WINGbusiness Heft 02 2021

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ISSN 0256-7830; 54. Jahrgang, Verlagspostamt A-8010 Graz; P.b.b. 02Z033720M

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WING

business

Klimaneutralität

Klimaneutralität – am Beispiel der TU Graz 9

Grüner Wasserstoff - Energiemedium der Zukunft?

Das Gebäude der Zukunft: jetzt 20

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achtzigzehn | Foto: Lupi Spuma| bezahlte Anzeige

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EDITORIAL

Klimaneutralität

Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Siegfried Vössner Liebe Leserin, lieber Leser, vor zwei Jahren, als die Welt in Bezug auf soziale Interaktionen noch in Ordnung war und für Abendveranstaltungen keine Covid-Tests, kein elektronischer Impfpass und keine FFP2 Maske notwendig waren, sollte ich für den ÖBB-Business Green Event einen kurzen Impulsvortrag halten. Motto des Abends: „CO2 sparen, Bahn fahren“. Wer mich kennt, ahnt schon, dass es ein kritischer, systemischer Blick auf die Klimasituation und die damit verbundenen Maßnahmen war. Zwei weitere externe Referentinnen beleuchteten das Thema aus Sicht des Klimafonds und einer Umweltschutzorganisation. Danach wurden diejenigen Großkunden der Bahn geehrt, die durch ihre Bahnfahrten am meisten zur CO2-Einsparung im vergangenen Jahr in Österreich beigetragen haben. Ein wenig abseits entwickelte sich eine interessante Diskussion unter den Impulsreferenten: „Früher, war alles viel einfacher“, meinte ich, „da konnte man sich vor ein stinkendes Industrieabwasserrohr ketten, oder den Rauchfang einer Fabrik erstürmen.“ – „Genau!“ meinte eine der beiden anderen, „Heute ist es viel schwieriger geworden, so komplexe Themen wie Klimaneutralität oder eine CO2-Bilanz den Menschen und unseren Unterstützern zu vermitteln!“ „CO2 ist unsichtbar und die Auswirkungen nicht unmittelbar spürbar!“, sagte die andere. Wir waren uns einig, dass die Situation bestenfalls sehr komplex ist. Es war das gleiche Jahr, in dem der damalige amerikanische Präsident den Klimawandel vehement leugnete und in Konfrontation zu einer jungen Schwedin ging, deren Wut über soviel Ignoranz und Dummheit der Mächtigen der Welt und der Industrievertreter, eilig als eine vermeintliche Form von Autismus denunziert wurde. Dann kam Covid-19 und brachte eine Zwangsruhepause für die geschäftige Welt. Die Lockdown-Maßnahmen reduzierten den Personen- und Güterverkehr drastisch. Man konnte nun förmlich sehen, wie der CO2-Ausstoß sich reduzierte, die Umweltverschmutzung zurückging und wie sich die Tier- und Pflanzenwelt zu erholen begannen. Allerdings war auch zu beobachten, dass dieser Effekt verhältnismäßig klein und nicht nachhaltig war. Gleichzeitig nahmen extreme Wetterverhältnisse ungeachtet dessen weiter zu. Übermäßig heiße und trockene Sommermonate, Unwetter, Vermurungen und andere Naturkatastrophen sind heute leider keine Seltenheit mehr. Der Klimawandel ist heute deutlicher und für jeden spürbarer denn je. Ist die Lage mittlerweile hoffnungslos? Sind „Green-Events“

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nur Tropfen auf die immer heißer werdenden Steine? Ist es einfach zu spät? Ich weiß es nicht. Eines ist jedoch zu beobachten: der Ernst der Lage wird immer mehr Menschen bewusst und nicht nur der Jugend, die immer vehementer darauf hinweist. Welcher Jugendliche wäre vor 30 Jahren Vegetarier geworden, nur um den CO2 Ausstoß zu verringern? Wir wollten damals die Umweltverschmutzung aufhalten. An CO2 dachten wir nicht. Freilich reicht der Verzicht auf Fleisch nicht aus, um das Problem zu lösen, doch ist es ein Zeichen, wie ernst das Problem der Klimaneutralität für einige mittlerweile geworden ist. Leider stellt sich das Thema, wie eingangs schon angedeutet, nicht ganz einfach dar: unser industrielles Zeitalter und die lieb gewordenen Annehmlichkeiten eines jeden Einzelnen stehen leider mehr und mehr im Widerspruch zur Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung und damit in letzter Konsequenz natürlich auch zur Klimaneutralität. Wirksame Maßnahmen bedürfen neben staatlichen Rahmenbedingungen und Gesetzen, Anreizsystemen auch der Änderung von persönlichen Einstellungen und Bedürfnissen. Das monetäre „Freikaufen“ von einer „CO2-Schuld“ erinnert in Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit an den Ablasshandel der Katholischen Kirche im Mittelalter, die die damaligen (religiös motivierten) Protestanten mit den Worten „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt!“ geißelten. Klimaneutralität ist ein gesellschaftliches Thema und kein rein technisches. Glücklicherweise ist es vor Kurzem auch gelungen, die kurze Aufmerksamkeitsspanne des Zeitgeists auf dieses Thema zu lenken. Nach „Industrie 4.0“, „Internet of Things“, „Digitalisierung“ etc. scheint die „Klimaneutralität“ in den Fokus des öffentlichen Hypes zu rücken. „Nachhaltigkeit“ als Überbegriff ist salonfähig geworden und spiegelt sich auch in der Forschungsförderung sowie in den „Sustainability Development Goals“ der Vereinten Nationen wider. Erfahrungsgemäß müsste man eigentlich bei solchen Modethemen mehr als skeptisch sein. Dies ist jedoch in Anbetracht des Ernstes der Lage und der Wichtigkeit des Grundproblems in diesem Fall nicht angebracht. „Anything helps – Hauptsache es hilft!“ Das ist auch der Grund, warum wir das Thema „Klimaneutralität“ als Titelthema für dieses WINGbusiness Heft gewählt haben. Wir wollen uns diesem wichtigen Thema aus dem technoökonomischen Blickwinkel einer Universität und ihrer Partner aus Forschung und Industrie nähern. Dazu haben wir in diesem ungewöhnlich umfangreichen Heft, viele interessante Beiträge zusammengestellt und hoffen, dass Sie die darin geschilderten unterschiedlichen Perspektiven und Ansätze interessant finden. An dieser Stelle möchte ich mich bei meinem Kollegen Ass. Prof. Dr. Günter Getzinger von der Science, Technology & Society Unit der Technischen Universität Graz, für die gute Zusammenarbeit und die Koordination der Zusammenstellung dieses Heftes bedanken. Ich verbleibe im Namen des gesamten Redaktionsteams mit freundlichen Grüßen und wünsche Ihnen angesichts einer sich hoffentlich bald entspannenden Pandemiesituation einen erholsamen Sommer. Viel Freude beim Lesen und bleiben Sie gesund! Ihr Siegfried Vössner

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TOP-THEMA: KLIMANEUTRALITÄT Harald Kainz, Günter Getzinger

Klimaneutralität – am Beispiel der TU Graz

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Martin Wilkening, Manfred Schweinzger

Batterien als Schlüsselelemente auf dem Weg zur Klimaneutralität 14 Von der Grundlagenforschung zu modernen Anwendungen

Alexander Trattner, Andreas Wimmer

Grüner Wasserstoff - Energiemedium der Zukunft?

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Thomas Kienberger, Peter Nagovnak, Roman Geyer, Ali Hainoun, Paul Binderbauer

NEFI – New Energy for Industry

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Die Industrie als elementarer Baustein der Energiewende für Österreich und darüber hinaus

Georg Knill

Der Weg zur Klimaneutralität

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Die Strategie der Industrie als Gestalterin eines umfassenden und nachhaltigen Umbaus des Energiesystems

Christian Purrer, Martin Graf

Die Energie Steiermark - Vorreiter und Partner auf dem Weg zur Klimaneutralität

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Andreas Matthä, Peter Veit

Der Mobilitätssektor ist Teil des Klimaproblems – Bahn und öffentlicher Verkehr sind ein zentraler Teil der Lösung

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Andreas Pfeiler, Sebastian Spaun

Das Gebäude der Zukunft: jetzt

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Matthias Wolf, Christian Ramsauer, Markus Haidenbauer

Methodik zur Erstellung einer CO2-Bilanz der Orasis Industries Holding GmbH

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Werner Prutsch, Gert Heigl

Graz - Klimaneutrale Innovationsstadt

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Boris Papousek, Christoph Hochenauer

Keine Energiewende ohne Wärmewende

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Fernwärme als Schlüssel für die städtische Energiewende

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Inhaltsverzeichnis EDITORIAL Klimaneutralität

FÜHRUNG/PROFESSION Ulrich Bauer MANAGEMENTkompakt: Merger von Techno-Start-Ups/KMUs – Fragen, die sich deren Management stellen sollte

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CALL FOR PAPERS

Call for Papers Themenschwerpunkt: "Technology Entrepreneurship" in WINGbusiness 04/2021

WING-INTERN

WING-digital – The Show Goes On

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WING-Kongress 2021, KI oder IQ - "Die Arbeitswelt der Zukunft" Von 21.10.-22.10.2021 in Wien

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WING-KONGRESS 2021

FACHARTIKEL

Sigrid Weller

Gunter Nitsche Die Abgrenzung von Patentrecht, Markenrecht und Urheberrecht – dargestellt am Beispiel von ‘Rubik’s Cube’ (Teil II)

IMPRESSUM Impressum

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FÜHRUNG/PROFESSION Ulrich Bauer

MANAGEMENTkompakt: Merger von Techno-Start-Ups/KMUs – Fragen, die sich deren Management stellen sollte Für viele Start-Ups und KMUs in technologischen Bereichen ist es aus verschiedenen Gründen attraktiv, von großen Unternehmen gekauft und integriert zu werden. Die Auswirkungen der Fusion werden dabei häufig unterschätzt und führen vor allem bei Mitarbeiter*innen zu Enttäuschungen, Verunsicherung und Frustration. Der vorliegende Beitrag stellt einen kompakten Leitfaden mit den wesentlichen Fragen vor, die sich das Management stellen und beantworten sollte, um wirksam gegensteuern zu können. 1. Ausgangssituation und Problematik: Für große Technologieunternehmen ist es aus unterschiedlichen Gründen attraktiv, innovative Unternehmen, insbesonders im Bereich von Start-Ups und KMUs, aufzukaufen bzw. sich an ihnen zu beteiligen und in ihr Unternehmen zu integrieren. Umgekehrt ist es auch für kleine Unternehmen attraktiv, von den Vorteilen, die große Unternehmen bieten wie zum Beispiel Finanzierung, Marktzugang, Produktionskapazitäten uvam., zu profitieren. Deshalb kommt es häufig vor, dass sich kleine Unternehmen plötzlich in der Situation wiederfinden, Teil eines großen Internationalen Konzerns und damit in einer Welt zu sein, die ihnen fremd ist. Auch das Management, das bisher die Regeln vorgegeben hat und das Risiko getragen hat, muss sich oft mit vollkommen neuen Rahmenbedingungen zurechtfinden. Viele Entscheidungsprozesse die in der Vergangenheit für alle klar und transparent waren, gelten nicht mehr und müssen angepasst werden. Es gibt Veränderungen in praktisch allen Bereichen, von den Produkten angefangen, über Prozesse, Organisation, Kommunikation bis hin zu Personalentscheidungen. Dazu gibt es einerseits neue Chancen mit Ausweitung des Aktionsraumes und andererseits Konsolidierungsmaßnahmen, Kosteneinsparungen und Kündigungen, die für die Betroffenen oft nicht nachvollziehbar sind und überraschend kommen. Es wird zwar über Wesentliches informiert, aber Austausch im Sinne von Kommunikation findet kaum statt. All dies führt zu Verunsicherung von Mitarbeiter*innen und

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Führungskräften, Überforderung, Unzufriedenheit, Demotivation und in Folge auch zu Selbstkündigungen von wertvollen Mitarbeiter*innen. Für das Management entsteht immer dringlicherer Handlungsbedarf und es stellt sich die Frage, wo als Erstes angesetzt werden soll, um die besten Mitarbeiter*innen und die Leistungs- und Innovationsfähigkeit der Organisation halten zu können. Im nachfolgend dargestellten Leitfaden werden die wesentlichsten Fragen

findet (personale Führung), sondern auch durch sinnstiftendes Handeln, das durch die persönlichen Wertvorstellungen, aber auch durch die einzelnen Elemente der Unternehmenskultur und deren Kommunikation bestimmt wird (symbolische Führung). Schliesslich braucht es Strukturen und Regeln, die sich in Aufbauund Ablauforganisation wiederfinden (strukturelle Führung), damit Führung wirksam werden kann (vgl. Abb.1).

dazu systematisiert zusammengefasst und formuliert.

Diese drei Ausprägungen müssen in einer ganzheitlichen Betrachtung Berücksichtigung finden, damit Führung in einer Organisation voll wirksam werden kann. Sie dienen deshalb in weiterer Folge als Orientierungsrahmen für den dargestellten Leitfaden.

2. Wie gehe ich am besten vor? – Eine Kurzanleitung. 2.1 Orientierungsrahmen: Welche Ausprägungen hat Führung? Wenn wir den Begriff der Führung näher betrachten, muss uns bewusst sein, dass Personalführung nicht nur durch direkte Interaktion zwischen Führungskraft und Mitarbeiter statt-

2.2 Übergeordnete Fragen zur Ausgangssituation Die Entscheidung ein erfolgreiches Start-Up-Unternehmen bzw. KMU zu verkaufen oder mit einem ande-

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FÜHRUNG/PROFESSION ren, viel größeren Unternehmen, zusammenzuschließen ist immer mit weitreichenden Konsequenzen verbunden. Es ist deshalb wichtig, dass das Management dieses Unternehmens sich darüber im Klaren ist, welche Konsequenzen sich daraus mit hoher Wahrscheinlichkeit ergeben werden, um die richtigen Massnahmen setzen zu können. Das Management umfasst sowohl die Eigentümer die üblicherweise auch als Manager tätig sind, als auch alle weiteren Führungskräfte, die das Unternehmen in Zukunft führen sollen. Die wesentlichsten Fragen zur Ausgangssituation sind: Welche Beweggründe zu verkaufen bzw. zu fusionieren hatte unser Unternehmen? Welche Beweggründe hatte das übernehmende Unternehmen? Wie passt unser bisheriges Geschäftsmodell in das Geschäftsmodell des übernehmenden Unternehmens? Welche Konsequenzen zeichnen sich ab (Chancen/ Gefahren)? Wie sieht das künftige Geschäftsmodell aus? Wie sieht unsere organisatorische Einordnung aus? Wie lauten die daraus abgeleiteten Unternehmensziele? Welche Auswirkungen haben sie auf unser Unternehmen? Welcher Handlungsbedarf ergibt sich aus den bisherigen Fragen? Worauf müssen wir uns einstellen?

Was sind die vermuteten Ursachen?

2.3 Die einzelnen Fragenbereiche

Corporate Governance Gibt es eine Corporate Governance Regelung im Unternehmen? Was beinhaltet sie? Welchen Einfluss hat die Regelung im Unternehmen und auf das Verhalten der einzelnen Mitarbeitergruppen und Stakeholder?

Das dargestellte Fragenschema zeigt überblicksartig die einzelnen Fragenbereiche zu den drei Führungsausprägungen mit den konkreten Einzelfragen auf. Einzelne Fragen können sich dabei überschneiden. Sie können situationsbedingt aber auch erweitert werden. Ausgangspunkt sollte eine möglichst genaue Beschreibung der auftretenden Probleme und deren vermutete Ursachenzuordnung zu den drei Führungsausprägungen sein. Dies erfolgt idealerweise unter Einbeziehung der betroffenen Mitarbeiter*innen. Die zentralen Fragen zur Problemsituation lauten: Welche konkreten Probleme zeichnen sich ab?

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2.3.1 Fragenbereich Symbolische Führung Sinnstiftendes Handeln Welchen Unternehmenszweck (Purpose) hat das Unternehmen? Wozu gibt es uns? Wie wird der Sinn unserer Arbeit hinterfragt? Wie wird dabei kommuniziert? Wie weit identifizieren sich die Mitarbeiter*innen damit? Unternehmenskultur Wie sieht das neue Unternehmen die Welt? Welche Unterschiede gibt es zu unserer bisherigen Sicht? Welche Grundannahmen in Bezug auf Mitarbeiter*innen, Kunden, Lieferanten, Stakeholder haben wir? Welche Werte haben wir gemeinsam? Wie leben wir diese? Welche Regeln und Normen für unser Verhalten gibt es? Wie bekannt sind sie allen? Wie werden sie gelebt? Welche Verhaltensweisen sind erwünscht? Wie verhalten wir uns tatsächlich? Wie wird unsere Kultur sichtbar? Welche Sprache, Kleidung, Umgangsformen, Rituale etc. verwenden wir?

Kommunikation Wie wird symbolische Führung kommuniziert? Wie nach Innen? Wie nach Außen? Welche Sprachregelungen gibt es? Welche nonverbalen Regelungen gibt es? Was soll man tun? Was nicht? (do`s and don`ts / Gebote und Verbote) Ziele im Bereich Symbolischer Führung

Welche Ziele leiten sich in den einzelnen Bereichen ab? Konkret formulieren! Wie erkennen wir die Zielerreichung? Maßnahmen Welche konkreten Maßnahmen leiten sich ab? Was? Wer? Womit? Wann? Erledigt? Zielerreichung Wie sieht die Zielerreichung aus? Welchen Beitrag leistet sie zur Lösung der eingangs formulierten Problemstellung? 2.3.2 Fragenbereich Strukturelle Führung Aufbauorganisation Wie sieht die Darstellung unserer Organisation innerhalb der Aufbauorganisation aus? Gibt es ein klares Organigramm? Kennen alle Mitarbeiter das neue Organigramm und die damit verbundenen Zuständigkeiten und Berichtswege? Welche offenen Fragen gibt es? Welche Auswirkungen gibt es? Ablauforganisation, Prozesse Welche Prozesse müssen durch den Zusammenschluss neu festgelegt werden? Welche Veränderungen in den bestehenden Prozessen ergeben sich? Wurden alle Prozesse systematisch überprüft und angepasst? Welche sind noch offen? Wie erfolgt die Einbindung der betroffenen Mitarbeiter*innen und wer kommuniziert die Auswirkungen? Aufgaben, Kompetenzen, Verantwortung Sind die Aufgaben klar beschrieben? Wer macht was? Wann? Wo? Womit? Welche Kompetenzen brauchen die einzelnen Mitarbeiter*innen um die Aufgaben erledigen zu können? Welche Verantwortung muss dabei von den Einzelnen übernommen werden? Stimmen die Aufgaben, die dazu erforderlichen Kompetenzen und

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FÜHRUNG/PROFESSION die zu übernehmende Verantwortung überein? Berichte, Kommunikation Welche Inhalte sind in welche Richtungen zu berichten? Nach oben? Nach unten? Horizontal? Welche Vorlagen und Kommunikationsmittel sind zu verwenden? Wie häufig sind sie zu kommunizieren? Zu welchen Zeitpunkten? Welche Kommunikationsschleifen sind vorgesehen?

meinen Werthaltungen? Wo haben wir Diskussions- und Anpassungsbedarf? Rituale (z.B. Begrüssung, G ebur tstage, Privates, Vera nst a lt u ngen , …..etc.)? Widersprüche?

Ziele im Bereich Struktureller Führung Welche Ziele leiten sich in den einzelnen Bereichen ab? Konkret formulieren! Wie erkennen wir die Zielerreichung?

Zielgruppe Mitarbeiter*innen Wie kommuniziere ich mit meinen Mitarbeitern? Bisher? In Zukunft? Welche Kommunikationskanäle benutzen wir für welche Inhalte? Für welche Zielgruppe? Häufigkeit?

Maßnahmen Welche konkreten Maßnahmen leiten sich ab? Was? Wer? Womit? Wann? Erledigt?

Zielgruppe Vorgesetzte Wer sind meine direkten/indirekten Vorgesetzten und wie kommuniziere ich mit Ihnen üblicherweise? Wie sieht die Berichtsstruktur mit einzelnen Vorgesetzten aus? Wie kommuniziere ich mit einzelnen Vorgesetzten in bestimmten Anlassfällen? Worauf muss ich achten?

Zielerreichung Wie sieht die Zielerreichung aus? Welchen Beitrag leistet sie zur Lösung der eingangs formulierten Problemstellung? 2.3.3 Fragenbereich Personale Führung Personalpolitik Welche Unterschiede zu unserer bisherigen Politik sind erkennbar und welche Auswirkungen hat dies? Welche personalpolitischen Rahmenbedingungen muss ich grundsätzlich berücksichtigen? Welche Reibungspunkte ergeben sich und wie gehe ich damit um? Führungskultur Welches Führungsverständnis gab es bisher in unserem alten Unternehmen? Wie haben wir es bisher gelebt? Welches Führungsverständnis herrscht im neuen Unternehmen vor? Wie wird es hier gelebt? Welche Unterschiede sind erkennbar und welche Auswirkungen hat dies? Wo gibt es Unvereinbarkeiten mit meinem Führungsverständnis und

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Zielgruppe Kolleg*innen (ähnliche Hierarchiestufe) Welche Möglichkeiten des persönlichen Austausches gibt es? (Formell/Informell) Welche (sozialen) Gepflogenheiten gibt es? Worauf muss ich achten? Ziele im Bereich Personaler Führung Welche Ziele leiten sich in den einzelnen Bereichen ab? Konkret formulieren! Wie erkennen wir die Zielerreichung? Maßnahmen Welche konkreten Maßnahmen leiten sich ab? Was? Wer? Womit? Wann? Erledigt? Zielerreichung Wie sieht die Zielerreichung aus? Welchen Beitrag leistet sie zur Lösung der eingangs formulierten Problemstellung?

Univ.-Prof. Dip.-Ing. Dr. Ulrich Bauer Leiter des Institutes für Betriebswirtschaftslehre und Betriebssoziologie an der TU Graz 3. Resümee Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage, wo Führungskräfte als Erstes ansetzen sollen um die geschilderten Probleme im Zusammenhang von Firmenzusammenschlüssen wirksam lösen zu können, beginnt also damit, systematisch Fragen zu stellen, gut zuzuhören und bestmöglich zu versuchen, diese zu beantworten. Dabei ist eine gesamtheitliche Betrachtung von Führung sehr wichtig. Der vorgestellte Leitfaden orientiert sich an den drei möglichen Ausprägungen von Führung. Dies sind die Symbolische -, die Strukturelle - und die Personale Führung, zu deren einzelnen Bereichen Fragen formuliert werden. Deren Beantwortung führt nicht nur zu einem besseren Problem- und Ursachenverständnis, sondern auch zur Formulierung von Zielen und zugehörigen Maßnahmen. Dabei ist die Einbindung der betroffenen Mitarbeiter*innen von großer Bedeutung, da sie eine breitere Problemsicht ermöglicht, kreative Lösungsansätze liefert und die Motivation bei der Umsetzung fördert. Führungskräfte erhalten dabei die Möglichkeit, ihr Führungspotential voll entfalten zu können. Literaturhinweise: (1) Holtbrügge, D.: Personalmanagement, Seite 256, Berlin Heidelberg 2015 (2) Vorbach, S. et al: Unternehmensführung und Organisation, Seite 414 ff, Wien 2015 (3) Gebert, D.: Die offene Gesellschaft – wie verführerisch ist die geschlossene Gesellschaft, Seite 666f; in: Rosenstiel, L. et al (Hrsg.): Führung von Mitarbeitern, Seite 655 – 670, Stuttgart 2014

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TOP-THEMA

Foto: © Markus Kaiser, Graz

Harald Kainz, Günter Getzinger

Klimaneutralität – am Beispiel der TU Graz Im August 2020 hat die TU Graz eine Roadmap beschlossen, die sicherstellen soll, dass sie im Jahr 2030 Klimaneutralität erreicht. In der Absicht, Vorbild und Vorreiter zu sein hat sie damit einen sehr ambitionierten, steilen Dekarbonisierungspfad beschritten. Alle – Unternehmen, Organisationen, aber auch jeder einzelne – sind eingeladen, sich auf diesem Weg anzuschließen. Die besondere Verantwortung der TU Graz Vor dem Hintergrund nationaler und internationaler Diskussionen und Beschlüsse – insbesondere des Klimaabkommens von Paris 2015 – hat sich die TU Graz dazu entschlossen, ihre bisherigen Bemühungen zu einem nachhaltigen betrieblichen Umweltmanagement um eine Reihe ambitionierter treibhausgas-mindernder Maßnahmen zu ergänzen, um so eine kohärente Roadmap „Klimaneutrale TU Graz 2030“ zu formulieren und zu beschreiten. Dieser Entscheidung fußt in der Anerkennung einer besonderen Verantwortung der TU Graz: (1) Die TU Graz sieht ihre Vorbildrolle – für andere Forschungsund Bildungseinrichtungen, für andere staatliche Einrichtungen, für Unternehmen. Universitäten müssen zu den Ersten und Engagiertesten gehören, die sich der dringendsten Herausforderung dieses Jahrhunderts stellen, nämlich innerhalb kurzer Frist Klimaneutralität zu erreichen.

(2) Die TU Graz anerkennt ihre besondere Verantwortung gegenüber der jüngeren Generation, gegenüber künftigen Generationen, und im Hinblick auf die Sicherung der globalen Lebensgrundlagen für alle. Die TU Graz versteht sich als Zukunftslabor, sie will in Forschung und Lehre, mit der Entwicklung nachhaltiger Technologien einen Beitrag leisten zur Bewältigung der Grand Challenges der Europäischen Union, und zur Erreichung der Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen. (3) Die TU Graz anerkennt die besondere Verantwortung der technischen Wissenschaften: Technologische Innovationen werden – als Teil einer noch nie dagewesenen gesellschaftlichen Anstrengung – einen unverzichtbaren, überproportionalen Beitrag zur Abwendung einer Klimakatastrophe leisten müssen. (4) Die TU Graz anerkennt die besondere, historisch begründete Verantwortung des globalen Nordens gegenüber dem globalen Süden. Wer, wenn nicht die Industriestaaten müssen ehebaldigst den Nachweis erbrin-

gen, dass ein klimaneutrales Leben und Wirtschaften möglich ist. Die dafür erforderlichen Technologien müssen beschleunigt zur Marktreife entwickelt werden, die Transition hin zu nachhaltigen sozio-technischen Systemen muss forciert werden, (5) Die TU Graz sieht sich in einer besonderen Verantwortung gegenüber ihren Studienenden: Als künftige Führungspersönlichkeiten und Gestalter*innen des technischen Fortschritts sollen sie ihre Alma Mater als vorbildlich nachhaltig erleben, und diese Grundhaltung wirkungsvoll weitertragen. Die Roadmap Klimaneutrale TU Graz 2030 Basierend auf einer von der Arbeitsgruppe Nachhaltiges Bauen der TU Graz mithilfe des Tools ClimCalc erstellten THG-Bilanz für 2017 wurde im Laufe des Sommers 2020 eine Roadmap „Klimaneutrale TU Graz 2030“1 entwickelt, unter Federführung des Rektors der TU Graz, mit maßgeblicher Beteiligung alle rele1 www.klimaneutrale.tugraz.at

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TOP-THEMA vanten Verwaltungsabteilungen – insbesondere „Gebäude und Technik“ –, und der Mitglieder das Nachhaltigkeitsbeirats. Die Roadmap zielt darauf ab, in allen emissionsrelevanten Bereichen innerhalb der nächsten zehn Jahre Maßnahmen zu setzen, welche die der TU Graz zuordenbaren THG-Emissionen minimieren. Die verbleibenden Restemissionen werden durch Projekte außerhalb der Bilanzgrenzen so kompensiert, dass sich bilanziell Klimaneutralität ergibt. Die Roadmap wurde im August 2020 vom Rektorat der TU Graz beschlossen und mit einem Budget von Euro 11 Mio. ausgestattet, von Universitätsrat und Senat wohlwollend zur Kenntnis genommen und für verbindlich erklärt. Folgende Maßnahmenbereiche sind von der Roadmap erfasst: (1) Strom (2) Wärme (3) Pendler*innenmobilität (Be- dienstete und Studierende) (4) Dienstreisen und Outgoing- Mobilität (Bedienstete und Studierende) (5) IT-Geräte und Materialien (6) Mensa, Lebensmittel (7) Bestehende Gebäude und Neubauten

Darüber hinaus wurden in der Roadmap jene Typen von Projekten festgelegt, mit denen die TU Graz nicht vermeidbare, verbleibende Restemissionen kompensieren wird. Einen Überblick über die Treibhausgasbilanz der TU Graz und über die Reduktionsmaßnahmen bis 2030 gibt die Abbildung 1. Einen detaillierteren Überblick über die aktuellen und zukünftigen Maßnahmen zur Reduktion der THG-Emissionen der TU Graz und ihre zeitliche Staffelung gibt die Abbildung 2. Die Maßnahmen im Einzelnen: 1. Strom Aktuell wird der von der TU Graz verwendete Strom von einem Anbieter bezogen, der zwar diesen Strom als „CO2-frei“ deklariert, diese Feststellung allerdings auf der Basis von zum Teil in Nordeuropa eingekauften Herkunftsnachweisen macht. Gemäß dem von der TU Graz verwendeten Bilanzierungstool ClimCalc, das mit jährlich aktualisierten Emissionsfaktoren des österreichischen Umweltbundesamts kalkuliert, ist allerdings ausschließlich mit dem Umweltzeichen (UZ) 46 ausgezeichneter Strom

als zumindest CO2-arm zu bezeichnen (16 g CO2-eq/kWh), wohingegen nicht UZ 46-zertifizierter Strom mit deutlich höheren CO2-eq-Emissionen behaftet ist (257 g CO2-eq/kWh). In der Roadmap der TU Graz wurde daher festgelegt, dass der eingekaufte Strom schrittweise (bis 2025) auf UZ 46-zertifizierten Strom umgestellt wird. Der Einkauf gleichwertigen Stroms aus regionalen, erneuerbaren Quellen (regionale Herkunftsnachweise!) bzw. die Beteiligung an der Errichtung entsprechender Erzeugungsanlagen und der Strombezug aus diesen Anlagen wird alternativ geprüft. In Ergänzung zu dieser CO2-eqminimierenden Strom-Einkaufsstrategie baut die TU Graz in enger Abstimmung mit der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) – der Eigentümerin der meisten Gebäude der TU Graz – die Eigenstromerzeugung durch Photovoltaikanlagen (PV) auf den Dächern der Gebäude der TU Graz und angrenzender Gebäude bis 2030 auf etwas mehr als 2 MWp aus. Einen weiteren Beitrag werden die geplante Errichtung von ground field PV-Anlagen und/oder die Investition in Windräder zusammen mit österreichischen Energieversorgern leisten,

Abbildung 1: Treibhausgas-Bilanz 2017 der TU Graz und Reduktionsmaßnahmen bis 2030 10

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TOP-THEMA

Abbildung 2: Maßnahmen zur CO2-Reduktion bis 2030 da mit der Eigenstromerzeugung durch PV auf den eigenen Gebäuden nur weniger als 10 % des Stromverbrauches gedeckt werden kann. 2. Wärme Ein großer Teil der THG-Emissionen der TU Graz im Bereich Wärme stammen aus dem Fernwärmebezug. Die Fernwärme des Grazer Netzes stammt seit der Stilllegung des Kohlekraftwerks in Mellach zum überwiegenden Teil aus der Verbrennung von Erdgas. Nur ein kleiner Anteil stammt aus industrieller Abwärme, KWK oder erneuerbaren Quellen, der Emissionsfaktor ist entsprechend hoch (216 g CO2-eq/kWh). Neu errichtete Gebäude der TU Graz (das zu erwartende Wachstum der TU Graz bis 2030 wurde in die Dekarbonisierungs-Roadmap einbezogen) werden durchgehend mit Wärmepumpen beheizt, ein kürzlich begonnenes Forschungsprojekt („UserGRIDs“) prüft die Möglichkeiten der Reduktion des Fernwärmebezugs auch bei bestehenden Gebäuden zugunsten der Ver-

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wendung von Großwärmepumpen für Heizung und Kühlung, durch noch weitergehende Nutzung von Abwärme (beispielsweise aus Rechnerräumen) und andere Effizienzmaßnahmen. Zudem wird mit einer gewissen Reduktion des Emissionsfaktors der Grazer Fernwärme gerechnet; hier wäre ein baldiger Ausstieg aus der Verwendung von Erdgas zugunsten biogener Brennstoffe und Sonnenenergie sowie die deutlich gesteigerte Nutzung von (industrieller) Abwärme wünschenswert. 3. Pendler*innenmobilität Die seit mehr als zehn Jahren laufenden, sehr erfolgreichen Bemühungen, für Bedienstete und Studierenden für die tägliche Fahrt an die TU Graz das Radfahren und die Nutzung des öffentlichen Verkehrs zu attraktivieren werden intensiviert. Bis dato wurden fast 2.000 gebrandete, preislich stark vergünstigte TU-Fahrräder an die Bediensteten (und seit kurzem auch an die Studierenden) ausgegeben. Künftig wird dieses An-

gebot auf E-Fahrräder ausgeweitet. Überdachte Fahrradabstellanlagen wurden und werden weiter ausgebaut (aktuell 1.300 überdachte Stellplätze). Die Grazer Netzkarte für öffentlichen Verkehr wird derzeit zu 50 % rabattiert, eine deutlich spürbare Vergünstigung des geplanten 1-2-3-Tickets ist geplant. Bedienstete, die im Umkreis von drei Kilometern von ihrem TU-Campus wohnen, werden keine Einfahrtsberechtigung zu den Parkplätzen der TU Graz beantragen können (bisher ein bis zwei Kilometer), es werden aber sozial begründete Ausnahmegenehmigungen erteilt werden. Diese Maßnahmen werden eine weitere Verschiebung des Modal Split zugunsten der sanften und aktiven Mobilität bewirken. Eine deutlich spürbare Reduktion der THGEmissionen in diesem Bereich wird von der zunächst um Euro 5,-/Monat erhöhten Parkgebühr für fossil betriebene Pkw erwartet, bzw. von einer finanziellen Begünstigung elektrisch betriebener Pkw von Pendler*innen beim Laden. In Ergänzung dazu wird die Ladeinfrastruktur bis 2030 auf

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TOP-THEMA 200 Ladepunkte ausgebaut. Die TU Graz rechnet damit, dass 2030 rund 50 % der mit Auto pendelnden Bediensteten mit E-Pkw unterwegs sein werden. 4. Dienstreisen und OutgoingMobilität der Bediensteten und Studierenden Da sich in diesem Bereich die Flugreisen mit über 6.000 Tonnen CO2-eq am deutlichsten zu Buche schlagen setzt sich die TU Graz das Ziel, diese Emissionen bis 2030 um 50 % zu reduzieren. Hier steht nichts weniger als ein Kulturwandel bevor: Statt Kurz- und Mittelstreckenflügen (bis ca. 1.500 km) soll mit der Bahn gereist werden. Die Kosten für Fahrten mit dem Nachtzug (Schlafwagen, Single) werden ab Anfang 2022 zur Gänze zentral aus Mitteln des Rektorats finanziert, ebenso die Kosten für Bahnfahrten über drei Stunden Fahrtzeit, für die künftig zudem die Möglichkeit besteht in der 1. Klasse zu reisen. Die Vorteile des Bahnfahrens (Nachtsprung, gute, ungestörte Arbeitsmöglichkeit an komfortablen Sitzplätzen, WLAN und Stromversorgung, Speisewagen, Bewegungsfreiheit, deutlich kleinerer CO2-Fußabdruck, Abfahrt und Ankunft im Stadtzentrum etc.) werden in einer Informationskampagne vermittelt. Zudem werden ab 2022 die THGEmissionen aus Dienstreisen und Aulandsaufenthalten von Lehrenden und Studierenden exakt erfasst, und eine Klimaschutzabgabe auf Flugreisen (Euro 100,- auf innereuropäische Flugreisen, Euro 200,- auf transkontinentale Flugreisen) eingeführt. Ziel der TU Graz ist mittelfristig lediglich eine Halbierung der Flugreisen, weil persönlicher Kontakt zwischen Wissenschaftler*innen weiterhin unverzichtbar bleibt. Die TU Graz wird diese reduzierte physische Mobilität durch eine verstärkte online-Kommunikation ergänzen: So wurden beispielsweise 2020 flächendeckend 80 Videokonferenz- und StreamingAnlagen installiert. 5. IT-Geräte und Materialien Da PCs, Notebooks und andere IT-Geräte hinsichtlich ihres Stromverbrauchs bereits in hohem Maße

