V./Mezhuyev, Vitaliy (2021): Model

and method for representing complex dynamic information objects based on LMS-trees in NoSQL databases, in: Herald of Advanced Information Technology. Vol. 4, Nr. 3. https://doi.org/10.15276/ hait.03.2021.1

Malakhov, Eugene/Shchelkonogov, Denys/Mezhuyev, Vitaliy I. (2019): Algorithms for classification of mass problems of production subject domains, in: ACM Proceedings of the 2019 8th International Conference on Software and Computer Applications (ICSCA 2019). Penang, Malaysia, February 19-22, 2019. Pp. 149-153 Mayer, Barbara/Tantscher, Dominik/ Bischof, Christian (2020): From Digital Shop floor to Real-Time Reporting: an IIoT Based Educational Use Case, in: Procedia Manufacturing, Volume 45, 2020, S. 473-478.

Tschandl, Martin/Mallaschitz, Christian: „Industrie 4.0 - Controller als Treiber einer strategischen Neuausrichtung“, in: Gleich, Ronald et al. (Hrsg.), Controlling und Industrie 4.0, Freiburg/ München, 2016, S. 85-106.

Tschandl, Martin/Mayer, Barbara/Sorko, Sabrina Romina (2020): An interdisciplinary digital learning and research factory: The Smart Production Lab, in: Procedia Manufacturing, Volume 45, https:// doi.org/10.1016/j.promfg.2020.04.061, ISSN: 2351-9789, Elsevier, 2020, S. 491496.

Autor:innen:

Dr. Martin Tschandl ist Professor für BWL und Controlling, Leiter des Instituts Industrial Management der FH JOANNEUM Campus Kapfenberg, Leiter des Arbeitskreises Österreich II im Internationalen Controllerverein, Vorstand im Verein Netzwerk Logistik, Partner des auf Sanierungsberatung spezialisierten Consulting Team Graz und Aufsichtsrat NTS AG.

Dr. Paul Hofmann ist Assoc. Professor für Digitale Produktion und AI und Leiter des Smart Labs an der FH JOANNEUM Campus Kapfenberg. Er war VP R&D der SAP-Labs in Palo Alto/USA, CTO AI & Data Science Nordamerika bei Accenture, CTO zweier AI- und IoTStartups, die erfolgreich an Intel bzw. Nokia verkauft wurden und Produktionsmanager bei BASF.

Dr. Barbara Mayer ist Product Owner bei der Siemens AG Österreich im Bereich Sense and Act und war 20102023 an der FH JOANNEUM Campus Kapfenberg, Institut Industrial Management, zuletzt als Professorin für Digitale Produktion und Lableiterin. Zurzeit arbeitet sie in der strategischen Produktentwicklung zur Digitalisierung der OT-Layer in der Automatisierung.

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Assoc. Prof. Dr. Paul Hofmann Leiter des Smart Production Lab | FH JOANNEUM Prof. Dr. Martin Tschandl Leiter des Instituts Industrial Management | FH JOANNEUM Dr. Barbara Mayer Product Owner, Siemens AG Österreich

Security, Analytics & Collaboration

Das strategische Fundament der Digitalisierung

Um die Herausforderungen der industriellen Digitalisierung zu meistern und diese voranzutreiben, haben sich der Netzwerkspezialist NTS und das Institut Industrial Management der FH JOANNEUM innerhalb ihrer Kooperation zum Ziel gesetzt, Lösungen sowie Use Cases für Industrieunternehmen im Smart Production Lab der FH JOANNEUM zu entwickeln. Dabei wurden als Themenschwerpunkte Network und Security, Analytics sowie Collaboration fokussiert und stetig vorangetrieben. Innerhalb der Themen Network und Security spielen vor allem Netzwerksegmentierung, sowie Industrial Switches eine tragende Rolle. Im Bereich Analytics werden mithilfe von Splunk als Datenplattform Produktionsdaten aufbereitet und visualisiert. Unter dem Punkt Collaboration wurde ein Remote Expert Use Case entwickelt. Dadurch werden diese und weitere Themen wie beispielsweise Industrial Internet of Things (IIoT) im Kontext der IT- und OT-Infrastruktur in den Vordergrund gerückt und für Industrieunternehmen und Interessierte greifbar dargestellt

1. Erfolgreiche Digitalisierung beruht auf Kooperation

Digitalisierung und Industrie 4.0 sind schon lange keine Fremdwörter mehr in der produzierenden Industrie. Use Cases wie Condition Monitoring, Predictive Maintenance oder Predictive Quality werden dabei implementiert, um die Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen bzw. auszubauen (Tercan & Meisen, 2022, S. 1879f).

Allerdings kommt es noch häufig vor, dass hierbei die zugrundeliegende ITInfrastruktur eher nur am Rande betrachtet wird, und nicht als Enabler btw. Innovationstreiber, sondern als reines Mittel zum Zweck gesehen wird. Dadurch bleiben jedoch zahlreiche und wesentlicher Sicherheits-

faktor Potenziale ungenutzt und Innovationen können gehemmt werden. Dies ist insbesondere der Fall, wenn Sicherheitslücken durch eine Schatteninfrastruktur entstehen, Daten in separaten Silos gehalten und Kollaboration durch fehlende Hard- und Software eingeschränkt wird.

In der Praxis oftmals der Fall, dass der IT-Dienstleister und Systemintegrator erst zum späteren Zeitpunkt eines Digitalisierungsprojekts hinzugezogen werden. Dadurch kann einerseits ein erheblicher Mehraufwand bei der Implementierung einer fundierten Infrastruktur entstehen oder andererseits Innovationen komplett gehemmt werden. Letzteres ist der Fall, wenn inkompatible Systeme ausgewählt und sowohl Hard- als auch

Software nicht aufeinander abgestimmt wurden. Somit sollte der ITDienstleister als Partner für den Aufbau des strategischen Fundaments der Digitalisierung gesehen werden.

Um nun die Relevanz und Potenziale einer fundierten und auf das Unternehmen zugeschnittene IT-Infrastruktur als Basis für eine erfolgreiche Digitalisierung aufzuzeigen, treibt das Institut Industrial Management der FH JOANNEUM gemeinsam mit dem Kooperationspartner NTS das Thema im Smart Production Lab in Kapfenberg voran. Insbesondere geht es hierbei um die Darstellung und das Angreifbarmachen der IT Infrastruktur, welche ansonsten im Hintergrund läuft und wofür häufig das Bewusstsein für innovative Lösungen

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Foto: Smart Production Lab Kapfenberg, © Laura Wiener, NTS Christoph Pils, Raphael Hartner, Helmut Hödl

fehlt. Im Speziellen werden im Smart Production Lab drei Schwerpunkte behandelt – Cybersecurity als Grundvoraussetzung, Analytics auf Basis einer zentralen Datenplattform und Kollaboration mit entsprechender Hard- und Software.

2. Cybersecurity als Grundstein der Digitalisierung

Um ihre Unternehmen langfristig zukunftsfit zu machen, investiert die Industrie erhebliche Summen in Industrie 4.0, IoT-Technologien und vergleichbare Themen. Dabei wird jedoch immer wieder auf die Cybersecurity im Hintergrund, als ein Grundstein der digitalen Transformation, vernachlässigen Dieser kritische Aspekt kann die gesamte Produktion gefährden (Rudenko et al., 2022, S.

1). Laut einer Studie aus dem Jahr 2021 sind in Österreich über 15 % der Industrie-Computer einem CyberAngriff zum Opfer gefallen (Statista, 2023). Darüber hinaus gaben dazu 2022 70 % der befragten Unternehmen in Deutschland an, sie seien gut gegen IT-Gefahren gewappnet (Statista, 2022).

Besonders historisch gewachsene Maschinenparks mit entsprechender Infrastruktur haben im Zuge der zunehmenden Digitalisierung im produktionsnahen Umfeld mit veralteten Systemen und sich kontinuierlich verändernden Komponenten zu kämpfen. Den Umstand einer komplexen und zum Teil unübersichtlichen Operational Technology (OT) Landschaft machen sich zunehmend kriminelle Kräfte zu Nutzen und dringen verstärkt in zentrale Produktionsprozesse ein, um die Produktion zu beeinflussen oder sogar gänzlich zu stoppen.

Um diese Herausforderungen zu adressieren und mehr Bewusstsein für dieses Thema zu schaffen, feilten die Institute Industrial Management und Internettechnologien & -anwendungen der FH JOANNEUM gemeinsam mit NTS als Industriepartner an einer Vorzeigelösung im Smart Production Lab. Als industrietauglicher Lösungsansatz wurde eine Anomaliedetektion und Inventarisierung im OT-Bereich mithilfe von Cisco Cyber Vision aufbauend auf einer

klassischen Netzwerksegmentierung als Use Case implementiert. Für den Use Case mit Cyber Vision werden entsprechende Montoring-Container auf den eingesetzten Industrie-Netzwerkkomponenten (IE3400, IC3000) genutzt, um eine dezentrale Netzwerküberwachung zu ermöglichen. Cisco Cyber Vision unterstützt sowohl passive als auch aktive Überwachung und übernimmt hierbei folgende Aufgaben:

„ Inventarisierung von tatsächlich genutzten Komponenten und deren Software-Versionen

„ Visualisierung von Zusammenhängen und Kommunikationswegen

„ Erkennung von neuen Komponenten und Anomalien

Die implementierte Cyber Vision Architektur mit der dezentralen Netzwerküberwachung ermöglicht ein effektives Inventarisieren und Abgleichen mit Datenbanken. Dies erlaubt den administrierenden Personen auf Schwachstellen in der Infrastruktur zeitnah zu reagieren. Darüber hinaus werden verdächtige Verhaltensmuster erkannt und visualisiert, sodass sowohl auf unbekannte Komponenten als auch auf ungewöhnliche Kommunikationsflüsse reagiert werden kann. Aus Sicht der Produktionsverantwortlichen können aufgrund der visualisierten Kommunikationsflüsse zudem Rückschlüsse auf Prozessoptimierungen und Ineffizienzen gezogen werden.

3. Data Analytics zur Effizienzsteigerung im Fertigungsprozess

Der Bereich Analytics umfasst im Smart Production Lab zwei grundlegende Gebiete. Auf der einen Seite die Unterstützung der Cybersecurity mithilfe von Bedrohungserkennung und auf der anderen Seite ein Condition Monitoring von Produktionsprozessen.

Das Condition Monitoring von Produktionsprozessen spielt vor allem beim digitalen Retrofit sowie Fertigungstechnologien mit einer Vielfalt von möglichen Parameterkombinationen eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung der vorhandenen Daten. Nach dem erfolgreichen digitalen Retrofit der Maschine fallen meist große Datenmengen an, welche zur Analyse bereitstehen.

Um nun die zuvor genannten Herausforderungen zu adressieren, wurden weitere Use Cases in der Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Industrial Management und NTS umgesetzt. Dabei wurde mit Hilfe der Plattform Splunk ein umfassendes

Abbildung 1: Übersicht einer Cyber Vision Architektur ©Cisco

Um die Cybersecurity auf der OTEbene noch weiter zu verstärken, können auch Analytics Tools, wie zum Beispiel Splunk, welche im nächsten Absatz näher beschrieben wird, verwendet werden. Dadurch können weitreichende Sicherheitslösungen etabliert und die OT-Infrastruktur umfangreich abgesichert werden.

Condition Monitoring von additiven Fertigungsprozessen umgesetzt. Im Speziellen wurden sowohl Maschinendaten (Temperaturverläufe, Druckgeschwindigkeiten, eingesetzte Extruderdüse, etc.) als auch Metadaten zu jedem individuellen Druckjob erfasst und gespeichert. Dies dient in weiterer Folge als Basis zur Entwicklung eines prädiktiven Modells.

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Das Condition Monitoring von additiven Fertigungsprozessen mittels Splunk bietet dem User folgende Vorteile:

„ Nutzung von Splunk als zentrale Datenplattform im Produktionsbereich

„ Echtzeit-Visualisierung von Prozessdaten

„ Erfassung und Speicherung manueller Daten, beispielsweis aus der Instandhaltung

Die erläuterte Integration mittels Splunk als zentrale Datenplattform ermöglicht es, auf Basis von automatisch erfassten Maschinen- sowie manuell eingetragenen Metadaten zeitgemäße Produktionsanalysen durchzuführen. Eine Zustandsüberwachung erlaubt den Versand von Benachrichtigungen an Maschinenbediener:innen, um ehestmöglich auf Abweichungen vom Sollzustand aufmerksam zu machen. Darüber hinaus ist eine Erweiterung der aktuellen Architektur in mehrerlei Hinsicht zielführend.

Einerseits können andere Systeme, wie beispielsweise das ERP-System oder das MES, in die zentrale Datenplattform Splunk integriert werden. Folglich können nicht nur produktionsnahe, sondern auch betriebswirtschaftliche Daten miteinander verknüpft werden, sodass das volle Potenzial der unternehmensinternen Datenlandschaft ausgeschöpft wird. Andererseits ist eine direkte Integration prädiktiver Modelle in Splunk erstrebenswert, da so nicht nur auf Abweichungen reagiert werden kann, sondern Anomalien proaktiv verhindert werden können.

4. Collaboration Tools als Basis der weltweiten Vernetzung

Der dritte Schwerpunkt beschäftigt sich unter anderem mit hybrider-Arbeit, wie zum Beispiel Remote Expert Anwendungen. Die Automatisierung durch Chatbots, welche im Hintergrund die Bereiche Security und Analytics maßgeblich unterstützen, spielt ebenfalls in Collaboration eine Rolle. Komplexe Arbeitsaufgaben, besonders in den Gebieten Ausbildung, Montage, Qualitätskontrolle, Reparatur oder Wartung, können oft durch externes Know-how von Spezialisten und Instandhaltungsexperten nicht mehr selbstständig gelöst werden. Diese und weitere Probleme eines dynamischen Arbeitsumfeldes können mit dem innovativen Ansatz der erweiterten Realität (Augmented Reality, AR) gelöst werden. AR bietet dabei die Möglichkeit, die Digitalisierung im Fertigungsbereich voranzutreiben, sowie die gesamte Produktionskette effizienter zu gestalten. Hierbei werden Handlungsempfehlungen ortsunabhängig an Mitarbeiter weitergeleitet. Die generierten Handlungsempfehlungen machen sich hierbei die Vorteile der virtuellen Umgebung und die Interaktion mit realen Objekten

zu Nutze, um gemeinsam mit externem Expertenwissen die Herausforderungen in der Produktion zu meistern (Marques et al., 2022, S. 419).

Dazu wurde im Smart Production Lab ein Remote Expert Use Case mit Unterstützung von AR implementiert. Hierbei wird die Software Webex-Expert on Demand sowie eine AR-Brille (Realwear Navigator 500) verwendet. Die Komponenten ermöglichen folgende Aspekte zur Lösung der Problemstellungen:

„ Eine handfreie virtuelle Verbindung zu Fachexperten

„ Livevideo, Dateifreigabe & ARAnmerkungen

„ Schulungs- & Support-Lösungen via Fernunterstützung

Mithilfe des Remote Expert Use Cases haben die Maschinenbediener:innen ortsunabhängig die Möglichkeit, sich mittels AR-Brille Lösungswege für Problemstellungen Schritt für Schritt erklären zu lassen. Gleichzeitig können relevante Maschinenteile oder Bereiche der Anlage im virtuellen Raum gekennzeichnet werden, welche über den Bildschirm der Brille für beide Seiten sichtbar werden. Dies ermöglicht eine rasche Behebung des Maschinenausfalls.

Dadurch werden die ungewollten Stillstandszeiten minimiert, teure Anfahrtswege der Experten:innen eliminiert und interaktive Schulungen ortsunabhängig ermöglicht. Sollte keine AR-Brille nicht praktikabel oder zu kostenintensiv sein, so können mit Webex auch gängige meist vorhandene Office und handheld De-

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Abbildung 2: Darstellung eines Splunk Dashboards © Splunk Abbildung 3: Remote Expert Fernwartung eines Roboterarms ©Hannes Eberhard FH Joanneum

vices wie Smartphones oder Tablets eingesetzt werden.

Die umfassende digitale Transformation der Unternehmen bringt etliche Herausforderungen, aber auch Chancen, für die heimische Wirtschaft mit sich, welche mit intelligenten und innovativen Lösungen überwunden und genutzt werden können. Im Smart Production Lab wurden einige davon erforscht und mittels Hands-on Use Cases für KMUs greifbar gemacht. Dadurch können sie sich mit starken Partnern besser auf die digitale Zukunft vorbereiten und somit den langfristigen Fortbestand des Unternehmens sichern.

Quellen:

Marques, B., Sliva, S., Alves, J., Rocha, A., Dias P., & Santos, B. S. (2022) Remote collaboration in maintenance contexts using augmented reality: insights from a participatory process. International Journal on Interactive Design and Manufacturing (IJIDeM), 16, 419-438.

Rudenko, R., Pires, I. M., Oliveira, P., Barroso, J., & Reis, A. (2022). A Brief Review on Internet of Things, Industry 4.0. and Cybersecurity. Electronics, 11, 1742.

Tercan, H., & Meisen, T. (2022). Machine learning and deep learning based predictive quality in manufacturing: a

systematic review. Journal of Intelligent Manufacturing, 33, 1879–1905. Statista. (2023, 24. April). Anteil der angegriffenen Industrie-Computer in Österreich und in der Region DACH im ersten Halbjahr 2021. Statista. https://de.statista.com/statistik/daten/ studie/451669/umfrage/anzahl-der-cyberangriffe-auf-industrieunternehmenoesterreich/. Statista. (2023, 24. April). HackerAngriff, Phishing-Mails, Komplettausfall - wie gut sind Sie gegen mögliche IT-Gefahren gewappnet?. Statista. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1325523/umfrage/bewertung-der-itsicherheit/.

Autoren:

Christoph Pils, BSc FH JOANNEUM, Wissenschaftlicher Mitarbeiter & Ansprechpartner für die NTS Kooperation

Christoph Pils ist am Institut Industrial Management an der FH JOANNEUM als Researcher tätig. Er betreut die Kooperation mit dem Industriepartner NTS NETZWERK TELEKOM SERVICE AG. Themenschwerpunkte sind hierbei das IoT, die Aufbereitung von Cybersecurity Richtlinien, sowie Netzwerktechnik-, Analytics- und CollaborationLösungen.

Dipl.-Ing. Raphael Hartner, MSc

FH JOANNEUM, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für IoT & Industrial Machine Learning

Raphael Hartner absolvierte das Masterstudium IT & Mobile Security sowie das Masterstudium International Industrial Management an der FH JOANNEUM in Kapfenberg. Aktuell befindet er sich in einem Doktorratsstudium an der TU Wien. Raphael Hartner ist seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Digital Shopfloor und ist stellvertretender Laborleiter des Smart Production Labs an der FH JOANNEUM in Kapfenberg.

Helmut Hödl, MSc

NTS NETZWERK TELEKOM SERVICE AG, Director Products & Technologies

Helmut Hödl beschäftigt sich als Director Products & Technologies bei NTS mit der Entwicklung von Service-Produkten aber auch die Gestaltung des Technologie-Portfolios. Davor war er langjährig als Systems Engineer für die Implementierung für technische Projekte und als Key Account Manager für Großkunden tätig. Helmut Hödl absolvierte ein Studium für Marketing und Sales Management am Campus 02 sowie auf der FH Wien der Wirtschaftskammer.

Christoph Pils, BSc

FH JOANNEUM, Wissenschaftlicher

Mitarbeiter & Ansprechpartner für die NTS Kooperation

Helmut Hödl, MSc

NTS NETZWERK TELEKOM SERVICE AG, Director Products & Technologies

FH JOANNEUM, Wissenschaftlicher

Mitarbeiter für IoT & Industrial Machine Learning

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Dipl.-Ing. Raphael Hartner, MSc

Erklärbare Modelle des Maschinellen Lernens im Industrieumfeld: Eine Fallstudie aus dem Smart Production Lab

Ein Hauptgrund der zögerlichen Verwendung von Methoden des maschinellen Lernens (ML) im Produktionsumfeld ist die fehlende Erklärbarkeit und Nachvollziehbarkeit der dadurch erzielten Resultate. Der Bereich der erklärbaren künstlichen Intelligenz (explainable artificial intelligence, XAI) versucht nachvollziehbar zu machen, wie Modelle des ML zu ihren Ergebnissen kommen, sowie ihre Struktur und Entscheidungskriterien genauer zu verstehen. Im Zuge einer Fallstudie wurden im Smart Production Lab zwei bekannte Methoden (LIME und SHAP) zur maschinellen Bildklassifizierung mithilfe eines künstlichen neuronalen Netzes implementiert und evaluiert. Die Ergebnisse der Fallstudie sollen Unternehmen dabei unterstützen, geeignete Methoden von XAI für ihre Anwendungen auszuwählen, und ihnen damit zu ermöglichen, wesentliche Vorteile durch ML-Anwendungen zu generieren.

