WINGbusiness Heft 01 2022

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ISSN 0256-7830; 55. Jahrgang, Verlagspostamt A-8010 Graz; P.b.b. 02Z033720M

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WING

business

Techno-Ökonomie an der TU Austria

Die Rolle von Geschäftsmodelländerungen im Kontext von Geschäftsökosysteme 13

How to cope with uncertainty in operations 17

Radikale Innovationen und inkrementelle Veränderungen durch strukturelle Ambidextrie 26


DEINE ENERGIE IST UNSERE NATUR kelag.at

WIR GLAUBEN AN EINE WELT, DIE ZU 100 % VON ERNEUERBAREN ENERGIEN BEWEGT WIRD – UND WIR ARBEITEN JEDEN TAG DARAN. Unsere Mission ist das Erzeugen, Übertragen und Verkaufen von regenerativer Energie. Als innovativer Lösungsanbieter inspirieren und überzeugen wir unsere Kunden.


EDITORIAL

Techno-Ökonomie an der TU Austria Liebe Leserin, lieber Leser, einleitend möchte ich mich im Namen des WING bei unserem geschätzten Kollegen Siegfried Vössner für seine langjährige, umsichtige und engagierte Tätigkeit als Schriftleiter von WINGbusiness sehr herzlich bedanken! Das engagierte Redaktionsteam und die Chefin vom Dienst, Frau Beatrice Freund werden seine Arbeit in bewährter Weise fortsetzen. Auch dafür bedanke ich mich sehr herzlich! Der Schwerpunkt dieses Heftes ist unter dem Vorzeichen zu sehen, dass es das Wirtschaftsingenieurstudium in Österreich seit 75 Jahren gibt und es sich an den Universitäten und Fachhochschulen sehr erfolgreich entwickelt hat. Die 3 Technischen Universitäten der TU Austria haben einen wesentlichen Anteil an diesem Rektor Wilfried Eichlseder (Montanuniversität Leoben), Elke Standeker (GeneralsekreErfolg. Wir möchten deshalb ausge- tärin der TU Austria), Rektor Harald Kainz (TU Graz) und Rektorin Sabine Seidler (TU wählte Lehr- und Forschungsaktivi- Wien); © TU Ausria täten im Bereich Techno-Ökonomie an der TU Austria, in dem auch die Wirtschaftsingenieur- kenswerten Allianz stärken Österreichs Technische Unistudien beheimatet sind und die involvierten TU Austria- versitäten Synergien, steigern Effizienz und managen ihre Institute kurz vorstellen. Ressourcen strategischer. Die TU Austria konzentriert sich auf die Forschungsfelder Energie, MaterialwissenAbschließender Hinweis: der 75 Jahre-Jubiläumskongress schaften, Geowissenschaften/Geodäsie, Produktionstechfindet von 2. bis 4. Juni 2022 an der TU Graz statt. Bitte nik, Tunnelbau, Techno-Ökonomie, Informations- und merken Sie sich den Termin vor. Wir freuen uns auf Ihre Kommunikationstechnologien sowie auf die drei großen Teilnahme! Fakultäten und Studiengänge Maschinenbau, Elektrotechnik und Bauingenieurwesen. Dabei koordinieren Ulrich Bauer, WING Vizepräsident die drei Universitäten der TU Austria sowohl ihre Forschungsbereiche als auch ihre Studienprogramme und vermeiden so unnötige Doppelgleisigkeiten. Außerdem Editorial der Rektor*innen koordinieren sie die Planung und den Einsatz von großen Infrastrukturinvestitionen und -projekten und fördern inUnter dem Leitsatz „United Through Excellence“ setzen ter-hochschulische Zusammenarbeit, um die Infrastrukdiese Hochschulen neue Maßstäbe in Lehre und For- tur der einzelnen Universitäten besser auszulasten. Durch schung in den Natur- und Ingenieurwissenschaften. den Vergleich der individuellen Leistung mit der Leistung Die 2010 gegründete TU Austria vereint über 43.000 Stu- der Partneruniversitäten werden Best Practices schnell dierende und 10.600 Beschäftigte und hat sich im Laufe identifiziert und zum Nutzen aller geteilt. der Jahre zu einem einflussreichen, gut vernetzten und weithin bekannten Hochschulforum entwickelt. Ihre Mit- Indem die TU Austria in ihrer Öffentlichkeits- und Meglieder arbeiten gemeinsam daran, wichtige Fragen der dienarbeit, in Publikationen und bei Veranstaltungen mit Gegenwart in Forschung und Lehre anzugehen und dazu einer vereinten Stimme spricht, kann sie gegenüber der beizutragen, neue Maßstäbe in der Hochschulpolitik zu Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft eine starke setzen. Gemeinsame Aktivitäten wie Summer Schools, Botschaft setzen. eine Auszeichnung für junge Technikerinnen, intensiver Die Universitäten der TU Austria bieten Bildung und Austausch mit der Industrie und ein breites internationa- akademische Ausbildung auf höchstem Niveau, sie stärles Hochschulnetzwerk runden das Paket ab. ken Österreich als attraktiven Standort für Wirtschaft, Jede der drei Universitäten der TU Austria – die TU Wien, Industrie und Wissenschaft und arbeiten an innovativen die TU Graz und die Montanuniversität Leoben – ist stolz Lösungen zum Wohle unserer Gesellschaft. auf ihr individuelles Profil, ihre Stärken und ihre Ausrich- Und der Bereich „Techno-Ökonomie“ nimmt darin einen tung. Durch die Bündelung ihrer Kräfte in dieser bemer- wichtigen Platz ein.