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optimiert wurden richtet sich das Augenmerk vermehrt auf die „grauen THG-Emissionen“, die im Zuge der Herstellungs- und Lieferkette dieser Geräte anfallen. Die TU Graz versucht hier insbesondere durch eine Verlängerung der Nutzungsdauer der Geräte auf mindestens 6 Jahre einen Beitrag zu leisten. Bestehende Garantien, Reparatur- und Upgradingverträge werden einer Revision unterzogen. Zudem wird sich die TU Graz bemühen, ihren Papierverbrauch (Druck-, Kopier- und Hygienepapier) weiter zu reduzieren, Leckagen bei der Verwendung von besonderes klimaschädigenden Kältemitteln sollen gänzlich vermieden werden. 6. Mensa, Lebensmittel Der Fokus der Maßnahmen in diesem Bereich liegt auf der Forcierung einer Reduktion klimaschädlicher Lebensmittel im Speisenangebot der Mensa. Hier ist der Ersatz und die Reduktion des Fleischangebots (insbesondere Rind- und Schweinefleisch) und die verstärkte Verwendung von Fleischersatzprodukten geplant, aber auch ein Umstieg auf Bio-Lebensmittel, auch hier insbesondere bei Fleisch, Milch und Milchprodukten. Bereits jetzt wird schon in großem Umfang und in Zukunft noch deutlicher darauf geachtet, regionale und saisonale Produkte zu bevorzugen. 7. Bestehende Gebäude und Neubauten Der Steigerung der Energieeffizienz von Gebäuden, sowohl im Neubau als auch in der Sanierung, wurde in den letzten Jahren großes Augenmerk geschenkt – sie wird forciert werden. Aufgrund der Erfolge der letzten Jahre in diesem Bereich rücken nun die „grauen“ THG-Emissionen die mit der Errichtung und Sanierung von Gebäuden verbunden sind, stärker in den Fokus. In Forschungsarbeiten wurden die lebenszyklusweiten THGEmissionen von Gebäuden detailliert analysiert um daraus Potentiale zur deren Senkung abzuleiten. Die TU Graz wird daher die Grundsätze der Nachhaltigkeit und des Klimaschutzes im Sinne des Positionspapiers zur Errichtung von nachhaltigen Universitätsgebäuden der Allianz Nachhal-

tiger Universitäten2 gemeinsam mit der Bundesimmobiliengesellschaft und dem BMBWF von Beginn an bei allen künftigen universitären Bauprojekten umsetzen. Mit dem Research Center für „Nachhaltiges Bauen“ wird eine interdisziplinäre Plattform und ein wissenschaftliches Kernteam geschaffen. Die der Roadmap „Klimaneutrale TU Graz 2030“ zugrunde liegende Prognose geht davon aus, dass die TU Graz im Jahr 2030 noch immer für die Emission von rund 8.000 Tonnen CO2-eq verantwortlich sein wird. Beginnend mit 2022 wird die TU Graz daher wissenschaftliche und andere Projekte finanziell unterstützen, die nachweislich, langfristig und zusätzlich CO2-eq aus der Atmosphäre binden oder dazu beitragen, CO2-eq-Emissionen zu vermindern. Der Mitteleinsatz der TU Graz wird zunächst auf Euro 30,-/Tonne, d.h. auf Euro 240.000,-/Jahr begrenzt, wird aber bis 2030 auf Euro 100,-/ Tonne angehoben werden. Drei Typen von Projekten werden forciert: Forschungsprojekte mit darstellbarem Potenzial zur Verminderung von THG-Emissionen, landwirtschaftliche Projekte, etwa zum Humusaufbau, Waldprojekte, etwa zum Schutz von Wildnisgebieten bzw. Pufferzonen von Wildnisgebieten. Zusammenfassung Universitäten und Hochschulen sind als tertiäre Bildungseinrichtung und als Forschungsstätten in der besonderen Verantwortung, gesellschaftliche Herausforderungen anzunehmen und Lösungen zu entwickeln. Die Klimakrise ist dabei die vielleicht bedrohlichste globale Herausforderung. Die TU Graz leistet in Forschung und Lehre eine Vielzahl von Beiträgen zur Bewältigung diese Krise. Durch die Erstellung einer soliden Treibhausgasbilanz für den gesamten Einflussbereich der TU Graz, durch die Entscheidung, schnellstmöglich 2 Allianz Nachhaltige Universitäten in Österreich - AG Nachhaltiges Bauen. (2020). Positionspapier zur Errichtung von nachhaltigen Universitätsgebäuden, siehe http:// nachhaltigeuniversitaeten.at/wp-content/uploads/2020/03/2020-01-23_Positionspapier_ Nachhaltiges_Bauen.pdf WINGbusiness 2/2021


TOP-THEMA Klimaneutralität erreichen zu wollen, und durch die Umsetzung dieser Entscheidung in Form einer mit engem Zeitkorsett versehenen und budgetierten Roadmap nimmt die TU Graz ihre besondere Verantwortung an, zeigt die Machbarkeit auf und wird ihrer Vorbildfunktion gerecht. Engmaschige, transparente Berichterstattung und regelmäßige Evaluierung der gesetzten Maßnahmen garantieren die glaubwürdige Verfolgung des Ziels der Klimaneutralität im Jahr 2030. Autoren: Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Dr.h.c.mult. Harald Kainz ist seit 2011 Rektor der TU Graz und arbeitet mit viel Wissen – Technik – Leidenschaft daran, die Universität von morgen zu gestalten. Als Bau- und Wirtschaftsingenieur hat er zehnjährige Wirtschaftserfahrung im Bereich der Abwasser- und Abfallwirtschaft, davon acht Jahre als Geschäftsführer und Vorstand. Als Professor für Siedlungswasserwirtschaft und Landschaftswasserbau veröffentlichte er über 285 Publikationen. Er fördert die enge Zusammenarbeit mit Wirtschaft und Industrie in Forschung und Lehre, unterstützt die digitale Lehre, forciert

zukünftige Forschungsfelder genauso wie Unternehmungsgründungen und positioniert die TU Graz durch seine Internationalisierungsstrategie in i nt e r n at io n a l e n Rankings. Ass.-Prof. Dipl.Ing. Dr. Günter Getzinger studierte Chemieingenieur wesen an der TU Graz sowie Philosophie und Sozialwissenschaften an der Universität Graz und an der Universität Klagenfurt. Nach langjähriger Tätigkeit am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung der Universität Klagenfurt leitet er nunmehr die 2018 an der TU Graz eingerichtete Science, Technology and Society (STS) Unit, eine Gruppe von rund 20 Sozial- und Geisteswissenschafter*innen, die sich u.a. mit Technikfolgenabschätzung,

Univ.-Prof. Dipl.Ing. Dr.techn. Dr.h.c.mult. Harald Kainz Rektor der TU Graz

Ass.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Günter Getzinger Leiter der STS Science, Technology and Society Unit, TU Graz Technikethik und Technikbewertung, nachhaltiger Technikgestaltung und sozialwissenschaftlicher Begleitforschung zu technischen Entwicklungsprojekten befasst. Er ist Leiter des Projekts „Klimaneutrale TU Graz 2030“.

Call for Papers Themenschwerpunkt: "Technology Entrepreneurship" in WINGbusiness 04/2021 Für die Dezember-Ausgabe 2021 laden wir Sie recht herzlich ein, Beiträge zum Themenschwerpunkt „Technology Entrepreneurship“ einzureichen. Unter „Technology Entrepreneurship“ verstehen wir alle unternehmerischen Tätigkeiten, die sich explizit mit Technologien befassen. Wir möchten hier insbesondere die Herausforderungen und Möglichkeiten des Unternehmertums im Kontext von neuartigen Technolo-

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gien herausstreichen und dabei einen besonderen Fokus auf die Entwicklung von Geschäftsmodellen setzen. Die redaktionelle Verantwortung liegt für dieses Heft in den Händen des Instituts für Unternehmungsführung und Organisation (UFO) der Technischen Universität Graz. Zwei Arten von Beiträgen sind möglich: Fachartikel unter Einbindung von Praxiserfahrungen

Wissenschaftliche Beiträge in Form eines WING-Papers mit Reviewverfahren. Die Ergebnisse des Reviewverfahrens erhalten Sie 4-8 Wochen nach der Einreichfrist. Bitte senden Sie Ihre Beiträge als PDF an office@wing-online.at. Annahmeschluss: 01.09.2021 Wir freuen uns auf Ihre Beiträge!

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TOP-THEMA

Foto: © Ch. Jungwirth

Martin Wilkening, Manfred Schweinzger

Batterien als Schlüsselelemente auf dem Weg zur Klimaneutralität Von der Grundlagenforschung zu modernen Anwendungen Batterien sind aus unserem heutigen Leben nicht mehr wegzudenken. Als nachhaltige Energiespeichersysteme werden insbesondere Li-Ionenbatterien eine entscheidende Rolle bei der Verminderung unseres CO2-Ausstoßes einnehmen. Neue Systeme mit festen, keramischen Li-Ionenleitern setzen auf hohe Energiedichten, Temperaturstabilität und Sicherheit. Ihr Anfang geht bis in die Ölkrise zu Beginn der 70er Jahre zurück.

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ie Nachfrage nach Batterien steigt zunehmend und das hat Gründe (Abb. 1). Die Verbrennung fossiler Energieträger, wie z. B. Kohle oder Gas, ist maßgeblich für die Erhöhung des CO2-Anteils in unserer Atmosphäre verantwortlich. In den Bereichen Verkehr, Stahlindustrie und auch in der Bauindustrie werden jährlich große Mengen CO2 in die Atmosphäre entlassen (Abb. 1). Neben CO2 wird Methan infolge intensiver Landwirtschaft zu einer weiteren Belastung für unsere Atmosphäre. Insbesondere Länder wie China und die USA tragen zu einem erheblichen Anteil an dieser CO2-Belastung bei. Pro Jahr sind es etwa 30 Milliarden Tonnen CO2, die in die Erdatmosphäre entlassen werden (Abb. 1). Und dies bleibt nicht ohne gravierende Folgen. Etwa 70 % der kurzwelligen Sonnenstrahlung gelangen auf die Erdoberfläche, die sich dadurch erwärmt und langwellige Infrarotstrahlung

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emittiert. Gase wie CO2 und Methan verhindern aber die Abstrahlung ins Weltall. CO2 ist ein lineares dreiatomiges Molekül, das mehrere Schwingungsmoden aufweist und Strahlung bestimmter Frequenz in Form von Schwingungs-, also Bewegungsenergie, speichern kann. Bei der erneuten Umwandlung von Bewegungsenergie in Wärmestrahlung wird jedoch

etwa die Hälfte der Wärmestrahlung wieder in Richtung Erdoberfläche abgegeben. Bei Methan, CH4, ist dies ebenso, aber die Auswirkungen sind noch viel größer. Dieser Effekt, der zu einer merklichen Erwärmung der Atmosphäre führt, wird Treibhausgaseffekt genannt und ist bereits seit 1824 bekannt; 1896 gelang es Svante Arrhenius diesen auch quantitativ

Abb. 1: Globale Nachfrage nach Li-Batterien und CO2 Emissionen nach Ländern (2018 ohne China und 2019 mit China). Nur etwa zehn Länder sind für fast zwei Drittel des CO2 Gesamtausstoßes verantwortlich. 3C meint Computing, Communication und Consumer. EV: electric vehicle. Quelle: statista, https://de.statista.com

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TOP-THEMA werden zu einem um die Energiedichte der Batterie zu erheblichen Maße erhöhen. Beide Bereiche, die positive dazu beitragen, und die negative Elektrode sind mit die elektrische elektrischen Leitungen über die SpanEnergie für Fahr- nungsquelle oder den Verbraucher zeuge bereitzu- miteinander verbunden. Während des stellen und den Ladevorganges eines Akkumulators Verkehrssektor zu fließen Elektronen zur Anode und revolutionieren. treffen sich dort mit den positiv geDiese Anfänge ladenen Li-Ionen, die das Kathodenkönnen wir be- material verlassen haben, den ionenreits jetzt spüren. leitenden Elektrolytbereich passiert Der Weg zu haben und sich in Graphit einlagern. hochleistungsfäGraphit ist ein sogenanntes EinlaAbb. 2: Weltweiter Energiebedarf, der das nachhaltige Speichern higen Ionenbat- gerungsmaterial, in dessen Schichten elektrischer Energie aus regenerativen Quellen nötig werden terien war lang Li-Ionen hochreversibel insertiert lässt. Quelle: D. Larcher, J. M. Tarascon, Towards greener and und nicht ohne werden können. Die finale chemische more sustainable batteries for electrical energy storage, Nature R ü c k s c h l ä g e . Zusammensetzung auf der AnodenChemistry, 7, 2015, 19. Heute existieren seite ist LiC6, ein goldschimmerndes nachzuweisen. Obwohl der Anteil an viele verschiedene Insertionsprodukt. Auf der KathoCO2 in der Atmosphäre im Vergleich Varianten, die auf leicht unterschied- denseite wirkt Li xCoO2 (x > 0.5) zu anderen Gasen gering ist, führt die lichen elektrochemischen Umwand- als Insertionswirtsgitter und lässt anthropogene CO2-Erhöhung zu ei- lungsprozessen beruhen. Das Prinzip ebenfalls einen hoch reversiblen Einner dauerhaften globalen Erwärmung und der Aufbau einer klassischen und und Ausbau von Li+ bis zur Zusamvon einigen Grad Celsius, auf die un- damit typischen Lithium-Ionenbatte- mensetzung x = 1 zu. Während der ser Ökosystem sehr empfindlich rea- rie sind in Abb. 3 dargestellt. Dieser Li-Auslagerung wird Li+ und ein giert. Die für uns stark bedrohlichen Aufbau ähnelt stark den ersten Li- Elektron entfernt, so dass sich der Reaktionen können erst Jahre oder Ionenbatterien, die Sony 1991 kom- Redoxzustand des ÜbergangsmetalJahrzehnte später spürbar werden, da merzialisierte. lions Co von +3 auf +4 erhöht. Die CO2-Speicherquellen, wie z. B. OzeSie besteht im Wesentlichen aus Anfänge zu derartigen Insertionsmaane, eine lange Retentionszeit haben. drei Bereichen. Die positive Katho- terialien für Batterien gehen bis in die Um diesem globalen Effekt entge- de beherbergt ein Aktivmaterial, das 70er Jahre zurück. genzuwirken, müssen wir jetzt han- ein redoxaktives ÜbergangsmetalliWhittingham arbeitet in dieser Zeit deln und sehr vorausschauend sein. on (z. B. Fe2+/3+, Co3+/4+) enthält. für die Exxon Research & EngineeDa unser Energiebedarf in den letzten Gängige Aktivmaterialien sind z. B. ring Company. Konfrontiert mit der Jahren stetig gestiegen ist (Abb. 2), Li(Ni1/3Mn1/3Co1/3)O2, LiFePO4 Ölkrise ist er damit beschäftigt, die sind wir darauf angewiesen nachhal- oder Li-haltige Mn-Spinelle. Dieser elektrochemische Interkalation von tige Energiewandler zu entwickeln, Bereich wird durch eine elektronisch Li-Ionen in das schichtstrukturierte die z. B. Sonnenenergie oder Wind- isolierende Zone vom Anodenbereich Übergangsmetallsulfid TiS2 zu unenergie möglichst effizient in elek- abgetrennt. In trische Energie umwandeln. Es ist heutigen Zellen oftmals nötig, diese Energie zu spei- mit flüssigen chern, da sie aus intermittierenden E l e k t r o l y t e n „Quellen“ stammt. Neben z. B. physi- verhindert ein kalischen Speichern bieten vor allem Ku n s t s tof f s e elektrochemische Energiespeicher parator, der massive Vorteile in puncto Flexibili- z. B. mit einer tät, Größe, Energie- und Leistungs- dünnen Keradichte. Die bekanntesten unter ihnen mikschicht versind Lithium-Ionenbatterien, für de- sehen ist, den ren Entwicklung und Erforschung e l e k t r i s c h e n 2019 der Nobelpreis für Chemie an K u r z s c h l u s s . die Chemiker M. S. Whittingham Auf der An(USA), J. B. Goodenough (USA), und odenseite wirkt A. Yoshino (Japan) verliehen wurde. Graphit als AnLi-Ionenbatterien, wie wir sie heu- oden material, Abb. 3: Zum Prinzip und Aufbau einer typischen Lithiumte mit ihren vielfältigen Materialien zu dem oftmals Ionenbatterie, die unterschiedliche elektrochemische Potentiale und in diversen Bauweisen und Typen ein kleiner Vo- in den Kathoden- (z. B. Li xCoO ) und Anodenmaterialien (z. B. 2 kennen, haben unsere Art zu kommu- lumenanteil von Graphit) ausnutzt, um elektrische Energie zu speichern. Abbildung nizieren und weltweit Informationen Silizium hin- adaptiert nach J. Jarnestad, Königlich Schwedische Akademie der auszutauschen völlig verändert. Sie zugefügt wird, Wissenschaften.

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TOP-THEMA tersuchen, um einen Energiespeicher zu entwickeln, der unabhängig von fossilen Brennstoffen ist. Die damalige TiS2-Zelle hat Li-Metall als Anodenmaterial verwendet und konnte nur eine Spannung von etwas mehr als 2 V liefern. Mit Goodenoughs Lithiumkobaltoxid konnte dieser Wert auf fast 4 V erhöht werden. Yoshino arbeitete an einer verbesserten Anodenseite und trug damit wesentlich zum kommerziellen Erfolg der Li-Ionenbatterie bei, die heute nahezu alle anderen älteren Batterietypen, wie z. B. Nickel-Metallhydridbatterien, verdrängt hat. Li-Ionenbatterien arbeiten im Bereich des sogenannten elektrochemischen Nichtgleichgewichtes; in operando gebildete passivierende Schichten stabilisieren die einzelnen Komponenten hinsichtlich Degradation. Die aktuelle Forschung versucht einerseits die Energiedichten immer weiter zu erhöhen und andererseits eine ausreichende Sicherheit der Batterien zu gewährleisten. Konzepte wie Li-Schwefelbatterien oder LiSauerstoffbatterien zeigen den Weg zu hohen Energiedichten auf. Der Austausch der entflammbaren flüssigen, aprotischen Elektrolyte in der klassischen Li-Ionenbatterie durch feste Keramiken sorgt derzeit für das mitunter größte Forschungsinteresse. Solche Festkörperbatterien mit LiMetall als Anode könnten sicherer sein und auch bei höheren Temperaturen sorglos betrieben werden. Es sind aber noch Degradationsprozesse an den Grenzflächen zwischen Elektrolyt und den Aktivmaterialien zu erforschen, um „stabile“ Systeme bereitzustellen. Außerdem werden fieberhaft neue keramische Festelektrolyte entwickelt, um ausreichend hohe Li-Ionenleitfähigkeiten zu erzielen. Im Allgemeinen bewegen sich (solvatisierte) Li+-Ionen in flüssigen Medien weitaus schneller als in Festkörpern. Dennoch gelang es in den letzten 10 Jahren sulfidische Materialien zu entwickeln, die Li+-Leitfähigkeiten aufweisen, die denen der flüssigen Analoga gleichen. Heute gibt es Li-Ionenbatterien in allen möglichen Facetten und für die unterschiedlichsten Anwendungsfelder, seien dies der Kommunikationsbereich, die Luftfahrt oder die Medizintechnik, die Nachfrage

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wächst stetig (Abb. 3). Die Entwicklung von Kleinst- und Mikrobatterien stellt dabei eine ebenso große Herausforderung dar wie die Entwicklung von großformatigen Batterien für E-Fahrzeuge, letztere gehören sicherlich zur Königsdisziplin der Batterieentwickler. Ausgeklügelte Batterieüberwachungs- und -kontrollsysteme messen Betriebstemperaturen und regeln die Spannungsversorgung, um Alterungsprozesse zu verlangsamen und stabile Lade- und Entladevorgänge sicherzustellen. Im Bereich der Dünnfilm- oder Mikrobatterien, die z. B. kleine Sensoren oder Kommunikationsgeräte für das sogenannte Internet der Dinge mit elektrischer Energie versorgen, sind in den letzten Jahren ebenfalls erstaunliche Fortschritte erzielt worden. So können über ausgeklügelte Assemblierungs- und Herstellungsverfahren Li-Vollzellen mit Materialien konzipiert werden, deren Kristallstrukturen und Morphologien perfekt aufeinander abgestimmt sind. In 3D-Mikrobatterien greifen die Aktivmaterialien z. B. fingerartig ineinander und sorgen somit für eine möglichst hohe und homogene elektrische Energieverteilung. Die Firma TDK Electronics mit ihrem Standort Deutschlandsberg hat mit ihrem CeraChargeTM den weltweit kleinsten, mit klassischer SMDTechnologie verarbeitbaren LithiumIonen-Akkumulator bestehend aus einem keramischen Vielschicht-Festkörper auf den Markt gebracht (Abb. 4). Nachdem der CeraCharge TM aus gesinterter Keramik besteht, ist er besonders sicher: Er kann weder in Brand geraten noch explodieren, und auch die Gefahr, dass Flüssigkeit ausläuft, ist nicht gegeben. Um Kapazität und Spannung zu erhöhen, lassen sich mehrere dieser Akkumulatoren par-

allel und in Serie schalten. Dadurch eignen sie sich für viele Anwendungen unter anderem des Internet of Things. Die Entwicklung erfolgte in enger Kooperation mit der Zentralen Forschung des TDK-Konzerns in Tokyo. TDK hat für diese Entwicklung 2019 in Österreich einen der höchsten Preise für Innovation erhalten. Das Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort zeichnete den CeraCharge™ mit dem Sonderpreis VERENA aus, der im Rahmen der jährlichen Verleihung des Staatspreises Innovation vergeben wird. Der Preis würdigt Unternehmen, die in den Bereichen Energieeffizienz, erneuerbare Energien und E-Mobilität innovative Projekte mit Universitäten, Fachhochschulen oder anderen Forschungseinrichtungen umgesetzt haben. Darüber hinaus wählten führende internationale Verlagshäuser den CeraCharge zum Produkt des Jahres: In Japan gewann das Produkt den Superior Products and Services Award for Excellence von Nikkei und in China den World Electronics Achievement Award von Aspencore. Alle Li-Batterien, egal in welchem Anwendungsfeld sie eingesetzt werden, haben eines gemeinsam: Sie benötigen Lithium und, im Falle von Typen mit Ni- bzw. Co-haltigen Kathodenmaterialien, einen Zugang zu diesen nicht so häufig in der Erdkruste vertretenen Elementen, die meist in geopolitisch nicht besonders stabilen Regionen zu finden sind. Cobaltverbindungen sind zudem toxisch und sein Einsatz in Batterien soll drastisch reduziert werden. Lithiumeisenphosphat stellt eine Alternative dar, da es aus leicht verfügbaren chemischen Elementen aufgebaut ist; es lässt aber nicht ganz so hohe Entladespannungen zu. Die weltweit größten

Abb. 4: Links: Innerer Aufbau einer keramischen Mikrobatterie (CeraChargeTM von TDK-Electronics). Rechts: Keramische Mikrobatterien gelötet auf einer Leiterplatte (TDK); © Foto: Ch. Jungwirth.

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TOP-THEMA Li-Vorkommen liegen in Australien, Argentinien, China und Chile mit allein 7,5 Millionen Tonnen Reserven (Stand 2016). Wir müssen bei der Beschaffung der Rohmaterialien für Batterien achtsam sein und nachhaltig handeln. Die gleichzeitige Entwicklung von cleveren Recyclingstrategien geht einher mit der Etablierung einer echten Kreislaufwirtschaft, um uns vor ungewollten und versteckten CO2Emmissionen zu schützen, die z. B. bei der Herstellung von Batterien auftreten. Nur dann wird es uns auch gelingen den CO2-Fingerabdruck einer Batterie, der nur während ihres aktuellen Betriebes null ist, auch bezogen auf ihren gesamten Lebenszyklus zu minimieren. Dieser Zyklus beinhaltet die Beschaffung der Rohmaterialien, die Veredelung der Materialien zu Komponenten mit bestimmten Funktionen, ihre Assemblierung, den Betrieb der Batterie inklusive ihres sogenannten second life, und die Wiederverwendung wertvoller Rohstoffe. Als second life bezeichnet man das zweite Leben einer Batterie aus EFahrzeugen, die ihren zweiten Einsatz in z. B. stationären elektrischen Speichern finden. Üblicherweise werden Batterien ausgemustert, deren Entladekapazität durch Alterungsprozesse auf weniger als 80 % gesunken ist. In stationären Speichern können diese Zellen aber noch jahrelang eingesetzt werden, da das Volumen von solchen Stationen nicht wie im E-Fahrzeug stark limitiert ist und auch die Anforderungen an Entladespannung und Energiedichte weniger hoch sind. Insbesondere Ionenbatterien mit dem viel häufigeren Element Natrium als Ladungsträger bieten sich für diese Art der stationären Energiespeicherung an. Titanate, wie z. B. TiO2 als nanokristallines Anodenmaterial, stellen ebenfalls attraktive Materialalternativen dar. Nicht zuletzt wird intensiv an der Nutzung von nachhaltigen organischen, redoxaktiven Materialien geforscht, um immer umweltfreundlichere Alternativen zu entwickeln. Batterien für E-Fahrzeuge werden in entscheidendem Maße dazu beitragen, zumindest den CO2-Beitrag des Verkehrssektors grundsätzlich zu reduzieren. Obwohl die Produktion von Batteriezellen bis heute nach wie vor

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Abb. 5: Ausbau der Ladeinfrastruktur in Deutschland in den Jahren 2012 bis 2020. Anzahl der Neuzulassungen an Elektrofahrzeugen in ausgewählten europäischen Ländern in den Jahren 2019 und 2020. Quelle: statista, https://de.statista.com

in Asien ihren Mittelunkt hat, gibt es zurzeit keine wirtschaftliche Alternative für elektrochemische Energiespeicher, die auf Li als Ladungsträger setzen. Der Gesamtwirkungsgrad von Speichern mit Wasserstofftechnologie ist weitaus geringer und es gibt keine überzeugenden Konzepte für die nachhaltige Gewinnung von Wasserstoff, seiner Speicherung und seines Transportes vom Ort der Gewinnung bis zu seiner Einspeisung in mobile Speicher über tausende von Kilometern. Glücklicherweise existieren jedoch seit vielen Jahren leistungsfähige Batterien und es gibt ein auszubauendes Stromnetzwerk, so dass Ladestationen flächendeckend in Betrieb genommen werden können (Abb. 5). Die Batterien von E-Autos können zu Hause geladen werden. Dies ist der Erfolg jahrzehntelanger G r u nd l agen for schung zu neuen Materialien und elektrochemischen Prozessen, der seinen Anfang u. a. mit den anwendungsorientierten Studien von Stanley Whittingham nahm. An keinem anderen Beispiel zeigt sich die enge Verzahnung von anwendungsnaher Forschung mit der reinen, vielleicht sogar zunächst zweckfreien, Grundlagenforschung, deutlicher, die an unseren Universitäten nicht vernachlässigt werden darf. Grundlagenforschung, getrieben von kreativer Neugier die Natur zu erkunden und zu verstehen, bildete schon immer die Basis für unsere gesellschaftliche

technische und kulturelle Entwicklung. In den kommenden Jahren ist mit einer weiteren Reduktion der Herstellungskosten für Batterien zu rechnen, umweltfreundliche Materialien werden Einzug halten, Recyclingkonzepte werden erste Früchte tragen und das Vertrauen in E-Fahrzeuge (Abb. 4), insbesondere wenn diese mit Festkörperzellen ausgestattet sind, wird stetig zunehmen. Batterien sind bereits Schlüsselelemente für klimaneutrale Industrienationen. Schwellenländer und Drittländer müssen davon genauso stark profitieren und in die ‚Kreislaufwirtschaft Batterie‘ partnerschaftlich mit eingebunden werden.

Univ.-Prof. Dr. Martin Wilkening Leiter des Institutes für Chemische Technologie und Materialien an der TU Graz Autoren: Univ.-Prof. Dr. Martin Wilkening Leiter des Institutes für Chemische Technologie und Materialien an der TU Graz Martin Wilkening leitet das Institut für Chemische Technologie und Materialien an der TU Graz und ist seit 2011 Professor für Physikalische Festkörperchemie moderner Energiespeichersysteme. Von 2012 bis 2019 war er der Direktor des Christian-

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TOP-THEMA Doppler Labores für Lithium-Batterien mit den Unternehmenspartnern AVL List, Infineon Technologies Austria und TDK. Wilkening hat 2005 in Hannover promoviert und sich 2012 im Fach Physikalische Chemie mit Arbeiten zu ultralangsamen Ionenbewegungen in Festkörpern habilitiert. Er ist Träger mehrerer wissenschaftlicher Preise, seine Arbeiten wurden u.a. mit dem ADUC-Jahrespreis der Gesellschaft Deutscher Chemiker ausgezeichnet. Seine Forschung beschäftigt sich mit den ionischen Transportprozessen in nanokristallinen Materialien für die Energiespeicherung. Dr. Manfred Schweinzger Leiter der Abteilung Corporate Research & Development der TDKElectronics GmbH & Co OG in Deutschlandsberg

M a n f r e d Schweinzger leitet die Abteilung Corporate Research & Development von TDK-Electronics in Deutschlandsberg. Er beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit elektrokeramischen Materialien. Nach einem Diplom in Biochemie wechselte er das Fach und begann eine Dissertation zum Thema „Induktiv gekoppelte Plasma Emissionsspektroskopie von keramischen Materialien“. Als Leiter des Analytiklabors, als Verantwortlicher für die keramische Prozesstechnik sowie der keramischen Pulverfertigung vertiefte er seine Kenntnisse auf dem Gebiet

Dr. Manfred Schweinzger Leiter der Abteilung Corporate Research & Development der TDKElectronics GmbH & Co OG in Deutschlandsberg der Elektrokeramik. Er ist Co-Autor der Expertenstudie „Zukunftspotentiale von Hochleistungskeramiken“ (Herausgeber: Deutsche Keramische Gesellschaft; Verband der Keramischen Industrie e.V. und Deutsche Gesellschaft für Materialkunde e.V.) und ist an mehreren Patenten und Patentanmeldungen beteiligt.

WING-digital Sigrid Weller

WING-digital – The Show Goes On

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achdem unsere mittlerweile etablierte und erfolgreiche Veranstaltungsreihe WING-digital auf regen Zuspruch unserer WING-Mitglieder gestoßen ist, konnte unser Präsident Dr. Gress seit der letzten WINGbusiness Ausgabe bereits drei weitere Veranstaltungen ankündigen bzw. die Teilnehmer begrüßen. Im März referierte Dr. Ronald Gleich, Professor for Management Practice and Control an der Frankfurt School of Finance and Management, über das Thema „Controlling und Performance Measurement 2.0 – was sich jetzt ändern muss“. FH-Prof. Martin Tschandl, Mitglied unseres Präsidiums, moderierte durch die Veranstaltung und die aufschlussreiche Diskussion nach dem Vortrag. Die zweite Veranstaltung im März, moderiert von einem unserer Regionalkreisleiter Steiermark FH-Prof. Stefan Grünwald, drehte sich rund um das Thema „Data (Science) in Action: Von Daten zum Nutzen“. Im Rahmen der DigitalDialog Silicon Alps trugen hier Dr. Robert Ginthör, Know-Center GmbH, Dr. Alexander Stocker, Virtual Vehicle Research GmbH und DI Matthias Traub, DI Markus Streibl, Invenium Data Insights GmbH vor. Das Thema „Technikfolgenabschätzung und die Verantwortung der (Wirtschafts-) Ingenieure" wurde uns Wirtschaftsingenieurinnen und Wirtschaftsingenieuren durch den Vortrag von Prof. Gerhard Banse im Mai nähergebracht, moderiert von Prof. Ulrich Bauer, Vizepräsident WING. Prof. Dr. Gerhard Banse ist Altpräsident der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin; ehemaliger Mitarbeiter am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des Karlsruher Instituts für Technologie. Es werden weitere aufschlussreiche, für Wirtschaftsingenieurinnen und Wirtschaftsingenieure sehr interessante WINGdigital Veranstaltungen folgen. Informationen zu den nächsten Veranstaltungen erhalten Sie über unsere Newsletter Aussendungen, die Homepage und LinkedIn. Das WING-Team freut sich auf Ihre Teilnahme! Haben auch Sie ein passendes Thema für eine WING-digital Veranstaltung dann schreiben Sie uns eine E-Mail (office@wing-online.at)!

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Foto: Wasserstoff-Infrastruktur von HyCentA und LEC © LEC GmbH

Alexander Trattner, Andreas Wimmer

Grüner Wasserstoff - Energiemedium der Zukunft? Die ökonomischen, ökologischen, sozialen und gesundheitlichen Folgen von Klimawandel und Umweltbelastung durch Schadstoffe stellen eine ernsthafte Bedrohung unserer Lebensqualität dar. Ressourcen und Umwelt sind auf unserem Planeten nur begrenzt vorhanden, daher empfiehlt sich ein rascher Umstieg von fossilen auf erneuerbare Energieträger. Eine nachhaltige Lösung als Beitrag zur Energiewende bietet die erneuerbare (oder grüne) Wasserstoffwirtschaft. Grüne Wasserstoffwirtschaft bedeutet den Wechsel von fossiler Endenergie zu grünem Strom und grünem Wasserstoff in allen Bereichen von Mobilität, Industrie, Haushalt und Dienstleistungen; siehe Abbildung 1.