1. EINLEITUNG

Intelligente, vernetzte Fabriken im Sinne von Industrie 4.0 sind inzwischen Teil des modernen Geschäftsumfelds. Eine Vielzahl von Projekten treibt Digitalisierung in verschiedenen Bereichen der Industrie und zwingt Unternehmen diesem Trend zu folgen, um auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben. Speziell datengetriebene Geschäftsinitiativen mit steigender Nutzung des Datenwerts führten zur Generierung enormer Datenmengen innerhalb der letzten Jahre.

Besonders Methoden des maschinellen Lernens (ML) erlangten zunehmend Bedeutung im industriellen Kontext (Hartner & Mezhuyev,

2022, S. 124). Richtig eingesetzt führen sie zu einer Effizienzsteigerung und, im Vergleich zu manueller Tätigkeit, oftmals zu zuverlässigeren Resultaten, gleichzeitig können sie menschlichen Arbeitsaufwand reduzieren (Bonaccorso, 2017, S. 6-9). Dies kann, speziell im Hinblick auf die angespannte Arbeitsmarktsituation und der zu erwartenden Verschärfung durch die Pensionswelle der Baby-Boomer-Generation, in den nächsten Jahren für den Fortbestand von Unternehmen entscheidend sein. Klarerweise birgt ihre Verwendung verschiedene Herausforderungen, eine davon ist die fehlende Erklärbarkeit und Nachvollziehbarkeit der erzielten Ergebnisse. Der Bereich der erklärbaren künstlichen Intelligenz

versucht das Verhalten von MLModellen innerhalb ihrer Black-Box transparent zu machen, und so das Vertrauen in ihre Funktionsweise und Ergebnisse zu stärken (Dosilovic et al., 2018, S. 210).

2. GRUNDLAGEN DES MASCHINELLEN LERNENS

ML-Ansätze stützen sich auf durch klar definierte Datensätze trainierte Modelle. Die wesentlichen Einflussgrößen können jedoch vom Algorithmus selbst erlernt werden. MLMethoden unterscheiden zwischen überwachtem und unüberwachtem Lernen. Während überwachtes Lernen sich gelabelte Eingabedaten mit bekannten Ausgabedaten zu Nutze

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Vitaliy Mezhuyev, Katharina Lackner, Anja Stadlhofer Foto: © FH JOANNEUM, Stadlhofer, Lackner

macht, verwendet unüberwachtes Lernen Datensätze ohne bekannte Input-Output Beziehungen. Hierbei werden generelle Muster in den Daten erkannt, die beispielsweise zur Anomaliedetektion genutzt werden können. (Rebala, 2019, S. 19-21). Besonders die Bildklassifizierung findet zunehmend Anwendung im industriellen Kontext, wie in der digitalen Qualitätskontrolle (Hartner et al., 2022, S. 179-180). Überwachtes Lernen findet hier meist mithilfe eines Convolutional Neural Networks (CNN), einem künstlichen neuronalen Netz, statt. Inspiriert von biologischen Vernetzungen im Gehirn, bestehen CNNs aus mehreren Layern mit one-to-many Verknüpfungen von einzelnen Neuronen, also Knoten die Informationen aufnehmen, verändern und Ergebnisse ausgeben (Neapolitan et al., 2018, S. 389-390).

Die Bildklassifizierung ist eine der Hauptanwendungen von CNN. Dabei wird ein Satz gelabelter Bilder zum Anlernen des Modells verwendet, auf dessen Basis im Anschluss weitere Bilder klassifiziert, also entsprechenden Klassen zugeteilt, werden können. Im ersten Schritt der Klassifizierung müssen entsprechende Daten für den konkreten Anwendungsfall gesammelt werden. Darauffolgend wird der gesammelte Datensatz in Trainings-, Test- und Validierungsdaten geteilt, und entsprechend dem Anwendungsfall das CNN aufgebaut. Dieses wird nun mit den Trainingsdaten trainiert, und während des Trainings ständig mit den Validierungsdaten evaluiert. Die Modellgenauigkeit und Modellfunktion wird schließlich anhand der Testdaten überprüft (Bonner, 2019).

3. ERKLÄRBARE MODELLE DES MASCHINELLEN LERNENS

ML-Methoden werden meist als Black Box verwendet, es ist in der Praxis also häufig unklar, wie die berechneten Resultate erzielt wurden, und auf welchen konkreten Entscheidungskriterien diese basieren. Paradox für kritische Anwendungen ist jedoch, dass dem Algorithmus ein Vertrauen für korrekte Ergebnisse entgegengebracht werden muss, ohne dass die Vorgehensweise innerhalb seiner Black Box nach außen hin sichtbar ist.

Der Bereich von XAI versucht Vorgehensweisen von Modellen des maschinellen Lernens erklärbar und nachvollziehbar zu machen. In diesem Bereich existieren viele verschiedene Methoden, um es Menschen zu ermöglichen den Prädiktionsprozess von Ergebnissen zu verstehen (Rebala et al., 2019, S. 1-2). In der Fallstudie des Smart Production Labs wurden im Speziellen zwei Methoden untersucht – LIME und SHAP. Die Prädiktion der Ergebnisse erklärbar zu machen bedeutet in vielen Fällen eine Verwendung textueller oder visueller Tools, die den Zusammenhang zwischen verwendeten Trainingsdaten und erzielten Resultaten sichtbar machen.

3.1 LIME

LIME (Local Interpretable Modelagnostic Explanation) ist eine modellagnostische Methode von XAI, also eine Methode, die auf jedes beliebige Modell angewandt werden kann, ohne dass sie explizit auf das jeweilige Modell abgestimmt wurde. LIME verfolgt den Ansatz eines Ersatzmodells, mit welchem einfache Interpretationen von vorhergesagten Ergebnissen möglich sind.

Das Originalmodell, das als Black Box vorliegt, wird in ein einfacheres Ersatzmodell umgewandelt, welches das Verhalten des originalen Modells replizieren soll, und so auch die Vorhersage des Originalmodells nachbildet. Das Ziel von LIME ist es, ein einfacheres White-Box-Modell zu erstellen, das die Erklärungen für das ursprüngliche, komplexe Modell liefert. Zunächst müssen hierfür jedoch die Einflussfaktoren im BlackBox-Modell für den Punkt von Interesse (Point-of-Interest) verstanden werden. (Nandi, 2022, S. 171). Die

allgemeine Idee hinter LIME kann Abbildung 1 entnommen werden. Hier ist der Punkt von Interesse, den es zu verstehen gilt (Pointof-Interest), als schwarzes Kreuz dargestellt. Der zweifärbige, nichtlineare Hintergrund bildet die Entscheidungsfunktion f des Originalmodells (Black-Box) ab, welche nicht als lineare Funktion angenähert werden kann. LIME sampelt nun die Instanzen des Datensets und prädiktiert Ergebnisse mithilfe von f. Die Punkte aus der Stichprobe um den gewählten Punkt herum werden anhand ihrer Distanz zum gewählten Punkt gewichtet, somit sind Punkte mit einem kleineren Durchmesser weiter entfernt. Das lokale lineare Ersatzmodell (in Abb. 1 als gestrichelte Linie dargestellt) wird als Approximation für das Originalmodell verwendet und kann nun trainiert werden (Biecek & Burzykowski, 2021, S. 107-112). Eingabedateien für LIME können zwischen Texten, Bildern oder tabellarischen Daten variieren, auch eine Mehrklassen-Klassifizierung ist möglich. LIME erzeugt also Erklärungen für einzelne Instanzen, indem Eingabedaten auf eine interpretierbare Darstellung abgebildet werden. Bei Bilddaten können dies Pixel sein, bei Textdaten eine Reihe von Wörtern (Nandi et al., 2022, S. 173).

3.2 SHAP

Ähnlich wie LIME arbeitet die ebenfalls modellagnostische Methode SHAP (SHapley Additive exPlanations) mit einem Ersatzmodell, welches jedoch nichtlinear, und dadurch wesentlich rechenintensiver ist als LIME. Die zugrundeliegende Idee von SHAP ist die Erklärung von ML-Methoden mithilfe von ShapleyWerten aus der kooperativen Spieltheorie. Dieser Ansatz liefert eine In-

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Abbildung 1: Grundidee hinter LIME (Biecek & Burzykowski, 2021, S. 108)

terpretation auf Basis von einzelnen Vorhersagen, indem der Beitrag jedes einzelnen Merkmals zum Ganzen als Vorhersage mit den sogenannten Shapley-Werten berechnet wird. Die Merkmalswerte einer Dateninstanz können gemäß dem Ansatz aus der Spieltheorie mit einem Spieler in einer Spielermenge verglichen werden. Jeder Spieler des Teams besitzt einen bestimmten Wert, wodurch je nach Aufstellung der Spieler im Team verschiedene Spielergebnisse zu erwarten sind. In der Bildklassifizierung kann dieser Merkmalswert auf einzelne Pixel verteilt werden, wofür SHAP drei Eigenschaften erfordert. Die erste ist lokale Genauigkeit, um eine Übereinstimmung mit dem Originalmodell zu erzielen und die Methode effizient zu machen. Die zweite ist der Umgang mit fehlenden Merkmalen, sodass fehlende Werte keine Auswirkung auf die erzielten Resultate haben. Die dritte Eigenschaft ist Konsistenz, welche sicherstellt, dass Veränderungen der Modellattribute deren Gewichtungsanteil am Gesamtmodell zumindest nicht verringern.

SHAP wird vorwiegend zur Bildklassifizierung verwendet. Die Idee hinter SHAP ist dabei, für jeden Pixel im Bild dessen Dazugehörigkeit zu einer Klasse vorauszusagen. Um eine Vorhersage treffen zu können wird, wie in LIME, ein Modell mit Trainingsdaten trainiert und mit Testdaten für jede Klasse validiert (Lundberg, 2018).

4. FALLSTUDIE IM SMART PRODUCTION LAB

Zur praktischen Evaluierung der Methoden LIME und SHAP wurde ein Use Case für das Smart Production Lab entwickelt. Dabei kommt die Bildklassifizierung im Bereich der Qualitätskontrolle zur Anwendung, um Gut- und Schlechteile automatisiert voneinander unterscheiden zu können. Im Zuge dessen wurde ein geeignetes ML-Modell unter Zuhilfenahme von LIME und SHAP trainiert, um annähernde Erklärungen der Algorithmen geben zu können. Als zu überprüfendes Produkt in der Qualitätssicherung wurde der Uhrensockel aus Aluminium der Tischuhr ausgewählt, welche als Beispielpro -

dukt einer voll digitalisierten und integrierten Produktion (Maschine –Sensor – IoT – MES – ERP) vor Ort im Smart Production Lab produziert wird.

4.1 MACHINE LEARNING MODELL

Das entwickelte binäre Klassifizierungsmodell unterscheidet zwei Qualitätszustände, Gut- und Schlechtteil. Gutteile weisen die geforderte Qualität auf, um weiterverarbeitet werden zu können, Schlechtteile hingegen werden ausgeschleust. Um die Transparenz der Entscheidungsfindung des Modells zu erhöhen, wurden die Methoden LIME und SHAP angewandt. Die erzielten Ergebnisse sollen Unternehmen dabei unterstützen, geeignete Methoden für ihre Anwendungen auszuwählen, und ihnen so zu ermöglichen, wesentliche Vorteile durch ML-Anwendungen zu generieren.

Im ersten Schritt der Modellimplementierung wurden die Umgebungsbedingungen in der Produktion so angepasst, dass eine optimale Aufnahme der Bilder möglich war. Weiters wurden entsprechende Daten gesammelt, welche dann in einen Trainings- und Testdatensatz aufgeteilt, und, entsprechend den jeweiligen Klassen, gelabelt wurden. Insgesamt wurden 12014 Bilder aufgenommen (50 % Gutteil, 50 % Schlechtteil), wovon 80 % der Daten als Trainingsdaten (4806) und 20 % als Testdaten (1201) dienten. Im letzten Schritt wurde der Datensatz augmentiert, um die Gesamtheit der Datenmenge zum Trainieren des Modells zu erhöhen. Dabei wurden die vorhandenen Originalbilddaten künstlich verändert, beispielsweise durch Veränderung der Helligkeit, des

Kontrasts oder Rotation des Bildes, um einerseits die Modellgenauigkeit zu erhöhen und andererseits Zeit bei der Datenerfassung einzusparen. Nach der Konfiguration von Layern und Parametern des CNN wurde der Testdatensatz eingesetzt, um das Modell zu verifizieren und sicherzustellen, dass dessen Prädiktion korrekt ist. Für das entwickelte ML-Modell wurde mit zehn Iterationen über den Trainingsdatensatz eine Genauigkeit von 99 % erzielt. Für je 1201 Bilder von Gut- und Schlechtteilen wurde ein Ergebnis prädiktiert. 1197 Bilder wurden vom Modell richtig als Gutteil klassifiziert und nur vier Gutteile als Schlechtteil eingeordnet. 1199 Bilder wurden korrekt als Schlechtteil kategorisiert, zwei fälschlicherweise als Gutteil erkannt.

LIME arbeitet hier mit sogenannten Superpixeln, welche eine Gruppe von mehreren verwandten Pixeln ähnlicher Farbe sind. Die Daten werden nach dem Zufallsprinzip gestört, indem Superpixel ein- und ausgeschaltet werden. Für diese neu erzeugten Muster erfolgt die Klassifizierung von gut oder schlecht, sowie eine Gewichtung anhand ihrer Nähe zum Pointof-Interest. Auf Grundlage der neuen Stichprobe erfolgt schließlich eine Prädiktion mithilfe des Originalmodells und ein neues, gewichtetes Modell wird mit den Stichprobendaten trainiert.

Dieses Modell wird als Ersatzmodell bezeichnet und schließlich auf das Testbild angewandt. Die grün hervorgehobenen Teile in Abbildung 2 zeigen die Superpixel, die einen positiven Beitrag zur Prädiktion leisten,

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4.2 LIME Abbildung 2: Bildinterpretation von LIME

jene in Rot haben einen negativen Einfluss.

Anhand von Abbildung 3 lässt sich erkennen, dass die Bauteilkanten sowie die Verschraubung die Prädiktion maßgeblich beeinflussen. Im linken oberen Bild von Abbildung 3 ist ersichtlich, dass die untere Schraube entscheidend für die Prädiktion als Gutteil ist. Das erste Bild in Abbildung 4 hingegen zeigt, dass der Großteil der Bauteiloberfläche positiv zu einer richtigen Klassifizierung als Schlechtteil beiträgt. Der rot eingefärbte Bereich in der linken oberen Ecke zeigt allerdings, dass dieser Bereich als Gutteil klassifiziert worden wäre, die anderen drei Schrauben kategorisieren es jedoch definitiv als Schlechtteil. Diese beiden Beispiele zeigen, dass es notwendig ist, die interpretierten Bilder genauer analysieren, um die Vorgehensweise von LIME zu verstehen, da auch die Möglichkeit besteht, dass das Modell Vorhersagen auf der Grundlage von irrelevanten Teilen des Bildes trifft.

4.3 SHAP

SHAP zielt auf eine Erklärung der Vorhersage einzelner Instanzen im Testbild ab, wofür der Beitrag jedes

Merkmals, im konkreten Fall der Pixel, berechnet und dargestellt wird. Bei der Bildklassifizierung werden ähnliche Pixel zu sogenannten Superpixel gruppiert und einer bestimmten Vorhersageklasse zugeordnet. Abbildung 5 zeigt die Ergebnisse der interpretierten Bilder unter Zuhilfenahme von SHAP. Zur Visualisierung werden die berechneten SHAP-Werte in rot und blau dargestellt. Rote Pixel zeigen einen positiven Einfluss auf die Klassifizierung, blaue Pixel hingegen einen negativen Effekt. Je dunkler der Rot- oder Blauton ist, desto höher ist der Beitrag zur Klassifizierung der jeweiligen Klasse. Das linke Bild in Abbildung 5 ist das Originalbild des Testdatensatzes. Das mittlere Bild zeigt die SHAP-Interpretation und gibt Auskunft über das Vorhersageergebnis, in diesem Fall eine Klassifikation als Gutteil.

Das rechte Bild wird der Klasse mit der zweithöchsten Wahrscheinlichkeit zugewiesen, im vorliegenden Fall Schlechtteil. Da im konkreten Fall ein binäres Klassifikationsproblem vorliegt, zeigt die Abbildung, wie zu erwarten, für die Klasse Schlechtteil ein dem Gutteil entgegengesetztes Abbild.

Im Gegenzug zu LIME spielen die Bauteilkanten im Falle von SHAP keine relevante Rolle, wesentlich wichtiger sind dabei die Schrauben, die in guten Bildern richtig platziert sind, sowie Löcher ohne Schrauben in schlechten Bildern.

5. FAZIT

Die vorliegende Fallstudie zeigt, dass Interpretierbarkeitsmethoden wie LIME oder SHAP ein besseres Verständnis von Machine-Learning(ML)Ergebnissen ermöglichen. Daher wird der Einsatz von Methoden zur Erklärung von ML-Modellen zu einem immer wichtigeren Ansatz, der in jedem Unternehmen mit ML-Anwendungen etabliert werden sollte. Durch die gewonnenen Erkenntnisse mittels SHAP und LIME konnte das ursprüngliche ML-Modell so angepasst werden, dass eine erweiterte Genauigkeit von 99 % erreicht wurde. Die Ergebnisse des Vergleichs von LIMEund SHAP-Methode zeigen, dass unterschiedliche Ansätze durchaus ähnliche Ergebnisse liefern, wobei SHAP in einigen Aspekten LIME überlegen ist.

Dazu zählt beispielsweise die ausgefeiltere theoretische Grundlage zur Berechnung der Interpretationswerte, wodurch stabilere und konsistentere Ergebnisse erreicht werden können. Auch ist die visuelle Interpretation bei SHAP detaillierter und somit aussagekräftiger. In der Literatur wird LIME oft als weniger rechenintensive Alternative beschrieben, was jedoch fallspezifisch untersucht werden sollte.

Quellen:

Biecek, P. & Burzykowski, T. (2021).

Abbildung

Explanatory Model Analysis: Explo -

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Abbildung 3: Bildinterpretation durch LIME - Gutteil Abbildung 4: Bildinterpretation durch LIME - Schlechtteil 5: Bildinterpretation durch SHAP

re, Explain and Examine Predictive Models, CRC Press.

Bonaccorso, G. (2017). Machine Learning Algorithms: A reference guide to popular algorithms for data science and machine learning, Packt Publishing.

Bonner, A. (2019). The Complete Beginner’s Guide to Deep Learning: Convolutional Neural Networks and Image Classification. Towards Data Science. Abgerufen am 30. Mai 2023 von https://towardsdatascience. com/wtf-is-image-classification8e78a8235acb

Dosilovic, F. K., Brcic, M., & Hlupic, N. (2018). Explainable artificial intelligence: A survey [Konferenzbeitrag]. 41. Jahrestagung der International Convention on Information and Communication Technology, Electronics and Microelectronics (MIPRO), Opatija, Kroatien. https://doi.org/10.23919/MIPRO.2018.8400040

Hartner, R., Komar, J., & Mezhuyev, V. (2022). An approach for increasing the throughput of a CNNbased industrial quality inspections system with constrained devices [Konferenzbeitrag]. 11. Jahrestagung der International Conference on Software and Computer Applications (ICSCA), Melaka, Malaysien.

https://doi.org/10.1145/3524304.3524330

Hartner, R. & Mezhuyev, V. (2022). Time series based forecasting methods in production systems: A systematic literature review. International Journal of Industrial Engineering and Management, 13(2), 119-134. http://doi.org/10.24867/ IJIEM-2022-2-306

Lundberg, S. (2022). Shap documentation. Abgerufen am 14. Mai 2023 von https://shap.readthedocs.io/en/ latest/index.html

Nandi, A. & Pal, A. K. (2022). Interpreting Machine Learning Models, Apress.

Neapolitan, R. E. & Jiang, X. (2018). Artificial Intelligence – With an Introduction to Machine Learning (2. Aufl.), CRC Press.

Rebala, G., Ravi, A., & Churiwala, S. (2019). An Introduction to Machine Learning, Springer Press.

Autor:innen:

Univ.-Prof. Dr. Vitaliy Mezhuyev, PhD, ScD (habil.)

Professor für Angewandte Informatik am Institut Industrial Management der FH JOANNEUM Kapfenberg. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Programmierung, Design von cyber-physischen Systemen und

Univ.-Prof. Dr. Vitaliy Mezhuyev, PhD, ScD (habil.)

Professor für Angewandte Informatik am Institut Industrial Management der FH JOANNEUM Kapfenberg

Datenanalysen. Er veröffentlichte über 140 wissenschaftliche Arbeiten in Peer-Review-Zeitschriften, darunter renommierte Fachzeitschriften wie Complexity, Computers & Education, Cybernetics and Systems, Education and Information Technologies, IEEE Access, Information Management, Technology in Society und andere.

Dipl.-Ing. Katharina Lackner

Absolventin am Institut Industrial Management und derzeit Wissenschaftliche Mitarbeiterin der FH JOANNEUM Kapfenberg. Als Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Digital Shopfloor am Institut Industrial Management beschäftigt sie sich vorwiegend mit den Themen Industrial Internet of Things, der Gestaltung von smarten Arbeitsplätzen am Shopfloor und Machine Learning im industriellen Kontext.

Dipl.-Ing. Anja Stadlhofer

Absolventin am Institut Industrial Management der FH JOANNEUM Kapfenberg, Absolventin des Bachelorstudiengangs Informationsmanagement der FH JOANNEUM Graz. Derzeit ist sie als Junior Project Manager bei Anton Paar GmbH tätig.

Dipl.-Ing.

Katharina Lackner

Wissenschaftliche Mitarbeiterin der FH JOANNEUM Kapfenberg

Dipl.-Ing.

Anja Stadlhofer

Junior Project Manager bei Anton Paar GmbH

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TOP-THEMA

WING – Mentoringprogramm 2023 erfolgreich gestartet

Das kürzlich eingeführte WING-Mentoringprogramm konnte am 16. Mai im Rahmen der Auftaktveranstaltung offiziell gestartet werden. Bis Ende April konnten sich junge Wirtschaftsingenieur*innen für eine kostenlose Teilnahme am Programm bewerben.

Das Interesse auf Bewerberseite, und auch die Bereitschaft sich als Mentor*in zur Verfügung zu stellen, übertraf die Erwartungen des Veranstaltungsteams bei weitem. Insgesamt konnten 17 Mentoring-Paare, verteilt über ganz Österreich, vermittelt werden. Die Mentees erhalten nun durch persönliche und vertrauliche Gespräche mit Ihrer Mentorin oder Ihrem Mentor eine auf Ihre Bedürfnisse zugeschnittene Beratung und Unterstützung, welche sie für ihre Weiterentwicklung benötigen.

Das Mentoringprogramm ist für die Dauer von einem Jahr angesetzt und wird anschließend evaluiert. Wir freuen uns auf ein spannendes und - wie wir hoffen - erfolgreiches Mentoring-Jahr!

WINGbusiness 2023 - die nächsten Ausgaben:

Heft 03/2023: „Leadership und Strategie“

Heft 04/2023: „Simulation in Produktion & Logistik“

25 WINGbusiness 2/2023 WING-INTERN
Team WING-Mentoringprogramm - Marco Berger, Ulrich Bauer, Michael Mayr

Ressourcenproduktivität und Industrie 4.0 in der LEAD Factory

Lernfabriken eignen sich dazu, neue Methoden und Technologien durch praktische Anwendung kennenzulernen. Um unterschiedliche Aspekte der Ressourcenproduktivität zu demonstrieren und zu erforschen wurde die LEAD Factory der TU Graz um eine Fertigungslinie mit Bohr-Fräsmaschine und Galvanikanlage er- weitert. Diese ermöglicht es Studierenden die Bauteilfertigung für den TUG Scooter in Echtzeit zu überwachen und Optimierungen bei unterschiedlichen Parametern abzuleiten und zu analysieren. Ziel ist es, Zusammenhänge beispielsweise zwischen Maschineneinstellungen, der Qualität und den Kosten zu erkennen und in einer Kennzahl, dem sogenannten „Profit per Hour“ auszudrücken und weiterführend zu steigern. Um die Ressourcenproduktivtät emitteln zu können, müssen die Teilnehmenden Energieverbräuche und Bearbeitungszeiten messen und mit der abschließenden Qualitätskontrolle über ein modernes Bilderkennungssystem in Relation bringen

1. Ressourcenproduktivität

1.1 Operational Excellence neu denken

Eine hohe Ressourcenproduktivität zielt darauf ab, die variablen Kosten für Rohstoffe und Energie zu minimieren und gleichzeitig die Nachfrage hinsichtlich Ausbringungsmengen und Qualität zu bedienen. Der Grundgedanke ist nicht neu und fester Bestandteil einer schlanken („lean“) und öko-effizienten („green“) Produktion und des überlegten Umgangs mit Engpässen („constraint management“) innerhalb von Industriebetrieben [1]. Indem bei Lean die Arbeitsund Anlagenproduktivität sowie die Vermeidung von Verschwendung im Vordergrund stehen und Green auf

die Schonung natürlicher Ressourcen und niedrige Umweltwirkungen abzielt, sind Überlappung und Synergien dieser beiden Paradigmen feststellbar [1, 2]. Zukünftig wird Operational Excellence, also die Optimierung von Abläufen in der Wertschöpfungskette durch Kombination von Verbesserungsmethoden, nicht mehr ohne die Integration von umweltbezogenen Aktivitäten erreich-

bar sein [3]. Hammer/Somers (2016) haben fünf Grundsätzen formuliert um die Ressourcenproduktivität im industriellen Umfeld ausschöpfen zu können (Abbildung 1).

1.2 „Profit per Hour“ und das „Theoretical Limit”

Zum Zwecke der Problemerkennung, des Informationsgwinns, der Kon-

Abbildung 1: Grundsätze zur Erschließung der Ressourcenproduktivität [4]

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Foto: IIM-Institut, TU Graz Kai Rüdele, Markus Hammer, Matthias Wolf, Christian Ramsauer

trolle und Steuerung oder auch um die Wirkung von Verbesserungsmaßnahmen messen zu können, sind betriebswirtschaftliche Kennzahlen nicht mehr wegzudenken. Wichtigster Gradmesser im Bereich Lean Production sind zweifelsohne die Kosten; Erfolge einer umweltfreundlichen Fertigung werden oftmals durch eingesparte Emissionen zum Ausdruck gebracht. Eine ebenso ökologische wie schlanke Herstellung von Produkten erhöht den Wert für die Kunden und kann laut Dües et al. (2013) durch das Servicelevel bestimmt werden [2]. Prashar (2021) nennt als entscheidende Kenngröße die Ökoeffizienz, welche ihr zufolge der Quotient aus dem Wert eines Produktes und seiner Umweltwirkung (insb. Energieverbrauch und CO2-Emissionen) ist [3].

Für die operative Ebene eines Industriebetriebs dürften die genannten KPIs schwer zu erfassen und wenig aussagekräftig sein. Viel relevanter erscheint eine Kennzahl die den Ressourcenverbrauch und finanzielle Auswirkungen zueinander ins Verhältnis setzt. Entscheidend ist auch, dass Ressourcenproduktivität über die bloße Energieeffizienz hinausgeht und Abhängigkeiten berücksichtigt werden, aus denen sich Trade-offs ergeben. Beispielsweise geht mit einer höheren Anlageneffizienz ein steigendes Produktionsvolumen einher, der Energieverbrauch kann dadurch aber ebenfalls steigen [4]. Ein weiterer Einflussfaktor, den es branchenunabhängig zu beachten gilt, ist der Zeiteinsatz, da verlorene Zeit nicht wiedergewonnen werden kann [5].

Über die Zusammensetzung der Kapitalrendite (ROI-Baum) lassen

sich relevante und beeinflussbare Stellgrößen faktenbasiert identifizieren und Optimierungspotentiale das Produktionssystem erkennen. Die Kennzahl „Deckungsbeitrag pro Stunde“ (Abbildung 2) ermöglicht es, das Zusammenspiel von fixen und variablen Kosten und anderer Parameter wie Nutzungsgrad, Rüstzeiten, oder Qualität zu verstehen [6].

Nachdem die Treiber der Ressourcenproduktivität bekannt sind, lassen sich auch die Grenzen der Optimierung durch unüberwindliche Engpässe und Naturgesetze ermitteln. Dieses „Theoretical Limit“ soll nicht nur Orientierungspunkt sein, sondern auch dazu ermutigen durch Einsatz verbesserter Technologien und die Überarbeitung des Prozessdesigns sich diesem Idealzustand immer weiter anzunähern [1].

1.3

Unter dem Begriff „Twin Transition“ versteht man die Bestrebung, die beiden Transformationen in Richtung Digitalisierung und Nachhaltigkeit zu vereinen, auch mit dem Ziel Effizienz und Produktivität zu steigern [7]. Moderne Sensorik, steigende Rechenleistung, zunehmende Vernetzung und andere Schlüsseltechnologien der Industrie 4.0 ermöglichen schnelle und kostengünstige Datenverarbeitung, welche wiederum als Informationsbasis für die Analyse der Ressourcenproduktivität zu aussagekräftigen Ergebnissen führt. Erfasste Prozessparameter und Produktionsdaten bilden die Grundlage für wertstiftende Entscheidungen auf strategischer und operativer Ebene [6, 8].

2. Schulungsmodul „Resource Productive Operations“ in der LEAD Factory

2.1 Erweiterung der LEAD Factory um Fertigungslinie

2022 wurde die LEAD Factory, die Lernfabrik des Instituts für Innovation und Industrie Management (IIM) an der TU Graz um eine Fertigungslinie bestehend aus Bohr-Fräsmaschine und Galvanikanlage erweitert. Dadurch können Schulungsteilnehmer noch tiefere Einblicke in Produktionsprozesse und neue Themen erhalten. Die Fertigungslinie kann sowohl in das bestehende Lehrkonzept integriert, als auch als eigenständiger Demonstrator genutzt werden. Am bisherigen Produkt in Form eines Scooters wurde festgehalten.

Mit den neuen Anlagen wird die Metallplatte, welche die Lenkstange

Abbildung

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Digitalisierung als Wegbereiter zur verbesserten Ressourcenproduktivität Abbildung 2: Treiberbaum mit „Deckungsbeitrag pro Stunde“ als Spitzenkennzahl [6] 3: Erkennen unbekannter Verschwendung mithilfe des „Theoretical Limits“ [1]

mit dem Trittbrett verbindet in mehreren Stufen verarbeitet: Zunächst werden Löcher gebohrt um eine Befestigung durch Schrauben überhaupt erst zu ermöglichen. Anschließend werden die Bauteile in einem Galvanikbad vor Korrosion geschützt (Abbildung 4). Mittels Echtzeitmessung und -monitoring können Energieverbräuche ermittelt werden. Für die Qualitätskontrolle steht ein hochmodernes Kamerasystem zur Verfügung, welches Mängel der Beschichtung und Bohrlöcher außerhalb der festgelegten Toleranzen automatisch erkennt und meldet (siehe QR-Code).

2.2

Seit 2017 werden in der LEAD Factory Laborübungen zum Thema Energieeffizienz abgehalten. Alle Montagestationen sind mit intelligenten Stromzählern ausgestattet welche für einen „Energy Walk“ samt „Energy Value Stream Map“ zur Identifikation von Energieverlusten genutzt werden [9, 10].

Als Teil einer viertägigen Lehrveranstaltung für Masterstudierende unterschiedlicher Ingenieursstudiengänge wurde das Schulungsmoduls „Resource Productive Operation“ im März 2023 erstmals unterrichtet. Nach dem bewährten Lehrkonzept von Lernfabriken im Allgemeinen und der LEAD Factory im Speziellen, wurden den Teilnehmenden zunächst die wichtigsten theoretischen Grundlagen vermittelt.

Anschließend konnten sie bei der praktischen Umsetzung unterschiedliche Prozessparameter wie Drehzahl der Bohrmaschine, angelegte Anodenspannung und Verweildauer im Galvanikbad variieren. Diese Maschineneinstellungen beeinflussen den Stromverbrauch und die Fer-

tigungszeit. Die Qualitätskontrolle, welche neben der optischen Kontrolle und einer Überprüfung der Bohrungen eine Haftfestigkeitsprüfung umfasst, entscheidet, ob sich eine Platte zur Montage eignet, Nacharbeit nötig ist oder Ausschuss ist. Alle erfassten Daten wurden von den Gruppen zusammengetragen und hinsichtlich Wechselwirkungen ausgewertet.

3. Ergebnisse

Bedingt durch die erstmalige Durchführung liegt noch keine ausreichende Datenbasis vor, um das „Theoretical Limit“ zweifelsfrei bestimmen zu können. Allerdings konnten Tendenzen bei den drei obengenannten Prozessparametern festgestellt werden und der Bereich, in dem das jeweilige Optimum liegt eingegrenzt werden.

Mit dem vermittelten theoretischen Wissen und den Erkenntnissen aus der praktischen Anwendung konnten die Studierenden gemeinschaftlich einen spezifischen ROITreiberbaum erstellen, welcher in Abbildung 5 zu sehen ist.

4. Ausblick

Die Werte für die Prozessparameter, welche in der bestehenden Fertigungslinie zur höchsten Ressourceneffizienz führen, müssen aktuell noch in einer Reihe von Versuchen ermittelt werden. Mit jedem zusätzlichen Stellhebel der in den „Profit per Hour“ einfließen soll, muss die Formel entsprechend angepasst werden. Idealerweise lässt sich dieses multidimensionale Optimierungsaufgabe mathematisch lösen und graphisch abbilden, ähnlich wie dies in [8] und [11] bereits demonstriert wurde. Erste Darstellungsversuche in einem Blasendiagramm sind vielversprechend und lassen bereits grobe Muster erkennen.

In einem nächsten Schritt kann unter Berücksichtigung von physikalischen, chemischen und technologischen Grenzen das „Theoretical Limit“ zumindest abgeschätzt werden. In der Folge können Anpassungen und Umstellungen hinsichtlich des Prozessdesigns und der eingesetzten Technologien vorgenommen werden. Hierbei sind auch grundlegende Änderungen bezüglich der Fertigungsverfahren und dem Produkt selbst nicht auszuschließen.

Weiters können die Potentiale der Digitalisierung noch stärker genutzt werden. Ebenso kann das Thema Ressourcenproduktivität, welches sich aktuell noch auf die Fertigungslinie beschränkt, auf die Montagelinie übertragen werden, womit die gesamte LEAD Factory abgebildet wäre. Erneut kann hier auf ein selbst-

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Neue Lehrinhalte zur Ressourcenproduktivität Abbildung 5: Treiberbaum für die Fertigungslinie der LEAD Factory mit „Gewinn pro Stunde“ als Spitzenkennzahl Abbildung 4: Bearbeitungsschritte innerhalb der Fertigungslinie

lernendes Bilderkennungssystem zurückgegriffen werden, welches zusätzlich zum bestehenden RFID-Trackingsystem die erforderlichen Daten generiert.

for manufacturing systems enabled by big data analytics and Industry 4.0 infrastructure. Procedia CIRP, 63:715-720.

[9] K. Rüdele, A. Ketenci, M. Wolf, C. Ramsauer (2022) Lehrmodul Energieeffizienz in der LEAD Factory am Institut für Innovation und Industrie Management. WINGbusiness, 3/2022:32-36.

Quellen:

[1] M. Hammer, H. Karre, C. Ramsauer (2018) Resource-productive operations – How lean, green and constraint management approaches blend together. Annals of Faculty Engineering Hunedoara - International Journal of Engineering.

[2] C. Dües, K. Tan, M. Lim (2013) Green as the new Lean: how to use Lean practices as a catalyst to greening your supply chain. Journal of Cleaner Production, 40:93-100.

[3] A. Prashar (2021) Eco-efficient production for industrial small and medium-sized enterprises through energy optimisation: framework and evaluation. Production Planning & Control, 32(3):198-212.

[4] M. Hammer, K. Somers (2016) Unlocking industrial resource productivity. 5 core beliefs to increase profits through energy, material, and water efficiency. McKinsey Publishing.

[5] M. Hammer (2019) Management Approach for Resource-Productive Operations. Springer Gabler, Wiesbaden.

[6] S. Heldmann, M. Hammer, C. Ramsauer (2016) Eine strategische und operative Perspektive zur Anwendung von Big Data in der Industrie. Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb, 112(1-2):79-85.

[7] S. Blüm (2022) What is the 'twin transition' - and why is it key to sustainable growth? https://www. weforum.org/agenda/2022/10/twintransition-playbook-3-phases-to-accelerate-sustainable-digitization/

[8] M. Hammer, K. Somers, H. Karre, C. Ramsauer (2017) Profit per hour as a target process control parameter

[10] A. Ketenci, M. Wolf, K. Rüdele, C. Ramsauer (2022) Impact analysis of a teaching module in a learning factory environment regarding energy efficiency potentials. Proceedings of the 12th Conference on Learning Factories (CLF 2022).

[11] M. Hammer, K. Somers (2015) More from less: Making resources more productive. McKinsey Quarterly, 2015 Number 3:14-20.

Autoren:

Kai Rüdele M.Sc. studierte Technologie- und Managementorientierte Betriebswirtschaftslehre an der TU München. Nach vier Jahren als Unternehmensberater wechselte er 2021 an das IIM. Sein Forschungsschwerpunkt sind Ökobilanzen.

Dr. Markus Hammer leitet seit Oktober 2017 das globale Operations Learning Team bei McKinsey & Company. Seit 2004 berät er Klienten im Bereich Resource-Productive Operations und Capability Building, seit mehr als 15 Jahren ist er im Bereich Lernfabriken weltweit aktiv. Seine Karriere startete er im Jahr 2000 bei Procter & Gamble in Deutschland. Markus Hammer studierte Verfahrenstechnik an der TU Graz und promovierte dort später am Institut für Innovation und

Industrie Management, wo er auch den Aufbau der LEAD-Factory unterstützte. Er ist Autor mehrerer Bücher und Artikel und Dozent an der TU Graz.

Dr. Matthias Wolf studierte Wirtschaftsingenieurswesen-Maschinenbau mit Schwerpunkt Energietechnik und promovierte im Jahr 2020 an der TU Graz. In seiner Forschungsarbeit beschäftigte sich Matthias Wolf mit Themen zur nachhaltigen, resilienten und menschzentrieten Gestaltung von Produktionsarbeit. Seit 2021 ist Matthias Wolf Assistenzprofessor am Institut für Innovation und Industrie Management der TU Graz mit dem Schwerpunkt Industrial Engineering.

Univ.-Prof. Dr. Christian Ramsauer Vorstand des Instituts für Innovation und Industrie Management der TU Graz

Univ.-Prof. Dr. Christian Ramsauer leitet seit 2011 das Institut für Innovation und Industrie Management der TU Graz. Er startete seine Karriere 1999 als Berater bei McKinsey & Company. Zwischen 2005 und 2011 war er als geschäftsführender Gesellschafter bei einem Industrieunternehmen in Salzburg und als Geschäftsführer bei einem Privat Equity Unternehmen in

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Kai Rüdele M.Sc. Universitätsassistent am Institut für Innovation und Industrie Management der TU Graz Dr. Markus Hammer Leiter des globalen Operations Learning Teams bei McKinsey & Company, Wien

München tätig. Christian Ramsauer studierte WirtschaftsingenieurwesenMaschinenbau und promovierte an der TU Graz. Er forschte als Post-

Doc zwei Jahre an der Harvard Business School in Boston und habilitierte danach im Fach Produktionsmanagement. Er ist als Aufsichtsrat in

mehreren Start-Ups und etablierten Industrieunternehmen tätig und seit 2021 der Präsident der International Association of Learning Factories.

WING-Regional

HIRSCH SERVO GRUPPE

Seit mehr als einem halben Jahrhundert wird mit Ideen expandiert!