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ie Energiewende zur nachhaltigen Stromerzeugung und zur Wasserstoffwirtschaft stellt die nächste große industrielle Revolution dar, die nicht nur die Aussicht auf eine gesunde und lebenswerte Umwelt für spätere Generationen bietet, sondern auch die wirtschaftliche Chance auf innovatives Know-how und Technologieführerschaft. Die TU Graz und die TU-nahen Forschungsgesellschaften HyCentA und LEC setzen in der Forschung bereits seit vielen Jahren auf das Thema Wasserstoff. Nachfolgend werden dazu umgesetzte oder in Planung befindliche Beispiele von Leuchtturmprojekten aus den Bereichen der Erzeugung, der Speicherung sowie der Anwendung von Wasserstoff in Mobilität, Transport, Industrie und Energieerzeugung gezeigt. Erzeugung Voraussetzung für die Energiewende ist der konsequente und umfassende

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Abbildung 1: Erneuerbares Energiesystem mit Wasserstoff

Ausbau der erneuerbaren Energieträger Sonne, Wind und Wasser. Die dazu erforderlichen Technologien sind global verfügbar und technisch ausgereift. Wasserkraftwerke, Windturbinen und Photovoltaik liefern Strom, thermische Solarkraftwerke auch Wärme. Da die elektrische Energie aus diesen erneuerbaren Quellen fluktuie-

rend anfällt und sich nicht nach der Nachfrage richtet, ist eine Energiespeicherung in großem Maßstab erforderlich. Die Nutzung von Wasserstoff als langfristiger Energiespeicher bietet die unbedingt erforderliche Voraussetzung für das Gelingen der Energiewende. Elektrolyseure zerlegen mit Strom betrieben Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff. Dies ermögli-

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TOP-THEMA cht die Integration von erneuerbaren Energien, ohne Abschaltung von Anlagen, in das Energiesystem. Erste dieser Power-to-Gas oder Power-toHydrogen Anlagen sind erfolgreich im Betrieb, einige alkalische Bauarten bereits seit Jahrzehnten. w2h – wind2hydrogen: Die Power-to-Gas Entwicklung zielt auf eine Verschränkung der Energienetze von Strom und Erdgas. Schlüsseltechnologie in diesem System sind flexible, effiziente und wirtschaftliche Elektrolyse-Anlagen. Ein österreichisches Konsortium aus OMV, EVN, FRONIUS International GmbH, HyCentA Research GmbH und dem Energieinstitut an der Johannes Kepler Universität (JKU) Linz erforschte die Produktion von „grünem Wasserstoff“ mithilfe eines neuartigen Hochdruck-Elektrolyseurs sowie die Einspeisung in das Erdgasnetz bzw. die Abfüllung und Verwendung des Wasserstoffs (H2) in der Mobilität. Dazu wurde eine Pilotanlage (siehe Abbildung 2) in der Größenordnung von 100 Kilowatt (kW) am OMVStandort in Auersthal (Niederösterreich) realisiert, wo im experimentellen Betrieb zukünftige Geschäftsfälle (stromseitig und aus Sicht des Erdgasnetzbetreibers) simuliert werden können. Zudem wurde die physische Einspeisung von Wasserstoff in eine Erdgasleitung der OMV getestet. Es ist die erste Pilotanlage dieser Art und Größe weltweit. Mit dem Projekt wurden Erfahrungen von der Planung bis zum operativen Betrieb generiert. Es wurden zudem rechtliche, wirtschaftliche und ökologische Bewertungen durchgeführt und verschiedene Geschäftsmodelle als Vorbereitung für den Rollout konzipiert. HySnow: Es wird der Betrieb eines Wintertourismusgebiets ohne Freisetzung von Schadstoffen, Treibhausgasen und Lärm demonstriert. Besonders in Wintersportgebieten sind die Vermeidung von Lärm- und Schadstoffen sowie die Möglichkeit der Nutzung erneuerbarer Energiequellen von großer Relevanz, zudem steigen Interesse und Nachfrage der Betreiber stetig.

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Abbildung 2: wind2hydrogen Anlage mit Sicht auf die Elektrolysemodule

Es wird die gesamte Wirkungskette, von der Photovoltaikanlage über die Wasserstoffproduktion, Wasserstoffspeicherung mit Betankungsanlage bis hin zu einer kleinen Schneemobilflotte mit Brennstoffzellenantrieb, entwickelt, aufgebaut und unter realen Betriebsbedingungen im Skigebiet Hinterstoder Wurzeralm getestet. Die Erzeugung des Wasserstoffs erfolgt mittels innovativer AEMDruck-Elektrolyse integriert in der Betankungsanlage unmittelbar neben der Mittelstation. Herausfordernd ist der Anlagenbetrieb in alpiner Umgebung mit tiefen Temperaturen und reduziertem Luftdruck. Das Projekt wird vom Klima- und Energiefonds gefördert. Projektpartner sind: BRPRotax GmbH & Co KG, HyCentA Research GmbH, ElringKlinger AG, Fronius International GmbH, Hinterstoder Wurzeralm Bergbahnen AG, TU Graz, Institut für Elektrische Messtechnik und Sensorik und ECuSol GmbH. Speicherung Nach der Herstellung ist Wasserstoff praktisch unbegrenzt speicherbar, in Behältern, in unterirdischen Speichern oder ins Gasnetz eingespeist. Die Verteilung von Wasserstoff erfolgt gasförmig verdichtet bei rund 300 bar in Druckbehältern, gasförmig in Pipelines, flüssig tiefkalt bei Temperaturen unter – 253 °C in Kryobehältern und in chemischen oder physikalischen Verbindungen. Vor allem die Verteilung über Pipelines gilt als

energieeffizient und kostengünstig. Wasserstoff ermöglicht damit eine internationale Energieverteilung und verbindet Regionen, in denen erneuerbare Energien reichlich vorhanden sind, mit solchen, die Energieimporte benötigen. Die Rolle der Speicherung in ehemaligen Erdgaslagerstätten wird aktuell im Projekt USS2030 untersucht. In diesem weltweit einzigartigen Forschungsprojekt wird erneuerbare Sonnenenergie klimaneutral mittels Elektrolyse in reinen Wasserstoff umgewandelt und in ausgeförderten Erdgaslagerstätten gespeichert, siehe Abbildung 3. Bis 2025 werden unter Leitung der RAG Austria AG gemeinsam mit Projektpartnern interdisziplinär technisch-wissenschaftliche Untersuchungen für die Energiezukunft unter realen Bedingungen an einer kleinen ausgeförderten Erdgaslagerstätte in der Gemeinde Gampern (Oberösterreich) durchgeführt. Dazu wird eine geeignete Forschungsanlage errichtet werden. Ergänzt werden diese Untersuchungen durch die Entwicklung von geeigneten Aufbereitungstechnologien, die Modellierung von künftigen Energieszenarien und von techno-ökonomischen Analysen. Das Projekt wird im Rahmen des Energieforschungsprogrammes des Klima- und Energiefonds gefördert. Projektpartner (alphabetische Reihenfolge): Axiom Angewandte Prozesstechnik GmbH, Energie AG, Energieinstitut an der Johannes Kepler Universität Linz, EVN AG, HyCentA Research GmbH, K1-MET GmbH,

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Abbildung 3: Konzept von USS2030 - Underground Sun Storage (Quelle: RAG)

University of Technology Vienna ICEBE und EEG, Institute of Environmental Biotechnology (BOKU), Verbund Solutions GmbH, Verein WIVA P & G und voestalpine Stahl GmbH. Mobilität und Transport In der Mobilität und im Transport bieten Wasserstoff und Wasserstoffbasierte Kraftstoffe (wie etwa Methanol und Ammoniak bzw. Diesel- und Benzin-ähnliche Kraftstoffe), die unter der Bezeichnung e-Fuels zusammengefasst werden können, hohe Energiedichten und damit wesentlich größere Reichweiten im Vergleich zu reinen Batterie-elektrischen Antriebssystemen. HyMethShip: Das Konzept kombiniert einen Membranreaktor, ein System zur CO2Abscheidung, ein Speichersystem für CO2 und Methanol und einen Wasserstoffverbrennungsmotor zu einem innovativen Gesamtsystem. Wasserstoff wird an Bord des Schiffes durch Methanol-Reformierung hergestellt und in einem konventionellen Hubkolbenmotor, der für den Betrieb mit verschiedenen Kraftstoffen modifiziert und speziell für den Wasserstoffbetrieb optimiert wurde, nahezu ohne CO2 Emissionen zu verursachen verbrannt. Die drastische Reduktion der CO2 Emissionen wird durch die Verwendung von regenerativ erzeugtem Methanol als Primärenergieträger und Kohlenstoffabschei-

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dung und -speicherung bereits vor der Verbrennung erreicht. Idealerweise wird das Methanol an Land aus dem auf dem Schiff gespeicherten CO2 erzeugt, so dass sich ein geschlossener CO2 Kreislauf für den Schiffsantrieb ergibt. Neben der realen Umsetzung des Konzepts in einem Prototyp werden dazu in dem mit über 9 Mio. € dotiertem EU-Forschungsprojekt HyMethShip mit 13 internationalen Partnern und dem LEC als Konsortialführer auch umfangreiche Risiko- und Sicherheitsanalysen durchgeführt sowie die Wirtschaftlichkeit des Gesamtsystems für verschiedene Schiffstypen und Anwendungsfälle detailliert analysiert und bewertet. Move2zero: Als Leitprojekt entwickelt move2zero ein umfassendes Umsetzungsund Implementierungskonzept für

die vollständige Dekarbonisierung eines städtischen Bussystems, das zukünftig auf viele weitere städtische Verkehrssysteme übertragen werden kann. Basierend auf einer multi-disziplinären Forschung und einer umfassenden Demonstrationsphase wird move2zero den Weg zu einer schrittweisen effizienten und effektiven Umstellung städtischer ÖV-Systeme in Richtung emissionsfreier Zukunft ebnen. In einem ersten Demonstrationsbetrieb werden 7 Batteriebusse auf der Linie 40 und 7 Brennstoffzellenbusse auf der Linie 66 in Graz zum Einsatz kommen, um Erfahrungen mit unterschiedlichen Technologien im Realbetrieb zu sammeln. Im Demonstrationsbetrieb wird die erforderliche Ladeinfrastruktur zur Energiebereitstellung für die batterieelektrischen Busse je nach Technologieauswahl entlang der Buslinie und/oder im Buscenter errichtet und betrieben. Für die Betankung der Brennstoffzellenbusse ist die Errichtung einer Tankanlage im Buscenter geplant. Dieses Projekt wird aus Mitteln des Klima- und Energiefonds im Rahmen des Programms „zero emission mobility“ gefördert. HyTruck: In Anbetracht der jährlich zurückgelegten Kilometer, des Verbrauchs an fossilen Kraftstoffen und der entsprechenden Treibhausgasemissionen ist es notwendig, geeignete technologische Lösungen für emissionsfreie Nutzfahrzeuge zu entwickeln. Obwohl emissionsarme Alternativen,

Abbildung 4: Das HyMethShip-Konzept

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TOP-THEMA wie CNG, LNG usw., die Emissionen des gewerblichen Gütertransports reduzieren könnten, können heute nur mit Wasserstoff betriebene Brennstoffzellen-LKWs real einen emissionsfreien Warentransport erfüllen, da die derzeitige Batterietechnologie für den Fernverkehr in Bezug auf Größe und Gewicht nicht wirtschaftlich ist. Das Projekt HyTruck verfolgt das Ziel, eine emissionsfreie brennstoffzellenbasierte Lösung für den Nutzfahrzeugmarkt innerhalb der Energiemodellregion WIVA P&G zu demonstrieren. Um die Ziele der FTI-Initiative des österreichischen Klima- und Energiefonds zu erreichen, wurde ein starkes Projektkonsortium bestehend aus zwei LKW-OEMs (Rosenbauer und FMF (IVECO)), einem Entwicklungsdienstleister (AVL List), Logistikunternehmen (DB Schenker, MPreis über FEN Systems), zwei KMUs (FEN Systems, Productbloks) und vier Forschungseinrichtungen (TU Wien, TU Graz, HyCentA und das Energieinstitut der Johannes Kepler Universität Linz) und der WIVA P&G-Verein aufgestellt. Industrie In der Industrie ist Wasserstoff bereits seit Jahrzehnten vorrangig als Ausgangsstoff im Einsatz (Petrochemie, Düngemittelherstellung). Dieser meist fossil hergestellte Wasserstoff ist durch erneuerbare Versorgung zu ersetzen. Darüber hinaus bietet Wasserstoff viele Möglichkeiten fossilbasierte Prozesse in der Chemie- und Stahlindustrie umzustellen, wie etwa die Reduktion von Roheisen. Wasserstoff kann beispielhaft auch in der energie-intensiven Glasindustrie und bei der Erzeugung von Prozessdampf mit hohen Temperaturniveaus eine wesentliche Rolle spielen. Die Rolle von Wasserstoff in der Halbleiterindustrie wird im österreichischen Projekt H2Pioneer erforscht. H2Pioneer: Das übergeordnete Ziel von H2Pioneer ist es, eine Vor-Ort-Lösung für den in Zukunft steigenden Wasserstoffbedarf in der Halbleiterindustrie darzustellen. Wasserstoff wird bei höchsten Reinheitsanforderungen, rund um die Uhr

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(24/7) in den ökonomischen und ökologischen Rahmenbedingungen einer „green industry“ direkt am Standort erzeugt. Der Innovationsgehalt ist einerseits durch die Umsetzung der PEM- Elektrolyse (ProtonenAustausch-Membran-Elektrolyse) am Verwendungsort sowie der nachgeschalteten Aufreinigungsanlage zur Realisierung höchster Reinheitsanforderungen gegeben. Andererseits besteht der wesentliche Innovationsgehalt in der Konzeption-ierung und Bewertung der Verwertungszweige von Rückführung oder energetischer Nutzung des aktuell nicht genutzten Wasserstoffabgases im „green hydrogen cycle“. Dieses Projekt wurde aus Mitteln des Klima- und Energiefonds gefördert und im Rahmen des Programms „Vorzeigeregion Energie“ durchgeführt. Projektpartner sind: VERBUND Energy4Business GmbH, Infineon Technologies Austria AG, HyCentA Research GmbH, Energieinstitut an der JKU Linz und WIVA P&G. Energie Im Energiesektor kann Wasserstoff in Kraftwerken bedarfsgerecht in Strom und Wärme gewandelt werden und zur Erhöhung der Versorgungssicherheit (Black-Out Vorsorge) dienen. Zusätzlich können dezentrale Lösungen (Regionen bis hin zu Haushalten) die großen Verteilnetze entlasten und mit der Kombination von erneuerbarer Stromerzeugung, Elektrolyse, Wasserstoffspeicher und Brennstoffzelle oder Verbrennungskraftmaschine die Energieversorgung bei höchsten Nutzungsgraden bereitstellen. Hy2Power: Ziel des Pionierprojekts ist die Entwicklung eines technologischen Gesamtkonzepts für ein Kraftwerk der Zukunft zur Bereitstellung von Netzdienstleistungen, um die aufgrund des wachsenden Anteils an erneuerbaren Energien steigenden Schwankungen im Stromnetz ausgleichen zu können. Zu diesem Zweck entwickeln das LEC und die Projektpartner Verbund, INNIO Jenbacher, HyCentA, AIT sowie TU Graz im Rahmen des COMET-K1-Forschungsprogramms LEC EvoLET die Grundlagen für eine

Pilotanlage zur Erzeugung von Wasserstoff mittels Elektrolyse basierend auf der Nutzung von Überschusselektrizität, der temporären Speicherung des Wasserstoffs und der flexiblen bedarfsorientierten Rückverstromung in einer Verbrennungskraftmaschine. Für Letztere wird eigens ein neues, effizientes und hochtransientfähiges Wasserstoffbrennverfahren entwickelt, welches auf dem neuen LEC Hightech-Vollmotorprüfstand im Zusammenspiel mit einer Batterie demonstriert werden wird. Auf Basis dieser Arbeiten soll schließlich eine Pilotanlage des Kraftwerks der Zukunft im geplanten WasserstoffInnovationszentrum am Standort Mellach/Werndorf errichtet werden. Österreichs Industrie ist jedenfalls gewappnet für den Umstieg auf Wasserstoff, wie auch Stephan Laiminger, Chief Technologist bei INNIO Jenbacher und Absolvent der TU Graz, bestätigt: “INNIO Jenbacher setzt auf eine nachhaltige Energieerzeugung. Wir bereiten uns auf eine grünere Energiezukunft vor und investieren in die Erforschung und Entwicklung von zukunftsweisenden, innovativen Technologien, die eine umweltfreundlichere und von digitalen Technologien gestützte Energieerzeugung ermöglichen sollen. Der weltweit erste Großgasmotor (1-MW-Klasse), der mit flexiblen Wasserstoff-ErdgasGemischen bzw. mit 100 % umweltfreundlichem Wasserstoff betrieben wird, ist im November 2020 bei HanseWerke Natur in den Pilotbetrieb gegangen. Dem ging eine Vorauslegung des Brennverfahrens am LEC voraus, das in sehr kurzer Zeit in Jenbach 1:1 auf einen Serienmotor umgelegt werden konnte. Die nächsten Schritte hin zu einer vollständigen Ertüchtigung der Jenbacher Flotte für den Wasserstoffbetrieb sind bereits in Umsetzung. Dafür wurde ein weiterer Testmotor am LEC in Betrieb genommen. Dabei handelt es sich um den ersten Jenbacher Gasmotor der 2-MW-Klasse, der vom reinen Erdgasbetrieb auf den Betrieb mit Wasserstoff umgerüstet wurde. Unsere brennstoffflexiblen Jenbacher Gasmotoren können mit einer Vielzahl von Brennstoffen betrieben werden, darunter Erdgas, Syngase und erneuerbare Brennstoffe.“

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TOP-THEMA Autoren: Dipl.-Ing. Dr.techn. Alexander Trattner ist Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter der HyCentA Research GmbH an der Technischen Universität Graz, Österreichs einzigem Forschungszentrum für Wasserstofftechnologien seit 2005. Er leitet dort das Team bestehend aus rund 50 Forschenden und beschäftigt sich im Rahmen seiner Tätigkeiten mit der Herstellung, Ver-

teilung, Speicherung und Anwendung von Wasserstoff. Darüber hinaus ist er als Lehrender an der TU Graz im Bereich Höhere Thermodynamik und Wasserstoff für die Fahrzeug- und Energietechnik tätig, wie auch Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Veröffentlichungen und Buchautor. Ao.Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Andreas Wimmer ist Professor am Institut für Verbrennungskraftmaschinen und Thermodynamik der TU Graz, an dem er den Fachbereich

Dipl.-Ing. Dr.techn. Alexander Trattner Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter der HyCentA Research GmbH, TU Graz

Motorenforschung – Analyse und Simulation verantwortet und auch stellvertretender Institutsvorstand ist, sowie langjähriger Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter des COMET-K1-Zentrums LEC (Large Engines Competence Center). Auf seine Initiative entstanden global agierende Forschungsnetzwerke wie LEGRIP (Large Engines Global Research and Innovation Platform) oder das LEC Sustainable Shipping Technologies Forum.

Ao.Univ.-Prof. Dipl.Ing. Dr.techn. Andreas Wimmer Professor am Institut für Verbrennungskraftmaschinen und Thermodynamik, TU Graz CEO & CSO der LEC GmbH

Data Challenge 2021 To all Data Scientists:

Can you handle the pressure? Bis 16. August 2021 haben Data Scientists aus verschiedenen Disziplinen die Möglichkeit, an der diesjährigen LEC Data Challenge unter dem Motto „Can you handle the pressure?“ teilzunehmen. Im Mittelpunkt steht dabei die Vorhersage der Zylinderdruckkurven eines Großmotors. Die drei besten Lösungen werden am 22. September 2021 im Rahmen des Internationalen Symposiums für Nachhaltigkeit in Mobilität, Transport und Energieerzeugung im Grazer Kongress ausgezeichnet.

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Infos unter www.LEC.at/datachallenge

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Die Österreichische Vereinigung für Instandhaltung und Anlagenwirtschaft präsentiert

35. Internationaler Instandhaltungskongress

INSTANDHALTUNG ALS ERFOLGSFAKTOR Strategie, Lebenszyklusorientierung und Digitalisierung 29. – 30. September | Falkensteiner Hotel & Asia Spa Leoben Folgende Aspekte der wertschöpfungsorientierten Instandhaltung werden thematisiert: • • • • • •

Strategieoptimierung Flexibilisierung Kulturwandel Digitale Transformation Life Cycle Management Ersatzteilmanagement

• • • • • •

Schwachstellenanalysen Augmented Reality Instandhaltungswerkstätten Remote Instandhaltung Digitale Zwillinge Prozessüberwachung & Analyse

Der Kongress ist als Präsenzveranstaltung, unter Einhaltung aller zu diesem Zeitpunkt geltenden COVID-Bestimmungen, geplant!

www.oevia.at | Die erste Adresse für Instandhaltung in Österreich In Kooperation


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Foto: SANBA-NÖM Panorama © Mario Pampel

Thomas Kienberger, Peter Nagovnak, Roman Geyer, Ali Hainoun, Paul Binderbauer

NEFI – New Energy for Industry Die Industrie als elementarer Baustein der Energiewende für Österreich und darüber hinaus

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it dem Green Deal haben sich die Europäische Union und Ihre Mitgliedsstaaten zur Erreichung einer vollständigen Dekarbonisierung bis spätestens 2050 verpflichtet (European Commission 2019). Dabei muss ein Hauptaugenmerk auf einer Transformation des gesamten Energiesystems liegen. Der heutige Endenergieverbrauch in Österreich beträgt rund 316 TWh und zeigt auf, von welcher Größe und Komplexität die vor uns liegende Herausforderung ist (Statistik Austria 2020). Zusätzlich müssen für eine vollständige Dekarbonisierung bereits heute primärenergieintensive industrielle Umwandlungsprozesse, bspw. in der chemischen Industrie oder der Eisenund Stahlerzeugung, mithilfe neuer Technologien klimafit gestaltet werden. Wie in Abbildung 1 ersichtlich, verteilt sich der Endenergieverbrauch zu annähernd gleichen Teilen auf die Sektoren Gebäude, Mobilität und Industrie. Vor allem der industrielle Sektor ist durch variable Energieintensitäten, komplexe Energiesysteme sowie den Einsatz von Technologien und Aggregaten mit äußert langen Lebensdauern charakterisiert. Wäh-

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rend im Sektor Gebäude klimaneutrale Technologien bereits greifen und zu rückläufigen CO2-Emissionen führen, und auch im Sektor Verkehr bereits wichtige Weichenstellungen erfolgt sind, stehen diese in der Industrie vielfach noch bevor. Neben den technologischen Herausforderungen die aufgrund der oben beschriebenen Komplexität in der Industrie bestehen, sind es oftmals systemische Hürden, wie fehlende stabile Rand-

bedingungen, die die industrielle Energiewende bisher erschwert haben. Der Innovationsverbund NEFI – New Energy for Industry stellt sich diesen Herausforderungen und zeigt anhand ausgewählter Beispiele, dass Klimaneutralität in allen Industriesektoren bei gleichzeitigem Erhalt bzw. Steigerung der Wertschöpfung möglich ist. Technologieinnovationen „Made in Austria“ spielen dabei eine Schlüsselrolle und helfen, den Indus-

Abbildung 1: Sektorale Aufteilung des Endenergieverbrauchs in Österreich nach (Statistik Austria 2020) © NEFI WINGbusiness 2/2021


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Abbildung 2: NEFI Innovationsfelder © NEFI

trie- und Produktionsstandort Österreich in eine klimafreundliche Zukunft zu führen. Das NEFI-Konsortium, bestehend aus dem Lehrstuhl für Energieverbundtechnik an der Montanuniversität Leoben, dem AIT - Austrian Institute of Technology, dem Energiesparverband Oberösterreich und der oö. Standortagentur Business Upper Austria, bündelt große Erfahrung im Bereich der Energieforschung und der Umsetzung von Projekten und bildet somit eine innovative Schnittstelle zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Wie ebenfalls in Abbildung 1 dargestellt setzt der Innovationsverbund besonders in den stark industriell geprägten Bundesländern Steiermark und Oberösterreich an, wodurch eine gute Ausgangslage für eine gesamtösterreichische Ausrollung der in NEFI entwickelten Lösungen geschaffen wird. Die Bandbreite der mit NEFI verknüpften Branchenunternehmen

Abbildung 3: Innovationsprozess © NEFI

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reicht von großen Leitbetrieben bis zu innovativen Klein- und Mittelbetrieben und involviert Vertreter*innen aller Industriesektoren, beispielsweise aus der Lebensmittel-, Maschinenbau-, Kunststoff-, Zement- und Stahlindustrie. In mittlerweile 17 Subprojekten mit einem Gesamtvolumen von ca. 40 Mio.€ werden potentielle Lösungen für industrielle Energiesysteme der Zukunft sowie Schlüsseltechnologien für die Dekarbonisierung der Industrie entwickelt und im Realbetrieb demonstriert. Alle Subprojekte liefern Beiträge zu zumindest einem der in Abbildung 2 dargestellten Innovationsfelder. Die in den Projekten thematisierten technologischen Fragestellungen verbindet NEFI mit deren systemischen Rahmenbedingungen und entwickelt darauf basierend begleitende Geschäftsmodelle, Regulierungsvorschläge und Strategien zur Gestaltung der Energieinfrastruktur der Zukunft.

Durch eine Positionierung an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik werden in NEFI alle relevanten Stakeholdergruppen in einen umfangreichen Innovationsprozess eingebunden. Dieser dient dazu, jene Projekte zu initiieren, die größtmögliche Wirkung hinsichtlich der drei NEFI-Ziele CO2-Reduktion, Technologieinnovation und Sicherung des Wirtschaftsstandorts aufweisen. Wie in Abbildung 3 ersichtlich, kommt dabei ein offener Innovationsprozess zum Einsatz, der auf mehreren Detaillierungsebenen in sog. „Project & Open Cycles“ arbeitet. Dabei werden mithilfe von thematischen Workshops, Diskussionsrunden und offenen Veranstaltungen zunächst Innovationsideen der Nutzer*innen abgeholt, Innovationsbedarfe für die Befüllung sog. „White Spots“ identifiziert und in weiterer Folge zielgerichtet zu konkreten Projekten verdichtet. Einen wichtigen Aspekt bei der Identifikation von „White Spots“ im Hinblick auf die Ziele von NEFI, und in weiterer Folge zur Steuerung des zuvor beschriebenen Innovationsprozesses stellen die von uns entwickelten Dekarbonisierungsszenarien dar. Sie geben mithilfe von technologieaufgelöste Analysen Impulse, an welchen Stellen in der österreichischen Industrielandschaft Projekte platziert werden sollen. Folgende Szenarien-Pfade werden untersucht: „Business-As-Usual“ (BAU): Das Trendszenario „BAU“ zeichnet sich durch eine weitgehende Extrapolation aktueller Trends und Technologien im Betrachtungszeitraum bis 2050 aus (Ducot und Lubben 1980). Daraus werden in weiterer Folge die Entwicklung der CO2-Emissionen und des industriellen Gesamtenergiebedarfs je Sektor abgeleitet. Das Szenario „BAU“ dient als Referenzlinie, anhand derer die Wirksamkeit der innovativen Technologien und Maßnahmen in den beiden untenstehenden, alternativen Szenarien bewertet werden können. „Deep-Decarbonisation“ (DCS): Das Szenario „DCS“ repräsentiert umfangreiche und ambitionierte Maßnahmen, mithilfe derer eine vollständige Dekarbo-

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TOP-THEMA nisierung des industriellen Energiesystems bis 2050 möglich ist. Mittels „Backcasting“ wird auf normativer Ebene ein möglicher Transformationspfad für die österreichische Industrie aufgezeigt, wobei neben technologischen, auch sozioökonomische und infrastrukturelle Parameter miteinbezogen werden (Robinson 1982). Vom vordefinierten Ziel der vollständigen Dekarbonisierung ausgehend, werden Strategien und Maßnahmen entwickelt, die für die Erreichung des Ziels heute und in Zukunft nötig sind. „Mitigation“ (MGS): Das Szenario „MGS“ geht aus einem eng abgestimmten Dialog mit Vertretern aus Leitbetrieben der industriellen Subsektoren hervor und bildet eine regelmäßig aktualisierte Selbsteinschätzung der Industrie bis zum Jahr 2030 ab. Anhand von kurz- bis mittelfristig verfügbaren „Best Available Technologies“ sowie „Breakthrough Technologies“ wird diese Einschätzung in der Folge bis 2050 extrapoliert. Das dabei verwendete Konzept entspricht dem „Foresight“-Konzept (Martin 2010). Die Industrieperspektive, die das Szenario „MGS“ abbildet, ist für uns insgesamt von sehr großer Bedeutung. Sie ermöglicht es, im Vergleich mit dem gewünschten Dekarbonisierungspfad (Szenario „DCS“) jene techno-ökonomischen bzw. regulatorischen Hürden zu identifizieren und zu quantifizieren, die überwunden werden müssen um die industrielle Energiewende in Österreich umsetzen zu können. Durch ein regelmäßiges Updaten dieses Szenarios können wir zeigen, wie Policy-Änderungen zu einem Konvergieren der sehr stark von Rahmenbedingungen getriebenen Selbsteinschätzung der Industrie mit dem klimaneutralen Szenario „DCS“ führen. Die Entwicklung der drei dargestellten Szenarien erfolgt über eine Kombination von Top-Down- und Bottom-Up-Ansatz. Der dabei berechnete und in Abbildung 4 dargestellte industrielle Gesamtenergiebedarf ist einerseits durch endenergiekonsumierende Aggregate im Sinne der Nutz-

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Abbildung 4: Bilanzgrenze der Modellierung und sich direkt daraus ergebende Ergebnisse © NEFI

energieanalyse der Statistik Austria, und andererseits durch Energieumwandlungseinheiten am Gelände der betrachteten österreichischen Industriebranchen (bspw. KWK-Anlagen, Elektrolyseure oder Hochöfen) (Statistik Austria 2013). Basierend auf dieser Bilanzgrenze erfolgt zunächst die weitere Modellierung innerhalb der einzelnen Industriebranchen aufgelöst nach IEA-Sektoren einerseits Top-Down, mithilfe der Modellierungsumgebung MAEDIND (IAEA 2006), und andererseits Bottom-Up, auf Basis von Technologieoptionen und deren zeitlich aufgelösten Durchdringungsraten. BottomUp-Betrachtungen werden in jenen Industriesektoren angewandt, in denen grundlegende Veränderungen der Produktionsprozesse und -technologien zu erwarten sind. Beispiele für Informationen, die in den BottomUp-Ansatz einfließen, sind die Kenntnis alternativer Produktionswege und Technologieoptionen, die Potenziale alternativer Energieträger, die Temperaturen im Produktionsprozess, die möglichen Effizienzsteigerungen in verschiedenen Bereichen, die teilweise zugekaufte Energie, sowie die oben angesprochene Eigenversorgung durch Energieumwandlungseinheiten auf Standortebene. Um die Entwicklung in den jeweiligen Industriesektoren umfassend abbilden zu können, werden Produktionsbetriebe direkt und regelmäßig befragt. Zusätzlich werden Produktionsprozessbeschreibungen (Energie- und Massenbilanzen, benötige Energieträger, etc.), Parameter von Referenzanlagen und alternative Produktionswege aus wissenschaftlichen Recherchen herangezogen. Im Folgenden wird die Anwendung der oben beschriebenen Methodik anhand der Primär-Stahlerzeugung in Österreich beschrieben. Sie kon-

sumierte im betrachteten Basisjahr 2017 rund 36 TWh und stellt damit jenen industriellen Prozess mit dem größten Einzelenergiebedarf in der österreichischen Industrielandschaft dar. Die modellierten Technologien zur Primärstahlerzeugung bzw. ihre Durchdringungsraten sowie die daraus resultierenden CO2-Emissionen und Energiebedarfe in den drei Szenarien werden untenstehend beschrieben. Im Szenario „Business-as-Usual” erfolgt die Primär-Stahlerzeugung weiterhin mittels der integrierten Hochofen-Route. Ein geringer, über die Jahre ansteigender Zusatz an erneuerbarem Wasserstoff im Hochofen ersetzt jedoch einen Teil der Kohle. Dies löst bei gleichbleibenden Primärerzeugungskapazitäten bis 2050 eine Reduktion der CO2-Emissionen von etwa 10 % ggü. 2017, auf etwa 11 MTCO2, aus. Aufgrund der etwas geringeren Energieeffizienz der Reduktion mit H2 im Hochofen bzw. aufgrund der Vorkette zur Erzeugung von erneuerbarem Wasserstoff, steigt der Gesamtenergiebedarf der PrimärStahlerzeugung 2050 um ca. 4 TWh (oder 11 %) ggü. dem Basisjahr an. Im Dekarbonisierungsszenario „DCS“ wird der definierten Storyline folgend (Backcasting: 2050 wird Klimaneutralität erreicht), bei gleichen Produktionskapazitäten vollständig mit erneuerbarem Wasserstoff reduziert. Im Gegensatz zum Szenario „BAU“ wird jedoch das H2-Direktreduktionsverfahren eingesetzt, welches im Vergleich zur Hochofenroute mit H2-Eindüsung eine höhere Energieeffizienz aufweist. Die CO2-Emissionen können so um 11,7 MtCO2 bzw. 95 % auf 0,6 MtCO2 gesenkt werden. Dabei sinkt der Gesamtenergiebedarf bis 2050 ggü. dem Basisjahr um 1 TWh (oder 3 %); auch unter Berücksichtigung der gut

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TOP-THEMA 6,5 TWh elektrische Energie, welche in der Vorkette für den Betrieb der Elektrolyseure in der H2-Erzeugung notwendig wären. In enger Abstimmung mit den industriellen Stakeholdern wurde das Szenario „Mitigation“ erstellt, welches die aktuelle Industrieeinschätzung abbildet. Es geht davon aus, dass die für den vollständigen Betrieb mit erneuerbarem H2 benötigte Energieinfrastruktur mit den heute absehbaren Rahmenbedingungen im Jahr 2050 noch nicht vollständig bereitgestellt werden. Im Szenario „MGS“ wird aus diesem Grund zwar dem in Tabelle 1 dargestellten Zeitplan folgend ein Direktreduktionsverfahren in Kombination mit einem Elektrolichtbogenofen eingesetzt, jedoch in jeder der in Betrieb genommenen Einheiten zu 70 % mit CH4 reduziert.

Abbildung 6: Entwicklung des industriellen Gesamtenergiebedarfs der Primär-Stahlerzeugung im Szenario "MGS" © NEFI

Jahr

Kapazität NG-DR/EAF mit 30% H2-Einsatz

Kapazität BF/BOF inkl. „BAU“-Maßnahmen

2030

40%

60%

2040

85%

15%

2050

100%

0%

Tabelle 1: Zeitplan der Umstellung in der Primär-Stahlerzeugung im Szenario "MGS"

Damit können, wie in Abbildung 5 ersichtlich, im Jahr 2050 CO2-Einsparungen in Höhe von mindestens 49 % ggü. 2017 erreicht werden.