Treffen der Wirtschaftsingenieure von Kärnten und Osttirol, 4. Mai 2023, HIRSCH Servo AG Glanegg

Die HIRSCH Servo Gruppe feierte 2022 ihr 50. Firmenjubiläum. Mit einem rasanten Expansionskurs hat sich das österreichische Unternehmen in den letzten Jahren zum größten EPS-Dämmstoffhersteller Europas entwickelt. Daneben produziert das Unternehmen Verpackungen sowie Maschinen und Anlagen für die EPS-Industrie.

Der CEO Harald Kogler und paralell GeschäftsführerThomas Kandolf, ermöglichten dem Regionalkreis Kärnten-Osttirol, einen exklusiven Einblick in die Welt der HIRSCH Servo Gruppe.

Das Jahr 2014 markiert eine tiefe Zäsur in der mittlerweile mehr als 50-jährigen Firmengeschichte der HIRSCH Servo Gruppe. Das zu der Zeit angeschlagene Unternehmen aus Glanegg / Kärnten erhielt mit der Wiener Herz-Gruppe nicht nur einen neuen Hauptaktionär, der inzwischen 90 Prozent der Anteile hält, sondern mit Harald Kogler auch einen neuen Vorstand. Mit dem erfahrenen Indus-

triemanager Kogler sollte das Unternehmen so richtig Fahrt aufnehmen. Zu den ersten Aufgaben Harald Koglers gehörte es, das Unternehmen mithilfe einer neuen Hausbank finanziell neu aufzustellen, Verlustbringer zu stoppen und mit klaren Entscheidungen das Vertrauen der Kunden zurückzugewinnen. 2014 waren der Dämmstoff- und Verpackungsbereich bei HIRSCH etwa gleich groß. Kogler setzte einen klaren Fokus auf das Dämmstoffgeschäft, weil er dort das deutlich größere Wachstumspotenzial sah, nicht zuletzt wegen der Bedeutung der Dämmstoffindustrie für die Energieeffizienz im Wohnungsbau.

Heute erwirtschaftet die HIRSCH Servo Gruppe 75 Prozent ihrer Umsätze mit Dämmstoffen,

15 Prozent mit Verpackungen und 10 Prozent mit dem Maschinenbau. Der Ausklang der Veranstaltung fand auf Einladung von HIRSCH bei einem gemeinsamen Abendessen und Getränken statt.

Wir bedanken uns für die Initiative und Organisation bei HIRSCH Servo AG, besonders bei Herrn Harald Kogler und Herrn Thomas Kandolf und den eindrucksvollen Einblick, den wir bei dieser Veranstaltung gewinnen konnten.

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Dr. Matthias Wolf Assistenzprofessor am Institut für Innovation und Industrie Management der TU Graz Univ.-Prof. Dr. Christian Ramsauer Vorstand des Instituts für Innovation und Industrie Management der TU Graz Andreas Leitgeb, Georg Micheu
Foto: HIRSCH SERVO GRUPPE

Digital Procurement

Entwicklungstendenzen und Kompetenzbedarf für industrielle Einkaufsmanager

Der Markt an unterstützenden IT- und Digitalisierungsoptionen für den industriellen Einkauf nimmt stetig zu. Waren es Anfang der 2000er Jahre primär ERP- sowie SRM-Systeme, die man bezüglich Funktionsspektrum und dem dadurch abgeleiteten Potenzial für die Beschaffungs- und Lieferantenmanagementprozesse am Radar behalten musste, so zeigt sich der Markt an Software- & Digitalisierungslösungen im Einkauf heute viel breiter und granularer. Für industrielle Einkaufs- und Supply-Chain-Manager:innen ist es deshalb von zentraler Bedeutung, hier den Überblick zu behalten. Nur so lässt sich einschätzen, wie sich die Digitalisierungsmöglichkeiten am Markt mit den Anforderungen des eigenen Unternehmens matchen und folglich leistungsstarke Digitalisierungsumgebungen im Einkauf etablieren lassen.

1. Der digitale Einkauf im Wandel

Die Digitalisierungs- und Automatisierungsbestrebungen im industriellen Einkauf begannen Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre mit den immer stärker aufkommenden Enterprise-Resource-Planning-(ERP) Systemen. Der damalige Schwerpunkt lag in der Unterstützung und Beschleunigung interner materialwirtschaftlicher Prozesse wie jene der Disposition, automatische Erstellung von Bestellanforderungen sowie Bestellungen, die automatische Bezugsquellenfindung, workflowgestützte Freigabeprozesse bis hin zu automatischer Übermittlung der Bestellungen an den Lieferanten. Mit dem Ziel auch die Prozesse des Lieferantenmanagements, von Auswahl

der Lieferanten bis zu Beendigung der Lieferantenbeziehung mittels Technologieunterstützung umfassend zu professionalisieren, etablierten sich mit den internetbasierten SupplierRelationship-Management (SRM)-/ eProcurement-Lösungen eine zweite „Systemfamilie“, die auf den Stammdaten der ERP-Systeme aufbauen und das Spektrum der Digitalisierungsmöglichkeiten im Einkauf erweitert hat (Riemer & Klein, 2002, S.7ff; Schweiger et al., 2009a, S.57ff; einen aktuellen Überblick über die Digitalisierungsentwicklungen im Einkauf und SCM liefert Bogaschewsky, 2019, S.139ff).

2006 initiierte der Lehrstuhl für Industriebetriebslehre der Universität Würzburg in Kooperation mit dem Bundesverband Materialwirtschaft,

Einkauf und Logistik e.V. (BME) eine seither jährlich wiederkehrende Studie zum Stand der aktuellen und geplanten Nutzung von Systemen zur elektronischen Beschaffung im deutschsprachigen Raum. Über den Zeitverlauf ist hier gut zu verfolgen, wie sich der Einsatz von eher operativ gelagerten Purchase-to-Pay- sowie Kataloglösungen, erweiterten Monitoring-Funktionen hin zu strategischen Source-to-Contract- sowie (Risk-)Analytics-Funktionen in den Unternehmen entwickelt hat (Bogaschewsky & Müller, 2020).

Die unternehmerischen Erwartungen an die Effekte der Digitalisierung sind weiterhin – auch gestützt durch sehr optimistische Aussagen von IT-Anbietern – sehr hoch. So wer-

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Foto: © Pixabay/Gerd Altmann Jörg Schweiger, Christian Burkart, Sabine Hanusch

den Einsparungen von bis zu 20 % allein aufgrund verbesserter Ausgabentransparenz und der Verwendung künstlicher Intelligenz in den Vorbereitungen für Verhandlungen versprochen. Zusätzlich wird eine Reduktion des Personalbestands um bis zu 40 % durch effizientere Funktionen und Prozesse bei gleichzeitiger Verbesserung der Beziehungen zu Lieferanten als möglich definiert (Schnellbächer & Weise, 2020, S.1). Diese potenziell erreichbaren Zielwerte führen auch dazu, dass von den 20 größten Fortune-500-Unternehmen 18 in ihren Jahresberichten für das Jahr 2019 Digitalisierung als wichtiges Thema angeführt, und davon neun explizit die Umsetzung digitaler Technologien für ihre Beschaffungsvorgänge als sehr relevantes Thema hervorgehoben haben.

Vor der Tatsache, dass Unternehmen, die von der Digitalisierung profitieren möchten, mit einer scheinbar endlosen Menge an vielversprechenden IT-Lösungen konfrontiert sind, setzt sich der vorliegende Artikel zum Ziel, Klarheit über die konkreten IT-Nutzenpotenziale zu schaffen, die Optionen am Markt in kompakter Weise zusammenzufassen sowie ein Vorgehen zur zielgerichteten Partnerauswahl vorzustellen. Ferner wird abschließend gezeigt, wie das Team des Smart Production Lab der FH JOANNEUM als digitale Lehr- und Forschungsfabrik über den gesamten Digitalisierungsprozess hinweg effektive Unterstützung leisten kann.

2. Optionen und Potenziale der Digitalisierung im Einkauf

War bis vor einigen wenigen Jahren noch das Finden von Pro-Argumenten und Wirtschaftlichkeitsaussagen die Basis für eine Investitionsentscheidung in digitale Einkaufslösungen (Schweiger et al., 2010, S.70), so zeigt sich heute das Auffinden des „richtigen“ IT-Anbieters und Funktionspakets als zentrale Herausforderung. Ein Mitgrund ist, dass die Anzahl an potenziellen Softwareanbietern massiv zugenommen hat, und neben den umfassenden in Kapitel 1 angesprochenen „Einkaufssuiten“ immer mehr spezialisierte und valide Best-

of-Breed Lösungen (z.B. für Risiko-, Nachhaltigkeits- oder CategoryManagement) am Markt zu finden sind. Diese Entwicklung geht auch mit einem Ergebnis der oben zitierten BME-Studie einher, dass sich aktuell eine Trendumkehr weg von einzelnen, stark integrierten, Komplettlösungen (Suiten) Richtung kombinierte Verwendung von spezialisierten Nischenlösungen rund um ein Kern(ERP)system abzeichnet.

Funktionale Marktübersicht

Neben den etablierten Marktübersichten von integrierten und auf Großunternehmen spezialisierten SRM-/ Source-to-Pay-Suiten von Gartner (Magic Quadrant), Forrester (Forrester Wave) und CapGemini (Digital Procurement Research) hat beispielsweise die amc Group gemeinsam mit dem BME und Trovarit in einer Datenbank mehr als 400 elektronische Lösungen für die Digitalisierung im

Einkauf zusammengefasst und für Vergleichszwecke aufbereitet (AM Consult, 2023). Derartige Initiativen stellen die Breite der IT-Dienstleister umfassender dar und liefern ähnlich wie beispielsweise der eSolutions Report des BME, die ProcureTech100 (Kearney) sowie Events wie der Digital & eProcurement Day des BMÖ oder die Supply Management Fachtagung des VNL, gerade für mittelständische Unternehmensstrukturen eine gute Basis, um sich hier entscheidungsrelevante Informationen zu holen.

Da auch die verwendeten Bezeichnungen der IT-Anbieter für die angebotenen (teilweise gleichen) Funktionen und Systeme nicht einheitlich, und für die/den weniger digitalaffine/n Einkäufer:in nicht immer selbsterklärend sind, liefert nachfolgende Übersicht (Tabelle 1) den Versuch einer verdichteten begrifflichen Ein- und Zuordnung (abseits der ERP-Funktionalitäten):

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Tabelle 1: Digitalisierungsoptionen sortiert nach Einkaufsbereich

Digitalisierungspotenziale im Einkauf

Die Nutzenpotenziale eines smarten Einsatzes von Digitalisierungslösungen im Einkauf können grundlegend in vier Dimensionen unterteilt werden (Schweiger et al., 2009a, S. 79):

(I) Prozesskosteneinsparung/vereinfachung:

o Automatisierung von Bestellvorgängen, Anfragen/Ausschreibungen & anderen Wiederholprozessen

o Verkürzte Prozessdurchlaufzeiten und damit kürzere Durchlaufzeit von Kundenaufträgen/-anfragen

o Vermeidung von Maverick Buying

(II) Produkt- und Lagerkosteneinsparung:

o Reduktion des Einstandspreises durch Ausnutzung der Dynamisierungseffekte von (elektronischen) Verhandlungen

o Bessere Preise durch IT-gestütztes Volumenbündeln

o KI-basierte Hinweise für „günstige“ Verhandlungsposition aufgrund positiver Währungs- und Indices-Entwicklungen

o Reduktion der Lagerkosten durch VMI-Ansätze

(III) Prozessqualität:

o Standardisierung (werksübergreifender) Prozesse

o Medienbruchfreiheit und somit Vermeidung von Erfassungsfehlern

o Strafferes und strukturiert abgebildetes Lieferantenmanagement durch Möglichkeit der Abbildung des gesamten Supplier Lifecycles (Registrierung, Beurteilung, Ausschreibung/Angebot, Bestellwesen, Lieferantenbewertung, Verträge, Ausphasen)

(IV) Risikomanagement & strategische Aspekte:

o Erhöhte Supply Chain Resilienz durch frühzeitiges Erkennen möglicher Risiko- und Trendpotenziale

o Rechtliche Stabilität und Vertragssicherheit durch aktives Vertragsmonitoring (Hinweis auf ablaufende und zu erneuernde Verträge)

o Marketing-Effekt (Differenzierung gegenüber Wettbewerb)

o Stärkere Lieferantenbindung

3. Mit Systematik zur „richtigen“ Auswahl der IT-Umgebung im Einkauf

Um die Komplexität des Marktes für Digitalisierungslösungen im Einkauf zu beherrschen und die Auswahl eines IT-Tools effizient und zielgerichtet voranzutreiben, benötigt es ein systematisches Vorgehen. Ein genau solches zu erarbeiten, war bereits 2009 die Motivation, erstmals einen Referenzprozess zur effektiven Auswahl von einkaufsspezifischen ITLösungen zu beschreiben (Schweiger et al., 2009b, S.71ff). Dieser wurde seither in vielen Projekten angewandt und durch die daraus gewonnenen Erkenntnisse laufend weiterentwickelt (siehe Abbildung 1).

Der Auswahlprozess geschieht üblicherweise in zwei Phasen, der strategischen Initialisierung und der eigentlichen Suche, Beurteilung und Auswahl einer geeigneten Lösung (Software- & Partnerauswahl). In der unternehmerischen Praxis wird der strategischen Initialisierung häufig zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, und Projekte ohne klare und am Ende messbare, dokumentierte Zielsetzung gestartet. Dabei können die eindeutige Klärung der Erwartungshaltung und Zielsetzung der anvisierten Digitalisierungsbestrebungen sowie das organisatorische Aufsetzen eines Projektes (1) das Thema effizient voran-

treiben. Zur gelungenen strategischen Ausrichtung gehört es aber nicht nur, sich der eigenen Ziele für die Einkaufsprozesse im Klaren zu sein. Vielmehr stellen sich auch Fragen zu den Erwartungen an die IT-Lösung: Sind es die Einstandspreise, die reduziert werden sollen? Sind es die Prozesse, die vereinheitlicht werden müssen?

Ist die angestrebte Maßnahme technologiegetrieben und sieht sich das Unternehmen als Vorreiter in diesem Bereich oder ist es eher ein konkreter Bedarf, der den Anstoß gibt? Oder geht es darum, den Kund:innen und dem Gesetzgeber gegenüber Rechenschaftspflichten transparenter und effizienter erfüllen zu können?

Ein kompetentes und multidisziplinäres Projektteam aus allen relevanten Bereichen (v.a. Einkauf, Qualitätsmanagement, Logistik, IT) hat die Aufgabe, eine klare und nachvollziehbare Anforderungsdefinition (2) zu erstellen, welche auch KO-Kriterien umfasst. Damit wird es später möglich, unpassende Anbieter rasch auszusortieren. Ferner ist es basierend darauf möglich, zu prüfen, ob die aktuelle IT-Landschaft durch (einfachere) Erweiterungsmöglichkeiten der bestehenden Systeme eine (kostengünstigere) Deckung der gesteckten Anforderungen ermöglicht oder tatsächlich in neue Lösungen zu investieren ist. In diesem Fall sind im Anschluss an die Anforderungsdefinition potenzielle Anbieter mittels Marktanalyse (3) zu eruieren. Im Rechercheprozess sollte auch abseits der einfach verfügbaren Internetquellen, wie etwa über Studien, Messebesuche oder vertrauenswürdige Foren wie die Expertenrunde Einkauf des VNL, recherchiert werden. Da Einkäufer:innen durch das Eingebundensein im Tagesgeschäft ad hoc meist keinen schnellen und aktuellen Marktüberblick parat haben, kann das Einbinden externer Partner (Beratungsunternehmen, Hochschulen)

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Abbildung 1: Prozess zur Bewertung und Auswahl von Einkaufs-IT-Lösungen

hilfreich sein. Die aus der Marktanalyse resultierende IT Longlist wird in einem nächsten Schritt im Rahmen der Grobanalyse (4) reduziert. Dafür werden primär KO- sowie Formalkriterien verwendet, um das Anbieterfeld zu bereinigen. Mögliche Kriterien können hier von (nicht-)verfügbaren Referenzen in der Branche oder für ähnlich große Unternehmen, über die Verfügbarkeit eines Supportdienstes in räumlicher Nähe bis zu den funktionsbezogenen Mindestanforderungen reichen. Ziel ist es, in dieser Phase das Anbieterfeld auf eine Handvoll Lösungen zu reduzieren

In der Detailanalyse (5) werden die verbleibenden Anbieter gebeten, die definierten Anforderungen dahingehend zu beurteilen, ob diese „im Standard möglich“, „mit Modifikation/Customizing möglich“ oder eben „nicht möglich“ sind. Diese Art der strukturierten Abfrage ermöglicht es schließlich, eine Nutzwertanalyse und ein funktionales Ranking der Angebote zu erstellen (Shortlisting).

Ebenfalls finden in dieser Phase Demotermine mit den Anbietern statt, wo die Software mit Echtdaten aus dem Unternehmen vorgestellt und der Eindruck im Nachgang bewertet wird (z.B. Qualität der Präsentation, Umgang mit Fragen, Ersteindruck der Einfachheit in der Bedienung). Weitere hilfreiche Hinweise können auch Referenzbesuche bei Bestandskunden der Softwareanbieter liefern. Ein Kostenvergleich schließt diese Phase ab. Ist es für das Unternehmen wichtig, neben den Kosten auch eine Aussage über die Rentabilität zu bekommen, so bieten sich hierfür die Ermittlung des Return-on-Investment (ROI) sowie die Ermittlung der Amortisationsdauer an (Schweiger et al. 2010, S.55ff). Hier ist Vorsicht geboten: Weder sind die maßgeblichen Größen für diese Entscheidung einfach abzuschätzen, noch sind auf vereinfachenden Annahmen beruhende Werte besonders robust. Wird zu konservativ geschätzt, läuft man Gefahr, sich „hinauszukalkulieren“, ist man zu optimistisch, riskiert man wirtschaftliche Nachteile.

Empfehlenswert ist es, nach getroffener Partnerauswahl, ein Fixbudget für ein erstes Teilprojekt zu beschließen, bei dem sich der Partner beweisen kann, und auch fertige Lösungen

zu erarbeiten sind. Danach werden weitere Budgetmittel freigegeben. Dieses Vorgehen hält den Anbieter motiviert, sich von Arbeitspaket zu Arbeitspaket in der Umsetzung als kompetenter Partner zu beweisen, während man als Kunde die Gefahr der „Strategie des trojanischen Pferds“ seitens des Anbieters reduziert.

4. Zusammenfassung & Kollaborationsoptionen im Smart Lab

Wie in diesem Beitrag gezeigt wurde, ist es für die effektive Weiterentwicklung des Einkaufs von großer Bedeutung, zu wissen, wie man die Möglichkeiten des Digitalisierungsmarktes mit den Anforderungen des eigenen Unternehmens matchen kann und muss. Neben einem funktionalen Marktüberblick und der Diskussion der möglichen Potenziale wurde auch auf konkrete Quellen hingewiesen, die einem bei der Suche nach IT-Lösungen helfen. Im zweiten Teil des Beitrags wurde schließlich ein Referenzprozess zur zielgerichteten Softwareauswahl vorgestellt. Es wurde gezeigt, dass die effiziente IT-Anbieterauswahl stark vom Erfahrungswissen und einem guten Überblick über den Digitalisierungsmarkt im Einkauf abhängt, und somit temporäre Unterstützung empfehlenswert ist. Hier kann das Team des Supply (Chain) Management Competence Centers der FH JOANNEUM als neutraler Partner ohne Partikularinteressen unterstützen. Dabei kann – wenn hilfreich – auch auf die Ressourcen des Smart Production Labs zurückgegriffen werden. Dies ist einerseits für Demotermine von im Lab verfügbaren Digitalisierungslösungen im Einkauf sinnvoll, aber auch für den spezifischen Aufbau und die Analyse von firmenspezifischen UseCases außerhalb des eigenen operativen Tagegeschäftes.