Für eine noch stärkere Reduktion der CO2-Emissionen ist neben der Herkunft des CH4, der Anteil an Recycle-Schrott maßgeblich, der im

Abbildung 5: Entwicklung der absoluten und spezifischen CO2-Emissionen im Szenario "MGS" © NEFI

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Moment im Modell noch nicht umfangreich genug abgebildet ist. Auch im Szenario „MGS“ ist der Strombedarf der Vorkette zur Erzeugung der 30 % H2 zu berücksichtigen. Je nach zukünftiger Unternehmensstrategie von Energieversorgern oder Industrieunternehmen für die H2-Erzeugung kann dieser innerhalb oder außerhalb des Industriestandorts entstehen. Dieser Strombedarf beträgt 2050 1,6 TWh auf und trägt, neben den Effizienzverlusten aufgrund der vorgeschalteten CH4-Reformierung, dazu bei, dass der errechnete Gesamtenergiebedarf 2050 um etwa 5 TWh (oder 14 %) gegenüber dem Basisjahr 2017 ansteigt (Abbildung 6) Die oben erwähnte Installation der H2 produzierenden Elektrolyseure innerhalb oder außerhalb der Unternehmensstandorte spielt auch in der in weiterer Folge innerhalb von NEFI durchgeführten zeitlich- und räumlich aufgelösten Infrastrukturmodellierung eine wichtige Rolle. Mithilfe des Simulations- und Betriebsoptimierungstools HyFlow wird in der Folge zunächst die derzeitige Energie-Infrastruktur unter Berücksichtigung bereits bekannter Ausbaupläne bis 2030 bzw. 2050 modelliert (Böckl et al. 2019). Durch eine Feedback-Schleife kann auf Basis der Szenarienergebnisse die modellierte Infrastruktur in der Folge mit

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TOP-THEMA den Residuallastkurven beaufschlagt werden, die sich nach Einbindung der im jeweiligen Betrachtungsjahr erwarteten Erzeugungskapazitäten erneuerbarer Energieträger und der übrigen Verbrauchssektoren ergeben. Dies geschieht durch einen zeitaufgelösten zellularen Ansatz, um Angebot und Nachfrage auf regionaler Ebene zu modellieren. NEFI hat sich mit der Dekarbonisierung des industriellen Sektors einem herausfordernden Thema gewidmet. Um dieses Ziel zu erreichen, muss ein ganzheitlicher Lösungsweg, passend für die Fülle unterschiedlichster Industriesektoren und variabler Prozesslandschaften, gefunden werden. Dazu werden in NEFI in einem umfassenden, offenen Innovationsprozess Projektideen entwickelt und bis zur konkreten Umsetzung begleitet. Der Einfluss von Technologien und techno-ökonomischen bzw. regulatorischen Randbedingungen, wird über parallel erstellte Dekarbonisierungsszenarien abgebildet bzw. evaluiert. Faktum ist, dass Österreich aufgrund seiner starken und innovationsfreudigen Industrie auf einem sehr guten Weg ist, die industrielle Energiewende zu meistern und als Chance zu sehen. Technologien werden entstehen und, nicht nur in Österreich, sondern weltweit, zu nachhaltiger Wertschöpfung führen. Wesentlich ist dabei jedoch auch, dass stabile politische Randbedingungen möglichst rasch umgesetzt werden. Ohne diesen Rahmen wird nicht nur Cabon-Leakage verstärkt zum Thema, sondern werden aufgrund des vermehrten Bewusstseins der weltweiten Volkswirtschaften auch Green-Leakage Effekte immer stärker relevant. Literaturverzeichnis: Böckl, Benjamin; Greiml, Matthias; Leitner, Lukas; Pichler, Patrick; Kriechbaum, Lukas; Kienberger, Thomas (2019): HyFlow - A Hybrid Load Flow-Modelling Framework to Evaluate the Effects of Energy Storage and Sector Coupling on the Electrical Load Flows. In: Energies. Ducot, G.; Lubben, G. J. (1980): A typology for scenarios. In: Futures 12 (1), S. 51–57. DOI: 10.1016/S00163287(80)80007-3. European Commission (Hg.) (2019): The European Green Deal. Communication

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from the commission to the European Parliament, the European Council, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions. S. Brussels (COM(2019) 640 final). Martin, Ben R. (2010): The origins of the concept of "foresight" in science and technology: An insider's perspective. In: Technological Forecasting & Social Change. Robinson, J. (1982): Energy backcasting: a proposed method of policy analysis. In: Energy policy. Statistik Austria (2013): Standard-Dokumentation zu den Nutzenergieanalysen. Wien. Statistik Austria (2020): Gesamtenergiebilanz Österreich 1970 bis 2019. Wien.

Autoren: Thomas Kienberger ist seit 2014 als Leiter des neu errichteten Lehrstuhls für Energieverbundtechnik an der Montanuniversität Leoben tätig. Dabei beschäftigt er sich in Forschung und Lehre schwerpunktmäßig mit Fragestellungen, die darauf abzielen mittels interdisziplinären, systemischen Ansätzen die Effizienz und Flexibilität von öffentlichen Energiesystemen sowie von industriellen Energiesystemen zu optimieren. Prof. Kienberger absolvierte das Studium „Elektro-Energietechnik“ an der TU Graz und schloss dieses mit Auszeichnung ab. Zwischen 2006 und 2007 arbeitete er als Entwicklungsingenieur bei der Firma Siemens AG in Erlangen/ Deutschland. Von 2007 bis 2010 war er als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Wärmetechnik an der TU Graz beschäftigt und leitete dabei unter anderem die Arbeitsgruppe „substitute natural gas“. Von 2011 bis 2014 war er als Leiter R&D und Prokurist beim Start-up agnion Highterm-Research tätig und fungierte gleichzeitig als Lehrbeauftragter an der TU-Graz. Neben seinen Aktivitäten in der Wirtschaft konnte Prof. Kienberger zahlreiche Forschungsprojekte initiieren und mehr als 50 Konferenz- und Journalbeträge veröffentlichen. (thomas.kienberger@ unileoben.ac.at) Peter Nagovnak absolvierte das Studium der Industriellen Energietech-

nik an der Montanuniversität Leoben (MUL) sowie das Bachelorstudium Political Science an der Winthrop University in Rock Hill, South Carolina. Während seines Diplomstudiums in Leoben durchlief er im Rahmen der Delta-Akademie an der MUL auch eine Managementausbildung an der Universität St. Gallen, welche mit dem Certificate of Advanced Studies in General Management abschloss. Seit Juli 2020 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leobener Lehrstuhl für Energieverbundtechnik in der Vorzeigeregion „New Energy for Industry“. Als Unterstützung im operativen Management des NEFI_Labs beschäftigt er sich in dieser Eigenschaft neben allgemeinen Koordinierungsaufgaben im Besonderen mit dem Innovationsprozess der Vorzeigeregion am Weg zu einer dekarbonisierten Industrie und der Entwicklung von Zukunftsszenarien. Im Rahmen seiner Dissertation erforscht er den aus der Energiewende resultierenden Energieinfrastrukturbedarf in Österreich und die damit verbundenen Chancen und Herausforderungen. (peter.nagovnak@unileoben.ac.at) Roman Geyer ist seit 2016 im AIT Austrian Institute of Technology, Center for Energy, als Research Engineer im Bereich “Integrated Energy Systems” (IES) tätig. Zu seinen Aufgabengebieten gehören Task- und Projektleitung sowie wissenschaftliche Mitarbeit in nationalen und internationalen Projekten. Roman Geyer hat mehr als 9 Jahre Erfahrung in der Entwicklung/Leitung von Projekten, sowohl im nationalen als auch im internationalen Umfeld. Seine Berufserfahrungen sammelte er hauptsächlich in der Energiewirtschaft mit dem Schwerpunkt Kraftwerkstechnik, aber zum Teil auch in den Bereichen Glasfaserinfrastruktur und Metallindustrie. (roman.geyer@ ait.ac.at) Ali Hainoun ist ein Senior Energy Systems Analyst mit langjähriger Erfahrung in integrierter Energiesystemanalyse und nachhaltigen Energieentwicklung. Er absolvierte sein Studium an das KIT Karlsruher Institut für Technologie in Maschinenbau und Kerntechnik und promovierte

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TOP-THEMA an der Universität Bochum. Er hat für verschiedene Forschungseinrichtungen und internationale Organisationen gearbeitet und beraten, darunter IAEO, ESCWA, UNDP, LAS und GIZ. Er verfügt über langjährige Erfahrung in der Leitung von Forschungsprojekten und koordinierte mehrere internationale Projekte zu integriertem Energiebedarf und -versorgung, THG Reduzierung, sowie nachhaltigen Energiestrategien. Ali Hainoun ist an zahlreichen nationalen und internationalen Projekten beteiligt, darunter Smarter Together, POCITYF, REDAP, NEFI, und Koordinator des JPI-UE-Projekts SUNEX zum Energie-Wasser-Nahrungsmittel-Nexus neben Forschungsaktivi-

täten zur Entwicklung Sptio-temporal urban energy sysetms modelling. Derzeit koordiniert er die Aktivitäten zu urbanen Energiesystemen in der Abteilung Digital Resilient Cities am AIT Center for Energy.(ali.hainoun@ ait.ac.at) Paul Binderbauer studierte Industrielle Energietechnik an der Montanuniversität Leoben. Bereits im Laufe seines Studiums war er über drei Jahre in unterschiedlichsten Forschungsbereichen der Montanuniversität tätig. Diese umfassten die Material- sowie Metallkunde, Strömungslehre, Verfahrenstechnik und Energietechnik. Nach dem Abschluss des Bachelorund Masterstudiums mit ausgezeich-

netem Erfolg Ende 2019, begann er sein Doktorat am Lehrstuhl für Energieverbundtechnik Anfang 2020. Im Zuge seiner Arbeit stehen hier vor allem die Themenbereiche der Energieforschung des industriellen Sektors und industrieller Prozesse im Vordergrund. Des Weiteren ist Paul Binderbauer im Innovationsverbund NEFI – New Energy for Industry tätig, welcher sich die Dekarbonisierung des industriellen Energiesystems zum Ziel gesetzt hat. Dort koordiniert er das operative Geschehen des Netzwerkes und unterstützt dessen strategische Ausrichtung. (paul.binderbauer@unileoben.ac.at)

Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Thomas Kienberger Leiter des Lehrstuhls für Energieverbundtechnik, Montanuniversität Leoben

Dipl.-Ing. Peter Nagovnak, BA Wissenschaftlicher Projektmitarbeiter, Lehrstuhl für Energieverbundtechnik, Montanuniversität Leoben

Dr.-Ing. Ali Hainoun Senior Scientist, Center for Energy, AIT Austrian Institute of Technology

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Ing. Roman Geyer, MSc Research Engineer, Center for Energy, AIT Austrian Institute of Technology

Dipl-Ing. Paul Binderbauer Wissenschaftlicher Projektmitarbeiter, Lehrstuhl für Energieverbundtechnik, Montanuniversität Leoben

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TOP-THEMA Georg Knill

Der Weg zur Klimaneutralität Die Strategie der Industrie als Gestalterin eines umfassenden und nachhaltigen Umbaus des Energiesystems Der fortschreitende Klimawandel ist eine unverrückbare Tatsache, deren Auswirkungen sich niemand von uns entziehen kann. Das macht eine letztendliche Dekarbonisierung des globalen Energiesystems unumgänglich. Für Europa wird die Klimaneutralität in etwa für die Mitte des Jahrhunderts gesellschaftlich und politisch ins Auge gefasst – und schrittweise auch rechtlich verankert. Kürzlich sind auch die europäischen Ziele für das Jahr 2030 – von 40 Prozent weniger Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 auf mindestens minus 55 Prozent – verschärft worden. In weiterer Folge wird sich damit auch das bestehende österreichische Klimaziel von derzeit minus 36 Prozent gegenüber 2005 noch weiter erhöhen. Dazu kommt die Absicht der aktuellen Bundesregierung, Klimaneutralität in Österreich bereits bis 2040 zu erreichen. Das wäre somit nochmals rund zehn Jahre früher, als das auf der gesamteuropäischen Ebene angepeilt wird. Die Industrie als entscheidender Sektor Der Industrie kommt eine gestaltende Schlüsselrolle in der Energiewende zu. Sie ist mit einem Anteil von rund 30 Prozent des Endenergieverbrauchs eine relevante Größe im Energiesystem. Noch entscheidender als der unmittelbare Anteil am Energieverbrauch und den damit anfallenden Emissionen ist aber etwas Anderes: Die Wirkung, welche von der Industrie hervorgebrachte Technologien und Produkte erzielen. Diese sind entscheidend, sowohl für die Reduktion des Gesamtenergieverbrauchs durch höhere Effizienz, aber auch durch die Bereitstellung erneuerbarer Energie zur Deckung des verbleibenden Energiebedarfs. Solche industriell basierten Technologien und Produkte – wie stromsparende Elektrogeräte, Eisenbahnen oder Windräder – sind es, die letztlich eine Dekarbonisierung ohne Wohlstandsverlust ermöglichen werden. Diese verantwortungsvolle und aktive Rolle der Industrie in der Transformation des Energiesystems entspricht auch dem Selbstverständnis der überwältigenden Mehrheit der Unternehmen und der Industriellenvereinigung, die sich auch hinter die entsprechenden politischen Ziele auf EU-Ebene stellt. Klimawandel global bekämpfen Dabei setzt sich die im internationalen Wettbewerb stehende Industrie, und besonders die energieintensive

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Industrie, dafür ein, dass neben der Selbstverpflichtung der EU auch andere Industriestaaten vergleichbare Ambitionen zeigen. Auch die jüngsten Ankündigungen der neuen US-Administration, die Emissionen bis 2030 halbieren zu wollen, bedeuten nur, dass dann die Pro-Kopf-Emissionen so hoch sein werden, wie sie in der EU heute sind. Die EU wird ihre Emissionen bis 2030 hingegen schon wieder halbiert haben. Noch vager fällt die Klimaambition des mit Abstand größten Emittenten, nämlich China, aus. Während die dortige Staatsspitze ankündigen lässt, bis 2060 klimaneutral sein zu wollen, werden gleichzeitig rund 300 neue Kohlekraftwerke errichtet. Diese Kraftwerke werden über 700 Mio. Tonnen CO2 ausstoßen. Zum Vergleich: Ganz Österreich stößt pro Jahr 80 Mio. Tonnen CO2 aus. Folgerichtig haben die Pro-Kopf-Emissionen in China mittlerweile jene der EU übertroffen. Eine konsequente Mittelfrist-Klimapolitik bis zum Jahr 2030 ist kaum erkennbar. Angesichts dieser wenig ermutigenden Entwicklungen und eines Anteils der EU von gerade noch 10 Prozent an den globalen Treibhausgasemissionen (Tendenz sinkend) ist es nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine klimapolitische Notwendigkeit, die anderen Wirtschaftsmächte im Pariser Abkommen zu halten. Und es müssen ihnen vergleichbare Klimaschutzziele abverlangt werden.

Marktmacht der EU für globale Klimaambition einsetzen Dafür hält die IV mittlerweile auch Maßnahmen in Form von Abgaben für grundsätzlich vorstellbar. Diese sollten auf die Treibhausgas-Emissionslast von Importen abstellen und sie finanziell bewerten (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM). Wenn weltweit weiterhin unterschiedliche Zielvorgaben gelten, während die EU ihre Klimaambitionen erhöht, sollte die Europäische Kommission die schiere Größe ihres Marktes als Machtinstrument einsetzen. So könnte für ausgewählte Sektoren ein CO2- Grenzausgleichssystem durchgesetzt werden. Damit würde sich sowohl das Risiko der Verlagerung von CO2-Emissionen reduzieren als auch ein Beitrag geleistet, um umweltpolitische Zielsetzungen in anderen Teilen der Welt zu realisieren. Ein solches Grenzausgleichssystem würde sicherstellen, dass der Preis von Einfuhren ihren CO2-Gehalt besser widerspiegelt. Jedenfalls aber muss eine solche Maßnahme mit den Regeln der WTO und anderen internationalen Verpflichtungen der EU in Einklang stehen. Für die IV ist ein solches Grenzausgleichssystem jedoch kein gleichwertiger Ersatz für die bestehende Regelung im Rahmen des EU-Emissionshandelssystems. Beide Instrumente sind aus standortpolitischen Notwendigkeiten nur ergänzend zu sehen.

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TOP-THEMA Nationale Strategien zu Klimaschutz und Umbau des Energiesystems

bekannt, nicht bewusst oder wird ausgeblendet.

Schwerpunkt der Aktivitäten der heimischen Industrie ist jedoch naturgemäß das österreichische Energiesystem. Dies gilt insbesondere für den unmittelbar durch die Produktion verursachten Energiebedarf sowie die damit zusammenhängenden Treibhausgasemissionen. Mit der integrierten Klima- und Energiestrategie der „Mission 2030“ wurde 2018 erstmals eine integrierte Strategie, die sowohl die Energiebereitstellung als auch die damit zusammenhängenden Emissionen betrachtet, vorgelegt. Zwei Bunderegierungen später steht der Integrierte Nationale Energie und Klima Plan (NEKP) angesichts der oben angesprochenen neuen Zielsetzungen vor seiner erneuten Überarbeitung.

Energieeffizienz entscheidend für Energiewende

Die Industriellenvereinigung erkennt ganz klar die strategische Bedeutung der gennannten Dokumente, insbesondere die gemeinsame Sicht der Energie und Emissionsseite. Das darf aber freilich nicht über ein traditionelles Umsetzungsdefizit der heimischen Energie- und Klimapolitik hinwegtäuschen. Inwieweit die gesetzten politischen Aktivitäten geeignet sind, die Emissionsziele zu erreichen und dabei Versorgungssicherheit und Standortverträglichkeit zu ermöglichen, ist Gegenstand der laufenden politischen Diskussion.

Energiedienstleistungen in den Mittelpunkt stellen

Stromwende allein greift zu kurz Kritisch aus Sicht der Industrie ist die spürbare politische und kommunikative Fokussierung auf das Ziel, 100 Prozent des Stroms bis 2030 aus erneuerbaren Quellen bereit zu stellen. Dies mag angesichts einer öffentlichen Wahrnehmung, die weitestgehend in erneuerbarem Strom, in Windrädern und Photovoltaik die Antwort auf den Klimawandel erkennt, politisch nachvollziehbar sein. Dass mit rund 20 Prozent am Energie-Endverbrauch nur ein vergleichsweise kleiner Anteil auf das Stromsystem entfällt, ist in der breiten öffentlichen Debatte nicht

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Vor diesem Hintergrund einer verengten Wahrnehmung tritt die IV für eine breitere Betrachtung der maßgeblichen Handlungsfelder ein. Mindestens ebenso wichtig wie die Bereitstellung erneuerbarer Energie ist die effiziente Verwendung dieser Energie. Anders formuliert: Der Anteil erneuerbarer Energie (= Erneuerbare Energie/Gesamtenergieverbrauch) kann in zweierlei Hinsicht vergrößert werden – durch die Steigerung der Aufbringung erneuerbarer Energie (der Zähler wird vergrößert) oder aber durch eine Verringerung des Gesamtenergieverbrauchs (der Nenner wird verkleinert).

Voraussetzung für die Steigerung der Energieeffizienz ist ein systemisches Verständnis des Energiesystems, mit Fokus auf die mit Energie verbundenen Dienstleistungen. Diese neue Denkweise, wie ein neues System gestaltet werden sollte, macht das bisherige Ende der Umwandlungskette zum Ausgangspunkt: die benötigten und damit wohlstandsrelevanten Energie-Dienstleistungen. Die optimale Auswahl und Kombination der Anwendungstechnologien reduziert in den meisten Anwendungsfällen drastisch den Energiebedarf, der durch hocheffiziente Umwandlungs- und Bereitstellungstechnologien gedeckt wird. Das Ergebnis sind hocheffiziente Niedrigst-Energiesysteme in vielen Sektoren. In diesem Verständnis sticht quantitativ der Wärmebereich hervor (Hochtemperatur- (>100 °C) und Niedertemperaturbereich (<100 °C)) mit einem Anteil von mehr als 50 Prozent der gesamten Nutzenergie der Volkwirtschaft ins Auge. Ziel muss es sein, Energie in mehreren Anwendungs- und Temperaturstufen abzuarbeiten und zuletzt Wärme auf einer niederen Temperaturstufe zu nutzen. Aus Sicht der IV muss daher die Erarbeitung und Umsetzung einer

ambitionierten Wärmestrategie ein ebenso zentrales Projekt der Energieund Klimapolitik sein. Teile und Partner des Energiesystems integrieren In den neuen, zunehmend dezentralen Strukturen des Energiesystems verschwimmen die Grenzen zwischen Bereitstellung und Verwendung von Energie (Energieproduzenten und -konsumenten verschmelzen zum „Prosumer“). Energie-Dienstleistungen, Energieerzeugung und -speicherung sind funktional und räumlich zunehmend integriert. Einzeltechnologien werden zu optimierten Systemen und neuen Wertschöpfungsketten kombiniert. Energieträger werden flexibel und bedarfsorientiert eingesetzt. Durch neue Organisationsformen wie Erneuerbaren Energie-Gemeinschaften und Bürgerenergiegemeinschaften wird dieses Verständnis der Integration unterstützt. Gas spielt eine Rolle in der Energiezukunft Selbst wenn sich die Bedeutung des Stromsystems durch neue Anwendungen (Elektromobilität, Wärmebereitstellung etc.) erweitern wird, bleiben wir auf absehbare Zeit auch auf andere Energieträger angewiesen. Gas wird daher eine wesentliche Rolle in einer klimaneutralen Energieversorgung spielen, insbesondere als Methan (CH4) oder als Wasserstoff (H2). Auch die Herkunft dieser Gase wird sich aufspalten – in biogene Gase (Biogasanlagen, in denen sowohl Abfälle als auch nachwachsende Rohstoffe vergoren werden) oder in Wasserstoff und daraus synthetisiertes Methan aus erneuerbarem Strom. Auch die Möglichkeit, aus fossilem Erdgas Wasserstoff und Kohlenstoff zu gewinnen – und damit zwei begehrte Rohstoffe – sollte nicht übersehen werden. Energieautarkie ist für Österreich eine Illusion Die Frage der Herkunft klimaneutraler Energieträger stellt sich nicht nur in qualitativer, sondern auch in geographischer Hinsicht. Seit einigen

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TOP-THEMA Jahren hat sich in der heimischen Energiepolitik das Thema Energieautarkie verfestigt. Nicht zuletzt aufgrund von Interessen im Zusammenhang mit der Bereitstellung erneuerbarer Energie, findet dieser Gedanke auch Eingang in Strategien und Gesetze. Das ist erstaunlich. Denn selbst unter extrem optimistischen Annahmen bezüglich der Energieeffizienz übersteigt der Energiebedarf das technisch und wirtschaftlich darstellbare heimischen Potenzial deutlich. Auch volkswirtschaftlich ist es kaum verständlich, warum ausgerechnet in einem ein Land mit mittelmäßigem Wind- und Sonnenaufkommen dort der Schwerpunkt der Energiebereitstellung liegen soll. Kosten und Wettbewerb beachten Whatever ist takes“ ist aus IV-Sicht nicht der richtige Zugang, um Klimaneutralität in Österreich oder der EU zu erreichen. Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit müssen zusammen gedacht werden. Wenn die EU tatsächlich eine klimapolitische Vorreiterrolle in der Welt übernehmen will, ist das überhaupt nur denkbar, wenn es mit wirtschaftlichem Erfolg, sozialer Stabilität und gesellschaftlicher Akzeptanz auf Basis von Wohlstand und Beschäftigung einhergeht. Kaum ein Land der Welt wird einem Modell nacheifern, das wirtschaftlichen und sozialen Niedergang bedeutet. Vor diesem Hintergrund ist ein näherer Blick auf den „Green Deal“ der EU-Kommission nicht uninteressant. Bei aller grundsätzlicher Unterstützung seitens der Industriellenvereinigung stimmt die fachliche Grundlage in Form des Impact Assessments der EU-Kommission nachdenklich. Demnach erfordert der Umbau des Energiesystems im betrachteten Zeitraum bis 2030 je nach Szenario rund 4.000 Mrd. Euro. Nach Kalkulation der EU-Kommission lösen diese gewaltigen Investitionen ein kumuliertes zusätzliches Wachstum von plusminus einigen wenigen Zehntelprozentpunkten aus. In anderen Worten: Die neue wirtschaftliche Aktivität wird durch den Wegfall bestehender fossiler Aktivität weitgehend kom-

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pensiert. Aus Sicht der Industrie wird es in den kommenden Jahren daher gelten, die EUKommission an deren Versprechen „The European Green Deal is our new growth strategy“ zu erinnern und eine entsprechende Anpassung der Umsetzung des „Green Deal“ einzumahnen. Innovation auf allen Ebenen vorantreiben Eine wirtschaftlich erfolgreiche Transformation des Energiesystems und auch die Lösung technischer Fragen sind nur auf Basis von Forschung, Innovation und technologischer Durchbrüche möglich. Die Industrie ist hier nicht nur selbst ein unmittelbarer und wesentlicher Treiber der Entwicklung. Sie setzt sich auch für deutlich erhöhte öffentliche Aufwendungen im Bereich der Energieforschung ein. Es ist daher die konkrete Vorstellung der IV, mit einem ausreichend dotierten Industrie-Dekabonisierungs-Fonds eine Voraussetzung zu schaffen, um Unternehmen der energieintensiven Industrie bei ihrer Transformation zu unterstützen. Ihnen kommt in Österreich allein im Hinblick auf die Anzahl an Arbeitsplätzen eine ganz enorme Bedeutung zu. Jüngste Entscheidungen der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Nutzung des EU-Recovery Funds (RRF) stimmen jedenfalls durchaus zuversichtlich. Klima- und energiepolitische Diskussion verbreitern und vertiefen Abschließend gesagt, brauchen wir eine breit und vertieft geführte Debatte über die Weiterentwicklung des Energiesystems, ohne ideologische Scheuklappen. Nur so werden wir zu echten Fortschritten kommen. Diese Diskussion muss sich auch mit der wirtschaftlichen Machbarkeit und der sozialen Akzeptanz beschäftigen. Denn nur, wenn auf dem Weg

Georg Knill Präsident der Industriellenvereinigung zur Klimaneutralität alle diese Fragen gleichberechtigt gestellt werden, werden wir auch eine umfassende, langfristige und nachhaltige Antwort auf die Herausforderungen des Klimawandels finden. Autor: Geboren am 2. Jänner 1973, verheiratet, 2 Töchter Ausbildung: Volksschule und Realgymnasium, Weiz 1987 - 1992 HTL-Maschinenbau/Betriebstechnik, Weiz Beruflicher Werdegang: 1993 - 2002 Führungsaufgaben innerhalb der KNILL GRUPPE Jeweils 6-monatiger Auslandsaufenthalt in der Schweiz, Großbritannien, Frankreich und Deutschland Diverse operative Geschäftsführungsund Holdingaufgaben Seit 2002 Geschäftsführender Gesellschafter der KNILL GRUPPE gemeinsam mit Bruder Christian Knill Seit 2014 Aufsichtsratsvorsitzender der Rosendahl Nextrom GmbH Funktionen innerhalb der IV: 2001 – 2008 Vorsitzender der Jungen Industrie Steiermark 2008 – 2012 Vorstand der IV-Steiermark 2012 – 2016 Vizepräsident der IV-Steiermark 2016 – 2020 Präsident der IV-Steiermark Seit Juni 2020 Präsident der Industriellenvereinigung Bund

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TOP-THEMA

Foto: © Energie Steiermark

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Die Energie Steiermark - Vorreiter und Partner auf dem Weg zur Klimaneutralität Die Bewältigung der drängenden energie- und klimapolitischen Herausforderungen erfordert ein breites gesellschaftliches Engagement und vorausschauendes politisches und wirtschaftliches Handeln. Als traditionsreicher Leitbetrieb und steirisches Energieunternehmen setzt die Energie Steiermark auf den Ausbau Erneuerbarer Energie und zukunftsgerichtete Energielösungen für eine lebenswertere und grünere Steiermark.

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b Fridays For Future oder #MeToo – die Vereinbarkeit von Wirtschaft, Klimaschutz, Menschenwürde und sozialem Zusammenhalt stellt trotz der unmittelbaren und allgegenwärtigen Corona-Ausnahmesituation die bestimmende Herausforderung unserer Zeit und zukünftiger Generationen dar. Während auf globaler Ebene mit der Verabschiedung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen und der Festlegung von 17 umfassenden und ineinandergreifenden Entwicklungszielen – den Sustainable Development Goals (SDGs) - eine Blaupause für eine nachhaltige und bessere Zukunft entworfen wurde, setzte sich die Europäische Kommission (EK) zum Ziel Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent bis 2050 zu transformieren. Mit Hilfe des europäischen Emissionshandelssystems (2005), dem verabschiedeten Europäischen Green Deal (2019) und einem forcierten Energie- und Klimazielplan (Fit-for-55 Legislativpaket; 2020) sollen so die europäischen

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Treibhausgasemissionen (THG) in einem ersten Schritt, bis zum Jahr 2030, im Staatenkollektiv um netto mindestens 55 % unter das Niveau von 1990 gesenkt werden. Hierzu soll vor allem die Dekarbonisierung der drei Sektoren und aktuellen Hauptemittenten von CO2, Energie, Verkehr und Wohnbau mit forciertem Tempo vorangetrieben werden. Zudem gilt es den effizienteren Umgang mit Energie zu erhöhen und einen nachhaltigen Verhaltens- und Bewusstseinswandel sowie einen ressourcenschonenderen Lebensstil beim Umgang mit dem uns anvertrauten Lebensraum, der Natur und dem Klima einzuleiten und als gesellschaftlichen Konsens zu etablieren. 100 % Strom aus erneuerbarer Energie bis 2030 Vor dem Hintergrund dieser globalen energie- und klimapolitischen Herausforderung hat sich Österreich auf Bundesebene das ambitionierte Ziel

einer umfassende Transformation hin zu einer klimaneutralen Gesellschaft bis zum Jahr 2040 gesetzt. Für einen der drei zuvor genannten Sektoren – der heimischen Energiewirtschaft – wird mit dem in aller Voraussicht im Jahr 2021 in Kraft tretenden Erneuerbaren Ausbau Gesetz (EAG) der gesetzliche und regulatorische Rahmen sowie der Fördermechanismus für eine, bis zum Jahr 2030, bilanziell zu 100 %, Deckung des Gesamtstromverbrauchs durch erneuerbare Energiequellen gelegt. Konkret bedeutet dies einen zusätzlichen bundesweiten Ausbau von rd. 27 Terrawattstunden (TWh) durch Revitalisierungen, Erweiterungen und Neubauten von erneuerbaren Energieerzeugungsanlagen in einem Zeitraum von 10 Jahren. Im Verhältnis zum jährlichen Gesamtstromverbrauch von rd. 72 TWh (2019) in Österreich bzw. rd. 10 TWh (2018) in der Steiermark zeigt sich das hohe Ambitionsniveau und der sohin nur in guter Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und der breiten

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TOP-THEMA Zivilgesellschaft gemeinsam zu bewältigende Kraftakt. Für die Steiermark wird auf Basis von Potentialstudien ein möglicher Ausbau der erneuerbaren Erzeugungsmenge in Höhe von insgesamt rd. 3 TWh angenommen. Hiervon entfallen rd. 0,5 TWh auf Wasserkraft, 0,7 TWh auf Windkraft, 1,7 TWh auf Photovoltaik sowie 0,1 TWh auf biogene Brennstoffe inklusive Abfällen. Die Rolle der Energie Steiermark als Wegbereiter einer nachhaltigen Energiezukunft Als weiß-grüner Leitbetrieb und mehrheitlich im Landeseigentum stehendes Unternehmen ist sich die Energie Steiermark ihrer großen Bedeutung und Vorbildfunktion für die Region, die Menschen und den Lebensraum sowie die Natur bewusst. Eine nachhaltige, vornehmlich CO2freie Energieerzeugung aus Wind, Wasser und Photovoltaik, eine kosteneffiziente und versorgungssichere Belieferung mit leistbarer Energie und Wärme sowie ein schonender Umgang mit den anvertrauten Ressourcen zählen sohin zum Selbstverständnis des Unternehmens. Dem Unternehmensleitbild entsprechend umfasst dieses Verständnis auch die als gleichwertig empfundenen Aspekte soziales Engagement und verantwortungsvolle und umsichtige Unternehmensführung. Die in diesem Sinn oftmals dem Corporate Social Responsibility (CSR) Gedanken entspringende und unter dem ESG (Environmental, Social, Governance) Begriff aggregierte Betrachtungsweise einer ökologischen, sozialen und ethisch korrekten Unternehmensführung kommt innerhalb der Energie Steiermark ein hoher Stellenwert zu. Der Weg zu einem der nachhaltigsten Energiedienstleistungsunternehmen in Europa Als Ergebnis der bereits frühzeitigen und konzernweiten Befassung mit Nachhaltigkeitsfragen und -aspekten existieren eine Vielzahl an langjährigen Initiativen, strategischen Zielsetzungen und operativen Umsetzungsmaßnahmen. Die Fortschritte

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bei der Weiterentwicklung der Energie Steiermark zu einem der nachhaltigsten Energiedienstleistungsunternehmen in Österreich und der benachbarten Region werden kontinuierlich, seit dem Jahr 2016, erhoben und zumindest alle zwei Jahre in einem umfassenden, extern geprüften und den neusten Global Reporting Initiative (GRI) Standards entsprechenden Nachhaltigkeitsbericht, in einer mehrsprachigen Fassung, veröffentlicht. Ebenso werden die Aktivitäten und strategischen Zielsetzungen rollierend aktualisiert, auf ihr Ambitionsniveau hin überprüft und gemeinsam mit ausgewiesenen externen Experten und Wissensträgern in einem hierfür eingerichteten Nachhaltigkeitsbeirat abgeglichen und evaluiert. Mit Hilfe einer gemeinsam erarbeiteten Wesentlichkeitsmatrix werden die vielfältigen Nachhaltigkeitsfragen und Themengebiete priorisiert und in weiterer Folge fokussiert durch die hierfür zuständigen Konzerngesellschaften bearbeitet. Ergänzend zu diesen nationalen Aktivitäten erfolgt seit dem Jahr 2019 die jährliche Teilnahme am Global Real Estate Sustainability Benchmark Rating (GRESB), einem internationalen, weltweit rd. 500 Unternehmen umfassenden, Benchmark- und Nachhaltigkeitsrating. Bei der letztjährigen Teilnahme konnte die Energie Steiermark als Ergebnis der bereits umgesetzten Nachhaltigkeitsaktivitäten eine Top-Platzierung unter den am besten gereihten 20 % der teilnehmenden Unternehmen erzielen. Ebenso konnte die Energie Steiermark auf Basis der bereits gesetzten Nachhaltigkeitstätigkeiten und zur diesbezüglichen investitionsseitigen Weiterentwicklung, im Jahr 2019, als zweites Unternehmen in der europäischen Energiewirtschaft und erstes österreichisches Energieunternehmen einen Green Loan der Europäischen Investitionsbank (EIB) in Höhe von 90 Millionen Euro für die Finanzierung von grünen Investitionsprojekten im Bereich der Erneuerbaren Erzeugung, zum Netzausbau und zur Umsetzung von Energieeffizienzprojekten lukrieren. Im 1. Halbjahr 2021 wird zudem erstmals eine dezidierte Nachhaltigkeitsstrategie mit ambitionierten,

strategisch-operativen und messbaren Zielsetzungen und Handlungsmaßnahmen für den Zeitraum bis 2030 verabschiedet. Als Basis dient eine, in Kooperation mit einem führenden steirischen Softwareunternehmen und mit fachlicher Unterstützung des österreichischen Umweltbundesamt eigens hierfür implementierte Nachhaltigkeitsdatenbank, mit welcher eine hochqualitative Datenbasis und Datenzeitreihe sicher gestellt werden. Wesentliche Nachhaltigkeitsinitiativen in der Energie Steiermark Im Kerngeschäft der Energie Steiermark – der Erzeugung von Strom und Wärme - befindet sich das Unternehmen bereits auf einem nachhaltigen Entwicklungspfad. So stammen im Bereich der Stromerzeugung beinahe rd. 100 % aus erneuerbaren Energiequellen. Bis 2030 ist ein weiterer Ausbau des erneuerbaren Erzeugungsportfolios um rd. 600 Megawatt (MW) in der Steiermark vorgesehen. Im Wärmebereich wird die Dekarbonisierung und Ökologisierung durch die forcierte Nutzung von industrieller Abwärme, dem Ausbau von Biomasse und der Nutzung hocheffizienter Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen (KWK) im Großraum Graz und in den versorgten steirischen Regionen forciert vorangetrieben. Im Grazer Umland ist mit dem Solarthermie Projekt Bio Solar Graz zudem ein weiterer maßgeblicher Schritt in Richtung Dekarbonisierung der Fernwärmeaufbringung vorgesehen. Analog zu Investitionsmaßnahmen im Erzeugungsbereich sind signifikante Investitionen im Hoch-, Mittelund Niederspannungsbereich vorgesehen, um die netzseitige Anbindung dieser dezentralen Erzeugungseinheiten zu gewährleisten und die entsprechenden Netzkapazitäten hierfür zur Verfügung zu stellen. Bis zum Jahr 2025 werden sohin rd. 1,2 Milliarden Euro in den Ausbau der Erneuerbaren Energie in der Steiermark und die steirischen Energienetze investiert. Hohes Augenmerk wird hier beschaffungsseitig auf die Berücksichtigung von regionalen Wertschöpfungs- und Arbeitsmarkteffekten und die Einhaltung von sozialen und ökologischen Standards gelegt.