Quellen:

AM Consult (2023). e-Procurement Longlist. Abgerufen am 24. April 2023 von https:// eprocurement-matchmaker.de/ Bogaschewsky, R. (2019). Digitalisierung in Einkauf und Supply Chain Management. In R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie

4.0 und digitale Transformation: betriebswirt-

schaftliche, technische und rechtliche Herausforderungen (S. 139–164). Springer Gabler. Bogaschewsky, R. & Müller, H. (2020). BME-Barometer „Elektronische Beschaffung 2020“. Abgerufen am 25.05.2023 von http:// downloads.cfsm.de/Studien/2020/Barometer_2020_komplett.pdf

Riemer, K. & Klein, S. (2002). Supplier Relationship Management im Rahmen des Partner Relationship Managements. In K. Hildebrand (Hrsg.), Supplier Relationship Management (S. 5-22). dpunkt.

Schnellbächer, W. & Weise, D. (2020). Jumpstart to Digital Procurement: Pushing the Value Envelope in a New Age. Springer.

Schweiger, J., Ortner, W., Busse, K. & Dieringer, T. (2009a). Roadmap to Procurement Excellence, Potenzialbetrachtung von SRMPortalen für ganzheitliche Beschaffungslösungen. o.V.

Schweiger, J., Ortner, W., Tschandl, M., Busse, K. (2009b). Supplier Relationship Management: Bewertung und Auswahl von SRM-Portallösungen. o.V.

Schweiger, J., Ortner, W., Hassa, U. & Tschandl, M. (2010). ROI-Analyse für webbasierte Einkaufsoptimierung, 2.Auflage. o.V.

Autor:innen:

Dr. Jörg Schweiger

Neben seiner Hochschultätigkeiten ist er Geschäftsführer des Beratungsunternehmens Minds & Elephant. Davor war er Geschäftsführer und Bereichsleiter in der Industrie. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis sind Professionalisierungsfragen von Industrieunternehmen und Führungskräfteentwicklung.

Dr. Christian Burkart

Nach dem Studium des Supply Chain Managements an der Wirtschaftsuniversität Wien, in dem er sich auf humanitäre Logistik fokussierte, war er mehrere Jahre als Post-Doc und Lecturer an mehreren Fachhochschulen und Universitäten tätig.

Dr. Sabine Hanusch

Nach dem Studium der Kunststofftechnik und der Promotion an der Montanuniversität Leoben war sie viele Jahre in Dienstleistungs- und Industrieunternehmen als Beraterin und in Managementpositionen von Geschäftsbereichs- und Betriebsleiterin bis zum CEO tätig und sammelte weitreichende Erfahrungen als HR-Managerin und Leiterin des Department Organisational Development.

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Dr. Jörg Schweiger

Associate Professor

(FH) am Institut Industrial Management, FH JOANNEUM und Leiter des MBA-Lehrgangs

Master of General Management

Dr. Christian Burkart Wissenschaftlicher

Mitarbeiter am Institut Industrial Management, FH JOANNEUM

Dr. Sabine Hanusch

Professorin am Institut Industrial Management, FH JOANNEUM

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Vom Prototyp zum weltweiten Roll-out: Eine technisch-wirtschaftliche Betrachtung anhand eines cyber-physischen Systems

Auf Basis eines digitalen Retrofits bei einer Bandsäge der voestalpine wurde mittels Sensorik und Datenanalyse der nicht wertschöpfende Luftschnitt während des Sägeprozesses identifiziert und an ein zentrales System übermittelt. Diese Prototypenentwicklung eines Cyber-Physical Production Systems (CPPS) erfolgte im Rahmen eines Industrial Research Projects im Smart Production Lab der FH JOANNEUM in Kapfenberg wobei die anschließende Industrialisierung und der Roll-out durch die voestalpine erfolgte. Darüber hinaus dient die entwickelte CPPS-Architektur als Basis für weitere Use Cases im Kontext von Predictive Maintenance und Predictive Quality. Eine besondere Herausforderung bei solchen Digitalisierungsprojekten ist neben der technischen Umsetzung, die Frage nach der wirtschaftlichen Bewertung. Im Rahmen dieses Beitrages werden die wesentlichen Schritte der Prototypentwicklung bis hin zu einem einsatzfähigen CPPS aufgezeigt, am Beispiel von CPPS die Vorteile, die sich durch den Einsatz im industriellen Kontext ergeben, beleuchtet und bezüglich ihrer ökonomischen Bewertbarkeit diskutiert.

1. Erfolgsgeschichte einer Kooperation von Wissenschaft und Industrie im Smart Production Lab

Seit der Eröffnung des Smart Production Labs der FH JOANNEUM in Kapfenberg ist die voestalpine High Performance Metals (HPM) ein wichtiger Kooperationspartner, mit dem laufend industrierelevante Projekte durchgeführt werden. Im Rahmen dieser Kooperation wurde eine Bandsäge, wie sie bei der voestalpine täglich im Einsatz ist, für Forschung, Projekte und der allgemeinen Nutzung im Smart Production Lab der FH JOANNEUM zur Verfügung

gestellt. Eines der ersten Projekte an dieser Säge war ein sogenannter „digitaler Retrofit“, um den Luftschnitt im Sägeprozess zu identifizieren. Dieser Luftschnitt repräsentiert die nicht-wertschöpfende Zeit vom Start der Säge bis zum Eindringen in das jeweilige Material.

In Bezug auf die voestalpine war dieses Projekt von besonderer Relevanz, da die Division High Performance Metals (HPM) eine hohe Varianz in den Produkten und Kundenaufträgen sowie eine unterschiedlich hohe Anzahl an Sägeschnitten in ihrem Tagesgeschäft aufweist (Eder, Eichler & Hackhofer, 2022, S. 64f).

Damit die Auslastung der Säge sowie die Planung der Aufträge effizient gestaltet werden kann, ist Transparenz über den gesamten Sägeprozess sowie speziell über den Luftschnitt Voraussetzung für weitere Optimierungen.

Der Prototyp dieses digitalen Retrofits wurde vom Institut Industrial Management an der FH JOANNEUM im Rahmen eines Auftragsforschungsprojekts gemeinsam mit Studierenden und der Unterstützung von wissenschaftlichen MitarbeiterInnen sowie Forschern entwickelt.

Zu Beginn des Retrofitting-Projektes war die Integration der unterschiedlichen Sensoren an der Säge

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Foto: © FH JOANNEUM
Claudia Brandstätter, Hannes Eberhard, Raphael Hartner, Martin Hackhofer, Julian Schmidt

und die Auswahl der optimalen Position von Vibrationssensoren essenziell für die Generierung aussagekräftiger Daten über den Luftschnitt. Diese Sensorsignale der Vibrations- und Stromsensoren wurden mithilfe eines Edge-Devices verarbeitet und visualisiert. Edge-Devices befinden sich am Rande eines Netzwerkes und können somit Daten mit geringer Latenz und hoher Datensicherheit visualisieren, aggregieren und analysieren. Dadurch konnten in weiterer Folge die drei Systemzustände Idle, Running und Cutting zur Schaffung der Transparenz eindeutig identifiziert werden. Abbildung 1 stellt die Parameter bei unterschiedlichen Probeschnitten dar (die Werte des Vibrationssensors sind in den oberen, jene des Stromsensors in den unteren beiden Abbildungen ersichtlich).

Die unterschiedlichen Stufen des Sägeprozesses sind deutlich in den visualisierten Stromdaten ersichtlich. Nach dem Einschalten der Säge und stillstehendem Sägeblatt ist somit der

Idle-Status mit einem Wert unter 1 Ampere klar ersichtlich (zu Beginn der Messung jeweils im linken Teil). Nach dem ersten Sprung in der Visualisierung ist der Running-Status erreicht, welcher das Äquivalent zum Luftschnitt darstellt. Dies bedeutet, dass das Sägeband in diesem Status bereits läuft, jedoch sich nicht im Materialschnitt befindet. Der letzte Sprung definiert schließlich den Cutting-Status, welcher wertschöpfend im Sägeprozess ist. Mit diesen Informationen und der zugrundeliegenden Infrastruktur können ineffiziente Prozessschritte identifiziert und zusätzliche Use Cases im Themenbereich Predictive Maintenance und Quality Systems entwickelt werden.

Im weiteren Verlauf wurde der entwickelte Prototyp der FH JOANNEUM durch die HPM-Division industrialisiert, um die weltweite Nutzung zu ermöglichen. Im Zuge dessen wurde die Architektur erweitert und angepasst, um den industriellen Anforderungen gerecht zu werden. Zu

diesen Aspekten eines Cyber-Physical Production Systems (CPPS) zählen unter anderem die Skalierbarkeit, Zuverlässigkeit, Datenschutz und Cybersicherheit, Wiederherstellungsfähigkeit und die Interoperabilität (Antão et al., 2018, S. 110f).

Die resultierende Systemarchitektur besteht aus drei grundsätzlichen Bereichen: Erstens, die Säge mit den unterschiedlichen Sensoren und der Anbindung zur speicherprogrammierbaren Steuerung (SPS). Darauf aufbauend, zweitens, das Edge Device in Form einer Siemens Edge Box. Hierbei werden containerisierte Applikationen genutzt, um die Daten aus dem technischen Prozess abzugreifen, aufzubereiten und an die Cloud weiterzuleiten. Als Basis für den CloudLayer fungiert hierbei Microsoft Azure, wobei der IoT-Hub Service als Einstiegspunkt für die Daten aus dem technischen Prozess dient. Diese werden dann von der Industrial Internet of Things (IIoT) Plattform ThingWorx von PTC genutzt, um den Endanwender eine Applikation zur Verfügung zu stellen. Die Visualisierungsoberfläche dieser Lösung ist in Abbildung 2 ersichtlich. Anhand dieses Dashboards ist der jeweilige Status der Aggregate ersichtlich und benötigte Auswertungen über die Produktivität und den Stillständen sind jederzeit abrufbar. Dadurch werden mögliche Optimierungspotenziale bei den angebundenen Aggregaten transparent.

In Zukunft soll diese Lösung in der HPM-Division einem weltweiten Rollout unterzogen werden, sodass alle Bandsägen der voestalpine digital integriert und Datentransparenz sowie Analysemöglichkeiten geschaffen werden. Zudem dient die entwickelte Architektur als Basis für weitere zukunftsträchtige Use Cases, wie beispielsweise Predictive Maintenance und Predictive Quality. Mithilfe von Predictive Maintenance wird es mög-

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Abbildung 1: Visualisierungsdashboard der Sensordaten Abbildung 2: Dashboards zeigen den Status auf Maschinenebene

lich sein, atypische Verhaltensmuster der Sensorwerte noch vor dem Eintreten von Qualitätsproblemen oder Ausfällen der Maschinen zu erkennen. Dadurch können Maschinenausfälle, hohe Reparaturkosten, sinkende Qualität sowie sinkende Arbeitsplatzsicherheit vermieden werden (Lughofer & Sayed-Mouchaweh, 2019, S. 1f).

2. Kostentreiber bei der Einführung von CPPS

Die Entscheidung für den Einsatz eines Cyber-Physischen-Systems ist ein investitionsintensiver Schritt, muss doch die IT-Architektur aufgebaut bzw. zumindest angepasst und eine entsprechende Vernetzung (IoT) geschaffen werden. Hierzu sind systemische Anforderungen wie Sensorik, Mikroelektronik (Embedded Devices), Vernetzung sowie auch Cloud

Computing und Big Data zu berücksichtigen, wobei alle Elemente mit Investitionskosten verbunden sind. Abbildung 3 fasst die wesentlichen systemischen Voraussetzungen für ein CPPS und deren Kostentreiber zusammen:

Betrachtet man die systemischen Anforderungen an und wesentlichen Kostentreiber von CPPS, lassen sich daraus folgende Erkenntnisse ableiten (Andelfinger & Hänisch, 2017; Feldbauer-Durstmüller, 2019; Lixenfeld 2016; Roth, 2016; Weigmann 2022):

Sensortechnik

Mit der Anschaffung und Instandhaltung von intelligenten Sensoren, lernfähiger und moderner Messtechnik, aber auch durch das Retrofitting von älteren Produktionsanlagen entstehen zusätzliche Abschreibungs- und Betriebskosten, letztere vor allem

aufgrund eines häufig hohen Energiebedarfs. Die Optimierung von Produktionsprozessen verursacht kurzfristig erhöhte Personalkosten, die jedoch mittel- bis langfristig durch ein damit verbundenes Einsparungspotenzial wettgemacht werden.

Mikroelektronik bzw. Embedded Systems

Eine verbesserte Vernetzung, zunehmende Leistungsfähigkeit der Systeme, kompaktere und leichtere Bauformen und letztendlich auch eine gesteigerte Anforderung an CyberSecurity spiegeln sich – ähnlich wie in der Sensortechnik – in Abschreibungs-, Betriebs- und, in weiterer Folge, steigenden Personalkosten wider.

Vernetzung

Zunehmende vertikale und horizontale Integration ist mit steigenden Ansprüchen der Kundenindividualisierung (Mass Customization), des Ausbaus der Digitalisierung von Geschäftssystemen und -prozessen, eines möglichst durchgängigen Datenaustauschs entlang der Wertschöpfungskette und der Homogenisierung und Vereinheitlichung von IT-Schnittstellen und Kommunikationsprotokollen verbunden. Auch hier lassen sich als wesentliche Kostenarten wieder Abschreibungs-, Betriebs-, Personal-, sowie Lizenz- und Servicekosten identifizieren.

Cloud Computing

Durch die Inanspruchnahme von externen Clouddienstleistern verschieben sich die – mit einer Anschaffungsinvestition im IT-Bereich einhergehenden – Abschreibungs-, Betriebs- und Wartungskosten zu Lizenz- und Servicekosten. Damit verbundene Entscheidungen – beispielsweise Datenvolumen, Datenspeicherkapazitäten und Datensicherheit (Cyber-Security) betreffend – werden diese Kosten zusätzlich erhöhen. Werden Clouddienstleistungen und/oder Abrechnungsmodelle falsch eingeschätzt, kann das zu Folgekosten der Fehlerbehebung durch verstärkten Personaleinsatz und damit verbundenen höheren Personalkosten führen.

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Abbildung 3: Systemische Anforderungen durch den Einsatz von CPPS und deren maßgebliche Kostentreiber

Big-Data

Für die Weiterentwicklung von Analytics Software sind entweder Investitionen in den Ausbau von IT-Systemen und den dahinterstehenden Prozessen notwendig, die Abschreibungs- und Betriebskosten verursachen oder aber erhöhte Lizenz- Service- und Personalkosten. Ähnlich wie beim Cloud Computing verursachen Datenspeicherkapazitäten und Datensicherheit zusätzliche Kosten in diesem Bereich.

3. Möglichkeiten der wirtschaftlichen Bewertung von CPPS

Als Ausgangsbasis für die Frage nach der Bewertung der Vorteilhaftigkeit von CPPS können aufgrund der identifizierten Kostenarten quantitative Verfahren der Investitionsrechnung herangezogen werden. Dabei unterscheidet man zwischen Verfahren der statischen und der dynamischen Investitionsrechnung (Busse von Colbe & Witte, 2018, S. 20). Erstere basiert auf der internen Unternehmensrechnung und stellt eine ein-periodische Betrachtung der Investitionswirkung (Ausnahme: Amortisationsrechnung) dar. Zu den in der Praxis am häufigsten angewandten statischen Verfahren gehören die Kostenvergleichs-, Gewinnvergleichs- und Rentabilitätsvergleichsrechnung, sowie die statische Amortisationsrechnung (Müller, 2019, S. 328). Die dynamische Investitionsrechnung berücksichtigt den zeitversetzten Anfall von Ein- und Auszahlungen durch Auf- oder Abzinsen eines entsprechenden Zahlungsstroms. Die gängigsten Verfahren sind die Kapitalwert-, Annuitäten-, interne Zinsfußmethode und die Berechnung der dynamischen Amortisationsdauer. Nun ist jedoch die Abschätzung der notwendigen quantitativen Parameter, wie etwa zukünftige Zahlungsströme, nicht ohne weiteres möglich, da 1. jede Digitalisierungsmaßnahme als individuelle Lösung gesehen werden muss, 2. die Ermittlung von geeigneten Werten mit hohem Aufwand verbunden bzw. oft nicht durchführbar ist, 3. die wesentlichen Vorteile bzw. Nutzenpotenziale, die sich durch den Einsatz von CPPS ergeben, wie z.B. digitaler Zwilling, Smart Maintenance, Flexibilisierung der Produktion und neue Geschäftsmodelle nur schwer quantifizierbar sind. So müssen den – durch

Abbildung

den Einsatz von CPPS zusätzlich entstehenden Kosten – eine Zeit- und Kostenersparnis, die sich z.B. durch gesteigerte Produktivität, verkürzte Durchlauf- und Stillstandzeiten sowie reduzierte Fehlerraten ergibt und – aus Mass Customization, steigender Kundenzufriedenheit und -bindung resultierende – höhere Umsätze gegenübergestellt werden.

Abbildung 4 fasst die wesentlichen Auswirkungen von CPPS auf den Unternehmenserfolg zusammen:

Zusätzlich zur Erfolgsauswirkung ist noch die Auswirkung auf die Vermögens- und Kapitalstruktur zu beachten. Notwendige Investitionen erhöhen die Anlageintensität, die Art der Finanzierung hat Einfluss auf die Eigenkapitalquote (sinkt bei Fremdfinanzierung).

4. Fazit

Durch die prototypische Entwicklung eines CPPS durch die FH JOANNEUM mit darauffolgender Industrialisierung und Roll-out seitens der voestalpine High Performance Metals, wurde ein wichtiger Schritt in Richtung der Digitalisierung der Produktion gegangen. Darauf aufbauend können in Zukunft weitere innovative Projekte und damit auch digitale Lösungen innerhalb des Stahlkonzernes der voestalpine umgesetzt werden.

Bei der ökonomischen Bewertung eines CPPS sind - abhängig vom digitalen Reifegrad – unterschiedlich viele systemische Anforderungen zu berücksichtigen, die zusätzliche Kosten, wie z.B. (erhöhte) Abschreibungen, Betriebs-, Personal-, sowie Lizenz- und Servicekosten verursachen können. Die Kosten und – aus der Einführung eines CPPS – resultierenden Vorteile, lassen

sich jedoch oft nicht genau beziffern. Damit stoßen quantitative Investitionsrechenverfahren an ihre Grenzen. Qualitative Methoden, wie die Kosten/ Nutzen- oder die Nutzwertanalyse, die auch nicht monetär quantifizierbare Einflussgrößen wie z.B. Umwelteinflüsse, soziale Faktoren, Qualität, Zeit oder Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigen, können daher sinnvolle Alternativen zur Entscheidungsfindung darstellen.

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Autor:innen:

Mag. Claudia Brandstätter

Claudia Brandstätter ist Senior Lecturer für Rechnungswesen am Institut Industrial Management der FH JOANNEUM Kapfenberg. Sie absolvierte das Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Karl-Franzens-Universität Graz und sammelte bereits während des Studiums Erfahrungen im Bereich Buchhaltung und Investition in einem Industrieunternehmen. Vor ihrer Tätig-

keit am Institut Industrial Management der FH JOANNEUM, war Claudia Brandstätter als Universitätsassistentin am Institut für Controlling und Unternehmensführung sowie als Referentin für verschiedene Bildungsinstitutionen im Hochschulbereich tätig.

Hannes Eberhard, BSc

FH JOANNEUM, Wissenschaftlicher

Mitarbeiter für Digital Retrofit & Industrial Machine Learning

Hannes Eberhard absolvierte das Bachelorstudium Industrial Management an der FH JOANNEUM in Kapfenberg im Jahr 2022 und befindet sich aktuell im Masterstudium International Industrial Management an der FH JOANNEUM in Kapfenberg. Hannes Eberhard ist seit Juli 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FH JOANNEUM in der Forschungsgruppe Digital Shopfloor und Stiftungsassistent in der Kooperation mit der voestalpine.