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TOP-THEMA Im Vertriebs-, Dienstleistungs- und Servicebereich werden mit einer Reihe von innovativen, „smarten“ und zukunftsweisenden Energielösungen und -produkten KundInnen beim Umstieg auf eine nachhaltigere und ressourcenschonendere Lebensweise unkompliziert und fachmännisch unterstützt. Das Lösungsspektrum reicht hier von Photovoltaik- und Speicherangeboten, Wärmepumpen- und Smart Home Lösungen bis hin zu smarten, ausschließlich grünen, Stromtarifangeboten und umfassenden E-Mobilitätslösungen. In Kooperation mit hochqualitativen Partnern und innovativen Start-Ups werden fortlaufend neue Produktlösungen und hilfreiche Serviceangebote und Dienstleistungen für Privat-, Gemeinde-, Landwirtschaft-, Gewerbe- und Großkunden entwickelt.

der Betriebsstandorte anhand eines hierfür eigens entwickelten, nachhaltigen Energiekonzeptes „klimafit“ gemacht. Dieses Konzept, dass von thermischen Sanierungsmaßnahmen über nachhaltige Energieversorgungskonzepte (Wärme & Kälte) bis zur Ausstattung von PV- und Speicheranlagen zur Eigenstromdeckung reicht, soll dazu dienen den ökologischen Fußabdruck der Energie Steiermark weiter zu verbessern.

Mit dem next incubator, dem konzerneigenen Innovations-Hub und Think-Tank für Nachhaltigkeit verfügt die Energie Steiermark zudem über ein ausgewiesenes Expertenteam an Innovations- und Nachhaltigkeitsexperten mit Zugängen und Kontakten zu führenden nationalen und internationalen Innovations- und Nachhaltigkeitsnetzwerken. Auch innerhalb der Energie Steiermark werden fortlaufend umfassende Maßnahmen im Bereich der Nachhaltigkeit, der Chancengleichheit, der Inklusion, der Gesundheitsvorsorge für MitarbeiterInnen und der umsichtigen und verantwortungsvollen Unternehmensführung gesetzt. So werden beispielsweise im Laufe der nächsten fünf Jahre eine Vielzahl

Um auch in einer nachhaltigeren, zunehmend digitalisierten, dezentraleren und partizipativeren Energiewelt erfolgreich reüssieren zu können wird konsequent in die Ausbildung und Weiterqualifizierung von Lehrlingen und MitarbeiterInnen investiert. Gemäß der Sichtweise, dass nur mit gut qualifizierten Fachkräften die Energietransformation gelingen kann, wurde Österreichs modernstes Ausbildungszentrum für „Green Energy“ im Jahr 2020 in Graz eröffnet. Im sogenannten „E-Campus“ werden seither um 40 % mehr Lehrlinge ausgebildet und MitarbeiterInnen auf Basis eines rd. 700 Kurse, Seminare und Qualifizierungsmaßnahmen umfassenden Programmes zu „Green Energy Profis“ aus- und weitergebildet.

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Im Bereich der MitarbeiterInnenMobilität sind bereits seit mehreren Jahren eine Reihe von Maßnahmen, die von vergünstigten Jobtickets, über Betriebsfahrräder bis hin zu einem konzerneigenen, zunehmend elektrischen und CO2-freien Fuhrpark reichen, umgesetzt und werden stetig weiter ausgebaut.

Die Energie Steiermark ist sich als traditionsreiches Unternehmen und steirischer Leitbetrieb seiner Rolle als Taktgeber und Wegbereiter bei der Transformation zu einem nachhaltigeren und klimafreundlicheren Gesellschafts-, Wirtschafts- und Energiesystem bewusst. Gemeinsam mit der TU Graz und anderen engagierten Partnern, Gemeinden und Unternehmen freuen wir uns die Steiermark noch grüner und lebenswerter zu machen. Autoren: Dipl.-Ing. Christian Purrer Vorstandssprecher Energie Steiermark AG Christian Purrer studierte Bauingenieurwesen an der TU Graz und war nach seinem Abschluss am Institut für konstruktiven Wasserbau als Universitätsassistent tätig. Im Jahr 1989 wechselte er in die damalige STEWEAG. Seit April 2012 ist Purrer als Sprecher des Vorstandes der Energie Steiermark AG tätig. Dipl.-Ing. (FH) Mag. (FH) Martin Graf, MBA Vorstandsdirektor Energie Steiermark AG Martin Graf war nach seinem Studium der Betriebswirtschaft und des Wirtschaftsingenieurwesen bei der Donaukraft, der Verbundplan und der Mobilkom Austria tätig. Im Jahr 2002 wechselte er zur Energie-Control Austria, an deren Spitze er als Vorstand von 2011 bis 2016 stand. Seit 2016 ist Graf Vorstandsdirektor der Energie Steiermark AG.

Dipl.-Ing. Christian Purrer

Dipl.-Ing. (FH) Mag. (FH) Martin Graf, MBA

Vorstandssprecher Energie Steiermark AG

Vorstandsdirektor Energie Steiermark AG

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TOP-THEMA

Foto: Railjet ÖBB © Philipp Horak

Andreas Matthä, Peter Veit

Der Mobilitätssektor ist Teil des Klimaproblems – Bahn und öffentlicher Verkehr sind ein zentraler Teil der Lösung Umwelteinflüsse bestimmen unser aller Zukunft. Durch Innovation und neue Technologien, den wichtigsten „Treibstoffen“ des Unternehmens ÖBB, und durch den konsequenten Ausbau der Infrastruktur, soll die Bahn in Zukunft eine Lead-Funktion im Verkehrssektor übernehmen. Das Ziel ist dabei klar definiert: die Kapazität der Schiene soll bis 2040 um 100 Prozent steigen.

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ie ÖBB sind Österreichs größtes Klimaschutzunternehmen: aufgrund der Verkehrsleistungen mit Bahn und Bus hat das Unternehmen im letzten Jahr Österreich Treibhausgasemissionen in der Höhe von rund 4,2 Millionen Tonnen erspart. Aber das ist noch lange nicht genug! Damit Österreich seine vertraglich vereinbarten Klimaschutzziele erreichen kann, müssen bis zum Jahr 2030 alleine im Verkehrssektor rund acht Millionen weitere Tonnen CO2 eingespart werden. Ohne massive Verkehrsverlagerungen des Straßenund Flugverkehrs auf die Schiene wird dieses Ziel nicht zu erreichen sein. Der Ausbau der Bahn und des öffentlichen Verkehrs wird definitiv Kosten verursachen, aber nicht zu investieren wird das Klimaproblem im Verkehrssektor nicht lösen. Und Investitionen in den Ausbau der Bahn und den öffentlichen Verkehr stellen eben nicht „nur“ einen Gewinn für

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unser Klima dar, sondern schaffen auch Wachstumschancen. Und das nicht nur für Mobilitätsanbieter. Die ÖBB sehen durch die Ausrichtung auf eine klimaneutrale Ökonomie jedenfalls ein großes Wachstumspotenzial und haben sich mit einer eigenen Klimaschutzstrategie ambitionierte Ziele gesetzt. Mit sechs zentralen Stoßrichtungen soll ab 2030 ein zusätzliches jährliches CO2-Einsparpotenzial für Österreich von bis zu 2,4 Millionen Tonnen gehoben werden. Elektrifizierung: Aktuell sind 73 Prozent der Bahnstrecken im ÖBB Netz elektrifiziert. Mittels einer mehrstufigen Elektrifizierungsstrategie soll durch den Ausbau der Elektrifizierung von Regionalbahnen der Elektrifizierungsgrad bis 2030 auf 85 Prozent und bis 2035 auf 89 Prozent angehoben werden. Alternative Antriebe Schiene: Über 90 Prozent der ÖBB Ver-

kehrsleistungen auf der Schiene werden bereits mit Elektrotraktion durchgeführt. Für Regionalbahnstrecken und Verschubbereiche, deren Elektrifizierung aus wirtschaftlichen Gründen nicht darstellbar ist, wird die aktuelle Dieselflotte schrittweise durch alternative Antriebstechnologien ersetzt. Alternative Antriebe Straße: Alternative Antriebstechnologien werden auch am ÖBB Straßenverkehrssektor forciert: bei der ÖBBPostbus GmbH wie auch beim innerbetrieblichen Verkehr. So soll die Postbusflotte Schritt für Schritt auf Elektro- und Wasserstoffbusse umgestellt werden und auch der restliche ÖBB Fuhrpark wird bei neu angeschafften Fahrzeugen auf Elektro- beziehungsweise Hybridantriebe setzen. Erneuerbare Energie: Der Strom für die Züge im ÖBB Netz stammt

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TOP-THEMA seit 2018 zur Gänze aus erneuerbaren Energiequellen – seit 2019 auch der Drehstrom für Betriebsanlagen wie Gebäude, Werkstätten oder Weichenheizungen. Um in Zukunft noch unabhängiger agieren zu können, wird die Eigenproduktion von Strom aus Sonne, Wind und Wasser massiv ausgebaut. Energieeffizienz: Energie, die nicht verbraucht wird, spart Kosten und CO2. Neben der Optimierung der Betriebsführung von Zügen liegt ein Schwerpunkt bei der Einsparung von Energie auch auf den österreichweiten Standorten der ÖBB. Stichworte sind hier: Gebäudesanierung, LEDBeleuchtung und Neuentwicklung einzelner Standortkonzepte. Verkehrsverlagerung: Die Verlagerung des Verkehrs ist der wesentlichste Hebel der ÖBB Klimaschutzstrategie. Deswegen gilt es für die Zukunft so viel Verkehr wie möglich von Luft und Straße auf die Schiene zu bringen. Dafür muss der Umstieg attraktiver gestaltet werden und es müssen die Voraussetzungen geschaffen werden, um die steigende Nachfrage bewältigen zu können. Umwelteinflüsse bestimmen die Zukunft – auch die der ÖBB Klimaänderungen beeinflussen eine ganze Reihe von Sektoren, Systemen und Institutionen: Die neuen klimatischen Bedingungen, wie beispielsweise Änderungen des Niederschlagsmusters, Anstieg der Durchschnittstemperaturen, die Zunahme an Windgeschwindigkeiten oder die Häufigkeit und Intensität von Wetterereignissen, können den gesamten Bahnkörper sowie das bahnnahe Umfeld (Böschungen, Lehnen, Wildbachund Lawineneinzugsgebiete etc.) beeinflussen. Ein weiteres Ereignis sind Gleisverwerfungen, die sich in Zukunft aufgrund der Zunahme an Hitzetagen und steigenden Tageshöchsttemperaturen erhöhen könnten. Um diese Gefahr zu reduzieren, haben die ÖBB im Sommer 2019 an der Arlbergbahn ein Feldversuch begonnen, bei dem Schienensteg und –fuß auf einer Länge von fünf Kilo-

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metern weiß besprüht wurden. Die Temperatur der Schiene kann damit bei starker Sonneneinstrahlung um rund 5 bis 7 Grad Celsius reduziert werden. Um mögliche Umwelteinflüsse wissenschaftlich zu untersuchen, starteten die ÖBB bereits vor knapp zehn Jahren gemeinsam mit dem Umweltbundesamt und dem Institut für Meteorologie der Universität für Bodenkultur das Forschungsprojekt „KLIWA“ (KLImaWAndel). Dabei wurden wesentliche Grundlagen für die Anpassungs- und Verminderungsmaßnahmen sowohl im organisatorischen als auch im technischen und im normativen Bereich festgelegt. Bisher wurden im Rahmen dieser Zusammenarbeit folgende Projekte umgesetzt: infra:wetter ist ein ÖBB-eigenes und streckenbezogenes Wetterwarnsystem, das den Usern Informationen über Großwetterlagen und regionale meteorologische Verhältnisse sowie eine Vorschau auf die kommenden 72 Stunden bietet. Die Naturgefahrenhinweiskarte stellt die Ergebnisse der bundesweit standardisierten und objektiv erhobenen potenziellen Gefährdungsbereiche durch Naturgefahren entlang des ÖBB Streckennetzes dar. Hochwasserbetroffenheit. Im Sinne der Betriebssicherheit und Streckenverfügbarkeit sind in Plänen Streckenabschnitte dargestellt, an denen für die Bahnstrecken in Österreich eine potenzielle Gefahrenquelle bei verschiedenen Hochwasserständen besteht. Bei den konkret davon betroffenen Streckenabschnitten ist ein technisches Maßnahmenkonzept hinterlegt, das auch als Grundlage für mittel- und langfristige Planungsprojekte zur Verfügung steht.

an Klimaanlagen, deren Einsatz hierfür naheliegend wäre, zu reduzieren, arbeiten die ÖBB an alternativen Lösungen wie vertikalen und horizontalen Begrünungsformen im Innen- und Außenbereich: Gründächern und -fassaden sollen perspektivisch dazu beitragen, die angesprochenen Hitzeeffekte zu verringern. Zudem sollen wasserdurchlässige Flächenversiegelungen auf Vorplätzen und Park & Ride-Anlagen dafür sorgen, dass sich diese weniger aufheizen. Somit wird weniger Hitze an die Umwelt abgegeben und bei Starkregenereignissen kann das Regenwasser schneller aufgenommen werden bzw. schneller ablaufen. Um zudem der Wasserknappheit in Hitzeperioden vorzubeugen, wird auch die Grauwassernutzung für die Bewässerung und Spülung auf WC-Anlagen ausgebaut. Stichwort Klimaanlagen: Und um den Fahrgästen auch in Hitzesommern das Reiseerlebnis so angenehm wie möglich zu gestaltet, bedarf es einer topausgestatteten Flotte. Im Zuge von Refurbishments wurden daher im Laufe der Jahre immer mehr Züge mit Klimaanlagen ausgestattet – bei Neubeschaffungen gehört dies ohnehin zum Standard. Im Fernverkehr sind aktuell 100 % und im Nahverkehr rund 2/3 der Züge klimatisiert. Bei Neubeschaffungen ist auch der Blick in die Zukunft interessant. Die gültigen Normen in der EU zur Klimatisierung von Schienenfahrzeugen berücksichtigen bereits steigende Anforderungen aufgrund häufigerer, erhöhter Außentemperaturen im Sommer. So wurde die Auslegungstemperatur in den Normen für Mitteleuropa von 32 Grad Celsius (UIC553-1992) auf 35 Grad Celsius angehoben (EN 13129-2000). Dies führt dazu, dass neue Klimaanlagen die Anforderungen nicht wie bisher üblich für die Klimazone II (Mitteleuropa), sondern für die Klimazone I (Südeuropa) erfüllen müssen.

Vermeidung von Hitze-Inseln

Neue Technologien mit Kundennutzen

Die ÖBB verfolgen auch im Gebäudebereich Maßnahmen, um den Auswirkungen des Klimawandels zu begegnen. Dabei werden Möglichkeiten untersucht, die Hitzeinsel-Effekte auf und rund um Personenverkehrsanlagen reduzieren sollen. Um den Bedarf

Die Bedeutung der Bahn als einer der klimafreundlichsten Verkehrsträger und ihre Rolle zum Schutz unseres Klimas ist weitgehend unbestritten. Innovation und Technologie können hierbei einen direkten Nutzen

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TOP-THEMA im Themenfeld Nachhaltigkeit erzeugen oder indirekt eine positive Wirkung auf einzelne Bausteine der Nachhaltigkeitsstrategie erzielen. Die laufende Weiterentwicklung des Gesamtsystems der Mobilität, Logistik und Infrastruktur hat demnach im gesamten ÖBB-Konzern eine zentrale Bedeutung. Der Fokus liegt dabei auf dem Kundennutzen sowie der Steigerung von Kapazität, Produktivität und Qualität. Konzernweite Formate unterstützen unsere MitarbeiterInnen bei der Entwicklung von Innovationen: Die Ideenwerkstatt ist eine Plattform für MitarbeiterInnen und bietet die Möglichkeit, einen persönlichen Beitrag zur Weiterentwicklung des Unternehmens zu leisten. Seit dem Start 2015 wurden knapp 6.000 Vorschläge eingereicht, 979 Ideen umgesetzt und mehr als 38 Millionen Euro eingespart. Die Ideen reichen dabei von Verbesserungen tagtäglicher Arbeitsabläufe über Automatisierung und Digitalisierung bis hin zu neuen Produkten und Services für KundInnen. Im Innovationsprogramm arbeiten KollegInnen aus unterschiedlichen Fachbereichen für ein dreiviertel Jahr zusammen, um gemeinsam ein neues Produkt oder ein neues Service zu entwickeln. Dabei werden sie von internen und externen ExpertInnen gecoacht, kooperieren mit Start-ups und holen laufend Feedback von KundInnen ein. So entstanden Lösungen, wie das Postbus-Shuttle, integrierte Mobilitätskonzepte oder Smart Journey-GPS-Ticketing. „Community creates Mobility“. Um den gemeinsamen Diskurs mit anderen Mobilitäts-akteuren zu fördern, wurde das Ökosystem „Community creates Mobility“ ins Leben gerufen, in dem laufend Aktivitäten zu MobilitätsThemenschwerpunkten stattfinden. Das Netzwerk umfasst aktuell über 70 Organisationen aus Industrie, Wissenschaft und der Start-up-Szene. Open Innovation-Plattform. Die Online-Plattform ermöglicht die Einbindung von KundInnen in Entwicklungen und Testings neu-

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er Produkte und Services, etwa durch die Sammlung von Ideen über Open Innovation-Challenges oder die Erhebung von Feedback zu konkreten Lösungen. Kapazität der Schiene soll bis 2040 um 100 Prozent wachsen Innovation und Technologie sind der wichtigste Treibstoff, um ein Unternehmen wie die ÖBB erfolgreich in die Zukunft zu steuern. Um Technologieund Asset-Innovationen des ÖBBKonzerns gesamtheitlich zu erfassen, wurde die ÖBB Technologiestrategie entwickelt, deren Leuchtturmprojekte mit ausgeprägter Anwenderund Umsetzungs¬orientierung einen messbaren Beitrag zur Steigerung von Kapazität, Produktivität und/oder Qualität leisten werden. Exemplarisch seien folgende Beispiele genannt: Automatisierte Betriebsführung. Um weitere Verlagerungseffekte zu ermöglichen und Kapazitätsengpässen im Schienennetz vorzubeugen sowie die Produktivität und Betriebsqualität zu erhöhen, wird schrittweise auf automatisierte Betriebsführung umgestellt. Innovativer Güterwagen/intelligenter Güterzug: Der Güterwagen der Zukunft beinhaltet die Felder Telematik und Sensorik, ein innovatives Laufwerk und Wagendesign sowie die digitale, automatische Kupplung (DAK). In Kombination verschaffen sie dem Schienen-güterverkehr einen enormen Produktivitätsschub und ermöglichen zudem die Reduktion von Lärm. Regionalbahn neu: Um die hohen „Stückkosten“ und die teilweise geringe Attraktivität (Intervalle, Ausstattung etc.) abzufedern, werden neue, attraktive und kostengünstige Lösungen geschaffen, von denen sowohl das Klima als auch die KundInnen und damit der der gesamte Bahnsektor profitieren. Das Ziel aller Maßnahmen ist klar definiert: Das System Schiene soll bis 2040 im Vergleich zum Status Quo doppelt so leistungsfähig werden! Durch die optimierte Nutzung von vorhandenen Kapazitäten, durch die oben exemplarisch angesprochenen

technischen Maßnahmen und Optimierungen mittels Systemtrassen sowie dem Infrastrukturausbau gemäß ÖBB-Rahmenplan bzw. im Rahmen des Zielnetzes 2040+ und durch Kapazitätssteigerung beim Rollmaterial mit längeren Zügen im Güterverkehr und mehr Sitzplätzen im Personenverkehr. Verantwortung bei nachhaltiger Beschaffung Als einer der größten Auftraggeber des Landes sind die ÖBB ein wichtiger Impulsgeber für die heimische Wirtschaft. Das Thema nachhaltige Beschaffung ist demnach ein wesentlicher Bestandteil der strategischen Ausrichtung des Konzerns. Um den Einkauf perspektivisch noch nachhaltiger auszurichten, haben die ÖBB im März 2020 das Projekt „TCO-CO2“ gestartet. Auswirkungen der zu beschaffenden Produkte und Leistungen auf die Umwelt sollen transparent, bewertbar und damit vermeidbar gemacht machen, indem das bestehende TCO-Modell (Total Cost of Ownership) um eine CO2-Komponente erweitert wird. Als primäres Ergebnis des Projektes soll eine wissenschaftlich fundierte und unabhängig überprüfte Berechnungsmethodik zur Ermittlung und Bewertung der CO2Emissionen entlang der Lieferkette im gesamten Lebenszyklus entstehen (Stichwort: „Cradle to Grave“). Nach einer Integration in den bestehenden TCO-Ansatz soll in Zusammenarbeit mit dem Institut für Eisenbahnwesen (EBW) und Verkehrswirtschaft der Technischen Universität Graz auf diesem Weg das TCO-CO2-Modell entstehen, mit dessen Hilfe alle künftigen Beschaffungsverfahren durchgeführt werden sollen. Nachhaltiges Asset Management für die Infrastruktur Im Bereich der Infrastrukturentwicklung besteht seit mehr als 20 Jahren eine enge Kooperation der ÖBB mit dem Institut für Eisenbahnwesen und Verkehrswirtschaft in Graz. Dabei ging es ursprünglich um die Implementierung von LifeCycle-Modellen in die Regelwerke des Fahrwegbereichs, um auf Basis von Lebenszyklusbetrachtungen die

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TOP-THEMA wirtschaftlichen Einsatzgebiete verschiedener Fahrwegkomponenten in Abhängigkeit der stark divergierenden Randbedingungen zu identifizieren. Die klare Zielsetzung lag und liegt dabei in der Entwicklung und wirtschaftlichen Argumentation von nachhaltigen Lösungen, sowohl im Sinne einer Kostenreduktion als auch der Reduktion des Footprints der Fahrweganlagen. Durch die Anwendung vom daraus entwickelten und im Hause ÖBB implementierten Life-Management können inzwischen netzweite Strategien technisch erarbeitet und wirtschaftlich argumentiert, künftige Investitions- und Instandhaltungsbudgets bestimmt aber auch auf Projektebene beispielsweise die Frage der für spezifische Abschnitte anzustrebenden wirtschaftlichen Nutzungsdauern beantwortet werden. Auf Basis der von den ÖBB zur Verfügung gestellten Fahrwegdaten und der Entwicklung neuer Auswertetools ist es gelungen das Verhalten von Gleisen in Form seiner Verschlechterungsraten zu analysieren und zu verstehen, eine Grundvoraussetzung für Prognosen und damit präventivem Asset Management. Daraus können sowohl Stoßrichtungen für die Weiterentwicklung von Fahrweganlagen als auch die Instandhaltung bestehender Anlagen aufgezeigt werden, immer mit der Zielsetzung den Fokus noch stärker auf Nachhaltigkeit und Verfügbarkeit der Infrastrukturanlagen zu legen.

Aktuell werden die entwickelten Methoden auch über den Fahrweg hinaus im Asset Management der ÖBB verankert. Autoren: Ing. Mag. (FH) Andreas Matthä CEO ÖBB Holding AG Nach der HTL-Matura (Schwerpunkt Tiefbau) trat Andreas Matthä 1982 in den ÖBB-Dienst ein. Seine Laufbahn begann im Bereich Bauaufsicht & -leitung - zustandig für Brücken und Tiefbau -, von wo er in die Generaldirektion Brückenbau wechselte. Neben verschiedenen Leitungsfunktionen in den Bereichen Personal, Rechnungswesen und Controlling absolvierte er von 1998 bis 2002 berufsbegleitend ein Wirtschaftsstudium an der FH Wien. 2008 wechselte Matthä in den Vorstand der ÖBB-Infrastruktur AG, wo er 2009 als Ressortvorstand für Finanzen, Markt und Service auch die Funktion des Vorstandssprechers übernahm. Seit Ende Mai 2016 leitet Ing. Mag. (FH) Andreas Matthä als Vorstandsvorsitzender die ÖBB-Holding AG. Kontaktdaten: Ing. Mag. (FH) Andreas Matthä ÖBB Holding AG Am Hauptbahnhof 2, 1100 Wien Tel: +43 1 93000-0 Email: andreas.matthae@oebb.at Homepage: www.oebb.at

Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Peter Veit Vorstand des Instituts für Eisenbahnwesen und Verkehrswirtschaft, Technische Universität Graz Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Peter Veit Nach dem Studium des Wirtschaftsingenieurwesens-Bauwesen arbeitete Peter Veit von 1987 bis 1999 am Institut für Eisenbahnwesen an der Technischen Universität Graz, wo er 1991 promovierte und 1999 zum Thema Lebenszykluskosten des Eisenbahnfahrwegs habilitierte. Zwischen 2000 und 2002 konnte er seine Forschungsergebnisse bei den ÖBB als Leiter des Projekts „Fahrwegstrategie“ implementieren. Danach kehrte er an die TU Graz zurück, wo er 2010 zum Professor und Vorstand des Instituts für Eisenbahnwesen und Verkehrswirtschaft berufen wurde. Das Institut kooperiert in Forschung und Entwicklung im Themenbereich „technische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit – Life Cycle Management” national und international mit Bahnen, der bahnaffinen Industrie und internationalen Banken (Weltbank, ADB). Kontaktdaten: Dr. Peter Veit Technische Universität Graz Rechbauerstraße 12/II 8010 Graz Mobile: +43 664 60 873 6217 Email: peter.veit@TUGraz.at Homepage: www.ebw.TUGraz.at

Univ.-Prof. Dipl.Ing. Dr. Peter Veit Ing. Mag. (FH) Andreas Matthä CEO ÖBB Holding AG

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Vorstand des Instituts für Eisenbahnwesen und Verkehrswirtschaft, TU Graz

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TOP-THEMA

Foto: TBA llu 2017 © Z+B

Andreas Pfeiler, Sebastian Spaun

Das Gebäude der Zukunft: jetzt

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ie österreichische Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, Klimaneutralität im Jahr 2040 zu erreichen. Ein Zwischenziel auf diesem ambitionierten Weg ist es, den Strombedarf im Jahr 2030 zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen zu decken. Auch der Gebäudesektor muss zu diesen nationalen Klima- und Energiezielen wesentlich beitragen. Das bedeutet einerseits, dass nur mehr Gebäude mit niedrigem Energieverbrauch errichtet werden dürfen, deren Heiz- und Kühlbedarf dann zudem aus erneuerbaren Quellen gedeckt werden muss. Mit fossiler Energie betriebene Heizungsanlagen werden schon bald der Vergangenheit angehören und müssen durch effiziente CO2-freie Systeme ersetzt werden. Die thermische Bauteilaktivierung (TBA) – mit der massive Betonbauteile zu Energiespeichern werden – ist ein System, mit dem Gebäude energie- und ressourceneffizient geheizt und gekühlt werden können. Dabei werden Rohrregister direkt in Betonteile eingebaut; besonders geeignet sind Geschoßdecken aus Stahlbeton. Beton ist aufgrund seiner hohen Materialdichte ein hervorragender Wärmespeicher und ein sehr guter Wärmeleiter. Durch die gute Wärme-

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leitfähigkeit kann die Wärme rasch in den thermisch aktivierten Bauteil eindringen (Kühlfall) oder umgekehrt im Heizfall über die große Fläche gleichmäßig abgegeben werden. Somit reichen kleinste Temperaturunterschiede zwischen dem aktivierten Bauteil und der Raumtemperatur, um Gebäude komfortabel in Form von Strahlungswärme heizen bzw. kühlen zu können. NutzerInnen empfinden diese Form des Heizens und Kühlens als besonders wohltuend und komfortabel. Zunehmende Bedeutung einer effizienten Raumkühlung Ein großer Vorteil der Bauteilaktivierung ist, dass mit ein- und demselben System geheizt und gekühlt werden kann, die Funktionsweise wird bestimmt durch die Temperatur der Flüssigkeit in den Rohrregistern. Mit der deutlichen Zunahme der Temperaturen im Sommer, aber auch der Zunahme von Tropennächten wird das Thema Vermeidung von sommerlicher Überwärmung immer wichtiger für die Bauwirtschaft. Die Kühlung über die Bauteilaktivierung trägt wesentlich zur Gewährung des sommerlichen Wohnkomforts bei, sie

erfolgt geräuschlos und ohne Zugluft und macht Klimageräte und die damit oftmals verbundene Lärm- und Wärmeabgabe, die besonders in Städten zu einer Verstärkung des „Urban Heat Island“-Effekts führt, überflüssig. Aufgrund der großen Übertragungsflächen können die Systemtemperaturen der Bauteilaktivierung sehr niedrig gehalten werden, die Differenz der Oberflächentemperatur zur gewünschten Raumtemperatur soll zwischen 1 und 6 Grad betragen. Dieser Betrieb in einem relativ niederen Temperaturbereich bewirkt, dass die Energie z. B. mittels Wärmepumpe mit sehr hohen Umwandlungswirkungsgraden erzeugt werden kann. Damit ist die Bauteilaktivierung für die Nutzung erneuerbarer Energien prädestiniert. Die Bauteilaktivierung ermöglicht es weiters, die sommer-

Bauteilaktivierung 3D Modell ©Z+B

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Verlegung der Rohrleitungen © Aichinger Hoch- u. Tiefbau GmbH

liche Abwärme sinnvoll für den Winter zu nutzen: Bei der Kopplung mit Geothermie wird die Abwärme ins Erdreich geleitet und regeneriert dieses. Im Winter wird die Wärme dem Boden wieder entzogen und den Räumen über Wärmepumpe und Bauteilaktivierung zugeführt. So kann auch eine gewisse saisonale Speicherung erreicht werden. Andere Systeme, beispielsweise Mikrowärmepumpen, ermöglichen es, die Abwärme z. B. aus dem Abwasser oder der Abluft der Gebäudelüftung direkt zu nutzen, unter anderem für die Herstellung von Warmwasser. Gebäude als Speicher für erneuerbare Energie Auch im Hinblick auf die vermehrte bzw. alleinige Nutzung erneuerbarer Energie hat die thermische Bauteilaktivierung einen weiteren unschlagbaren Vorteil: Beton wird als hocheffizienter Energiespeicher aktiviert. So kann z. B. überschüssiger Strom aus erneuerbaren Quellen in Wärme umgewandelt und in Betondecken zwischengespeichert werden. Das Beladen des Speichers – also z. B. einer thermisch aktivierten Decke – ist auch in unregelmäßigen Zeitintervallen möglich, ohne den thermischen Komfort im beheizten Raum zu stören. Bei einer hohen Anzahl von Gebäuden mit thermisch aktivierbaren Bauteilen kann die Übernahme von Spitzenstrom aus erneuerbaren Energien helfen, Angebotsspitzen zu glätten und im Gegenzug den Strombedarf zu Zeiten niedrigen Angebots zu reduzieren.

operationspartnern aus Wissenschaft und Praxis zur Weiterentwicklung, Standardisierung und Verbreitung der Bauteilaktivierung bei und hat im Lauf der Jahre zahlreiche Forschungs- und Innovationsprojekte initiiert. Am Beginn stand 2008 die Veranstaltungsreihe Expertenforum „Energiespeicher Beton“, es wurden Best-practice-Beispiele vor den Vorhang geholt und der Stand der Technik diskutiert. 2011/12 entstand am Gelände der Bauakademie Salzburg ein Simulationsraum. Mit den gewonnenen Daten wurde ein Rechenkern zur Simulationsberechnung von Gebäuden als Energiespeicher entwickelt. Den bauphysikalischen Grundlagen ging Professor Klaus Kreč, TU Wien, im Projekt „Energiespeicher Beton“ im Forschungsprogramm „Haus der Zukunft“ umfassend auf den Grund, die gleichnamige Publikation liegt mittlerweile in 2. aktualisierter Auflage vor. Wichtige Grundlagen für die Baupraxis lieferte 2016 der Planungsleitfaden „Heizen und Kühlen mit Beton“, herausgegeben im Forschungsprogramm „Stadt der Zukunft“. Er fasst die vorliegenden Erkenntnisse zum Thema „Thermische Bauteilaktivierung“ zusammen und liefert detaillierte Anleitungen für PlanerInnen und Bauausführende sowie Grundlagen für die Aus- und Weiterbildung. Behandelt werden Fragen der Bauphysik, der Konzeption von Gebäuden, der zugehörigen Haustechnik und deren Regelung sowie zur nachhaltigen Energieversorgung. Der Leitfaden entstand anhand der Errichtung eines Pilotprojekts: Bei einem Einfamilienhaus im Weinviertel wurde die Bauteilaktivierung, die bis dahin vor allem mit solarer Unterstützung betrieben worden war, erstmals mit Windenergie gekoppelt. Das Projektteam bestand aus einem erfahrenen Planer, einem lokalen Baumeister als Generalunternehmer, einem

Zementindustrie fördert Innovation Die Vereinigung der Österreichischen Zementindustrie (VÖZ) trägt seit 2008 gemeinsam mit zahlreichen Ko-

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MGG22_Gemeinschaftsgarten©Z+B

Reihenhäuser Wohnpark Wolfsbrunn Sommerein @EBSG

Windstromlieferanten und der Vereinigung der Österreichischen Zementindustrie als Koordinator. Im Projekt „Gebäude als Speicher“ wurde das Gebäude zwei Jahre lang einem Monitoring unterzogen, das gezeigt hat, dass 70 Prozent (2016/17) und fast 90 Prozent (2017/18) des Stroms für den Betrieb der Wärmepumpe aus CO2freier und überschüssiger Windenergie generiert werden konnten. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass Gebäude mit Betonbauteilen eine aktive Rolle beim Lastmanagement spielen können. Energieflexible Gebäude zur Entlastung der Stromnetze Auf Basis der vielversprechenden Ergebnisse kam 2018 die Bauteilaktivierung zum Heizen und Kühlen sowie in Kopplung mit erneuerbarer Energie in Form von Erdsonden und Windstrom-Management zum ersten Mal auch im sozialen Wohnbau zum Einsatz: in der Wohnhausanlage MGG22 in Wien Stadlau. In Niederösterreich entstand der Wohnpark Wolfsbrunn in Sommerein, dessen Energieversorgung, ebenfalls geplant als netzflexibler Wohnbau, mit Erdsonden und Windstrommanagement erfolgt. Beide Wohnhausanlagen werden aktuell einem Monitoring unterzogen, um bei künftigen Projekten den Anteil der erneuerbaren Energie und die Entlastung der Stromnetze weiter optimieren zu können. So werden Gebäude mit ihren Bauteilen zu dezentralen Speichern im Energienetz. Diesen Beitrag zur erneuerbaren Energiezukunft gilt es, vermehrt zu nutzen, auch der österreichische Klima- und Energiefonds unterstützt seit Ende 2020 mit dem Programm „Energieflexibilität durch thermische Bauteilaktivierung“ die Anwendung