Dipl.-Ing. Raphael Hartner, MSc

FH JOANNEUM, Wissenschaftlicher

Mitarbeiter für IoT & Industrial Machine Learning

Raphael Hartner absolvierte das Masterstudium IT & Mobile Security sowie das Masterstudium International Industrial Management an der FH JOANNEUM in Kapfenberg. Aktuell befindet er sich in einem Doktorratsstudium an der TU Wien. Raphael Hartner ist seit 2019 wissenschaftlicher Mitar-

beiter in der Forschungsgruppe Digital Shopfloor und ist stellvertretender Laborleiter des Smart Production Labs an der FH JOANNEUM in Kapfenberg. Dipl.-Ing. Martin Hackhofer

voestalpine High Performance Metals

DIGITAL SOLUTIONS GmbH, Head of IIoT & Automation

Martin Hackhofer absolvierte das Masterstudium Engineering - Mechanical Engineering an der TU Wien. Nach dem Studium erlangte er darüber hinaus ein Operations Management

Certificate beim California Institute of Technology (Caltech) und war rund 15 Jahre in namhaften Unternehmen tätig. Seit 2021 ist Martin Hackhofer Head of IIoT & Automation bei der voestalpine High Performance Metals DIGITAL SOLUTIONS GmbH. Julian Schmidt, BSc

Julian Schmidt studierte zunächst Wirtschaftsingenieurswesen-Maschinenbau an der Technischen Universität Wien, ehe er das Bachelorstudium Industrial Management an der FH JOANNEUM in Kapfenberg abschloss. Im Zuge seines Bachelorstudiums absolvierte er diverse Praktika, allen voran bei der AVL List GmbH im Bereich der Brennstoffzellenentwicklung, sowie bei der Knapp AG im Bereich Intralogistikcontrolling. Aktuell befindet sich Julian Schmidt im Masterstudium Automatisierungstechnik-Wirtschaft an der FH Campus 02.

Wissenschaftlicher

Wissenschaftlicher

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Hannes Eberhard, BSc Mitarbeiter für Digital Retrofit & Industrial Machine Learning, FH JOANNEUM Mag. Claudia Brandstätter Senior Lecturer für Rechnungswesen am für Institut Industrial Management, FH JOANNEUM Kapfenberg Dipl.-Ing. Raphael Hartner, MSc Mitarbeiter für IoT & Industrial Machine Learning, FH JOANNEUM

Dipl.-Ing. Martin Hackhofer

Head of IIoT & Automation bei der voestalpine High Performance Metals DIGITAL SOLUTIONS GmbH

WING-Regional

10-jähriges Jubiläum des Studiengangs Wirtschaftsingenieurwesen

FH Kärnten feiert 10 Jahre Wirtschaftsingenieurwesen und setzt die erfolgreiche Veranstaltungsreihe „Wirtschaftsingenieure verbinden“ fort

„Problemstellungen in Industriebetrieben erfordern meist die Vernetzung von technischer und betriebswirtschaftlicher Lösungskompetenz. Genau über diese Fähigkeit verfügen unsere Wirtschaftsingenieurwesen-Absolvent*innen und agieren als Brückenbauer*innen zwischen Technik und Wirtschaft“, so Erich Hartlieb, FH Kärnten, Studiengangsleitung Wirtschaftsingenieurwesen.

Mitdem 10-jährigen Jubiläum des Studiengangs Wirtschaftsingenieurwesen wurde ein Meilenstein in der Geschichte der Fachhochschule Kärnten gefeiert. Dieser Studiengang brachte nicht nur den darauf aufbauenden Master „Industrial Engineering and Management“, sondern viele weitere regionsrelevante Initiativen hervor. Dazu zählt beispielsweise die 2014 gegründete Innovationswerkstatt, in welcher Studierende, Forscher*innen und Industriebetriebe in einem Co-Creation Ansatz gemeinsam an Produkt- und Service-Innovationen arbeiten.

Eine weitere Erfolgsgeschichte stellt das 2015 gegründete SmartLab dar – eine öffentlich zugängliche Prototyping-Werkstatt, die mit Smarten Technologien wie 3D Druck, Lasercutter, CNC-Fertigung ua. ausgestattet ist und im Technologiepark Villach sowie im Lakesidepark Klagenfurt angeboten wird.

Ein Jahr später fand die Eröffnung der Gründergarage statt – eine Serviceeinrichtung für angehende Unternehmer*innen auf ihrem Weg in die Selbstständigkeit. Die Gründergarage der Fachhochschule Kärnten ist mittlerweile in allen Studienbereichen erfolgreich verankert.

Der Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen ist auch in der Forschung

sehr aktiv und hat 2022 in den beiden Forschungsschwerpunkten „Innovation & Entrepreneurship“ und „Smart Production“ Projekte im Umfang von € 1.2 Millionen umgesetzt.

Die erfolgreiche Veranstaltungsreihe „Wirtschaftsingenieure verbinden“ legte dieses Jahr den Schwerpunkt auf das Thema „Talente & Industrie“. Die Keynote von DI Michael Viertler, Senior Partner bei McKinsey & Company beleuchtete das Thema „Industrielle Trends & Zukünftige Arbeitsumfelder“ aus einer internationalen Perspektive. Paul Amann referierte über sein Dissertationsprojekt, wobei der studierte Musiker und Wirtschaftsingenieur die Welt der Musik mit der 3D Druck-Technologie vernetzt. Im anschließenden Workshop-Format von Josef Tuppinger wurden die gegenseitigen Erwartungen von Industrie und jungen Talenten intensiv diskutiert.

Die Wirtschaftsingenieure durften Studierende, Absolvent*innen und Partner*innen aus Wissenschaft, Öffentlicher Verwaltung und Industrie begrüßen.

Auch die Ehrengäste wie Landtagspräsident Ing. Reinhard Rohr, der Villacher Bürgermeister Günther Albel, Geschäftsführer DI Siegfried Spanz, Rektor Dr. Peter Granig, Dr. Arthur Primus von der Wild GmbH, Mag. Martina Eckerstdorfer vom DIH Süd, Mag. Hans Schönegger und Dr. Johann Lintner vom Vorstand der Privatstiftung Kärntner Sparkasse sowie DI Helmut Wiedenhofer von Joanneum Research waren mit Interesse dabei.

Rückfragen & Kontakt: FH Kärnten

DI Dr. Erich Hartlieb

Studiengangsleitung Wirtschaftsingenieurwesen

T: +43 (0)5 90500-2220

E: e.hartlieb@fh-kaernten.at

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Foto:FH Kärnten

Wie wirtschaftlich ist Robotic Process Automation?

Insights aus einer Citizen-Development-Fallstudie im industriellen Einkauf

Robotic-Process-Automation (RPA) ist eine Technologie, bei der repetitive, regelbasierte Aufgaben über SoftwareBenutzeroberflächen automatisiert und weitgehend ohne menschliche Beteiligung ausgeführt werden. Der CitizenDevolper-Ansatz ermöglicht die Entwicklung solcher Software-Roboter durch Mitarbeiter:innen ohne weitreichende IT- bzw. softwaretechnische Kenntnisse, dafür mit Kenntnissen zu den zu automatisierenden Prozessen. Da bestehende qualitative fallstudienbasierte Forschung zu RPA in Bezug auf die Anzahl und Vielfalt der untersuchten Organisationen limitiert ist und es in der Literatur noch wenige Untersuchungen über die Wirtschaftlichkeit solcher Lösungen gibt, wurde in einer Fallstudie eine RPA-Citizen-Development-Lösung für einen ausgewählten Prozess im industriellen Einkauf entwickelt, und dessen Wirtschaftlichkeit überprüft. Neben der kurzen Amortisationsdauer von 1,15 Jahren liefert die RPA-Lösung hochwertige Daten für das laufende Prozess-Monitoring. Dieser Beitrag soll Unternehmen dazu ermutigen, RPA Citizen Development zu fördern, um regelbasierte Tätigkeiten, die häufig wiederkehren und monoton sind, an Software-Roboter auszulagern, ohne eine eigene RPA-Expert:innenorganisation aufbauen zu müssen.

I. Robotic Process Automation Entwicklungen und Problemfelder

„Wenn jedes Werkzeug auf Geheiß, oder auch vorausahnend, das ihm zukommende Werk verrichten könnte, wie des Dädalus Kunstwerke sich von selbst bewegten oder die Dreifüße des Hephästos aus eignem Antrieb an die heilige Arbeit gingen, wenn so die Weberschiffe von selbst webten, so bedürfte es weder für den Werkmeister der Gehilfen noch für die Herren der Sklaven.“ – Aristoteles (Zitat-Idee: Precht, 2022).

Zur Erreichung Aristoteles‘ Vision einer Befreiung der Menschheit durch Vollautomatisierung ist es noch ein

langer Weg. Die aufstrebende und 2023 in der IT-Trend-Studie von Capgemini („Studie IT-Trends“, 2023) als „in Kürze etabliert“ klassifizierte Technologie Robotic Process Automation (RPA) ist jedoch ein erster Schritt in der Geschäftsprozessautomatisierung (Flechsig et al., 2022, S. 1). Mit RPA lassen sich regelbasierte, wiederkehrende Tätigkeiten, die Mitarbeiter:innen in verschiedenen IT-Systemen ausführen, applikationsübergreifend mittels Softwareroboter automatisieren. Ein Beispiel hierfür ist das Kopieren von Daten aus einem Excel-Dokument in ein CRMSystem. Dies ergibt eine breite Anwendungspalette, die es ermöglicht, Mitarbeiter:innen von monotonen,

nicht unmittelbar wertschöpfenden Aufgaben zu entlasten (Pramod, 2021, S. 1562f.; Smeets et al., 2019, S. 10f.; van der Aalst et al., 2018, S. 269). RPA im klassischen Sinne hat jedoch auch seine Grenzen. Um etwa Texte lesen und verstehen zu können oder autonom Entscheidungen zu treffen, bedarf es des ergänzenden Einsatzes künstlicher Intelligenz (Tschandl et al., 2020, S. 36).

RPA verspricht, dass Fachpersonen mit wenigen bis keinen Programmierkenntnissen Automatisierungslösungen umsetzen können (Graf et al., 2021, S. 87). Damit sind RPAEntwicklungsumgebungen auch den sogenannten Low- bzw. No-CodeUmgebungen zuzurechnen. Beide

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Johannes Dirnberger, Kitti Orsolya Posner, Martin Tschandl Foto: © kirill_makes_pics

Begriffe werden hier synonym verwendet, denn der Trend hin zur autonomen Code-Erstellung verstärkt die No-Code-Entwicklung (Hurlburt, 2021, S. 4). In einer Low-Code-Entwicklungsumgebung ersetzen intuitive Drag-and-Drop-Schnittstellen die Programmierung und vorcodierte Workflows ermöglichen die einfache Automatisierung komplexer Interaktionen und Transaktionen. Die Fachpersonen, welche darin u. a. auch RPA-Lösungen entwickeln, sind die sogenannten Citizen Developers (Waxer, 2020).

Citizen Developers (CD)

Das Potenzial von CD für Organisationen zeigt sich vor allem angesichts des gegenwärtigen Fachkräftemangels. Vielerorts stehen Entscheidungsträger:innen in wichtigen und dringenden Digitalisierungsprojekten vor der erheblichen Herausforderung, dass qualifizierte Softwareentwickler:innen fehlen und bestehende IT-Abteilungen überlastet sind. Forrester Research schätzt, dass alleine in den USA bis 2024 ca. 500.000 Softwareentwickler:innen fehlen. CD können hier Abhilfe schaffen, denn sie sind in der Lage innovative Low-Code-Lösungen zu entwickeln, die den Anforderungen ihrer Organisationen gerecht werden, ohne dass sie über weitreichende ITKenntnisse verfügen müssen (Waxer, 2020). Dennoch beobachten Flechsig et al. (2022, S. 11), dass nach wie vor IT-Abteilungen oder Beratungsunternehmen die RPA-Bot-Programmierung übernehmen.

In der Literatur finden sich wenige Belege zur Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit von RPA-Lösungen, die von CD entwickelt wurden. Auch weisen manche Autor:innen darauf hin, dass bestehende qualitative Fallstudien-basierte Forschung zu RPA in Bezug auf die Anzahl und Vielfalt der untersuchten Organisationen limitiert ist, was allerdings auch auf andere qualitative Untersuchungen zutrifft (Flechsig et al., 2022, S. 15). Daher wird nachfolgend in einer Fallstudie eine RPA-Citizen-Development-Lösung für einen Einkaufsteilprozess der voestalpine BÖHLER Edelstahl (in Folge kurz BEG) in UiPath entwickelt und umgesetzt, um deren Wirtschaftlichkeit zu überprüfen.

2. Forschnungsdesign – Durchführung der RPA-Fallstudie im Einkauf

BEG ist Teil des Konzerns voestalpine AG, der seine rund 500 Unternehmen in über 50 Ländern in die vier Divisionen Steel, Metal Engineering, Metal Forming und High Performance Metals (HPM) gliedert. HPM will seine Wettbewerbsfähigkeit unter anderem durch Digitalisierungsprojekte und den damit intendierten Kostensenkungen und Effizienzsteigerungen verbessern. Eine konkrete Maßnahme hierfür ist die Einführung und Nutzung von RPA-Technologie, die in Zukunft zu einer Kernkompetenz werden soll. Das in dieser BEG-Fallstudie vorgestellte RPA-Implementierungsprojekt folgte einem strukturierten Ansatz in sechs Schritten:

(1) Prozessidentifikation, (2) Ist-Prozess-Dokumentation, (3) Projektdefinition, (4) Sollprozessdefinition, (5) Umsetzung und (6) Prozesssteuerung und -überwachung. Dieses Vorgehensmodell der voestalpine wurde in Anlehnung an den Six- Sigma-Kernprozess „DMAIC“ (u.a. Condé et al., 2023) entwickelt.

2.1. Prozessidentifikation

Im ersten Schritt sind jene Prozesse auszuwählen, die für eine RPA-Automatisierung geeignet erscheinen. Das ist eine Herausforderung, denn nicht alle Unternehmensprozesse sind für die Automatisierung durch RPA geeignet, sei es, weil die Automatisierung tiefergehend über ERP- oder ähnliche Systeme erfolgt, oder weil technische oder organisatorische Komplexitätsgründe dagegensprechen. Zusätzlich sind aus den automatisierbaren Prozessen jene herauszufiltern, deren Automatisierung mittels RPA sich auch als wirtschaftlich rentabel erweist. Zur Bewältigung dieser Herausforderung liefert die Literatur jedoch zahlreiche Vorschläge und Übersichten zu möglichen Auswahlkriterien (dazu siehe u. a. Tschandl & Möstl, 2021). Um das RPA-Potenzial eines Prozesses abschätzen zu können, nutzt BEG eine Evaluierungscheckliste mit ebensolchen technischen Machbarkeitskriterien (z. B. verwendete Programme und Schnittstellen) und wirtschaftlichen Kriterien (z. B. Prozesshäufigkeit). Es ist zunächst uner-

heblich, ob die Automatisierung mittels RPA erfolgt – alle Ideen werden in einer Datenbank gespeichert –, denn auch Prozesse, deren Automatisierung heute noch umständlich ist, können mit voranschreitender Technologie zukünftig für eine Automatisierung interessant sein. In dieser Fallstudie wurde mit dieser Methode der monatliche Prozess der Tankdatenübertragung identifiziert. Der Prozess war monoton, die manuell zu übertragenden Datenmengen nahmen signifikant zu, die Buchung der Daten auf Monatsbasis war zu intransparent und Übertragungsfehler schwierig zu identifizieren bzw. zu korrigieren. Eine manuelle tägliche Buchung hingegen hätte viele zusätzliche Arbeitsstunden verursacht. Damit erwies sich dieser Ablauf anhand der Checklisten-Kriterien als grundsätzlich für eine Automatisierung mittels RPA geeignet.

2.2. Ist-Prozess-Dokumentation

Die Software „Autopol“ unterstützt das Tankstellen- und FuhrparkManagement. Sie ermöglicht unter anderem, dass nach jeder Datenabfrage tabellarische Darstellungen aller Zapfsäulen und angeschlossenen Tanks angezeigt, und die Daten in andere Programme (z. B. SAP) zur Weiterverarbeitung übertragen werden können. Bei BEG übertrug der Einkauf die Fuhrparkdaten bisher monatlich aus Autopoll in das ERP-System (SAP) und verbuchte den Warenausgang. Ziel der RPAAutomatisierung ist es nun, dass dieser Vorgang in Zukunft täglich von RPA-Bots durchgeführt wird. Somit liegen die Warenausgangsbuchungen ohne Mitarbeiter:innen-Ressourcen tagesaktuell vor. Weisen die Tankdaten im Abgleich mit SAP Fehler auf („rote Ampel“), soll das System automatisch eine E-Mail zur Korrektur an die zuständigen Mitarbeiter:innen senden.

Zur transparenten Darstellung des Prozesses wurde der genaue Ablauf anhand der Standardnotationsform BPMN 2.0 im Business Process Management Tool ADONIS als Grundlage für die Prozessautomatisierung modelliert. Zusätzlich musste der modellierte Ablauf auch auf Ebene der Benutzeroberfläche („Mausklick-

43 WINGbusiness 2/2023 TOP-THEMA

Ebene“) mittels Screenshots beschrieben werden, um die genauen Schritte des Software-Roboters festzuhalten. Dabei wurde auch die durchschnittliche Netto-Bearbeitungszeit der ausführenden Mitarbeiter:innen auf Sekundenbasis dokumentiert, um im weiteren Projektverlauf die Wirtschaftlichkeit der Automatisierung beurteilen zu können. In der BEGFallstudie verursachte der Prozess bisher eine durchschnittliche NettoBearbeitungszeit von 15 Minuten.

2.3. Projektdefinition

Bei der Bot-Entwicklung steht deren Skalierbarkeit und die spätere Migration zu anderen Lösungen im Vordergrund. Im Rahmen von RPAEntwicklungsprojekten sollten die Kenntnisse von Entwickler:innen und Berater:innen sowie die bei Betrieb und Wartung von Bots erworbenen Fähigkeiten kontinuierlich dokumentiert werden (Plattfaut et al., 2022, S. 5). Die Dokumentation dieser Fallstudie erfolgte auf Basis von drei Dokumenten, einem Video und dem Berechnungs-Sheet zur Beurteilung der Wirtschaftlichkeit: In einer ersten Projektdokumentation halten Citizen Developers (CD) ihre Erfahrungen fest. Im „Project Definition Document“ wird das Projekt ausführlich für die IT-Abteilung dokumentiert, was wichtig für die Bot-Verwaltung und etwaige zukünftige Bot-Adaptionen durch die IT ist. Mittels One Pager werden die Eckpunkte für alle Mitarbeiter:innen und das Management transparent und zugänglich gemacht. Im Video werden die Hintergründe der Automatisierung, der automatisierte Prozess sowie die in das Projekt involvierten Personen vorgestellt. Schließlich weist das Berechnungs-Sheet zur Beurteilung der Wirtschaftlichkeit, welches methodisch auf der Amortisationsrechnung basiert, zunächst eine Plan-Amortisationsdauer aus.

Neben dem möglichen Einsparungspotenzial, welches sich aus der Differenz der Bearbeitungszeiten im „händischen“ Prozess zu jenen im RPA-Prozess (Netto-Bearbeitungszeit), multipliziert mit der Prozesshäufigkeit, ergibt, sind die folgenden Parameter wesentlich:

„ Entwicklungskosten: Diese setzen sich aus den Stunden der CD sowie erforderlichen Schulungen durch die IT, multipliziert mit den jeweiligen Kostensätzen pro Stunde zusammen. Um die gesamten Schulungsstunden dem zu automatisierenden Prozess zurechnen zu können, wird bei BEG davon ausgegangen, dass ein CD pro Jahr zehn Prozesse mittels RPA automatisieren kann.

„ Jährliche RPA-Betriebskosten: Für die Berechnung der jährlichen RPA-Betriebskosten ist zunächst festzulegen, wie viel Zeit der Bot zur Ausführung des Prozesses im Vergleich zu den zuvor involvierten Mitarbeiter:innen benötigt. Anhand der variablen Bot-Kosten pro Minute werden somit die jährlichen Kosten ermittelt. Hinzukommen die jährlichen Lizenzkosten (anteilig, Annahme: zehn automatisierte Prozesse pro Jahr) und die Wartungskosten (Kosten pro Stunde Wartung).

Die über die Prozesshäufigkeit hochgerechnete Netto-Bearbeitungszeit wird mit einem Netto-Stundenkostensatz (siehe Ist-Berechnung in Tabelle 1 unten, wo auch eine für die Netto-Berechnung notwendige „Netto-Arbeitszeit/Jahr“ schrittweise ausgewiesen wird) multipliziert, um das mögliche jährliche Einsparungspotenzial abschätzen zu können. Geschmälert wird dieses jährliche Einsparungspotenzial durch die angeführten jährlichen RPA-Betriebs- und Wartungskosten, wodurch sich die Netto-Einsparung (€) ergibt. Werden die gesamten Entwicklungskosten durch die jährliche Einsparung abzüglich der Betriebs- und Wartungskosten dividiert, ergibt sich eine PlanAmortisationsdauer von 1,7 Jahren. Kritisch zu betrachten ist in dieser Berechnung die Annahme über die Jahres-Netto-Arbeitszeit der Mitarbeiter:innen. Wird diese zu hoch angenommen, weil etwaige sachliche und/oder persönliche Verteilzeiten nicht erhoben und/oder unterschätzt werden, so fällt die geplante Amortisationsdauer gegenüber der tatsächlichen Amortisationsdauer fälschlicherweise zu lange aus. Setzt man diesen Wert jedoch zu niedrig an, so besteht wiederum das Risiko,

dass der Bot eine zu kurze Amortisationsdauer aufweist.

2.4. Sollprozess-Definition

Die Entwicklung des Sollprozesses erfolgte in mehreren BrainstormingWorkshops, um die Schritte im Prozess zu vereinfachen und die Fehleranfälligkeit im Vorhinein abzufedern. Die am Sollprozess beteiligten Anwendungen neben Autopoll, sind MS Editor, SAP und MS Outlook, wobei MS Outlook nur beim Auftreten eines Fehlers Verwendung findet (Versendung von Warn-E-Mails). Die Sollprozessmodellierung erfolgte ebenso anhand der BPMN 2.0 in ADONIS.

2.5. Umsetzung in UiPath

Die RPA-Software UiPath ist in den Versionen StudioX (einfache Anwendung ohne Programmierkenntnisse) und Studio (fortgeschrittene Automatisierung durch Definition von Variablen) verfügbar (UiPath, o. J.). Die CD, welche den hier beschriebenen Prozess automatisierte, hatte vorher noch nicht mit UiPath gearbeitet und sich die erforderlichen Kenntnisse über die kostenlosen UiPath-Academy-Kurse angeeignet. Mithilfe des zuvor entwickelten Sollprozesses war es möglich, den Bot in nur 30 Stunden zu programmieren Im Anschluss wurden noch einmal 30 Stunden für interne Tests, Vereinfachungen und Verbesserungen des Prozesses aufgewendet. Funktioniert der Bot fehlerfrei, wird er von der IT verwaltet. Zur Standardisierung künftiger CD-Lösungen, wird bei BEG fortan ausschließlich Studio verwendet und die Variablen von der IT definiert.

2.6. Prozesssteuerung/-überwachung

Durch die Ausführung des Bots in UiPath ist fortan ein kontinuierliches Prozesscontrolling inklusive etwaiger Steuerungsmaßnahmen möglich. Neben automatisierten Warn-EMails bei Fehlern, bietet vor allem das monatliche Reporting (siehe schematischer Auszug in Abbildung 1) über die RPA-Einsparungen einen Mehrwert. Diese werden auch in Fol-

44 WINGbusiness 2/2023 TOP-THEMA

ge herangezogen, um die tatsächliche Amortisationsdauer zu ermitteln. Die Ergebnisse aus der CD-RPAUmsetzung werden nachfolgend beschrieben.

Bot rechnet sich somit nach rund 14 Monaten und wird neben den sonstigen Vorteilen – kontinuierliche Kosteneinsparungen erbringen.

4. Conclusio

weder Kosteneinsparungen realisiert noch Entlastungspotential gehoben werden. Denn diese finden in der Realität nur statt, wenn…

1. ...dadurch keine regelmäßigen Überstunden mehr anfallen,

2. ...und/oder für die reduzierte Stundenzahl aktiv und bewusst neue/ zusätzliche wertschöpfende Aufgaben vereinbart wurden,

3. ...oder durch tatsächliche Reduzierung der Arbeitszeit bzw. Versetzung/Kündigung/Nichtnachbesetzung (bei größerer Stundenanzahl).

Die tatsächliche Amortisationsdauer der umgesetzten RPA-Lösung in der BEG-Fallstudie zeigt folgende Istwerte (Details siehe Abbildung 2):

„ Entwicklungskosten: Die Kosten für das CD fielen insgesamt um 50 % niedriger aus, da Entwurf, Implementierung und Testing des automatisierten Prozesses nur 60 der geplanten 120 Stunden in Anspruch nahmen.

„ Jährliche RPA-Betriebskosten: Der prozentuelle Anteil der geplanten Bearbeitungszeit des Bots erhöhte sich, weil dieser nur 2-mal und nicht wie angenommen 6-mal schneller als Mitarbeiter:innen arbeitet, wodurch sich die jährlich geplanten variablen Bot-Kosten und somit die RPA-Betriebskosten erhöhten. Der Wartungsaufwand wird von der IT je "T-Shirt Sizes“ („small“, „medium“, „large“) pro Stunde eingeschätzt und mit dem Personalkostensatz multipliziert.

Der Wartungsaufwand für die vorliegende Automatisierung wurde mit 2 h/Jahr als „small“ eingeschätzt. Die tatsächliche Amortisationsdauer fiel mit 1,15 Jahren schlussendlich über 30 % kürzer als geplant aus. Der

Nach einem anfänglichen RPA-Hype haben die Unternehmen nun realistischere Erwartungen an die Technologie. Die derzeitige Version sieht eine durchgängige Automatisierung als Mensch-Roboter-Kollaboration vor, bei der einige Tätigkeiten als automatisierbar angesehen werden, während andere weiterhin von Menschen auszuführen sind (Cabelo Ruiz et al., 2022, S. 1). Neben der Fehlervermeidung liegt ein großes RPA-Potenzial in der Einsparung von Personalkosten bzw. in einer Entlastung der Mitarbeiter:innen. Die Fallstudie bestätigt mit einer Amortisationsdauer von 1,15 Jahren die Literatur und zeigt zudem auf, das RPA-Lösungen für den Produktivbetrieb von CD entwickelt werden können. Jedoch ist Vorsicht geboten. Van Hoek et al. (2022, S. 291), die Einblicke in die RPA-Umsetzung in der Beschaffung bei Maersk geben, machen etwa darauf aufmerksam, dass eine Organisation bei einer allmählichen, etappenweisen Automatisierung im ungefähr gleichen Ausmaß neue Aufgaben hervorbringen wird, um Mitarbeiter:innen zu beschäftigen. Derartige mögliche Fehlentwicklungen sind äußerst ernst zu nehmen, weil sonst

Mit der Verbesserung der RPATechnologie und der Verbindung zur künstlichen Intelligenz, werden sich darüber hinaus zukünftig neue Automatisierungsmöglichkeiten eröffnen (Flechsig et al., 2022, S. 1). Dies wirft unweigerlich die Frage auf, ob sich Aristoteles‘ Vision nicht doch noch bewahrheiten wird und ob eine „Vollautomatisierung“ tatsächlich zu mehr Freiheit oder gar einer Verschärfung sozialer Missstände, beispielsweise durch weitreichende Jobverluste, und dadurch in Summe sogar weniger Freiheit für Menschen führen wird. Es liegt jedenfalls an Gesellschaft und Politik, Etabliertes vor dem Hintergrund der hier skizzierten Automatisierungsmöglichkeiten und -entwicklungen zu hinterfragen und

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3. Ergebnisse – Amortisationsdauer RPA-Lösung Abbildung 1: Prozess-Monitoring in UiPath Tabelle 1: Ist-Berechnung Amortisationsdauer

Fehlentwicklungen innovative Lösungen entgegenzusetzen.

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Waxer, C. (2020). PMI BrandVoice: What Is Citizen Development? The Low-Code/ No-Code Revolution Organizations Should Go All In On. Forbes. https:// www.forbes.com/sites/pmi/2020/12/01/ what-is-citizen-development-the-lowcodeno-code-revolution-organizationsshould-go-all-in-on/

Autor:innen:

Dipl.-Ing. Johannes Dirnberger ist Hochschullektor am Institut Industrial Management der FH JOANNEUM in Kapfenberg, wo er seit 2016 tätig ist. Seit 2021 beschäftigt er sich während seines Doktoratsstudiums in Industrial and Information Engineering an der Universität in Udine mit der Digitalisierung und Automatisierung von Beschaffungsprozessen. Dipl.-Ing. Dirnberger ist WINGMitglied und Marketingvorstand des Industrial Management Club Kapfenberg (IMC).

Kitti Orsolya Posner studierte Industrial Management an der FH JOANNEUM in Kapfenberg. Im Jahr 2021 kam sie als Trainee zur voestalpine BÖHLER Edelstahl GmbH & Co KG und arbeitete als RPA Citizen Developer. Seit August 2022 ist sie im Einkauf als Category Manager tätig.

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Johannes Dirnberger Kapfenberg Kitti Orsolya Posner RPA Citizen Developer voestalpine BÖHLER Edelstahl GmbH & Co KG Prof. Dr. Martin Tschandl Leiter des Instituts Industrial Management | FH JOANNEUM

Wettbewerbsfähigkeit durch zukunftsfähige, menschzentrierte Arbeitsplätze: Assistenzsysteme und neue Formen der Zusammenarbeit im virtuellen Raum

Vor allem im Hinblick auf den demografischen Wandel und ein geringes Wachstum der Arbeitsproduktivität trägt die zukunftsfähige, menschzentrierte Arbeitsplatzgestaltung zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit österreichischer Unternehmen bei. Anstatt Mitarbeiter:innen durch digitale Technologien zu ersetzen, gilt es, sie bei kognitiv und physisch anspruchsvollen Aufgaben zu entlasten. Durch eine effiziente Informationsbereitstellung, sichere und ergonomische Arbeitsplatzgestaltung und die Ermöglichung ortsunabhängiger Kollaborationen können Prozesse effizienter gestaltet und die Arbeitsproduktivität gesteigert werden. Im Projekt ICON wird an der FH JOANNEUM eine Methodik entwickelt, um Unternehmen auf dem Weg zum zukunftsfähigen, menschzentrierten Arbeitsplatz zu unterstützen und neue Formen der semi-virtuellen und virtuellen Zusammenarbeit mit Hilfe digitaler Assistenzsysteme zu ermöglichen.

1. Einleitung

Die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Österreich ist rückläufig. Im europäischen Vergleich verfügt Österreich über ein hohes wirtschaftliches Entwicklungsniveau, jedoch hat sich die Wettbewerbsposition im vierten Quartal 2022 im EUVergleich verschlechtert.

Dies ist unter anderem auf stagnierende Entwicklungen bei Investitionen und geringe Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität zurückzuführen. Vor allem neue EU-Mitgliedsstaaten schließen durch technologische Aufholprozesse und ein damit verbundenes Produktivitätswachstum auf (Graf, 2023, S. 1f.). Zudem stellt der demografische Wandel die Unternehmen zunehmend vor

Herausforderungen (Peneder et al., 2022, S. 809ff.).

Häufig wird der Einsatz digitaler Technologien mit der Automatisierung der Produktion gleichgesetzt, dabei können diese gezielt dazu genutzt werden, um Mitarbeiter:innen zu unterstützen, sowie die Effizienz und Wirtschaftlichkeit des Unternehmens zu steigern (Bendig, 2021, S. 20ff.). Die Entwicklung und Umsetzung innovativer Technologien und Methoden zur Steigerung unternehmerischer Flexibilität ist entscheidend. Es wird immer wichtiger, Prozesse digital zu konzipieren, das Arbeitsumfeld humanzentriert zu gestalten und Mensch-Maschinen Interaktionen voranzutreiben sowie Zugänge für ortsunabhängige Kooperationen zu schaffen (Günther et al., 2022, S. 1ff.).

Der Fokus liegt in Zukunft neben der Effizienz- und Produktivitätssteigerung von Produktionsprozessen (Fraunhofer IPK, 2022, S. 10ff.), auf der Entwicklung neuer Arbeits- und Organisationskonzepte und Gestaltung zukunftsfähiger, menschzentrierter Arbeitsplätze (Günther et al., 2022, S. 1ff.). Eine produktive und sichere Arbeitsgestaltung und die Implementierung wandlungsfähiger Prozesse tragen bedeutend zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit bei (Frost et al., 2020, S. 76ff.). Durch die menschzentrierte und ergonomische Gestaltung von Produktionsarbeitsplätzen kann die Effizienz und Produktivität der Mitarbeiter:innen gefördert und somit einer Überbelastung entgegengewirkt werden (Günther et al., 2022, S. 2). Digitale Assistenzsy-

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Josua Steger, Klaus Seybold, Sabrina Sorko Foto: ©Josua Steger

steme gewinnen an Bedeutung, da der technische Fortschritt genutzt wird, um Mitarbeiter:innen bei sowohl schweren, monotonen als auch bei kognitiv herausfordernden Aufgaben zu entlasten (Apt et al., 2018, S. 9). Zudem verändern sie die Art der Kommunikation, Möglichkeit der Teilhabe und das Arbeitsumfeld (Schlink, 2020, S. 8ff.).

Im Rahmen des FFG geförderten Projekts „ICON - Immersive CoCreation Hub“ wird an der FH JOANNEUM eine standardisierte Methodik zur Gestaltung zukunftsfähiger, menschzentrierter Arbeitsplätze entwickelt. Der Fokus liegt auf der kollaborativen Zusammenarbeit sowohl in zwischenmenschlichen Szenarien als auch bei Mensch-Maschine Interaktionen. Ziel ist der Aufbau einer breit zugänglichen, einheitlichen technologischen Entwicklungsbasis für die kollaborative Zusammenarbeit im semi-virtuellen und virtuellen Raum und die Umsetzung von Anwendungsszenarien zur effizienten, sicheren und ergonomischen Arbeitsplatzgestaltung. Am Projekt sind die Institute für Angewandte Produktionswissenschaften, Industriewirtschaft, Aviation, Radiologie, Design & Kommunikation und Informationsmanagement beteiligt.

Ziel des Artikels ist aufzuzeigen, welche Möglichkeiten es für Unternehmen gibt, die Mitarbeiter:innen durch Assistenzsysteme zu unterstützen, wie Prozesse durch Kollaborationen im virtuellen Raum effizient und wie Arbeitsplätze zukunftsfähig und menschzentriert gestaltet werden können.

2. Assistenzsysteme

Es kann grundsätzlich zwischen kognitiven und physischen Assistenz-

systemen unterschieden werden. Kognitive Assistenzsysteme dienen der bedarfsgerechten Informationsbereitstellung in Echtzeit und kommen bei Montageprozessen, bei der kollaborativen Zusammenarbeit und zu Schulungszwecken zum Einsatz. (Schlink, 2020, S. 8ff.). Physische Assistenzsysteme unterstützen bei körperlich anstrengenden Aufgaben, gleichen nachlassende körperliche Fähigkeiten aus und können zur Prävention dieser beitragen (Apt et al. 2018, S. 8).

2.1 Kognitive Assistenzsysteme

Assistenzsysteme zur kognitiven Unterstützung lassen sich in drei Kategorien unterteilen: Hilfesysteme stellen vorhandene Informationen, wie Arbeitsanweisungen, in digitaler Form am Arbeitsplatz bereit. Adaptive Assistenzsysteme erfassen Arbeitsvorgänge und Werkerbewegungen mittels Sensoren und ermöglichen die situationsbedingte Informationsbereitstellung und Bewegungsanalysen zur Optimierung von Prozessen und des Arbeitsplatzes. Tutorielle Assistenzsysteme unterstützen durch lernförderliche Arbeitsumgebungen. Dies können beispielsweise Ausbildungs- und Trainingssysteme, Wissensdatenbanken und Unterstützung bei technischen Services sein. Hier sind besonders Datenbrillen, die Extended Reality Technologien nutzen, zu nennen (Apt et al. 2018, S. 8).

Extended Reality ist der Überbegriff für drei Technologien. Augmented Reality (AR), Mixed Reality (MR) und Virtual Reality (VR). In AR werden Objekte der realen Welt durch virtuelle Informationen überlagert. Diese Objekte sind durch den Nutzer nicht veränderlich. In MR werden virtuelle Objekte in den realen Raum eingebettet und eine Interaktion in Echtzeit ist möglich. VR-Technologien lassen den Nutzer vollständig in die simulierte digitale Welt eintauchen (Farshid, 2018, S. 2).

Mit Hilfe von XR-Brillen können Produktionsmitarbeiter:innen beispielsweise virtuelle Arbeitsanweisungen direkt ins Sichtfeld eingeblendet werden. Die Steuerung der Brille erfolgt dabei durch Gestik und

Sprache. Die Anwender:innen haben dadurch beide Hände frei und müssen den Blick nicht vom Arbeitsplatz zu einem Bildschirm oder analogen Anweisungen wenden. Abbildung 2 zeigt ein im Smart Production Lab der FH JOANNEUM umgesetztes Anwendungsszenario. Der Bildschirm auf der rechten Seite zeigt eine LiveÜbertragung der Anwendersicht. Es sind virtuelle Arbeitsanweisungen in Form der zusammenzubauenden Uhr und eines Pfeils, der das benötigte Werkzeug zeigt, zu sehen.

2.2 Physische Assistenzsysteme

Um Arbeitsbewegungen von außen zu unterstützen, werden Exoskelette genutzt. Unter Exoskeletten werden mechanische Stützstrukturen verstanden, die am Körper getragen werden. Sie sollen Bewegungsabläufe wie das Heben und Senken von Lasten oder statische Tätigkeiten wie das Arbeiten über Schulterhöhe unterstützen (Hoffmann et al., 2022, S. 68). Ziel

ist es, dass Personen während der Arbeit weniger ermüden und eine höhere Leistung erbringen. Zudem kann der Einsatz von Exoskeletten zu einer Reduzierung der Wahrscheinlichkeit von Verletzungen am Arbeitsplatz führen (Cai, 2023, S. 1). Aktuell werden beispielsweise Exoskelette zur mechanisch-motorischen Kraftunterstützung in der Montage oder im Lager eingesetzt.

Neben Exoskeletten können auch kollaborative Roboter (Cobots) in der Produktion genutzt werden. Cobots sind speziell für die Kollaboration mit dem Menschen konstruierte Roboter. Integrierte Sicherheitsfunktionen und Sensoren ermöglichen einen Einsatz ohne physische Schutzeinrichtungen.

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Abbildung 1: MR-Datenbrille (HoloLens2) Abbildung 2: AR-Use Case im Smart Production Lab Kapfenberg

Aufgaben für Cobots schließen Objektübergaben, simple Fertigungsaufgaben sowie komplexere Aufgaben wie Schweißen ein (Rusch et al., 2020, S. 1229).

Neben der kognitiven und physischen Unterstützung eröffnen digitale Assistenzsysteme neue Wege der Kollaboration. Von der Entwicklung bis zur Gestaltung von Arbeitsplätzen und dem Betrieb von Produktionsanlagen arbeiten Menschen zusammen um die Funktion, Sicherheit und Effizienz von technischen Anlagen zu gewährleisten. Aufgrund der Komplexität moderner Produktionseinrichtungen und -abläufe ist die kollaborative Zusammenarbeit mittels digitaler Assistenzsysteme, sowohl in der Entwicklung als auch im laufenden Betrieb, anzustreben.

3. Immersive Co-Creation (ICON): Neue Formen der Zusammenarbeit im virtuellen Raum und Gestaltung menschzentrierter Arbeitsplätze

Im Projekt Immersive Co-Creation wird eine einheitliche technologische Entwicklungsbasis für die kollaborative Zusammenarbeit aufgebaut. Die technologische Entwicklung von Extended Reality ermöglicht neben der direkten 1 zu 1 Interaktion Mensch:Maschine eine semi-virtuelle Kollaboration. Dabei handelt es sich um ein neueres Forschungsfeld zur Förderung ortsunabhängiger Zusammenarbeit im virtuellen Raum. Durch die Vernetzung von digitalen Endgeräten (XR-Brillen) zur Visualisierung und Interaktion wird gemeinsames Lernen, Verstehen und Handeln am selben Szenario ohne örtliche und zeitliche Bindung ermöglicht (CoCreation). Mit Hilfe akustischer, visueller und haptischer Kommunikations- und Interaktionselemente wird zudem die Erfahrung im virtuellen Szenario für sämtliche beteiligten Personen verstärkt (Immersion).