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TOP-THEMA der Speicherkapazität von Bauteilen. Unterstützt werden Planungsdienstleistungen für Geschosswohngebäude mit optimierter Nutzung erneuerbarer Energie bei der Raumwärme bzw. -kühlung mit Bauteilaktivierung. Optimierung von Steuerung und Regelung Weiterer Optimierungsbedarf besteht bei der Steuerung der Bauteilaktivierung. Im Green Energy Lab, Österreichs größtem Innovationslabor für eine nachhaltige Energiezukunft, ist die VÖZ in zwei Forschungsprojekten engagiert. Die Projekte werden im Programm "Vorzeigeregion Energie" des Klima- und Energiefonds finanziert. „PNP controls TABS“, geleitet von e7 energy innovation & engineering, beschäftigt sich mit der Entwicklung einer "Open Interface" und einer Code Programmiervorlage für Plug-and-Play-Lösungen sowie einer anlagenübergreifenden Regelung für Wärmepumpen – um diese mit Bauteilaktivierung und anderen Impulsen wie beispielsweise Windenergie zu verbinden. Die Anwendung der standardisierten Regelung soll künftig breit möglich sein. „HYBRID LSC“, unter der Leitung der TU Wien – Energy Economics Group, demonstriert die Nutzung der Flexibilitäts- und Energieeffizienz-Potenziale von "Local Sustainable Communities" für das Energiesystem. Mit LSC soll erneuerbare Energie vor Ort erzeugt, gespeichert und genutzt werden können. Im Fokus stehen Demonstrationsstandorte in Wien, Niederösterreich, im Burgenland und in der Steiermark, welche die Nutzung des Potenzials anhand von Gebäuden mit thermischer Bauteilaktivierung untersuchen. Beim Grazer Standort geht es um die Transformation eines früheren Industriegebiets hin zu einer modernen LSC. Kreislaufwirtschaft als Treiber für Nachhaltigkeit Der Fokus auf einen möglichst CO2freien Betrieb von Gebäuden ist nur ein wesentlicher Schritt in Richtung Energie- und Bauwende. Für die Errichtung weitgehend treibhausgasfreier und klimarobuster Gebäude

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der Zukunft ist eine lebenszyklusbasierte Bewertung der Nachhaltigkeit allerdings unumgänglich. Das Thema Kreislaufwirtschaft, also die Wiederverwendung bzw. Wiederverwertung von Bauteilen und Baustoffen, hat oberste Priorität bei der Nachhaltigkeit von Gebäuden. Bauwerke müssen so gebaut werden, dass sowohl lange Nutzungsdauern der Gebäude als auch die Wiederverwendung der Materialien am Lebensende des Bauwerks (Recycling, Upcycling) ermöglicht werden, Gebäude sind im Sinne des Urban Mining die Materialressourcen der Zukunft. Das birgt große Innovationschancen insbesondere für mineralische Baustoffe wie Ziegel und Beton – ob eben als Speicher für erneuerbare Energie in der Nutzungsphase oder ob als Vorreiter in Sachen Wiederverwertung. Der Fachverband der Stein- und keramischen Industrie, dem auch die österreichische Zementindustrie angehört, hat daher im Frühjahr 2021 gemeinsam mit der TU Graz eine Stiftungsprofessur für „Nachhaltiges Bauen“ ausgeschrieben. Stiftungsprofessur Nachhaltiges Bauen an der TU Graz Der Fachverband Steine-Keramik finanziert die Professur nach § 99 des Universitätsgesetzes für die Dauer von drei Jahren, mit der Option auf Verlängerung. Die TU Graz bringt wissenschaftliche Stellen, Administrationsunterstützung sowie Infrastruktur für Forschung und Lehre ein. Die Professur soll wesentlich zum Erreichen der Pariser Klimaziele und damit auch zur Umsetzung des UNAktionsplans Agenda 2030 beitragen. Denn gerade im Bauwesen braucht es, wie auch das Erfolgsbeispiel der Bauteilaktivierung zeigt, die fachübergreifende Bündelung aller Kräfte, von der Material- und Energieforschung über die Architektur bis zum Ingenieursbau. Anlaufstelle für Baustoff- und Bauindustrie Mit der neuen Professur im Fachgebiet "Nachhaltiges Bauen" soll eine zentrale Anlaufstelle für die Baustoff- und Bauindustrie an der TU Graz geschaffen werden. Durch die

Bündelung der Forschungsaktivitäten zu den Themen Nachhaltiges Bauen sowie Klimaschutztechnologien und Klimawandelanpassung soll diesen neuen Aufgabenstellungen Rechnung getragen werden. In der Lehre soll die zentrale Aufgabe der Professur für "Nachhaltiges Bauen" die Integration der Grundlagen der Nachhaltigkeit in die bauingenieurwissenschaftliche Ausbildung sein. Konkret wird die Verankerung des Themas in allen relevanten Curricula der TU Graz angestrebt. Die TU Graz beschäftigt sich schon jetzt intensiv mit dem Thema, etwa in der Arbeitsgruppe für Nachhaltiges Bauen am Institut für Technologie und Prüfung von Baustoffen oder im berufsbegleitenden Universitätslehrgang "Nachhaltiges Bauen", der gemeinsam mit der TU Wien angeboten wird. Mehrere Forschungsgruppen befassen sich mit drängenden Nachhaltigkeitsfragen im Bausektor und arbeiten beispielsweise an ökologischen Materialien, autarken Energiesystemen und der Reduktion des CO2-Fußabdrucks oder des Wasserverbrauchs. Die Einrichtung der Stiftungsprofessur "Nachhaltiges Bauen" unterstreicht nun die Nachhaltigkeit von Gebäuden als eigenständige wissenschaftliche Disziplin und soll starke Impulse im Bereich der Wissensvermittlung für Lehre und Baupraxis setzen. Autoren: Dipl.-Ing. Dr. techn. Andreas Pfeiler Studium Bauingenieurwesen 19942000 an der TU Wien – Konstruktiver Ingenieurbau Doktoratsstudium der techn. Wissenschaften an der TU Wien 2000-2004 parallel zur Tätigkeit als Univ.Ass. am Institut für Straßenbau- und Straßenerhaltung (heute Department für Verkehrswissenschaften) Doktorat „Erhöhung der Griffigkeit von Asphaltstraßen durch den Einsatz polierresitenter Sande“ Ab 2005: Geschäftsführer Güteschutzverband der österr. Kies-, Splitt- und Schotterwerke und Referent für Bereich Technik im Fachverband Steine-Keramik Seit 2012: Gf im FV Steine-Keramik 2008: Ziviltechnikerprüfung

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TOP-THEMA Seit 2005: CEN-Delegierter TC 154 „Aggregates“ (Delegstionsleiter) Derzeit: Leiter ONK 051 „natürliche Gesteine“ Dipl.-Ing. Sebastian Spaun Sebastian Spaun (52) ist seit 1.1.2015 Geschäftsführer der Vereinigung der österreichischen Zementindustrie (VÖZ). Zuvor war er seit 1998 Leiter der Abteilung Umwelt & Technologie der VÖZ. Nach seinem Studium der „Kulturtechnik und Wasserwirt-

schaft“ an der Universität für Bodenkultur, das ihn auch an das Institut für Wassergüte, Ressourcenmanagement und Abfallwirtschaft der TU Wien führte, begann Sebastian Spaun seine berufliche Laufbahn 1995 beim Recyclingpark Wels (Bau und Betrieb einer MVA, aerobe und anaerobe Kompostierung, Kunststoffsortierung, Reststoffdeponie, stationäre Bauschuttaufbereitung). Seine beruflichen Arbeitsschwerpunkte liegen heute in der Decarbo-

nisierung der Zementherstellung, im ressourceneffizienten und nachhaltigen Bauen (z.B. in der Nutzung von Gebäuden als netzflexible Energiespeicher) und in der Schaffung langlebiger Verkehrsinfrastruktur. Er ist Vorstandsmitglied der Österreichische Bautechnik Vereinigung (öbv), Aufsichtsratsmitglied der Austrian Cooperative Research (ACR) und leitet den Forschungsverein Nachhaltige Betonstraßen.

Dipl.-Ing. Dr. techn. Andreas Pfeiler

Dipl.-Ing. Sebastian Spaun

Geschäftsführer des Fachverbandes der Stein- und keramischen Industrie

Geschäftsführer der Vereinigung der österreichischen Zementindustrie (VÖZ)

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TOP-THEMA

Foto: Orasis Industries Holding GmbH

Matthias Wolf, Christian Ramsauer, Markus Haidenbauer

Methodik zur Erstellung einer CO2-Bilanz der Orasis Industries Holding GmbH Mit dem Verkauf der Hirtenberger Defence Systems Sparte wurde aus der Hirtenberger AG nun die Orasis Industries Holding GmbH mit ca. 300 Mio. EUR Umsatz und 2.000 MitarbeiterInnen. Das Traditionsunternehmen aus Niederösterreich reagiert auf die Herausforderungen des Klimawandels und richtet sich verstärkt nachhaltig aus. Trotz einer hohen öffentlichen Aufmerksamkeit für das Thema Klimaneutralität und mittelfristig bevorstehender Auflagen im Umgang mit CO2, fehlt es in der österreichischen Industrie noch an einer einheitlichen und allgemein anwendbaren Methodik zum Erstellen von CO2-Bilanzen in Unternehmen. Das Unternehmen hat das Institut für Innovation und Industrie Management der TU Graz mit dem Projekt „CO2-Neutralität“ beauftragt. Das Projekt beinhaltet die Erstellung einer CO2-Bilanz und Energieflussanalysen, die Identifikation von Energieeinsparpotentialen und die Erarbeitung einer Kompensationsstrategie für verbleibende Emissionen. Klimaneutralität in der Industrie Die EU fordert in ihrer langfristigen Strategie Klimaneutralität bis zum Jahr 2050. Die mittelfristigen Klimaziele für das Jahr 2030 fordern eine Reduktion des Treibhausgasausstoßes um 55 Prozent unter den Wert von 1990. Dazu muss der Übergang zu einer ressourceneffizienten und kreislauforientierten Wirtschaft und die Entwicklung weniger umweltschädlicher und weniger energieintensiver Technologien (Steigerung der Energieeffizienz um zumindest 32,5 %) in der EU-Industrie vorangetrieben werden.1 Das Institut für Innovation und Industrie Management (IIM) der Technischen Universität Graz blickt auf eine lange Tradition im Bereich des betrieblichen Energiemanagements zurück. Durch die Identifika1 Europäische Kommission (2021) 48

tion von Einsparpotentialen in der produzierenden Industrie mittels Energieflussanalysen und die darauf aufbauende, gezielte Ableitung von Maßnahmen zur Optimierung der Nutzung von Energie (z.B. Elektrizität, Druckluft, Wärme) konnten viele Unternehmen der österreichischen Industrie bei der Einsparung von Primärenergie unterstützt werden. Der Fokus dieser Projekte lag zumeist auf einer Verbesserung des Betriebsergebnisses (EBIT) durch die Reduktion von Verschwendung. Unter den neuen Herausforderungen und Vorgaben im Hinblick auf industrielle Klimaziele erhält diese Kernkompetenz des IIM einen neuen Aufschwung, da sich eine Reduktion im Primärenergieeinsatz auch immer direkt positiv auf die Menge des emittierten CO2 auswirkt. So kann ein Beitrag zur

Klimaneutralität des Unternehmens geleistet werden. CO2-Bilanzierung in Industrieunternehmen Die Klimaneutralität von Unternehmen ist sowohl von hoher Relevanz für eine nachhaltige Entwicklung als auch ein zunehmend wichtiger Wirtschaftsfaktor. Dabei spielt die Bilanzierung von Treibhausgasemissionen (THG) eine wichtige Rolle um Entscheidungsträger bei der Gestaltung einer passenden Strategie zu unterstützen. Das Hauptpotential zu Einsparung von THG-Emissionen wird hier vor allem auf der Unternehmensebene gesehen.2 Unternehmen haben deshalb begonnen, eine Vielzahl unterschiedlicher Methoden und Praktiken der CO2-Bilanzierung zu nutzen 2 Günther, E. & Stechemesser, K., (2012) WINGbusiness 2/2021


TOP-THEMA um zur Erreichung der Umweltziele der Europäischen Union und zur Reduktion eines negativen Einflusses auf das Klima beizutragen. Infolgedessen hat sich der Begriff „Corporate Carbon Accounting“ entwickelt, der die Gesamtheit der Bereiche, Methoden und Verfahren der Bilanzierung beschreibt. In diesem Zusammenhang ist auch die Forschung gefordert, differenzierte und praxisnahe Bilanzierungs- und Steuerungsansätze zu entwickeln, mit denen diese Funktionen effektiv und effizient unterstützt wer3 den können. Das Fehlen dieser Ansätze wird oftmals darin begründet, dass Forscher nur begrenzten Zugang zu Rohdaten der Unternehmen haben und diese oft auf eine regelmäßige und nachvollziehbare Berichterstat4 tung verzichten. GHG-Protokoll als IndustrieStandard akzeptiert Ein Ansatz um eine systematische Bilanzierung von Treibhausgasen zu ermöglichen ist das GHG Protocol (“Greenhouse Gas Protocol“), eine transnationale Standardreihe zur Bilanzierung von Treibhausgasemissionen welches die Grundlage für die meisten bestehenden Treibhausgasbilanzierungs-Standards wie z.B. die ISO 14064 bildet. Das GHG Protocol orientiert sich an den Grundprinzipien der ordnungsgemäßen Bilanzierung im Rechnungswesen (Relevanz, Vollständigkeit, Konsistenz, Transparenz und Genauigkeit) und erfasst die im Rahmen des Kyoto-Protokolls regulierten Treibhausgase, zumeist als CO2-Equivalente.5 „Richtige“ CO2-Bilanzen von Unternehmen kaum publiziert Umso erstaunlicher scheint es, dass trotz dieses Industriestandards auch Branchenführer, die einen großen Beitrag an der globalen Erwärmung aufweisen (z.B. BP, Total, Shell), teilweise Berichte herausgegeben haben, die unerklärte Zahlen und methodische Ungereimtheiten enthalten.3 Im GHG Protocol werden drei Bereiche (Scopes) unterschieden, denen entstehende Emissionen zugeordnet werden. Diese Bereiche werden an3 Schaltegger S. & Csutora M. (2012) 4 Voicu D. (2012) 5 WRI (2004), S.9 WINGbusiness 2/2021

Abbildung 1: Scope Ansatz des GHG Protocol (ET Carbon Ranking (2016))

hand der Beeinflussbarkeit durch das Unternehmen in alle direkten, innerhalb des Unternehmens erzeugten Emissionen (Scope 1), indirekte Emissionen aus extern erzeugten und zugekauften Energien wie Strom, Dampf, Wärme und Kälte (Scope 2) und alle sonstigen indirekten Emissionen wie z.B. der Transport, die Verteilung und Nutzung zugekaufter Materialien, die Entsorgung von Abfällen, oder Emissionen aufgrund von Geschäftsreisen (Scope 3) aufgeteilt. Während das GHG Protocol seine Anwender zur Erfassung der Scope1 und 2 Emissionen verpflichtet, ist Unternehmen die Erfassung der Scope 3 Emissionen freigestellt.6,7. Abbildung 1 stellt das Vorgehen des GHG-Protokols bei der Scope Einteilung der Emissionen dar. Zumeist werden die Scope 1 Emissionen auf Basis der eingekauften Mengen an kommerziellen Brennstoffen (wie Erdgas und Heizöl) unter Verwendung veröffentlichter Emissionsfaktoren berechnet. Scope 2 Emissionen werden hauptsächlich aus dem gemessenen Stromverbrauch und lieferantenspezifischen, lokalen Netz- oder anderen veröffentlichten Emissionsfaktoren ermittelt. Scope 3 THG-Emissionen werden in erster Linie aus Aktivitätsdaten wie Kraftstoffverbrauch oder Personenkilometern und veröffentlichten Emissionsfaktoren berechnet. Wenn quellen- oder anlagenspezifische Emissionsfaktoren verfügbar sind, sind diese in den meisten Fällen den

allgemeinen Emissionsfaktoren vor8 zuziehen. Ist eine ganzheitliche Aufstellung der Emissionen gelungen, kann eine Einordnung des eigenen Umgangs mit Schadstoffemissionen über verschiedene Kennzahlen im Industrievergleich erfolgen. Eine geeignete Kennzahl ist z.B. die CO2-Intensität, welche die ausgestoßene Menge an CO2-Equivalenten für Scope 1& 2 Emissionen ins Verhältnis zum Umsatz setzt. Diese Kennzahl ermöglicht somit auch Emissionen im Verhältnis zu den verkauften Produkten zu be9 werten.

6 WRI (2015) 7 WRI (2014)

8 WRI (2004), S.42 9 WRI (2004), S.67

Vorgehen zur Erstellung einer CO2 Bilanz bei der Orasis Industries Holding GmbH Die Orasis Industries Holding GmbH gliedert sich in zwei Divisionen, welche Produkte und pyrotechnische Lösungen im Kontext der Automobilsicherheit, des Bergbaus und der Metallverarbeitung (Division „Pyro“) sowie mobile und stationäre Anlagen für Systemlösungen bei der Aufbereitung von festen Abfällen und holzartiger Biomasse herstellt (Division „Environmental“). In Summe sind im Produktionsnetzwerk des Unternehmens 9 unterschiedliche Produktionsstandorte in den Ländern Österreich, Deutschland, Slowenien, Ungarn und Tschechien vertreten (siehe Abbildung 2). Im Zuge des Projektes „CO2-Neutralität“ wurden an all diesen Stand-

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TOP-THEMA

Abbildung 2: Unternehmen der Orasis Industries Holding GmbH

orten systematisch CO2-Emissionen erhoben. Die Systemgrenze wurde um die 9 oben aufgeführten Standorte gezogen. Innerhalb dieser Systemgrenze wurden alle direkten Scope 1 Emissionen (z.B. Produktion u. Logistik in und zwischen den Werken), alle Scope 2 Emissionen (z.B. zugekaufter Strom) sowie ausgewählte Scope 3 Emissionen (z.B. Mitarbeitermobilität) berücksichtigt. Alle weiteren vor- und nachgelagerten Scope 3 Emissionen (z.B. In- und Outbound Logistik, Nutzung der Produkte, etc.) wurden aufgrund der Wahl der Systemgrenze in der vorliegenden Analyse nicht berücksichtigt. Abbildung 3 stellt die berücksichtigten Faktoren aus den vier Kategorien Energieeinsatz (1), Mitarbeitermobilität (2), Nutzfahrzeuge (3) und definierte Verbrauchsmaterialien (4) dar. Das Vorgehen zur Erstellung der CO2-Bilanz folgte dem GHG Protocol. In einem ersten Schritt wurden gemeinsam mit Unternehmensvertretern CO2-relevante Prozesse bestimmt und die entsprechenden Daten zur Bestimmung der Emissionen aus-

gewählt. Die Datenerhebung erfolgte im Projektteam für die Jahre 2019 und 2020.

Bei der Erhebung der Daten waren die Abteilungen CSR (Projektmanagement), Facility Management (Strom-, Gas-, Ölverbrauch, etc.), Controlling (Verbrauch an ausgewählten Materialien, Flugmeilen, Mietwagen, Kilometergelder, etc.), und Engineering (Abfallverbrennung, chemische Stoffe) beteiligt. Während alle Scope 2 und die meisten Scope 1 Daten aus den unternehmensinternen Aufzeichnungen entnommen werden konnten, mussten bei den Verbräuchen der Nutzfahrzeuge (Fahrzeugkilometer oder Betriebsstunden) und bei einigen Scope 3 Daten wie Dienstreisen mit Firmenwagen inklusive Privatnutzung oder den Verbrauchsmaterialen teilweise Abschätzungen getroffen werden. Andere Scope 3 Daten wie z.B. das private Pendeln der MitarbeiterInnen zum Arbeitsort waren im Zuge des Projektes nicht erheb- oder abschätzbar. Zur Sicherung der Qualität der Erhebungen wurde an ausgewählten Standorten eine Betriebsbesichtigung durchgeführt und die erhobenen Inputdaten sowie die CO2-Emissionen zwischen den unterschiedlichen Standorten vergleichend im Projektteam diskutiert. Zur Bewertung der Emissionen mit entsprechenden Faktoren wurde im nächsten Schritt ein standor tbasier ter Ansatz gewählt und die jeweiligen VerAbbildung 3: Struktur zur Ermittlung der CO2-Emissionen bräuche mit länder50

spezifischen Emissionsfaktoren aus relevanten Emissionsdatenbanken (z.B. GEMIS, ecoinvent, Umweltbundesamt Österreich und Deutschland, etc.) bewertet. Dabei wurden die direkten Emissionen aus der Umsetzung des Energieträgers zur Bestimmung der relevanten Emissionsfaktoren berücksichtigt. Herausforderungen in der Ermittlung geeigneter Emissionsfaktoren ergaben sich für Schweißprozesse, Verbrauchsmaterialien, der Verbrennung pyrotechnischer Proben oder Flugreisen. Während für Schweißprozesse derzeit keine ausreichende Datenbasis zur Bewertung der Emissionen zur Verfügung stehen und sich nur vereinzelte Forschungsarbeiten mit dem Thema auseinandersetzen, kann eine Grobabschätzung der Schweißgase je Meter Schweißdraht aus Literaturangaben erfolgen.10 Für im Projekt relevante Verbrauchsmaterialien und pyrotechnische Stoffe konnten Emissionen entweder aus Datenbanken (z.B. ecoinvent) abgeschätzt bzw. berechnet werden oder mussten durch unternehmensinterne Messungen und Experten ermittelt werden. Emissionen durch Flugreisen meist unterbewertet Eine Besonderheit stellt auch die Ermittlung geeigneter Emissionsfaktoren für Flugreisen dar. Während Fluggesellschaften oder Reisedienstleister Auswertungen zu geflogenen Strecken und angefallenem CO2 bereitstellen können, hat sich in der Zusammenarbeit im Projekt gezeigt, dass diese Daten die Emissionen mit einem Faktor von 3-5 unterbewerten. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die in der Literatur angegebenen Emissionsfaktoren meist auf gemessene Werte im Stationärbetrieb am Boden bezogen werden. Dabei wird die wesentlich schädlichere Wirkung der Treibhausgase, wenn diese in hohen Schichten der Atmosphäre ausgebracht werden nicht berücksichtigt. Der Weltklimarat IPCC hat deshalb einen „radiating forcing index“ mit einem Wertebereich von 3-5 zur Berechnung der tatsächlichen Klimaschäden des Flugverkehrs eingeführt.11,12 Diese Tatsache sollte 10 Sproesser, T. (2017) 11 Umweltbundesamt Deutschland (2008) 12 Sausen, R., et al. (2005) WINGbusiness 2/2021


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Abbildung 4: Gesamtübersicht der CO2-Emissionen nach Division und Scope (2019)

bei einer seriösen Bewertung der Klimaauswirkungen von Flugreisen berücksichtigt werden.11 Ergebnisse der CO2-Bilanzierung Die Ergebnisse der CO2 Bilanzierung für das Jahr 2019 zeigen, dass die Emissionen auf Gruppenebene 9.209 Tonnen CO2-Equivalent betragen und zu 64 % aus den eingesetzten Energien, zu 32 % aus der Mitarbeitermobilität und zu 4 % aus dem Bereich Nutzfahrzeuge, Warentransport und Sonstiges stammen. Dabei sind rund 35 % der Emissionen zu Scope 1 (vollständig ermittelt), 38 % zu Scope 2 (vollständig ermittelt) und 27 % zu Scope 3 (nur Mitarbeitermobilität ermittelt) zugeordnet. Die Verteilung der Emissionen zwischen beiden Divisionen zeigt, dass in der Division Environmental mit 56 % der Gesamtemissionen mehr CO2 entsteht. Eine Übersicht der Ergebnisse nach Kategorie, Verteilung auf die beiden Divisionen und Scope Zuordnung ist in Abbildung 4 dargestellt. Die Hauptemissionen im direkten Bereich (Scope 1) stammen mit ca. 71 % vor allem aus der Beheizung der Werke (Erdgas 61 %, Heizöl 10 % aller Scope 1 Emissionen). Weiters trägt die firmeneigene PKW-Flotte ca. 13 % der Scope 1 Emissionen bei. Der Warentransport zwischen den Stand-

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orten und Werken trägt hingegen nur unwesentlich zur Gesamtmenge bei. Mit Abstand der größte Teil aller Emissionen (37 %) entsteht im Bereich Scope 2 durch die an den ausländischen Standorten zugekaufte Energie. Ein beachtlicher Anteil aller erhobenen CO2-Emissionen stammt aus dem Bereich der Flugreisen, welche Scope 3 zugeordnet werden. Auf diese Kategorie entfielen 26 % der Gesamtemissionen welche zu ca. zwei Drittel der Division Environmental zuzuordnen sind. Während die Ergebnisse für Scope 1 und Scope 2 Emissionen auch für das Jahr 2020 eine ähnliche Ausprägung und Verteilung zeigen (+/-10 %), kam es bedingt durch die COVID-19 Situation allerdings zu einem starken Rückgang

in den Scope 3 Emissionen (-70 % Flugreisen in der Division PYRO). Ein Vergleich der einzelnen Standorte (Abbildung 5) zeigt wie unterschiedlich der Beitrag dieser zu den Gesamtemissionen ausfällt. Hauptverantwortlich für den CO2-Ausstoß sind die großen Produktionsstätten in Slowenien (26 %), Ungarn (15 %) und Tschechien (11 %) gefolgt von den Standorten in Österreich denen die Mitarbeitermobilität zugerechnet wird. Diskussion und Implikationen für das Unternehmen Eine strukturierte Erhebung der CO2-Emissionen nach dem GHG Protocol bildet den ersten Schritt zu einer Verbesserung im Bereich der

Abbildung 5: Übersicht der CO2-Emissionen nach Standort (2019)

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Abbildung 6: CO2-Intensität verschiedener Unternehmen (vgl. ET Index Research (2016), S.37-42)

ökologischen Nachhaltigkeit. Die Darstellung der in Zahlen ausgestoßenen Tonnen an CO2-Equivalenten erlaubt allerdings nur limitiert eine Einordnung der eigenen Ergebnisse, da Vergleichsangaben als Benchmark in der Industrie zumeist nicht veröffentlicht werden. Eine solche Einordnung des Umgangs mit dem Thema CO2 ist allerdings anhand der Kennzahl der CO2-Intensität möglich. Eine Internetrecherche ergab für die CO2-Intensität von Unternehmen aus vergleichbaren Industriesparten einen Wertebereich von 6-37 Tonnen CO2 (für Scope 1&2) je Million US$ Umsatz. Die für die Orasis Industries Holding GmbH errechnete CO2-Intensität zeigt mit einem Wert von 20 bereits einen guten Vergleichswert (siehe Abbildung 6). Erste Maßnahmen zur Reduktion des CO2-Ausstoßes und damit zur Verbesserung dieser Kennzahl wurden bereits gesetzt. Unabhängig vom Projekt wurde schon in der Vergangenheit der Strombezug an den österreichischen Standorten auf zertifizierten Ökostrom umgestellt. Weiters wird in den Werken in Slowenien und Ungarn Prozessabwärme zur Beheizung einzelner Bereiche eingesetzt und es wurde an allen Standorten in Österreich eine Photovoltaikanlage installiert. Das Projektteam hat basierend auf den ersten Teilergebnissen des Projektes bereits weitere Maßnahmen zur Reduktion der verursachten CO2-Emissionen identifiziert und teilweise eingeleitet. Beispielsweise wurde der Strombezug in Slowenien

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auf zertifizierten Ökostrom umgestellt wodurch CO2 eingespart wird. In der Division Environmental wurde ein internes Projekt zur Analyse der Flugreisetätigkeit begonnen, um in diesem Bereich Einsparpotentiale zu identifizieren. Energieflussanalysen als Basis für CO2 Reduktion und EBIT Steigerung Derzeit werden im Werk Ungarn und Slowenien Energieflussanalysen durchgeführt um Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz abzuleiten. Relevante Messpunkte zur Energiemessung an großen Verbrauchern werden als Basis für ein mittelfristig einzuführendes Energiemonitoring-System festgelegt. All diese Initiativen und weitere identifizierte Potentiale zu Steigerung der Energieeffizienz an anderen Standorten werden dazu beitragen, den Energieeinsatz und damit den CO2-Ausstoß langfristig und nachhaltig durch geeignete Maßnahmen zu senken. Um dieses Ziel zu erreichen wurden basierend auf der erstellten CO2-Bilanz Einsparungsziele definiert, welche in Zukunft mit einem jährlichen CO2Monitoring bewertet werden. Ausblick Das Ziel der Orasis Industries Holding GmbH ist die Klimaneutralität. Dies soll gemäß dem vom Umweltbundesamt vorgeschlagenen Vorgehen mit den drei Schritten, (1) systematischer Erfassung und Bi-

lanzierung der Umweltwirkungen, (2) Reduktion der Umweltauswirkungen wie z.B. Senkung des Energiebedarfs durch Steigerung der Energieeffizienz und (3) Vermeidung von Energieverschwendungen und schlussendlich durch freiwillige Kompensation unvermeidlicher Emissionen mit Klimaschutzprojekten durchgeführt werden. Im Bereich der CO2-Bilanzierung konnte gemeinsam mit dem IIM Institut der TU Graz der Grundstein für eine systematische Erfassung der Emissionen gelegt werden. In weiterer Folge kann die erstellte Bilanz Schritt für Schritt um weitere Scope 3 Faktoren ergänzt und erweitert werden bis die gesamte Wertschöpfungskette abgebildet ist. Basierend auf der entwickelten Methodik können zukünftig auch CO2-Produktkalkulationen entwickelt werden, sollte dies für Kunden weiter an Relevanz gewinnen. Im Bereich der Energieeffizienz und Vermeidung von Verschwendung zeigt die an beiden Standorten durchgeführte Energieflussanalyse Potentiale zur weiteren Verbesserung der Energienutzung auf. Hier werden im weiteren Projektverlauf gemeinsam neue Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz erarbeitet und wirtschaftlich bewertet. Wie am Industriebeispiel der Orasis Industries Holding GmbH gezeigt kann durch eine systematische Erfassung der relevanten THG-Emissionen und eine strukturierte betriebliche Energieflussanalyse Einsparungspotential hinsichtlich der eingesetzten Energien (Reduktion der Kosten) bei gleichzeitiger Reduktion der entstehenden Emissionen erreicht werden. In Kombination mit einer geeigneten Kompensationsstrategie können so die mittel- und langfristigen Ziele in Richtung Klimaneutralität erreicht werden. Literaturverzeichnis 1. Europäische Kommission (2021): Klimaund energiepolitischer Rahmen bis 2030, https://ec.europa.eu /clima/policies/strategies/2030_de 2. Günther, E. & Stechemesser, K., (2012): Carbon accounting. A systematic literature review. Journal of Cleaner Production 36, 17-38

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TOP-THEMA 3. Schaltegger S. & Csutora M. (2012): Carbon accounting for sustainability and management. Status quo and challenges. Journal of Cleaner Production 36 (2012), 1-16 4. Voicu D. (2012): The disclosure of industrial greenhouse gas emissions: a critical assessment of corporate sustainability reports. Journal of Cleaner Production 29-30 (2012) 222-237 5. WRI (2004): World Resources Institute und World Business Council on Sustainable Development (Hrsg): The Greenhouse Gas Protocol - A Corporate Accounting and Reporting Standard, Conches-Geneva, 2004 6. WRI (2015): World Resources Institute und World Business Council on Sustainable Development (Hrsg.): A Corporate Accounting and Reporting Standard. 2015 (ghgprotocol.org). 7. WRI (2014): World Resources Institute, C40 Cities Climate Leadership Group und ICLEI Local Governments for Sustainability (Hrsg.): Global Protocol for community-Scale Greenhouse Gas Emission Inventories. 2014, ISBN 1-56973-846-7 8. Sproesser, T. (2017): Umweltbewertung und Ökoeffizienz beim Metall-Schutzgasschweißen von Dickblechverbindungen, Dissertation Technische Universität Berlin 2017 9. Umweltbundesamt Deutschland (2008): Klimawirksamkeit des Flugverkehrs - Aktueller wissenschaftlicher Kenntnisstand über die Effekte des Flugverkehrs 10. Sausen, R., Isaksen, I., Grewe, V., Hauglustaine, D., Lee, D.S., Myhre, G., Köhler, M.O., Pitari, G., Schumann, U., Frode, S., Zerefos, C., (2005): Aviation Radiative Forcing in 2000: An Update on IPCC (1999). Meteorologische Zeitschrift, Vol. 14, No. 4, 555-561. 11. ET Index Research (2016): 2016 Carbon Ranking Report, https://www.etindex.com/ wp-content/uploads/2016/11/ ET_Carbon_ Rankings_Report_2016.pdf 12. Umweltbundesamt Deutschland (2020): Freiwillige CO2-Kompensation, S.10 https:// www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/ medien/376/publikationen/ratgeber_freiwillige_co2_kompensation_final_internet.pdf

Autoren: Dipl.-Ing. Dr. Matthias Wolf studierte WirtschaftsingenieurswesenMaschinenbau mit Schwerpunkt Energietechnik und promovierte im Jahr 2020 an der TU Graz. In seiner Forschungsarbeit beschäftigte

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sich Matthias Wolf mit dem Einsatz von Exoskeletten zur Reduzierung von Muskelskeletterkrankungen. Seit 1.1.2021 ist Matthias Wolf Assistenzprofessor am Institut für Innovation und Industrie Management der TU Graz mit dem Schwerpunkt Industrial Engineering. Matthias Wolf ist Leiter des gemeinsamen Projektes „CO2-Neutralität“ mit der Orasis Industries Holding GmbH. Univ.-Prof. Dr. Christian Ramsauer leitet seit 2011 das Institut für Innovation und Industrie Management der TU Graz. Er startete seine Karriere 1999 als Berater bei McKinsey & Company. Zwischen 2005 und 2011 war er als geschäftsführender Gesellschafter bei einem Industrieunternehmen in Salzburg und als G eschäf tsführer bei einem Privat Equity Unternehmen in München tätig. Christian Ramsauer studierte Wirtschaftsingenieur wesenMaschinenbau und promovierte an der TU Graz. Er forschte als Post-Doc zwei Jahre an der Harvard Business School in Boston und habilitierte danach im Fach Produ ktionsmanagement. Er ist als Aufsichtsrat in mehreren StartUps und etablierten Industrieunternehmen tätig. Mag. Markus Haidenbauer ist seit 2018 CEO der Orasis Industries (vormals Hirten-

berger Gruppe). Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Karl-Franzens-Universität Graz 1995 war er in verschiedenen Funktionen in der Industrie sowie in einem Technologie Start-Up tätig. Dabei war er 18 Jahre bei der Knill Gruppe in leitenden Positionen tätig, wobei er ab 2005 als CFO und ab 2012 zusätzlich als Geschäftsführer der Knill Energy Holding bis 2018 verantwortlich war. Weiters war er mehrere Jahre als Lektor an der FHCampus 02 Graz nebenberuflich beschäftigt.