Anwendungsszenarien im Projekt sind beispielsweise die Optimierung industrieller Arbeitsprozesse (XRUmsetzung des Arbeitsplatzes), kollaborative Produktentwicklungen, Schulungen, physiotherapeutische Interventionstätigkeiten und gemeinsame Lernerfahrungen. Die ExtendedReality Umsetzung des Arbeitsplatzes erfolgt mit Hilfe einer MR-Datenbril-

le. Anwender:innen wird mit Hilfe der Brille ein virtueller Montageplatz inklusive benötigter Bauteile, Werkzeuge und Betriebsmittel eingeblendet. Die virtuellen Objekte sind dabei veränderlich, das bedeutet sie können ausgetauscht, in Form und Größe verändert und im Raum bewegt werden. Weitere Anwender:innen können zeitgleich dem gleichen Raum beitreten und am selben Szenario arbeiten. Die Anwender:innen werden dabei als Avatare angezeigt und können miteinander kommunizieren. So ist es möglich, ortsunabhängig miteinander zu kooperieren.

Bei der Gestaltung der Arbeitsplätze sowie bei Ergonomie-Erhebungen kommt Motion Capturing Technologie zum Einsatz. Grundsätzlich wird unter Motion Capture die Aufzeichnung einer Bewegung eines Objektes verstanden (Menolotto, 2020, S. 1). An der FH JOANNEUM in Kapfenberg wird ein Motion-Capture Anzug verwendet (Abbildung 3). Abbildung 4 zeigt die Bewegungsaufnahme mit Hilfe des Anzugs. Ziel ist es, anhand der Bewegungsmuster ergonomische Verbesserungspotentiale abzuleiten. Abbildung 5 zeigt die Nutzung des Anzugs beim AR-Use Case im Smart Production Lab.

Durch die Analyse der Bewegungsdaten können Bereiche und Arbeiten identifiziert werden, die durch Cobots und Exoskelette unterstützt werden können. Darüber hinaus können die aufgenommenen Bewegungen in die XR-Umsetzung des Arbeitsplatzes einfließen. Neben XR- Brillen und dem Motion Capture Anzug sind bereits zwei Cobots im Smart Production Lab im Einsatz. Zudem steht die Beschaffung eines Exoskeletts an. Somit kann die Validierung und Implementierung der Forschungs- und Ent-

wicklungsergebnisse direkt im Smart Production Lab erfolgen.

Die ergonomische Gestaltung von Arbeitsplätzen und der Einsatz physischer Assistenzsysteme sollen eine flächendeckende Inklusion fördern. Ziel ist, die Menschen in der Fertigung bestmöglich zu unterstützen und Überlastung entgegenzuwirken. Mit Hilfe der Assistenzsysteme können auch körperlich benachteiligte Personen anspruchsvolle Aufgaben übernehmen.

Neben der Wahl der richtigen Assistenzsysteme ist die nachhaltige Implementierung dieser von essenzieller Bedeutung. ICON liefert eine einheitliche technologische Entwicklungsbasis für die Umsetzung digitaler Arbeits- und Kollaborationsanwendungen. Digitale Technologien und daraus resultierende Innovationen erfordern darüber hinaus Anpassungen hinsichtlich der strategischen Ausrichtung des Unternehmens (Strategie, Vision, Geschäftsmodell),

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Abbildung 3: Motion Capture Anzug (Rokoko Smartsuit) Abbildung 4: Bewegungsaufnahme mit Hilfe des Motion-Capture Anzugs Abbildung 5: Nutzung des Anzugs im AR-Use Case

Unternehmensprozesse und Organisationstrukturen. Nicht nur die jeweiligen Prozesse, in welche neue Technologien implementiert werden, auch angrenzende Strukturen und Abläufe müssen in die Transformation miteinbezogen werden.

Zudem verändern Technologien Arbeitsabläufe und damit das Nutzer:innenverhalten sowie die Nutzer:innenerwartungen. Es ist wichtig, diese Veränderungen für den jeweiligen Arbeitsplatz klar zu definieren und zu kommunizieren, um Widerstand seitens der Mitarbeiter:innen entgegenzuwirken und Akzeptanz zu schaffen (Sorko et al. 2022, S. 13ff.).

Günther N., Prell B., Reiff-Stephan J. (2022). Industrie 5.0 - von der Vision des menschzentrierten Ansatzes zu soziocyberphysischen Produktionssystemen für die Praxis, Tagungsband

AALE 2022, Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig, https://doi.org/10.33968/2022.26

Frost, M., Guhlemann, K., Cordes, A., Zittlau K., Hasselmann O. (2020). Produktive, sichere und gesunde Arbeitsgestaltung mit digitalen Technologien und Künstlicher Intelligenz – Hintergrundwissen und Gestaltungsempfehlungen. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 74, 76–88 (2020). https://doi.org/10.1007/ s41449-020-00200-3

Min Cai, Ziling Ji, Qin Li, Xinggang Luo (2023). Safety evaluation of human–robot collaboration for industrial exoskeleton, Safety Science, DOI:10.1016/j.ssci.2023.106142

Rusch, T., Ender, H. & Kerber, F. Kollaborative Robotikanwendungen an Montagearbeitsplätzen. HMD 57, 1227–1238 (2020). https://doi. org/10.1365/s40702-020-00677-w. Menolotto, M., Komaris, D., Tedesco, S., O’Flynn, B., Walsh, M. (2020). Motion Capture Technology in Industrial Applications: A Systematic Review, Sensors 2020, 20, 5687; doi:10.3390/s20195687

Autor:innen:

Die Gestaltung wandlungsfähiger Prozesse und menschzentrierter Arbeitsplätze, mit Unterstützung von Assistenzsystemen, gewinnt zunehmend an Bedeutung. Assistenzsysteme eröffnen neue Wege der Kollaboration, können Mitarbeiter:innen kognitiv und physisch entlasten und tragen zu einer Produktivitäts- und Effizienzsteigerung bei. Im Projekt ICON wurden Anwendungsszenarien für Assistenzsysteme und neue Formen der Zusammenarbeit im semivirtuellen und virtuellen Raum entwickelt. In der nächsten Projektphase werden Use Cases mit Industrieunternehmen und im Smart Production Lab realisiert, um immersive Technologien in den Arbeitsalltag einfließen zu lassen.

Quellen:

Bendig, D., Lau, K., Schulte, J., Endriß, S. (2021). Industrie 5.0: Die Europäische Kommission auf den Spuren der nächsten industriellen Revolution?, Industrie 4.0 Management 37 (2021) 6, https://doi.org/10.30844/ I40M_21-6_S20-22

Fraunhofer IPK (2022). Trends für Forschung und Entwicklung

2022/2023 – Digital integrierte Produktion, Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik IPK

Peneder M., Bittschi B., Köppl A., Mayerhofer P., Url T. (2022). Das WIFO-Radar der Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Wirtschaft, Monatsberichte 12/2022 (S. 809-822)

Sorko, S., Mayer B., Komar, J., Lackner, K., Mezhuyev, V., PflegerLandthaler, A., Seybold, K, Steger, J, Terler, M. (2022). Smart Workplaces: Smarte Arbeitsplätze zur Steigerung der Entscheidungskompetenz am Shopfloor, Verlag der FH JOANNEUM

Apt W., Schubert M., Wischmann S. (2018). Digitale Assistenzsysteme - Perspektiven und Herausforderungen für den Einsatz in Industrie und Dienstleistungen, Institut für Innovation und Technik, Institut für Innovation und Technik (iit), ISBN13: 978-3-89750-181-2

Schlink B. (2020). Potenziale digitaler Technologien und Assistenzsysteme, RKW Kompetenzzentrum Farshid, M., Paschen, J., Eriksson, T., Kietzmann, J. (2018). Go boldly! Explore augmented reality (AR), virtual reality (VR), and mixed reality (MR) for business, Kelley School of Business, Indiana University, https://doi.org/10.1016/j.bushor.2018.05.009

Hoffmann, H., Pitz, I., Adomssent, B., Russmann, C. (2022). Assoziation, Erwartungen und Barrieren eines Exoskeletteinsatzes in kleinen mittelständischen Unternehmen, Zbl Arbeitsmed 2022, 72:68–77, https:// doi.org/10.1007/s40664-021-00453-7

Dipl.-Ing. Josua Steger, BSc ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Arbeit der Zukunft am Institut Industrial Management der FH JOANNEUM in Kapfenberg. Er studierte Industrial Management sowie International Industrial Management. Seine Forschungsinhalte beinhalten vorwiegend human- und nachhaltigkeitszentrierte Aspekte von Industrie 5.0, digitale Assistenztechnologien sowie Geschäftsmodellentwicklungen.

Mag. Klaus Seybold ist Senior Lecturer, Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Arbeit der Zukunft am Institut Industrial Management der FH JOANNEUM in Kapfenberg. Er studierte Betriebswirtschaft und arbeitete viele Jahre im Personalbereich von Industrieunternehmen. Seine Lehr- und Forschungsfelder beinhalten betriebsund personalwirtschaftliche Themen, besonders im Zusammenhang mit der Digitalisierung.

MMag. Dr. Sabrina Romina Sorko ist Senior Lecturer und Leiterin der Forschungsgruppe Arbeit der Zukunft am Institut Industrial Management der FH JOANNEM in Kapfenberg. Sie studierte Wirtschaftspädagogik und Rechtswissenschaften und ist mehrfach zertifizierte Trainerin. Ihre Lehrund Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Industrie 5.0, Change-Management und New Work.

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4. Fazit und Ausblick

Dipl.-Ing.

Josua Steger, BSc

wissenschaftlicher

Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Arbeit der Zukunft am Institut Industrial Management der FH JOANNEUM in Kapfenberg

Mag. Klaus Seybold

Senior Lecturer, Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Arbeit der Zukunft am Institut Industrial Management der FH JOANNEUM in Kapfenberg

MMag. Dr. Sabrina Romina Sorko

Senior Lecturer und Leiterin der Forschungsgruppe Arbeit der Zukunft am Institut Industrial Management der FH JOANNEUM in Kapfenberg

Harald Hagenauer

Erstes WING-Forum zum Thema „ENERGIEWENDE – Welche Lösungen haben wir?“

Über 60 Teilnehmer kamen am Freitag, den 2. Juni 2023 ins Headquarter der Österreichischen Post an den Rochusmarkt in Wien, um beim ersten WING-Forum dabei zu sein. Das hochaktuelle Thema „Energiewende – Welche Lösungen haben wir?“ wurde von vier Vortragenden erörtert und mit den Teilnehmern intensiv diskutiert.

Gleich zu Beginn beeindruckte

Univ.Prof. Dr. Georg Brasseur

das Publikum mit umfassendem Wissen und Fakten zur Energiewende und machte in seinem Vortrag deutlich, was in Europa unternommen werden muss, um die Energiewende physikalisch und ökonomisch Wirklichkeit werden zu lassen.

Und die Herausforderungen sind in der Tat enorm: Seit 1960 hat sich der weltweite Primärenergiebedarf

von 40.000 TWh auf 170.000 TWh erhöht – mit den bekannten Auswirkungen auf die CO2-Konzentration der Atmosphäre und dem Klimawandel. Und dieser Bedarf wird derzeit hauptsächlich durch die fossilen Energieträger Öl, Gas und Kohle gedeckt. Nur 4,6 % der Energie kommen aus den ausbaufähigen Energieproduktionen mittels Wind und Sonne. Prof. Brasseur betonte die Wichtigkeit des Themas Ener-

gieeinsparung und -effizienz ebenso wie die Notwendigkeit des raschen Ausbaus der grünen Stromproduktion. Mit der Volatilität von Wind und Sonne ist es aber auch unerlässlich, mehr grüne speicherbare Energieträger zu generieren – also synthetische Kraftstoffe wie etwa Methan, Methanol oder Ammoniak. Durch die hohen Kosten ist es vernünftig, die grüne Energie geografisch dort zu produzieren, wo es die besten Vo -

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WING-Forum 2023

raussetzungen gibt und dann nach Europa zu transportieren.

Spezielle Lösungen wurden von zwei weiteren Vortragenden präsentiert: Dr. Bernhard Prybil-Kranewitter von A.T. Kearney referierte über die Rolle des Wasserstoffs bei der Dekarbonisierung und Dr. Joseph Kitzweger von Lafarge über Carbon Capture. Die Vortragenden zeigten, dass die technischen Möglichkeiten mittlerweile auch in die Realität umgesetzt werden können. Der Hoffnungsträger Wasserstoff gilt speziell bei industriellen Prozessen als Alternative zur fossilen Verbrennung. Dr Prybil-Kranewitter erläuterte die verschiedenen Herstellungsmethoden von Wasserstoff. Er schätzt die

erwartbaren Kosten abhängig von lokal vs. globalen Produktionsvoraussetzungen in der Bandbreite von 3-5 EUR pro kg Wasserstoff. Nicht vermeidbares CO2 aus industriellen Prozessen abzuscheiden und zu speichern bzw. für weitere Prozesse zu verwenden ist der Forschungsschwerpunkt von Dr Kitzweger. In einem gemeinsamen Projekt von Lafarge, OMV und Verbund soll anfallendes CO2 aus der Zementproduktion für die Chemie genutzt werden und somit eine Reduktion des Erdölbedarfes entstehen.

Den Abschluss der gelungenen Veranstaltung bildete Dr. Jan Kluge von der Agenda Austria zum wirtschaftlichen Umfeld der Energiewende in Europa. Dr Kluge erwartet auch wei-

terhin erhöhte Gas- und Strompreise in Österreich und Europa. Als ordnungspolitische Maßnahme sieht er positive Impulse für die Energiewende durch den EU-Zertifikatehandel. Der CO2-Ausstoß wird dadurch stetig teurer und somit besteht genügend finanzieller Anreiz für die Energiewende.

Die Einladung der Österreichischen Post zum anschließenden Lunch auf der Dachterasse ihres Verwaltungsgebäudes, für die der Verband sehr herzlich dankt, gab eine wunderbare Gelegenheit zum themenbezogenen Gedankenaustausch und das Networking für alle Teilnehmer des WING-Forum 2023.

52 WINGbusiness 2/2023
WING-FORUM 2023
Fotos: © Österreichische Post AG

Wie

kann die Halbleiterindustrie zu einer nachhaltigeren Zukunft beitragen? Diese und andere spannende Fragen standen im Mittelpunkt des Abendvortrags von Dr. Sabine Herlitschka, Vorstandsvorsitzende von Infineon Technologies

Austria AG, der am 16. Mai 2023 in Kapfenberg stattfand. Die Veranstaltung war Teil der Vortragsreihe „Unternehmensführung in der Praxis“, die vom Institut Industrial Management der FH JOANNEUM seit 25 Jahren erfolgreich organisiert wird.

Vor dem mit interessierten Zuhörerinnen und Zuhörern voll besetzten Audimax der FH JOANNEUM erzählte Dr. Herlitschka von ihrer persönlichen Karriere, die sie von der TU Wien über die Fraunhofer Gesellschaft bis zur Spitze von Infineon Austria führte. Dabei betonte sie die Bedeutung von Bildung, Innovation und Vernetzung für den Erfolg in der Technologiebranche.

Als Vorstandsvorsitzende von Infineon Austria ist Sabine Herlitschka verantwortlich für rund 5400 Mitarbeiter:innen an mehreren Standorten, die innovative Halblei-

terlösungen für Anwendungen wie Elektromobilität, erneuerbare Energien, Industrie 4.0 oder Smart Home entwickeln und produzieren. Infineon Austria ist nicht nur einer der größten Arbeitgeber und Exporteure des Landes, sondern auch ein Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit.

Herlitschka erklärte, wie Infineon Austria seine ökologische und soziale Verantwortung wahrnimmt, indem es unter anderem seinen CO2-Ausstoß reduziert, seine Energieeffizienz steigert, seine Lieferkette transparent gestaltet und seine Mitarbeiter:innen fördert und schützt.

Gleichzeitig zeigt sie auf, dass aktuelle Trends wie das Zurückholen von Industrieproduktion nach Österreich mit dem Zweck mehr Autarkie zu erreichen keine stimmige Perspektive für die Zukunft darstellt, da selbst die kleinsten Produkte hochkomplexe Wertschöpfungsketten benötigen – so stecken in einem Müsliriegel die Leistungen von 160 Lieferanten.

Daher ihr Appell: Es geht darum, die Stärken Österreichs zu stärken, vor allem auch die Produktion.

Gleichzeitig muss sich unser Bildungssystem besser auf die Bedürfnisse der naturwissenschaftlich geprägten Berufe orientieren. Vielfach herrscht noch die Erwartung vor, naturwissenschaftliche Bildung muss „weh tun“. Vielmehr müsse man den jungen Menschen zeigen, dass Ingenieurswissenschaften Spaß machen und motivierende Berufsbilder dahinterstehen.

Das Setting der Vortragsreihe bietet auch immer Raum für Fragen aus dem Publikum, die von der Rolle der Frauen in der Technik über die Herausforderungen der Digitalisierung bis hin zu den Zukunftsperspektiven der Halbleiterindustrie reichten. Sabine Herlitschka gab wertvolle Einblicke in ihre Erfahrungen und Visionen.

Der Vortragsabend mit Dr. Sabine Herlitschka war ein inspirierender und informativer Abend, der den Teilnehmer:innen die Möglichkeit bot, mehr über eine der führenden Persönlichkeiten und Unternehmen der österreichischen Technologielandschaft zu erfahren.

53 WINGbusiness 2/2023 WING-NETZWERK
Christian Burkart
Vortragsreihe „Unternehmensführung in der Praxis“, diesmal mit Infineon-CEO Sabine Herlitschka
Foto: IWI/Kohlbacher

WING to your success

…wir sind für Sie garantiert von Nutzen … Gerade in Zeiten wie diesen stellen ein reizvoller Workshop, das Verteilen von lukrativen Flyern oder eine interessante Firmenpräsentation effiziente und kostengünstige Möglichkeiten zur Werbung für Unternehmen in Fachkreisen dar. Hervorzuheben ist der Zugang zur Technischen Universität als Innovations- und Forschungsstandort der besonderen Art, denn im Zuge von Bachelor- und/oder Masterarbeiten können Sie Studenten in Ideen für Ihre Firma miteinbeziehen und mit ihnen innovative Lösungen ausarbeiten. Nicht zuletzt wird auf diesem Weg auch für die Zukunft vorgesorgt.

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WINGbusiness Impressum

Medieninhaber (Verleger)

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Kopernikusgasse 24, 8010 Graz

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Editor Heft 2/2023

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Dipl.-Ing. Andreas Kohlweiss, BSc

E-Mail: andreas.kohlweiss@tugraz.at

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Druck

nagement) internationale Veranstaltungen und Netzwerke. In 24 verschiedenen Ländern arbeiten 66 Hochschulgruppen bei verschiedenen Aktivitäten zusammen und treten so sowohl untereinander als auch zu Unternehmen in intensiven Kontakt. Um unser Ziel - die Förderung von Studenten - zu erreichen, benötigen wir Semester für Semester engagierte Unternehmen, die uns auf verschiedene Arten unterstützen und denen wir im Gegenzug eine Möglichkeit der Firmenpräsenz bieten. Die Events können sowohl in den Räumlichkeiten der TU Wien als auch an dem von Ihnen gewünschten Veranstaltungsort stattfinden. Weiters können Sie die Zielgruppe individuell bestimmen. Sowohl alle Studienrichtungen als auch z.B. eine Festlegung auf Wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen ist möglich. Außerdem besteht die Möglichkeit eine Vorauswahl der Teilnehmer, mittels Ihnen vorab zugesandten Lebensläufen, zu treffen.

Auf unserer Webseite http://www.wing-online.at/de/ wingnet-wien/ finden Sie eine Auswahl an vorangegangenen Events sowie detaillierte Informationen zu unserem Leistungsumfang

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Auflage: 1.800 Stk.

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Erscheinungsweise

4 mal jährlich, jeweils März, Juli, Oktober sowie Dezember. Nachdruck oder Textauszug nach Rücksprache mit dem Editor des „WINGbusiness“. Erscheint in wissenschaftlicher Zusammenarbeit mit den einschlägigen Instituten an den Universitäten und Fachhochschulen Österreichs. Der Wirtschaftsingenieur (Dipl.-Wirtschaftsingenieur): Wirtschaftsingenieure sind wirtschaftswissenschaftlich ausgebildete Ingenieure mit akademischem Studienabschluss, die in ihrer beruflichen Tätigkeit ihre technische und ökonomische Kompetenz ganzheitlich verknüpfen. WING - Österreichischer Verband der Wirtschaftsingenieure ist die Netzwerkplattform der Wirtschaftsingenieure. ISSN 0256-7830

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