Dipl.-Ing. Dr. Matthias Wolf Assistenzprofessor am Institut für Innovation und Industrie Management der TU Graz

Univ.-Prof. Dr. Christian Ramsauer Vorstand des Instituts für Innovation und Industrie Management der TU Graz

Mag. Markus Haidenbauer CEO der Orasis Industries Holding GmbH

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Foto: Stadt Graz © Harry Schiffer

Werner Prutsch, Gert Heigl

Graz - Klimaneutrale Innovationsstadt Nur in einer globalen Anstrengung können Probleme wie Klimawandel, Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, Rückgang der Biodiversität etc. bewältigt werden. Viele dieser Probleme sind auch bei uns bereits spürbar, wie z. B. häufige Extremwetterlagen. In zahlreichen Weltgegenden nehmen diese Veränderungen aber bereits existenzbedrohende Ausmaße in Form von Dürreperioden, Meeresspiegelanstieg und Erschöpfung von Trinkwasserreserven an. Die Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels und zur Anpassung an nicht mehr vermeidbare Veränderungen stellen besonders Städte und Gemeinden vor die größten Herausforderungen der letzten Jahrzehnte. Die Stadt Graz hat diese Themen seit langem auf der Agenda, bei vielen wie Abfallvermeidung, der Ökologisierung der Wärmeversorgung und ganz aktuell mit einem eigenen „Klimaschutzbudget“ setzt die Stadt Graz österreichweit und international Maßstäbe.

Vor jeglichem Vergleich von THGEmissionen ist die Frage zu klären, welche einer Kommune wie Graz zuzurechnen sind. Daraus lässt sich ermitteln, welcher Anteil des verbleibenden „Treibhausgasbudgets“ pro Jahr „abzubuchen“ ist. Diese Frage hat das Grazer Wegener Center in einer von der Stadt Graz beauftragten Studie untersucht /1/. Es gibt zwei mögliche Ansätze:

(b) Im konsumbasierten Ansatz werden die Emissionen jenen zugerechnet, deren Endnachfrage das emissionsintensive Gut umfasst, egal an welchem Ort (und damit egal wo in der Vorkette der Produktion und Wertschöpfungskette) die durch die Produktion des Gutes verursachten THG-Emission physikalisch angefallen sind, z.B. dem Haushalt in Graz, der ein Mobiltelefon kauft, werden alle Emissionen angelastet, die in der Produktion und bei der Lieferung entstanden sind.

(a) Im produktionsbasierten Ansatz der Bilanzierung werden die Emissionen jenen Akteuren zugerechnet, bei denen die Emissionen physikalisch anfallen, d.h. z.B. dem Betrieb, der zur Produktion von Gütern Erdöl verbrennt.

Ermittelt wurde produktionsbasiert für das Jahr 2015 ein Wert von 1.17 Mio t CO2äqu an Treibhausgasemissionen, dies entspricht einer Emission von 4,1 t CO2äqu pro Kopf und Jahr. Erstmals wurde für die Stadt Graz auch ein konsumbasierter Emissions-

Treibhausgasemissionen und „THGRest-Budget“

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wert erhoben. Hierfür liegen aus der Österreichischen Konsumerhebung keine allein für Graz spezifischen Daten vor, wohl aber jene für Städte Österreichs (außer Wien) mit mehr als 100.000 Einwohnern, somit also ein Wert, der die Städte Graz, Linz, Salzburg und Innsbruck beschreibt. Mit diesem über diese Städte durchschnittlichen Konsummuster, sowie den sektoralen konsumseitigen Treibhausgasintensitäten im österreichweiten Schnitt ließen sich die konsumseitig bilanzierten Treibhausgasemissionen der Stadt Graz für 2015 zu 2.77 Mio t CO2äqu ermitteln, was einem Wert von rund 9,66 t CO2äqu pro Kopf entspricht /1/. Wird das Treibhausgasbudget nach – ab sofort – globaler Gleichverteilung der Stadt Graz zugeteilt, so steht der Stadt Graz (ab 2016) noch

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TOP-THEMA ein „THG-Rest-Budget“ von rund 42,7 Mio t CO2äqu zur Verfügung. Will die Stadt Graz ihren Verbrauch bis zur Mitte des Jahrhunderts nun innerhalb dieses Budgets halten, so muss sie nach den Berechnungen des Wegener Centers /1/ ihre konsumseitigen Emissionen um 5,6 % pro Jahr absenken. Dies entspricht einer Reduktion der THG-Emissionen pro Kopf von durchschnittlich 255 kg CO2äqu pro Person und Jahr, sowie in absolutem Betrag für die Stadt Graz insgesamt durchschnittlich über 70.000 t CO2äqu pro Jahr. Rechtliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen Am 12.12.2015 wurde auf der 21. Konferenz der UNFCCC-Vertragsparteien („COP21“) ein neuer Weltklimavertrag, das Pariser Übereinkommen, angenommen. Die Vertragsparteien verpflichten sich darin, in erster Linie durch sog. nationale Beiträge (intended nationally determined contributions, INDCs) und Klimaanpassungspläne und -prozesse, die Erderwärmung auf weniger als 2°C zu begrenzen. Anstrengungen sollen unternommen werden, um eine Begrenzung auf 1,5°C zu erwirken. /2/3/ In Österreich erfolgte die rechtliche Umsetzung mit BGBl. III Nr. 197/2016 vom 3.11.2016 („Übereinkommen von Paris“). Daraus ist aber keine Umsetzung konkreter Einzelmaßnahmen ableitbar, dazu bedarf es wesentlicher Konkretisierungsschritte in einzelnen „Materiegesetzen“. Um die teilweise sehr ambitionierten Zwischenziele 2030 bzw. 2040 erreichen zu können, liegt hier dringender Handlungsbedarf vor. Entsprechende Grundlagen bilden der Integrierte nationale Energie- und Klimaplan für Österreich (NEKP), im Vorlauf die Österreichische Klima- und Energiestrategie (#mission2030) /4/5/ sowie die Klima- und Energiestrategie Steiermark 2030. /6/ Weiteren Schwung erhält das Thema durch die aktuelle Festlegung der EU, bis 2030 eine Reduktion der THGEmissionen um 55 % zu erreichen (Basis 1990). Die Stadt Graz richtete 2019 einen mit 30 Millionen Euro dotierten Kli-

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Abbildung 1: Vorläufige „Baseline“ für den Klimaschutz-Plan Graz /8/

maschutzfonds ein (mit weiteren 30 Mio. Euro des Landes Steiermark) und installierte für eine zielgerichtete Verwendung dieser Mittel einen Klimaschutzfachbeirat aus ExpertInnen unterschiedlichster Bereiche sowie einen Klimaschutzkoordinator. /7/ Der Grazer Gemeinderat beschloss im November 2020 die Erarbeitung eines Klimaschutz-Plans für Graz, dieser ist derzeit in Ausarbeitung und wird auch eine Detaillierung der Basisdaten ergeben. /8/ In wirtschaftlicher Hinsicht sind herkömmliche Bewertungs- und „Bepreisungsmaßnahmen“ für den zur Zielerreichung erforderlichen Umfang an Maßnahmen nicht ausreichend. Eine weitere Ökologisierung des Steuersystems und eine verstärkte monetäre Bewertung von THG-Emissionen sind unbedingt erforderlich. Ausgewählte Maßnahmen Naheliegender Ansatz für eine Stadtverwaltung ist die Fokussierung auf THG-Emissionen in den eigenen Bereichen der Leistungserbringung. Die Emissionen des „Hauses Graz“ (Stadtverwaltung inklusive Beteiligungen) liegen bei etwa 40.000 t/

Jahr. Strom, Fernwärme und Erdgas bilden dabei einen Anteil von etwa 72 %, städtischer ÖV, Fuhrpark und Kleinverbrauch summieren sich auf 28 %. /9/ Maßnahmen zur Dekarbonisierung der Fernwärme: Mit keinem anderen System kann die Dekarbonisierung der Wärmeversorgung einer größeren Anzahl von versorgten Einheiten so gut ermöglicht werden wie mit Nah- oder Fernwärme. Durch zahlreiche Projekte konnte die Wärmemenge aus erneuerbaren Quellen und Abwärme im Großraum Graz von rund 70 GWh im Jahr 2015 auf rund 290 GWh im Jahr 2019 mehr als vervierfacht werden und der Anteil an der Gesamtaufbringung von ca. 6 % auf rund 23 % gesteigert werden (Daten für 2020 noch nicht final vorliegend). Auch 2021 sind Projekte zur Erhöhung des Anteils der Wärmeaufbringung aus erneuerbaren Quellen und Abwärme in Umsetzung. Dabei handelt es sich unter anderem um die Erweiterung der Abwärmenutzung aus dem Papier- und Zellstoffwerk Sappi Gratkorn, die Restabwär-

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TOP-THEMA menutzung aus dem Stahl- und Walzwerk Marienhütte für das Energiekonzept Reininghaus, die Erweiterung der Thermosolarfläche beim Speicherprojekt Helios und die Abwärmenutzung bei der KF-Uni Graz. Weitere Projekte wie die Abwärmenutzung der Kläranlage der Stadt Graz in Gössendorf, BioSolar Graz und die Erweiterung der Wärmespeicher beim Energiekonzept Reininghaus befinden sich in Konzeption bzw. Planung. Pilotprojekte zur Dekarbonisierung der Busflotte: Auch der Verkehrssektor weist erhebliches Potenzial auf, die Emissionsbelastungen durch die Einführung von emissionsfreien Antriebstechnologien zu senken. Alternativ angetriebene Busse im städtischen Umfeld reduzieren Treibhausgasemissionen, Luftverschmutzung und die Lärmbelastung. Das Leuchtturmprojekt „move2zero“ entwickelt ein ganzheitliches Konzept für eine vollständige Dekarbonisierung des städtischen Bustransportsystems. In einem Demonstrationsbetrieb werden voraussichtlich zwei Linien vollständig auf emissionsfreie Fahrzeuge umgestellt. Dabei kommen batterie-elektrische und Brennstoffzellenbusse zum Einsatz. Neben der Umstellung von Antriebstechnologien gilt es im öffentlichen Verkehr (ÖV) Innovationen im Bereich der Nachfrageorientierung voranzubringen, um ÖV-Systeme der Zukunft attraktiver für NutzerInnen zu gestalten. Das Projekt „move2zero“ betrachtet auch diesen Aspekt und zeichnet sich somit durch die integrative Betrachtung der Systemkomponenten und eine hohe Übertragbarkeit auf andere urbane Verkehrssysteme aus. Kapazitätserweiterung Gasspeicher Kläranlage: Die Kläranlage der Stadt Graz in Gössendorf reinigt das aus dem Stadtgebiet Graz und den angeschlossenen Umlandgemeinden anfallende häusliche und industrielle Abwasser. Um dem zukünftigen Bevölkerungswachstum und den gesetzlichen Anforderungen der Abwasserreinigung zu entsprechen,

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muss die Kapazität der Kläranlage erhöht werden. Im Zuge dessen wird auch das Volumen für die Speicherung von Klärgas am Standort, welches als Folge des anaeroben Faulungsprozesses des bei der Abwasserreinigung anfallenden Klärschlamms entsteht, erweitert. Mit dem Klärgas werden drei Blockheizkraftwerke für die Strom- und Wärmegewinnung betrieben. Durch die Kapazitätserweiterung des Gasspeichers können Schwankungen in der Klärgaserzeugung ausgeglichen und der elektrische Eigenversorgungsgrad der Kläranlage auf 85 % gesteigert werden. E-Geräte & E-Fahrzeuge Grünraumpflege: Die Holding Graz forciert seit Jahren die flächendeckende Umstellung auf alternative Antriebsformen bei Geräten und Fahrzeugen für die Pflege und Erhaltung der öffentlichen Parkund Grünanlagen. Durch ein vom Klimaschutzfonds der Stadt Graz gefördertes Projekt werden im Laufe des heurigen Jahres Teile der notwendigen Betriebsmittel auf umweltfreundliche Technologie (Elektrokehr- und -baumaschinen) umgestellt. LED Umstellungen im öffentlichen Bereich: Mit dem Green Light Graz Programm wurde die Straßenbeleuchtung in Graz modernisiert, Energieeinsparungen sowie eine Verbesserung der Beleuchtungsqualität erzielt. Umgesetzt hat das Projekt die Energie Graz, im Zuge dessen rund 4.000 Leuchten umgebaut und bei rund 15.000 Leuchten Energieeffizienzund Optimierungsmaßnahmen durchgeführt wurden. Insgesamt können dadurch ca. 1,6 Mio. kWh pro Jahr eingespart werden. Elektro- und Wasserstoff-Müllsammelfahrzeuge: Die Abfallwirtschaft der Holding Graz hat neben der stetigen Entwicklung hin zu einer ressourcenschonenden Kreislaufwirtschaft auch die Umstellung der Sammelfahrzeuge auf alternative Antriebstechnologien im Fokus. Noch im Jahr 2021 wird das erste vollelektrische Sammelfahrzeug in der Restmüllsammlung zum Einsatz kommen, wodurch der Ausstoß

von Treibhausgasen wesentlich reduziert werden kann. KNBs – Klimafreundliche Nachhaltige Baustandards Green IT – Klimaschonendes Rechenzentrum PV-Offensive auf städtischen Gebäuden: Die Energie Graz als regionaler Energieversorger und Energiedienstleister der Stadt Graz hat in den letzten Jahren 16 PV-Großanlagen mit einer Leistung von in Summe 2.250 kWp errichtet. Mit diesen Anlagen können mittlerweile 172 t CO2 jährlich eingespart werden. In den kommenden fünf Jahren wird seitens der Energie Graz mit einem Investitionsvolumen in Höhe von rund 5 Mio. Euro der Ausbau der Photovoltaik weiter forciert. Zur Mobilisierung einer breiten Öffentlichkeit ist eine Kommunikationsoffensive zur Förderung von klimafreundlichem Verhalten notwendig. Weitere städtische Projekte finden u.a. in folgenden Bereichen statt: Energiesparen macht KlimaSchule (Lasten-) Rad-Offensive BürgerInnenbudget und „KlimaEuro“ für Bezirke Dekarbonisierung Grazer Taxiflotte Sonderförderprogramme (z.B. PV-Energiegemeinschaften) GrazLog – Innovative GRAZer LOGistik Optimierung Bei den Kosten in Euro je Tonne vermiedener THG-Emissionen ergibt sich eine verhältnismäßig große Bandbreite, wobei Maßnahmen mit Standarttechnologien (z.B. Abwärmenutzungen, PV-Anlagen) günstiger ausfallen als solche mit Pilotcharakter, etwa im Bereich E-Mobilität und Wasserstoffanwendung. Am häufigsten ergibt sich ein Bereich von etwa 200 Euro je eingesparter Tonne. /9/ Deutlich wird, dass ein Erreichen von Klimazielen nur mit einer raschen und möglichst breiten Anwendung bereits erprobter Technologien möglich ist. Neuentwicklungen können hilfreich sein, in der nötigen Masse allerdings für eine Nichtüberschreitung der THG-Budgets in der verbleibenden Zeit zu wenig Beitrag leisten.

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TOP-THEMA Besonders schwierig ist eine Entscheidungsfindung bei Projekten zur Bewusstseinsbildung in der breiten Bevölkerung, da eine Wirkungsanalyse nur mit sehr hohem bzw. unverhältnismäßigem Aufwand möglich ist. Schlussfolgerungen Übergeordnete Körperschaften EU, Bund und Land haben für eine rasche und deutliche Reduktion der THGEmissionen die rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sicherzustellen. Hier sind aktuell zahlreiche Aktivitäten zu verzeichnen, in einigen Bereichen werden die laufenden Anstrengungen aber noch deutlich verstärkt werden müssen. Die konkrete Umsetzung von Reduktionsmaßnahmen im öffentlichen Sektor erfolgt dann maßgeblich in den Städten und Gemeinden in ihrer Funktion der Sicherstellung diverser Infrastruktur (Nahverkehr, öffentliche Gebäude) und der Leistungserbringung in der Daseinsvorsorge (Entsorgungswirtschaft, etc.). Das Schwergewicht bei den Maßnahmen wird bei bereits jetzt erprobten Technologien bleiben, Neuentwicklungen sind hilfreich, aber nicht ausreichend. Literatur: /1/ Christian Pichler, Karl W. Steininger, Wegener Center für Klima und Globalen Wandel, Karl-Franzens-Universität Graz: Das Treibhausgasbudget für die Stadt

Graz; Wissenschaftlicher Bericht Nr. 842019; Graz 2019 /2/ Pariser Übereinkommen: Beschluss (EU) 2016/590 des Rates v 11.4.2016 über die Unterzeichnung des Pariser Übereinkommens, im Namen der EU; Recht der Umwelt RdU 2016/68 /3/ Ratifikationsstatus des Vertrages von Paris, United Nations Treaty Collection; ht t ps: //t reat ie s.u n.org / Page s / ViewDetails.aspx?src=T R E AT Y&mtdsg _ no=XXVII-7-d&chapter=27&clang=_en /4/ Österreichische Klima- und Energiestrategie (#mission2030), Mai 2018; https://www.bundeskanzleramt.gv.at /5/ Integrierter nationaler Energie- und Klimaplan für Österreich (NEKP); Wien 18.12.2019 https://www.bmk.gv.at /6/ https://www.technik.steiermark.at/ cms/ziel/142705670/DE/ /7/ Volle Kraft voraus für den Klimaschutz; Stadt Graz 4.9.2019 h t t p s : / / w w w. g r a z . a t /c m s / b e i trag/10337342/8106610/Volle_Kraft_voraus_fuer_den_Klimaschutz.html /8/ Klimaschutzplan Graz, in Bearbeitung durch die Grazer Energieagentur und PwC Austria im Auftrag der Stadt Graz /9/ Energieverbrauch und CO2-Emissionen Haus Graz; Berechnungen Umweltamt Graz, Stand 18.11.2020

Autoren: Dipl-Ing. Dr. Werner Prutsch Abteilungsvorstand im Umweltamt der Stadt Graz Studium Verfahrenstechnik an der TU - Graz und Doktorat Chemie an

Dipl-Ing. Dr. Werner Prutsch Abteilungsvorstand im Umweltamt der Stadt Graz

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der Univ. Innsbruck. Entwicklung und Projektplanung im Maschinenund Anlagenbau, u.a. in den Bereichen Luft- und Wasserreinhaltung. 1990-2008 Referatsleiter für Luftreinhaltung und Chemie im Umweltamt der Stadt Graz. Mitarbeit in Facharbeitskreisen und Lehraufträge sowie Gastvorlesungen im Bereich Umwelt- und Verfahrenstechnik. Vertretung des Österr. Städtebundes im Energiebeirat und Nationalen Klimaschutzkomitee des BMK. Seit 2013 Leiter des Arbeitskreises „Fernwärme 2020/2030“. https://www.umwelt.graz.at Dr. Gert Heigl Vorstandsdirektor, Holding Graz Kommunale Dienstleistungen GmbH Ist in Knittelfeld aufgewachsen, studierte in Graz Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Industriebetriebslehre und promovierte 1993 an der Karl-Franzens-Universität Graz in Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Nachdem er seine Dissertation fertiggestellt hatte, trat er in die Grazer Stadtwerke AG ein und wechselte 2003 als stellvertretender Leiter der Direktion Betriebswirtschaft in die Geschäftsführung der Energie Graz. Seit Jänner 2016 ist er Vorstandsdirektor der Holding Graz. Ehrenamtlich übt Gert Heigl die Funktion des steirischen Landesvorsitzenden des Verbands Österreichischer Wirtschaftsakademiker aus. https://www.holding-graz.at

Dr. Gert Heigl Vorstandsdirektor Holding Graz Kommunale Dienstleistungen GmbH

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Foto: Power Tower © Energie Graz - Der „Power Tower“ als Herzstück des Energiemodells Reininghaus beherbergt Wärmespeicher und eine PV-Anlage zum Betrieb der Wärmepumpen

Boris Papousek, Christoph Hochenauer

Keine Energiewende ohne Wärmewende Fernwärme als Schlüssel für die städtische Energiewende Ausgangssituation in Städten Etwa ein Drittel des österreichischen Energieeinsatzes entfällt auf die Raumwärme- und Warmwasserversorgung. Während der Stromverbrauch bereits zu rund 70 % aus erneuerbaren Quellen gedeckt ist, wird die Wärmebereitstellung noch wesentlich von fossiler Energie bestimmt. Neben dem Verkehrsbereich ist die Wärmewende entscheidend für den Erfolg beim Klimaschutz. Erschwerend für die Wärmewende ist, dass dafür jeder Hauseigentümer separat angesprochen werden muss. Er soll eine Entscheidung treffen, die wirtschaftlich vertretbar ist und den Klimaschutz voranbringt. Das gilt für Eigenheimbesitzer ebenso wie für Vermieter und Wohneigentümergemeinschaften. Wesentliche Bestandteile einer klimafreundlichen Wärmeversorgung sind die Reduktion der eingesetzten Energiemenge, also die Steigerung der Energieeffizienz, sowie die Umstellung auf CO2-freie Energieträger. In Städten spielt die leitungsgebundene Fernwärmeversorgung da-

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für eine Schlüsselrolle – nicht zuletzt auch zur Verbesserung der Luftgüte, da diese vor Ort emissionsfrei ist. Im Gegensatz zu ländlichen Gebieten sind Flächen knapp, die Wärmedichten hoch und lokale Verbrennungsprozesse unerwünscht. Für die Fernwärme spricht die Flexibilität bei der Einbindung verschiedener Quellen erneuerbarer Energie und Abwärme aus Industrieanlagen und KraftWärme-Kopplungsanlagen. Im Fernwärmenetz kann ein Ausgleich von Einspeisungen mit unterschiedlichen Temperaturen und zu verschiedenen Zeiten erfolgen und die räumliche Distanz zwischen Ort der Erzeugung und der Verwendung relativ einfach überwunden werden. Die Entwicklung in Graz Durch Erschließung neuer Gebiete und den Fernwärmeausbau konnte die Energie Graz das Fernwärmenetz in den letzten 12 Jahren um 148 km auf 432 km erweitern. Im gleichen Zeitraum ist es gelungen, die Zahl der versorgten Wohnungen mehr als zu verdoppeln. Noch im heurigen Jahr werden 80.000 Wohnungen

in Graz mit Fernwärme versorgt, was einem Anteil von über 50 % entspricht. Ziel ist es, in den nächsten Jahren die Marke von 100.000 fernwärmeversorgten Wohnungen zu erreichen. Darüberhinaus sind zahlreiche Gewerbebetriebe und öffentliche Einrichtungen an die Fernwärme angeschlossen. Bei einer Anschlussleistung von 745 MW betrug die Wärmeaufbringung im Jahr 2020 ca. 1.160 GWh. Durch die in den letzten Jahren verstärkte Nutzung der Fernwärme konnte für die Stadt Graz ein maßgeblicher Beitrag zur Verbesserung der Luftgüte geleistet werden. So werden jährlich rund 35 t an Feinstaub, rund 170 t Stickstoffoxide eingespart und jährliche CO2Emissionsreduktionen im Ausmaß von rund 60.000 t verwirklicht. Ausbau und Betrieb des Fernwärmenetzes im Großraum Graz erfolgen gemeinsam von Energie Graz und Energie Steiermark. Die Energie Steiermark sorgt für die Wärmeerzeugung, den Transport von Wärme über die 20 km lange Leitung von Mellach nach Graz und versorgt einige Umlandge-

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TOP-THEMA meinden direkt. Die Energie Graz hat den Ausbau, die Verteilung und den Betrieb in der Stadt Graz über. Was die Aufbringung der Wärme betrifft war die Welt bis vor wenigen Jahren eine einfache: Sie kam in den 30 Jahren davor vor allem aus dem Kraftwerkspark Mellach des Verbunds auf Basis von KraftWärme-Kopplung. Aufgrund der nach 2013 stark gefallenen Strompreise wurde der weitere Betrieb derartiger Anlagen in Frage gestellt. Eine Arbeitsgruppe zur Wärmezukunft mit Energie Steiermark Wärme, Energie Graz, Holding Graz, Grazer Energieagentur, Land Steiermark setzt sich unter der Leitung des Grazer Umweltamtes ab diesem Zeitpunkt intensiv mit einer Neuausrichtung der Fernwärmeaufbringung und Wärmeversorgung für Graz auseinander. Das künftige System soll einen größtmöglichen Anteil an Alternativenergie – Erneuerbare Wärme, Abwärme und Umweltwärme – enthalten und die Energieeffizienz bei Gebäuden, den Heizungen bei den KundInnen sowie im Fernwärme-Gesamtsystem steigern. Die Versorgungssicherheit wurde durch Errichtung von Reserve-Erzeugungskapazitäten auf Erdgas-Basis erhalten. Seit 2015 ist die Wärmeaufbringung für die Fernwärme im Großraum Graz im Wandel: Statt eines Systems mit einem zentralen Kraftwerk umfasst die Fernwärmeversorgung in Graz mittlerweile zahlreiche innovative und ökologisch wertvolle Projekte und ist damit Vorreiter bei der Ausgestaltung der städtischen Wärmewende. Es ist gelungen, den Anteil der Aufbringung aus erneuerbarer Energie und Abwärme (ohne Kraft-WärmeKopplung) von rund 70 GWh auf rund 270 GWh fast zu vervierfachen bzw. von weniger als 5 % auf derzeit rd. 23 % zu erhöhen. Folgende Projekte haben u.a. zu dieser positiven Entwicklung beigetragen: Mit dem solaren Speicherprojekt HELIOS wurde die Altdeponie Köglerweg im Südosten von Graz zu einem Standort ökologischer Energiegewinnung umfunktioniert: Das De-

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poniegas wird in einem dafür ausgelegten Blockheizkraftwerk zur Gewinnung von Strom und Wärme genutzt. Die aus dem Blockheizkraftwerk und der 2.000 m² großen Thermosolaranlage gewonnene Wärme kann direkt in das Netz eingespeist oder vorübergehend gespeichert werden. Dafür steht ein 26 m hoher und 2.500 m3 großer Wasserspeicher zur Verfügung, der die Abdeckung der Bedarfsspitzen in den Morgenstunden unterstützt. Für dieses Projekt heimste die Energie Graz 2018 sowohl den „Energy Globe Styria Award“ als auch den „Österreichischen Solarpreis“ ein. Für den neuen Stadtteil auf den Reininghausgründen hat die Energie Graz ein innovatives Konzept für die Wärmeversorgung für rund 12.000 BewohnerInnen erstellt. Dieses beinhaltet ein Niedertemperaturnetz, Abwärme aus der Marienhütte, zwei Großwärmepumpen und in der ersten Ausbauphase zwei Wasserspeicher mit je 300 m³ im Power Tower. Im Zentrum steht dabei der Power Tower, sein Äußeres wird für die Stromproduktion aus Photovoltaik genützt, im Inneren wird Wärmeenergie gespeichert. Seit 2018 wird die Nutzung von Abwärme aus der Papier- und Zellstofffabrik SAPPI in Gratkorn durch die Kooperation mit Bioenergie Edler und Sappi sowie die Errichtung der entsprechenden Auskopplungsanlagen samt einer ca. 9 km langen Transportleitung nach Graz ermöglicht. Damit werden mittlerweile ca. 150 GWh oder rund 14 Prozent des jährlichen Fernwärmebedarfs in Graz gedeckt. Das entspricht dem Wärmeenergiebedarf von rund 20.000 Haushalten. Auf dem Weg zu einer klimaverträglichen Wärmebereitstellung verwirklicht die Energie Graz auch innovative, quartiersbezogene Energiekonzepte, die die Vorteile dezentraler Wärmequellen mit denen zentraler Energieversorgungssysteme kombinieren. Bei der Smart City Graz oder beim Campus Eggenberg werden Wärmepumpen in Kombination

mit bodennaher Geothermie und einer PV-Anlage auf den Dächern des Bauprojektes eingesetzt. In Kombination mit einem Fernwärmeanschluss kann eine ökologisch nachhaltige Energieversorgung erzielt werden. Weiters ist zu erwähnen, dass im Kraftwerkspark Mellach seit Sommer 2020 keine Steinkohle mehr verfeuert wird. Die Kraftwerksanlagen werden jetzt mit Erdgas, das spezifisch weniger CO2 verursacht, zur Stromnetzstabilisierung betrieben. Nach einer vertraglich bedingten Unterbrechung der Wärmelieferung im Winter 2020/21 haben Energie Steiermark und der Verbund vereinbart, dass ab der Heizperiode 2021/22 wieder verstärkt hocheffiziente KWK-Wärme in einem Ausmaß von bis zu 600 GWh/a zugeführt wird. Über den Fernwärmeausbau hinaus ist die weitere Steigerung der Energieeffizienz ein wesentliches Ziel der Stadt Graz und der Energie Graz in Richtung Klimaneutralität. Dazu werden maßgeschneiderte Dienstleistungen angeboten wie die Wartung & Betreuung von Heizungsanlagen, Anlagenoptimierung & Effizienzsteigerung, Monitoring und die Identifizierung von Wärme- und Wasserverlusten im Netz durch flächendeckende Thermografieaufnahmen. Perspektiven und Herausforderungen Durch den weiteren Ausbau der Fernwärme auf 100.000 Wohnungen ist - unter Berücksichtigung von thermischen Sanierungen und Effizienzsteigerungen an bestehenden Fernwärmeanlagen - ein Netto-Anstieg um 100 bis 120 MW an Anschlussleistung und eine erforderliche Wärmebereitstellung von rund 1.300 GWh/a für Graz in den nächsten Jahren zu erwarten. Bereits die Umstellung von derzeit noch mit fossilen Brennstoffen betriebenen Heizungen auf Fernwärme ist eine Klimaschutzmaßnahme, weil die CO2-Intensität der Fernwärme deutlich geringer und die Energieeffizienz höher ist. Aber wie kann es gelingen, die Wärmeaufbringung für ein Fernwärmenetz dieser Größenordnung weiter zu dekarbonisieren? Dazu stehen fol-

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TOP-THEMA aus dem Wärme-/Kälteverbund der Universität der Grazer Fernwärme zugeführt werden. Für die nächsten fünf Jahre hat die Energie Graz weitere 66 Millionen Euro an Investitionen für den Fernwärmeausbau und für alternative Versorgungsanlagen vorgesehen. 2. Hocheffiziente Kraft-Wärmekopplung: Helios: Das solare Speicherprojekt Helios, ein Großspeicher zur Aufnahme von Wärme aus thermischen Solaranlagen und Deponiegasnutzung © Energie Graz

gende Optionen zur Verfügung, die parallel weiterverfolgt werden müssen: 1. Erneuerbare Energie und Abwärme Hier sind die Nutzung dezentraler Energiequellen wie Solarenergie, industrielle Abwärme, der Einsatz von Großwärmepumpen mit verschiedenen Abwärmequellen aus Industrie, Abwässer oder Erdsonden, die Biomasse wie auch der Einsatz von Großspeichern zur besseren Nutzung dieser Energieträger zu nennen. Die Nutzung von Abwärme aus industrieller Prozessenergie oder aus der Stromerzeugung sollte dabei prioritär verfolgt werden, da es sich dabei um Energie handelt, die ansonsten ungenutzt in die Umgebung abgeführt werden müsste. Auch mit den Kapazitäten erneuerbarer Energie ist hauszuhalten, gerade in einem urbanen Umfeld, wo nur begrenzte Flächen und Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist es gerade für Städte, dass bei der Endfassung des Erneuerbaren-Energie-Ausbaugesetzes (EAG) die Abwärme als CO2-freie Wärme anerkannt wird; entstehen doch durch deren Nutzung keine zusätzlichen CO2-Emissionen. Die Energie Graz ist dabei, gemeinsam mit Kooperationspartnern weitere ökologische Erzeugungsprojekte intensiv voranzutreiben: Erweiterung des solaren Speicherprojekts «Helios»: Die Verdoppelung der bestehenden Kollektorfläche ist für dieses Jahr bereits in Umsetzung. Ein weiterer Ausbau

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der thermischen Solaranlage um 2.000 m² auf 6.000 m² ist konkret in Vorbereitung. Damit entsteht die zweitgrößte thermische Solaranlage Österreichs. Mit den Projektpartnern BWS und Sappi wurde ein Erweiterungsschritt für eine zusätzliche Abwärmenutzung aus dem Papier- und Zellstoffwerk Sappi unter Zuhilfenahme einer Wärmepumpe vereinbart (plus 40 GWh/a). Beim Stahl- und Walzwerk Marienhütte ist geplant, noch verfügbare Abwärme mit einem Temperaturniveau von 70-75°C für das Niedertemperaturnetz Reininghaus zu nutzen. Damit können weitere 15 GWh/a CO2-freie Wärme bereitgestellt werden. Weitere Potenziale werden u.a. in folgenden Projekten gesehen und derzeit für eine künftige Umsetzung evaluiert: - Abwasserwärmenutzung aus der Kläranlage der Stadt Graz in Gössendorf: Der Wärmeinhalt vom gereinigten Abwasser soll mittels modernster Wärmepumpentechnologie auf ein für die Fernwärme nutzbares Temperaturniveau angehoben und ins Fernwärmenetz eingespeist werden (45–55 GWh/a). - Beim Projekt BioSolar Graz handelt es sich um eine Großsolaranlage in Verbindung mit einem Langzeitspeicher und einem Biomassekessel. Mit diesem Vorhaben, das von der Energie Steiermark verfolgt wird, sollen 10-15 % des Wärmebedarfs für die Fernwärme bereitgestellt werden. - Abwärmenutzung bei der Karl Franzens Universität: Dabei soll Abwärme

Ein Eckpfeiler der Grazer Fernwärmeversorgung war und ist die Nutzung von Abwärme aus dem Kraft-Wärme-Kopplungsprozess im Kraftwerkspark Mellach. Die bei der Stromerzeugung entstehende Abwärme kann mit geringem Mehraufwand bzw. geringen Einbußen beim Stromoutput auf einem geeigneten Temperaturniveau für die Fernwärmenutzung ausgekoppelt werden. Wie erwähnt ist im Jahr 2020 das „Steinkohlezeitalter“ zu Ende gegangen und ab dem Winter 2020/21 wird wieder hocheffiziente KWK-Wärme auf Gasbasis mit bis zu 600 GWh dem Fernwärmesystem zur Verfügung gestellt werden. Durch diese Brennstoffumstellung und der „doppelten“ Nutzung von Erdgas bei der Kraft-Wärme-Kopplung sinkt der bereits niedrige CO2-Emissionsfaktor der Fernwärme nochmals um ca. 40 %. Auch wenn es sich dabei um die Nutzung von Abwärme aus einem mit fossiler Energie betriebenem Kopplungsprozess handelt, ist es sowohl thermodynamisch als auch volksund betriebswirtschaftlich sinnvoll diese zu nutzen, solange das Kraftwerk zur Stromerzeugung in Betrieb ist. Ansonsten müsste die anfallende Wärme zur Gänze in die Umgebung abgeführt werden. 3. Innovative, lokale Energiekonzepte Auch innovative gebäude- bzw. quartiersbezogene Energiekonzepte werden weiter forciert, die lokale Ressourcen wie Erdwärme oder Grundwasser mit Wärmepumpen nutzen und in einem integrierten Konzept mit Fernwärme, Photovoltaik, Speicher und Elektromobi-

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TOP-THEMA lität bündeln. Ein Vorteil: Konzepte dieser Art können auch zur Klimatisierung der Gebäude in den Sommermonaten genutzt werden. 4. Dezentrale erneuerbare Wärmelösungen In dünner besiedelten Stadtgebieten mit einer hohen Zahl an Einfamilienhäusern, in denen leitungsgebundene Energieträger unverhältnismäßig teuer oder technisch nicht möglich sind, können auch dezentrale Heizungsformen auf Basis Erneuerbarer eine gute Lösung darstellen. Zur Verfügung stehen Technologien wie die Wärmepumpe, die Umgebungswärme aus der Luft (oder dem Erdreich) nutzt und mit Ökostrom betrieben wird, oder auch moderne Pellets-Heizungen mit niedrigen Schadstoffemissionen. Wichtig für die Energieeffizienz ist die gute Abstimmung auf das Gebäude; bei älteren Bestandsgebäuden sind oft vorausgehende Sanierungsmaßnahmen sinnvoll. Auch die Energie Graz wird unter dem Namen „Wärmepumpe +“ solche Lösungen für Heizen und Warmwasser anbieten. Die zukünftige Rolle von Gas für die Raumwärme wird derzeit kontroversiell diskutiert. Auf der einen Seite muss auf Erdgas als fossiler Energieträger längerfristig verzichtet werden. Auf der anderen Seite steht mit den Gasnetzen eine leistungsfähige und sofort nutzbare Infrastruktur zur Verfügung, die auch mit erneuerbar erzeugtem „grünen Gas“ auf Basis Biomethan oder Wasserstoff betrieben werden kann. Für die Entscheidung, in welchen Bereichen bzw. zu welchen Einsatzzwecken grünes Gas zur Anwendung kommen soll, wird es darauf ankommen, in welchem Ausmaß

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und zu welchen Kosten grünes Gas hergestellt werden kann und welche Alternativen in den jeweiligen Sektoren zur Verfügung stehen. Derzeit finden in Graz keine Neuerschließungen von Gebieten mit Gas statt. Resümee Die Situation für eine klimaneutrale Wärmeversorgung in urbanen Räumen ist komplex, da wenig Fläche zur Verfügung steht und der Energiebedarf hoch ist. Nur mit einem Bündel an Maßnahmen wird es gelingen, den Wärmemarkt weiter zu dekarbonisieren. Ziel ist ein intelligentes, vernetztes System mit einer leitungsgebundenen Wärmeversorgung als Kern, das alle Optionen aus lokalen CO2-freien Quellen und der KraftWärme-Kopplung einschließlich der verbesserten Energieeffizienz von Gebäuden bestmöglich nutzt. Autoren: Dipl.-Ing. Boris Papousek, EMBA HSG Boris Papousek absolvierte das Studium der Technischen Physik an der Technischen Universität in Graz. Nach einem Forschungsaufenthalt am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme in Freiburg (BRD) war Herr Papousek von 1994-1997 bei der Energieverwertungsagentur (E.V.A.) in Wien tätig. Zur Umsetzung des „Kommunalen Energiekonzepts KEK Graz“ wurde 1997 die Grazer Energieagentur (GEA) gegründet, bei der Herr Papousek die Geschäftsführung übernahm. 2005 wurde Herr Papousek zum Chairman des „ManagEnergy“ Beratungsgremiums der Europäischen Kommission gewählt und war

Sprecher der regionalen Energieagenturen in Österreich. Zwischen 2003 und 2015 vertrat er Österreich im Demand Side Management Programm-ausschuss der Internationalen Energieagentur (IEA). Von 2009-2011 führte Herr Papousek ein postgraduales Executive MBA Studium an der Universität St. Gallen in der Schweiz durch. Seit 2016 ist Herr Papousek Geschäftsführer bei der Energie Graz. Univ.-Prof. Dr. Christoph Hochenauer studierte an der TU Graz Maschinenbau und promovierte im Bereich der Feuerungstechnik. Nach mehreren Stationen in der Industrie und im akademischen Bereich wurde er 2012 zum Professor für Wärmetechnik an der TU Graz berufen. Seit 2007 hat er bereits mehr als 30 Millionen € an Drittmitteln für Forschungsprojekte akquiriert; davon mehr als 18 Millionen € alleine in den letzten 5 Jahren. Insgesamt hat er bereits mehr als 200 FFG-, FWF-, EU- und Industrie-finanzierte Forschungsprojekte erfolgreich durchgeführt und dabei mehr als 400 Publikationen in Journalen und Konferenz-Tagungsbänden veröffentlicht (davon rund 200 in peerreviewed journals). Prof. Hochenauer ist u.a. als Reviewer für mehr als 20 Fachzeitschriften (peer-reviewed journals) tätig. Seine derzeitigen Forschungsschwerpunkte sind: • Wärmetransport in Öfen durch Konvektion und Strahlung • CFD Simulationen von Feuerungen und Rauchgasreinigungsanlagen • Fluid-Struktur Interaktionen: Gekoppelte CFD und FEM Simulationen • Hochtemperatur Brennstoff- und Elektrolysezellen (SOFC und SOEC)

Dipl.-Ing. Boris Papousek, EMBA HSG

Univ.-Prof. Dr. Christoph Hochenauer

Geschäftsführer bei der Energie Graz

Professor für Wärmetechnik, TU Graz

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FACHARTIKEL Gunter Nitsche

Die Abgrenzung von Patentrecht, Markenrecht und Urheberrecht – dargestellt am Beispiel von ‘Rubik’s Cube’ (Teil II) Teil 1 erschienen in WINGbusiness Heft 01/2021 Deskriptoren: Patentrecht; Markenrecht, Urheberrecht, Wettbewerbsrecht, Rubik’s Cube Normen: PatG; UrhG; UWG; MSchG; RL (EU) 2015/2436; VO (EG) Nr. 40/94; VO (EU) 2017/1001; Pariser Verbandsübereinkunft; WTO-Abkommen; WUA; RBÜ; WTO-Abkommen 1 Einleitung Im ersten Teil dieser Untersuchung wurde aufgezeigt, dass die Erfindung des „Zauberwürfels“ im Jahr 1976 beim Patentamt in Budapest patentrechtlich geschützt wurde. Nach Ablauf der patentrechtlichen Schutzfrist von 20 Jahren stellte sich im Hinblick auf die große Nachfrage nach den „Cubes“ die Frage, ob Ernő Rubik weiterhin Schutz für seine Erfindung genießen kann. Zu diesem Zweck wird in diesem zweiten Teil der Untersuchung auf das Wettbewerbsrecht und das Markenrecht eingegangen. 2 Wettbewerbsrecht Das große Interesse an dem „Zauberwürfel“ hat dazu geführt, dass vielfach von weiteren Herstellern gleichartige Würfel auf den Markt gebracht wurden, mit denen der Originalwürfel kopiert wurde. Das wirft die Frage auf, ob sich Ernő Rubik auf das durch das UWG begründete Verbot der „sklavischen Nachahmung“ berufen kann. Nach der Judikatur liegt eine unlautere Geschäftspraktik dann vor, wenn jemand ohne eigenen ins Gewicht fallenden Schaffensvorgang das Arbeitsergebnis eines anderen ganz oder doch in erheblichen Teilen übernimmt, um so dem Geschädigten, der für die eigene Leistung Mühe und Kosten aufwenden musste, Konkurrenz zu machen. Der Mitbewerber macht sich in diesem Fall der „schmarotzerischen Ausbeutung“ fremder Leistung schuldig. Von einer solchen glatten Übernahme ist nicht nur dann auszugehen, wenn das Ergebnis einer fremden Leistung durch einfaches Kopieren verwertet wird, sondern auch dann, wenn der Schöpfer des Arbeitsergebnisses um die Früchte seiner Arbeit gebracht wird, ohne dass der Dritte

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für die Herstellung des nachgeahmten Produktes eine eigene Leistung erbringen müsste. [1] Bei der glatten Übernahme einer fremden Leistung „wird ohne jede eigene Leistung, ohne eigenen ins Gewicht fallenden Schaffensvorgang, das ungeschützte (dh keinen Sonderrechtsschutz genießende) Arbeitsergebnis eines anderen ganz oder zumindest in erheblichen Teilen glatt übernommen, um so dem Geschädigten mit dessen eigener mühevoller und kostspieliger Leistung Konkurrenz zu machen. Eine solche glatte Übernahme von fremden Leistungen ist in der Regel […] unlauter iSd § 1.“ [2] Dass die Nachbildung bis an die Grenze der unmittelbaren Leistungsübernahme reichen müsste, ist für den Tatbestand der sklavischen Nachahmung nicht erforderlich. Eine Abweichung in einzelnen, nicht wesentlichen Teilen hindert die Qualifikation als unlautere Geschäftspraktik nicht. [3] In Deutschland war bereits einmal der Versuch unternommen worden, den Nachbau des Zauberwürfels unter Berufung auf § 1 UWG gerichtlich verbieten zu lassen. Denn die sklavische Nachahmung ist wettbewerbsrechtlich unzulässig, wenn das nachgeahmte Produkt eine wettbewerblich relevante Eigenart aufweist. Dafür ist die äußere Gestaltung des Würfels, die für den Kaufinteressenten erkennbar ist, entscheidend. Wenn es hingegen um die Anleitung zu technischem Handeln geht, kommt ein Unterlassungsanspruch des Herstellers des Originalproduktes nur dann in Betracht, wenn ein diesbezüglicher Sonderrechtsschutz besteht. Das OLG Frankfurt entschied daher zu Recht, dass der identische Nachbau eines Produktes, das von einem Mitbewerber auf den Markt gebracht wurde, grundsätzlich auch dann nicht wettbewerbswidrig ist,

wenn das Originalprodukt einen hohen Bekanntheitsgrad aufweist. [4] Dieser Entscheidung des OLG Frankfurt ist auch für Österreich zu folgen. [5] Der Nachbau des „Zauberwürfels“ erfüllt die Voraussetzungen für einen Verstoß gegen § 1 UWG wegen der unlauteren Geschäftspraktik der sklavischen Nachahmung nicht. Auszugehen ist davon, dass das Nachahmen eines fremden Produkts, das keinen Sonderrechtsschutz genießt, grundsätzlich nicht rechtswidrig ist. Aus dem Enumerationsprinzip, das zum Ausschließungsrecht des Berechtigten nach dem UrhG, dem PatG, dem MSchG, dem MuSchG oder dem Recht der Unternehmenskennzeichen führt, ist abzuleiten, dass die Übernahme einer fremden gewerblichen Leistung außerhalb der geschützten Bereiche frei ist. Jeder muss in Kauf nehmen, dass die Ergebnisse seiner Arbeit von Dritten genützt werden, sobald sie diesen bekannt werden. Nur dann, wenn ein Sonderrechtsschutz besteht, gilt etwas anderes. Sonst verbleibt es dabei, dass ohne das Hinzutreten besonderer Umstände im Einzelfall eben die Arbeitsergebnisse, mögen sie auch mit Mühe und Kosten verbunden gewesen sein, jedem Dritten im Interesse des Fortschritts zur Verfügung stehen. [6] Solche besonderen Umstände sind beim Nachbau des „Zauberwürfels“ durch die Mitbewerber nicht zu sehen. Es liegt im Wesen des Patentschutzes, dass nach Ablauf der maximalen Schutzdauer die Öffentlichkeit schon aufgrund der Offenbarung der Erfindung Zugang zu dem Wissen hat, dessen wirtschaftliche Nutzung bisher dem Patentinhaber allein vorbehalten war. Wäre das Arbeitsergebnis des Erfinders Ernő Rubik ohne zwingenden Grund in identischer Form nachgemacht worden, hätte das Argument der sklavischen

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FACHARTIKAL Nachahmung als unlauterer Geschäftspraktik Gewicht gehabt. Der „Zauberwürfel“ funktioniert jedoch nur dann auf die in der Patentschrift vorgesehenen Weise, wenn der Kern des Würfels so gestaltet ist, wie dies im Patentanspruch formuliert ist. [7] Folglich liegt für die Mitbewerber ein notwendiger Grund vor, den „Zauberwürfel“ nach Ablauf der patentrechtlichen Schutzfrist in identer Form nachzumachen und nicht bloß als Anregung zu eigenem Schaffen zu benützen. Jede gegenteilige Rechtsmeinung würde dazu führen, dass die Generika-Hersteller ihre Nachbauprodukte nach Ablauf der patentrechtlichen Schutzfrist nicht mehr nach der chemischen Formel für das patentrechtlich geschützte Originalpräparat herstellen dürften. 3 Markenrecht – Judikatur Es liegt nahe, beim Schutz für den „Zauberwürfel“ nach Ablauf der patentrechtlichen Frist an die Formmarke zu denken. Dem Markenschutzgesetz 1970 [8] war die Formmarke unbekannt. „Marke“ konnte jedes besondere Zeichen sein, das dazu diente, Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens von gleichartigen Waren und Dienstleistungen anderer Unternehmen zu unterscheiden. Durch die Markenrechts-Novelle 1999 [9] wurde § 1 MSchG geändert: Marken konnten nunmehr alle Zeichen sein, die sich grafisch darstellen ließen [10], insbesondere auch die Form der Ware selbst, soweit sie geeignet war, diese Ware von Waren anderer Unternehmen zu unterscheiden. Die entscheidende Frage lautete also: Unterscheidet sich die Form von „Rubik’s Cube“ von Würfeln anderer Unternehmer? Wenn ja, konnte Ernő Rubik oder ein von ihm ermächtigter Unternehmer den „Zauberwürfel“ als Formmarke schützen lassen. Die Auswirkung wäre enorm. Denn der markenrechtliche Schutz besteht bei entsprechender Verlängerung nach Ablauf der jeweiligen Zehnjahresfrist auf ewige Zeiten weiter. [11] Darüber hinaus besteht bei der Markenanmeldung kein Erfordernis der Neuheit des Zeichens. Es genügt, dass das Zeichen unterscheidungskräftig ist. Für das Bestreben, nach Ablauf des Patentschutzes für die Erfindung den

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Schutz einer Formmarke zu erwerben, gibt es bereits Präzedenzfälle in der Judikatur. Im Jahr 2014 wurde von der Firma CAPRI SUN AG für das nichtalkoholische Fruchtgetränk „CapriSun“, das in einem Standbeutel aus Polyester, Aluminium und Polyethylen verkauft wird, eine Formmarke angemeldet. [12] Wenn die Ware ein Getränk ist, das begrifflich keine eigene Form hat, kann die Formmarke aus der Verpackung bestehen. Die Formmarke wurde antragsgemäß eingetragen. Von einer Mitbewerberin wurde bei der Nichtigkeitsabteilung des Patentamts die Löschung dieser Marke beantragt, weil die Marke ausschließlich aus der Form der Ware bzw. der Verpackung bestehe, die zur Herstellung der technischen Wirkung erforderlich sei. Damit verstoße die Eintragung gegen § 4 Abs 1 Z 6 MSchG. Derartige Standbeutel seien bereits seit den 1940er – Jahren patentrechtlich geschützt worden. Diese Patente seien selbstverständlich längst abgelaufen. Das OLG Wien als Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung, wonach die angefochtene Formmarke zu löschen sei. In seiner Begründung wies das OLG Wien darauf hin, dass die rechteckige Form des Standbeutels mit geraden Kanten technisch bedingt sei und dass damit der Löschungsgrund des Art 4 Abs 1 lit e der Markenrichtlinie [13] erfüllt sei. Damit soll verhindert werden, dass der Schutz des Markenrechts seinem Inhaber ein unbefristetes Monopol für technische Lösungen oder Gebrauchseigenschaften einer Ware gewährt. [14] Dem Argument der CAPRI SUN AG, die Oberfläche des Standbeutels, die eine aluminiumfarbene Struktur aufweise, habe keine technische Funktion, hielt das OLG zu Recht entgegen, dass nur solche Merkmale, die den Gesamteindruck der Marke bestimmen, die Registrierung rechtfertigen können. Auf nichtwesentliche Merkmale, mögen diese auch ohne technische Funktion sein, könne die Registrierung nicht gestützt werden. In einem ähnlich gelagerten Fall, bei dem es um die Verpackung von Schwedenbomben in einer durch-

sichtigen Kunststoffverpackung gegangen war, wodurch die Ware für den Kunden sichtbar gemacht wurde, hatte der OGH die Zulässigkeit der von Registrierung als Form- Goldhase Hauswirt marke bejaht, weil die Durchsichtigkeit der Blisterverpackung das wesentliche Merkmal der als Formmarke der Schwedenbomben angemeldeten Verpackung war. [15] Der OGH war auch beim Streit zwischen dem Markeninhaber Lindt&Sprüngli und dem burgenländischen Schokoladeproduzenten Hauswirth um den Schutz für den „Goldhasen“ mit der Anerkennung der Wirksamkeit von Formmarken großzügig. Lindt&Sprüngli hatte einen sitzenden, goldfarbenen Schokoladehasen beim EUIPO [16] als Formmarke für die Klasse 30 (Schokolade & Schokoladewaren) mit Schutzdauerbeginn 08.06.2000 schützen lassen. Hauswirth verlor das Verfahren. Der OGH erließ die beantragte einstweilige Verfügung, mit der Begründung, der „Goldhase“ von Hauswirth sehe dem markenrechtlich geschützten „Lindt&Goldhasen“ verwechselbar ähnlich. Der Gesamteindruck des geschützten „Goldhasen“ werde vor allem durch dessen sitzende Haltung, die Goldfarbe und die rote Schleife um den Hals geprägt. Alle diese Merkmale seien auch beim Goldhasen von Hauswirth verwirklicht, sodass Verwechslungsgefahr bestünde. [17] Die Formmarke, auf die Lindt&Sprüngli ihren Unterlassungsanspruch stützten, erfülle die für den Markenschutz erforderlichen Voraussetzungen. Insbesondere verfüge sie über ausreichende Unterscheidungskraft. Hingegen wies das EUIPO die Anmeldung eines weiteren „Goldhasen“ aus Schokolade mit rotem Band durch Lindt&Sprüngli als Formmarke im Jahr 2004 wegen fehlender Unterscheidungskraft des Zeichens zurück. Sowohl das EuG als auch der EuGH bestätigten die Entscheidung des EUIPO. Dem „Goldhasen“ komme keine Unterscheidungskraft im Sinn des Art 7 Abs 1 lit b VO [EG] 40/94 zu, und zwar weder hinsichtlich der einzelnen Elemente, nämlich der Form eines Goldhase von sitzenden Hasen, der Lindt&Sprüngli

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FACHARTIKEL goldenen Verpackungsfolie oder dem roten Band mit Glöckchen, noch hinsichtlich der Gesamtbeurteilung. [18] Hauswirth hat aus dieser EuGH Entscheidung keine weiteren rechtlichen Schritte für sich abgeleitet. Einem Antrag auf Nichtigerklärung der Unionsmarke beim EUIPO wären sehr gute Erfolgsaussichten zu prognostizieren. Hauswirth hat jedoch den klassischen „Goldhasen“ nach der OGH-Entscheidung aus dem Jahr 2004 nicht mehr in seinem Sortiment. Über den Schutz einer Formmarke hatte der EuGH auch im Zusammenhang mit dem Versuch der Stokke AS, den „Tripp-Trapp“ Kinderstuhl als Formmarke schützen zu lassen, zu entscheiden. Über Klage der Mitbewerberin Hauck GmbH & Co. KG stellte der EuGH fest, dass ein Eintragungshindernis für solche Zeichen besteht, die ausschließlich aus der Form einer Ware bestehen, die eine für die Produktgattung typische Eigenschaft aufweist und nach der der Verbraucher aufgrund der Beschaffenheit der Ware ebenfalls beim Mitbewerber suchen würde. „Das Verbot der Eintragung rein funktioneller Formen […] oder solcher, die der Ware einen wesentlichen Wert verleihen […] hat das unmittelbare Ziel, zu verhindern, dass das ausschließliche und auf Dauer angelegte Recht, das eine Marke verleiht, dazu dienen kann, andere Rechte, für die der Unionsgesetzgeber eine begrenzte Schutzdauer vorsehen wollte, zu verewigen“ [19] 4 Markenrecht – Rubik’s Cube Auch für den von Ernő Rubik konstruierten „Zauberwürfel“, der aus 27 kleinen Holzwürfeln bestand, wurde vom britischen Unternehmen „Seven Towns Ltd.“ [20] am 1. April 1996 beim EUIPO [21] in Alicante die Eintragung als Unionsmarke für „dreidimensionale Puzzles“ in der Klasse 28 des Abkommens von Nizza [22] beantragt. Vom EUIPO wurde die Würfelform des „Rubik’s Cube“ mit einer Gitterstruktur auf jeder der sechs Würfelseiten als Formmarke unter der Nr 162 784 für den „Zauberwürfel“ eingetragen. Diese dreidimensionale Unionsmarke wird inzwischen von der „Rubik’s Brand Ltd.“ gehalten. Im Hinblick auf die hohe Nachfrage am Spielzeugmarkt und

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mit dem Ziel, selbst auch den „Zauberwürfel“ herzustellen oder herstellen zu lassen, beantragte der deutsche Spielzeughersteller „Simba Toys“ [23] am 15.11.2006 beim EUIPO die Löschung der Unionsmarke. Dieser Antrag wurde am 14.10.2008 von der Nichtigkeitsabteilung des EUIPO zurückgewiesen. Am 23.10.2008 legte „Simba Toys“ gegen diese Entscheidung Beschwerde ein. Mit Entscheidung vom 01.09.2009 bestätigte die Beschwerdekammer des EUIPO die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung. Daraufhin erhob „Simba Toys“ am 06.11.2009 vor dem Europäischen Gericht in Luxemburg (EuG) Klage auf Aufhebung der Entscheidung der Beschwerdekammer und auf Nichtigerklärung der Formmarke. Im ersten Rechtszug wurde die Klage von „Simba Toys“ abgewiesen. Das EuG war ebenso wie das EUIPO der Auffassung, dass die Voraussetzungen für die Registrierung des „Zauberwürfels“ als Formmarke erfüllt seien. [24] Das EuG begründete in seiner Entscheidung vom 25.11.2014 die Klagsabweisung damit, dass keiner der acht geltend gemachten Klagsgründe gerechtfertigt sei. [25] Die auf jeder Seite des Würfels erkennbare Gitterstruktur habe keine technische Funktion, sondern stelle ein dekoratives Element dar, das einen Herkunftshinweis für diese Formmarke darstelle. Wenn in der Form der betreffenden Ware ein wichtiges, nicht funktionelles Element verkörpert werde, sei die Eintragung als Formmarke zulässig. Aus der Darstellung könne nicht darauf geschlossen werden, dass der Würfel aus beweglichen Teilen bestehe, mit denen Drehbewegungen ausgeführt werden können. [26] Die Drehbarkeit als unsichtbares Element müsse unberücksichtigt bleiben. Denn man könne der Marke, wie sie im Register eingetragen ist, nicht ansehen, dass der Würfel drehbar ist und durch gegenseitiges Drehen der Würfelseiten das Puzzle gelöst werden kann. [27] Gegen die Entscheidung des EuG, mit welcher der Antrag auf Nichtigerklärung der Marke in Form eines Würfels mit Seiten mit einer Gitter-

struktur abgewiesen worden war, richtete sich das Rechtsmittel von „Simba Toys“ mit dem Antrag, die Entscheidung des EuG aufzuheben und die Formmarke für nichtig zu erklären, weil die wesentlichen Merkmale der Marke selbst die technische Funktion der mit der Marke gekennzeichneten Ware erfüllen. Am 26.01.2015 erhob „Simba Toys“ Klage gegen die Entscheidung des EuG, womit dieser die Eintragungsfähigkeit des „Zauberwürfels“ als Formmarke für „Seven Towns“ bejaht hatte. In seiner Entscheidung vom 10.11.2016 drehte der EuGH die vorangegangenen vier Entscheidungen um und folgte der von „Simba Toys“ von Anfang an vertretenen Rechtsmeinung, dass Zeichen, die ausschließlich aus der Form der Ware bestünden, die zur Erreichung einer technischen Wirkung erforderlich sei, gemäß Art 7 Abs 1 lit e der Gemeinschaftsmarkenverordnung [28] von der Eintragung im Markenregister ausgeschlossen seien. Der EuGH hob das Urteil des EuG und die Entscheidung der Beschwerdekammer auf und verurteilte „Seven Towns“ und das EUIPO zur Tragung der Kosten der Klägerin. Sowohl das EUIPO als auch das EuG hätten falsch entschieden. Vielmehr hätte auch die Drehbarkeit der Ebenen berücksichtigt werden müssen, weil sich aus der Gitterstruktur, die auf jeder der Würfelseiten sichtbar war, deutliche Hinweise dafür ergaben, die zu einer vertieften Prüfung der funktionellen Merkmale des Zeichens hätten führen müssen. [29] „Auch die inneren Werte zählen“ [30] Damit aber noch nicht genug. Denn aufgrund der EuGH-Entscheidung vom 10.11.2016 musste auch das EUIPO neuerlich entscheiden. Am 19.06.2017 erklärte das EUIPO die Formmarke, die aus dem „Zauberwürfel“ mit schwarzen Linien und kleinen Quadraten auf jeder Seite des Würfels und sechs unterschiedlichen Farben bestand, für nichtig. Damit folgte das EUIPO, was vorhersehbar war, nicht mehr seinen eigenen Entscheidungsgründen, sondern den Argumenten des EuGH. Es ordnete die Löschung der Eintragung der Formmarke an. „Nach alledem ist festzustellen, dass diese Form nicht als Unionsmarke eingetragen hätte werden

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FACHARTIKEL dürfen, weil die wesentlichen Merkmale zur Erreichung der technischen Wirkung erforderlich sind, die in der Drehbarkeit des Würfels besteht.“ [31] Dagegen erhob nunmehr die neue Markeninhaberin, Rubik’s Brand Ltd. [32], Klage vor dem EuG. Am 24.10.2019 entschied das EuG, und zwar ebenfalls in Übereinstimmung mit der EuGH Entscheidung vom 10.11.2016: Zwar sei die Entscheidung des EUIPO insoweit fehlerhaft, als die unterschiedlichen Farben auf den sechs Seiten des Würfels keineswegs ein wesentliches Merkmal der streitigen Marke seien. Doch komme es darauf nicht entscheidend an. Die vorliegende Würfelform stelle das Erscheinungsbild der konkreten Ware dar, für welche die Eintragung beantragt wurde, nämlich des als „Rubik’s Cube“ bekannten, dreidimensionalen Puzzles [33]: „Hinsichtlich der Beurteilung der Funktionalität der wesentlichen Merkmale der streitigen Marke ist das Gericht wie das EUIPO der Auffassung, dass das wesentliche Merkmal, das in den schwarzen Linien besteht, die sich horizontal und vertikal auf jeder Seite des Würfels kreuzen und jede dieser Seiten damit in neun kleine Würfel gleicher Größe unterteilen, die in drei Reihen von jeweils drei angeordnet sind, erforderlich ist, um die angestrebte technische Wirkung zu erreichen.“ [34] Gemäß Art 56 der Statuten des Europäischen Gerichtshofes [35] hätte innerhalb einer Frist von zwei Monaten ab Zustellung der angefochtenen Endentscheidung des Gerichts ein Rechtsmittel beim EuGH eingelegt werden müssen. Dies war nicht der Fall. Damit ist die markenrechtliche Thematik nach 23 Jahren endgültig entschieden. „Ein Zeichen, das ausschließlich aus der Form der Ware bestehet, ist nicht eintragungstauglich, wenn nachgewiesen wird, dass die wesentlichen funktionellen Merkmale dieser Form nur der technischen Wirkung zuzuschreiben sind. […] Durch den Nachweis, dass es andere Formen gibt, mit denen sich die gleiche technische Wirkung erzielen lässt, [kann] nicht das Eintragungshindernis oder der Grund für die Ungültigerklärung nach dieser Vorschrift ausgeräumt werden.“ [36]

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5 Fazit Der EuGH hat in der Entscheidung „Rubik’s Cube“ ein Bekenntnis zur zeitlichen Begrenzung des Schutzes für technische Funktionalitäten abgelegt. Dem ist zu folgen. Technische Wirkungen können primär durch ein Patent [37] geschützt werden. Nur in Ausnahmsfällen ist es möglich, über das UWG mit dem Vorwurf der „sklavischen Nachahmung“ oder über das UrhG mit der Berufung auf den Charakter der technischen Erfindung als „Werk der bildenden Künste“ eine Verlängerung des durch Zeitablauf erloschenen patentrechtlichen Schutzes zu erwirken. Wenn kein Sonderrechtsschutz besteht, ist die Benutzung der Erfindung frei. Markenrechtlicher Schutz kann in Sonderfällen durch Registrierung der Form der Ware erworben werden, weil es im Markenrecht kein Neuheitserfordernis gibt. Allerdings kann das wesentliche Merkmal nicht in einem funktionalen Element liegen, selbst wenn dieses von außen nicht direkt sichtbar ist. Literatur: [1] OGH 12.08.1996, 4 Ob 2202/96v. [2] Kraft/Steinmair in Kraft/Steinmair (Hrsg), UWG Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb Praxiskommentar2 (2019) § 1 UWG Rz 133; ebeso RIS-Justiz RS0078341: „Wer ohne jede eigene Leistung, ohne eigenen ins Gewicht fallenden Schaffensvorgang das ungeschützte Arbeitsergebnis eines anderen ganz oder doch in erheblichen Teilen glatt übernimmt, um so dem Geschädigten mit dessen eigener Mühe voller und kostspieliger Leistung Konkurrenz zu machen, macht sich in jedem Fall einer schmarotzerischen Ausbeutung fremder Leistung schuldig und verstößt damit gegen die guten Sitten im Sinne des § 1 UWG“ [3] Wiltschek/Horak, UWG8.0102 § 1 E 1262 (Stand 1.3. 2019). [4] OLG Frankfurt 08.11.1981, 6 U 98/81. [5] Der OGH hat die sklavische Nachahmung eines „Zauberwürfels“ bejaht, weil er dem Gegner der gefährdeten Partei vorgeworfen hat, dieser habe das Original bewusst nachgeahmt, sodass die Gefahr von Verwechslungen herbeigeführt wurde. Der Vorwurf betraf die vermeidbare Herkunftstäuschung. Hätte der Gegner der gefährdeten Partei also darauf hingewiesen, dass es sich nicht um den Originalwürfel („Rubik’s Cube“), sondern um ein Nachbauprodukt handelt, wäre die Ent-

scheidung wohl gegenteilig ausgefallen. Vgl. OGH 23.06.1981, 4 Ob 360 = Öbl 1981, 115 (Schönherr). [6] OGH 12.08.1996, 4 Ob 2202/96v. [7] OGH 23.02.1993, 4 Ob 106/92. [8] Markenschutzgesetz 1970, BGBl 260/1970 idF BGBl I 91/2018. [9] BGBl I 111/1999. [10] Das Erfordernis der „grafischen Darstellbarkeit“ wurde durch die MarkenschutzgesetzNovelle 2017 beseitigt. § 1 Markenschutzgesetz lautet nunmehr: Marken können Zeichen aller Art sein, insbesondere Wörter, einschließlich Personennamen, oder Abbildungen, Buchstaben, Zahlen, Farben, die Form oder Verpackung der Ware oder Klänge, soweit solche Zeichen geeignet sind, 1)Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens von denjenigen anderer Unternehmen zu unterscheiden und 2)im Markenregister in einer Weise dargestellt zu werden, dass die zuständigen Behörden und das Publikum den Gegenstand des ihrem Inhaber gewährten Schutzes klar und eindeutig bestimmen können. [11] Voraussetzung ist gemäß § 33a Abs 1 MSchG die ernsthafte, kennzeichenmäßige Benutzung der Marke. [12] Anmeldenummer: 1714/2014, Registrierungsnummer: 280588. [13] Richtlinie (EU) 2015/2436 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2015 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken, ABl L 2015/336. [14] Keschmann in Kucsko/Schumacher (Hrsg), marken.schutz² § 4 MSchG Rz 282. [15] OGH 11.05.2012, 4 Ob 61/12t. [16] Damals noch als „Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (HABM)“ bezeichnet. [17] OGH 30.11.2004, 4 Ob 239/04g = RdW 2005/265. [18] EuGH 24.05.2012, C-98/11 (Chocoladefabriken Lindt&Sprüngli AG/HABM). [19] EuGH 18.09.2014, C-205/13. [20] „Seven Towns“ in London wurde von dem in Transsylvanien (damals zu Ungarn gehörig) geborenen Tom Kremer gegründet und nach dessen Geburtsort in Siebenbürgen benannt. Das Unternehmen bezeichnet sich selbst als “one of the most highly acclaimed toy invention companies in the world” und verwaltete damals die Rechte am Zauberwürfel. [21] Damals noch als „HABM“ bezeichnet. [22] Abkommen von Nizza über die internationale Klassifikation von Waren und Dienstleistungen für Fabrik- oder Handelsmarken vom 15. Juni 1957, BGBl 388/1969 idF BGBl I 2/2008. [23] Das Unternehmen Dickie-Simba Group mit Sitz in Fürth entstand aus der Fusion von

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IMPRESSUM Simba Toys und Dickie Toys im Jahr 1993 und verwaltet u.a. bekannte Marken wie Märklin, Majorette oder Bobby-Car. [24] EuG 25.11.2014, T-450/09. [25] Die Verfahrensdauer betrug also mehr als fünf Jahre! [26] EuG 25.11.2014, T-450/09. [27] SMD Group – RECHT NEWS, Zehn Jahre Streit um den Rubik’s Cube < https://www.smd-group.info/publications/publication_12_2016. pdf > [28] Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates vom 20. Dezember 1993 über die Gemeinschaftsmarke, ABl L 1994/11 aufgehoben und ersetzt durch die Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Gemeinschaftsmarke, ABl L 2009/78, diese ebenfalls aufgehoben und ersetzt durch die Unionsmarkenverordnung: Verordnung (EU) 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über die Unionsmarke, ABl L 2017/154. [29] EuGH 10.11.2016, C-30/15P. [30] Hesse, Der Würfel ist gefallen?, IntellectualProperty Magazin, 1/März 2020, 22. [31] EuG 24.10.2019, T 601/17 = wbl 2020/67. [32] Das Unternehmen von Rubik’s Brand Ltd. hat seinen Sitz an der identen Adresse wie Seven Towns Ltd. Es bezeichnet sich als „marketing agency“. [33] Bei dieser Ware handelt es sich um ein Spiel, dessen Ziel es ist, ein farbiges dreidimensionales Puzzle in Form eines Würfels mit sechs Seiten von unterschiedlicher Farbe wiederherzustellen. Dieses Ziel wird dadurch erreicht, dass Reihen kleinerer Würfel unterschiedlicher Farben, die Bestandteile eines größeren Würfels sind, solange vertikal und horizontal um eine Achse gedreht werden, bis die neun Quadrate jeder Seite dieses Würfels die gleiche Farbe haben. [34] EuG 24.10.2019, T-601/17; Pressemitteilung Nr 131/19 des Gerichts der Europäischen Union. [35] PROTOKOLL ÜBER DIE SATZUNG DES GERICHTSHOFS DER EUROPÄISCHEN UNION, BGBl III 4/2003 idF BGBl III 171/2013. [36] Thiele, Der Zauberwürfel des Schutzes dreidimensionaler Gestaltungsformen, ecolex 2017, 232. [37] Oder durch ein Gebrauchsmuster als „kleines Patent“.

Autor: Prof. Dr. Gunter Nitsche (of Counsel): Juristisches Studium an der Karl Franzens Universität in Graz; seit 1988 Gastprofessor an der Technischen Universität Graz; ständiger Berater der Stadt Graz; Vortragender für die Rechtsanwaltskammer, die Kammer der Notare und die Kammer der Wirtschaftstreuhänder; Funktionen als Mitglied des Vorstandes mehrerer Privatstiftungen und als Mitglied des Aufsichtsrates mehrerer Aktiengesellschaften; seit 2009: Of Counsel bei Graf & Pitkowitz Rechtsanwälte GmbH

Prof. Dr. Gunter Nitsche Gastprofessor an der TU Graz

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