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Top-Thema: Techno-Ökonomie an der TU Austria Michael Rachinger

Die Rolle von Geschäftsmodelländerungen im Kontext von Geschäftsökosystemen

13

Hugo Karre

How to cope with uncertainty in operations

17

Learning factory based teaching approach in the context of agile operations and manufacturing industry

Patrick Rupprecht

Spatial Augmented Reality in der industriellen Großgeräteund Baustellenmontage

21

Entwicklung eines Assistenzsystems mit dynamischer In-situ-Projektion und nutzeradaptiver Gesteninteraktion

Nicole Lettner, Stefan Konlechner, Wolfgang Güttel

Radikale Innovationen und inkrementelle Veränderungen durch strukturelle Ambidextrie

26

Georg Judmaier

Referenzprozesse für die Logistik auf zyklischen Tunnelbaustellen

31

Christian Weichbold

SmartSinter – Materialverfolgung von Schüttgut und deren Eigenschaften

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Walter S.A. Schwaiger/Markus Eigruber

Autarcic Energy @ Home: Geografisch optimale Kapazitätsplanung von Investitionen in erneuerbare Energien mit dem MEP-Framework 40

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Inhaltsverzeichnis EDITORIAL

Techno-Ökonomie an der TU Austria

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TU Austria

Zahlen und Fakten zum Wirtschafstingenierstudium an der TU Austria

6

An der TU Austria angebotene Wirtschaftsingenieurstudien

7

Vorstellung der einzelnen Institute

8

WING-REGIONAL

Alexander Kainer, Michael Kaiser WING-Regionalkreis Wien, Niederösterreich und Burgenland erhält neue Unterstützung

WING-INTERN

Sigrid Weller WING-digital – Bleiben wir interessiert und motiviert

UNINACHRICHTEN

IMPRESSUM

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Johannes Dirnberger 25 Jahre Industrial Management, ganz nach dem Motto „I’m fu-ture!“ Ein Erfolgsbericht des Alumni-Verein IMC, der auch in die Zukunft blickt

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Impressum

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FACTS AND FIGURES

Zahlen und Fakten zum Wirtschaftsingeniuerstudium an der TU Austria 5.245

Studierende Gesamt Wirtschaftsingeniuerswesen (Industrial Engineering and Management)

3.845

Studierende Bachelor

18,5 %

Frauenanteil

1.331

352

379

Absolvent*innen Master 2019/20

Absolvent*innen Bachelor 2019/20

Studierende Master

69

Studierende Doktorat / PhD

412

Anzahl Lehrveranstaltungen 2019/20

11

Absolvent*innen Doktorat / PhD

6

2020/21 WINGbusiness 1/2022


STUDIENÜBERSICHT

Die an der TU Austria angebotenen Wirtschaftsingenieurstudien

Bachelor

WirtschaftsingenieurStudien

Montanuniversität Leoben

TU Graz

Industrial Logistics Industrielogistik

Industrial Logistics Industrielogistik

Industrial Energy Technology Industrielle Energietechnik

Industrial Energy Technology Industrielle Energietechnik

Industrial Management and Business Administration

Mechanical Engineering and Business Economics WirtschaftsingenieurwesenMaschinenbau

Mechanical Engineering and Business Economics WirtschaftsingenieurwesenMaschinenbau

Civil Engineering and Construction Management Bauingenieurwissenschaften und Wirtschaftsingenieurwissenschaf ten

Production Science and Management

Construction Management and Civil Engineering Wirtschaftsingenieurwesen – Bauwesen

Software Engineering and Management

Electrical Engineering and Business Elektronik - Wirtschaft

TU Wien

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Master

Softwareengeneering and Management Softwareentwicklung – Wirtschaft

Business Informatics Wirtschaftsinformatik

Business Informatics Wirtschaftsinformatik

Mechanical Engineering – Management Wirtschaftsingenieurwesen Maschinenbau

Mechanical Engineering – Management Wirtschaftsingenieurwesen – Maschinenbau

Data Science

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INSTITUTE Montan Universität Leoben Lehrstuhl für Wirtschafts- und Betriebswissenschaften wBw Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.mont. Wolfgang Posch wBw – Der Lehrstuhl für Wirtschafts- und Betriebswissenschaften fokussiert sich auf Lösungen techno-ökonomischer Herausforderungen für Industrien im Bereich der Rohstoffgewinnung und -verarbeitung sowie für die energie- und anlagenintensive Industrie. Kernkompetenzen des wBw sind Energie- und Nachhaltigkeitsmanagement, Anlagen- und Produktionsmanagement sowie Digitalisierung mit besonderer Berücksichtigung der Datenanalytik.

Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.mont. Wolfgang Posch

Lehre: Der zentrale Aspekt der Lehre am wBw besteht in der für das techno-ökonomische Verständnis relevanten wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung der Studenten an der Montanuniversität Leoben, die sich vom erforderlichen Grundlagenwissen bis hin zu fortgeschrittenen Management-Instrumenten erstreckt. Neben der schwerpunktmäßigen Abdeckung der Bereiche Energie-, Nachhaltigkeits-, Anlagen- und Produktionsmanagement wird auch die Anwendung wesentlicher Managementinstrumente für energiewirtschaftliche Fragestellungen sowie für Qualitäts-, Risiko-, Innovations- und Wissensmanagement als auch für die Datenanalytik vermittelt. Forschung: Im Rahmen zahlreicher Forschungsprojekte und Weiterbildungsaktivitäten mit Fokus auf die Kernkompetenzen Energie- und Nachhaltigkeitsmanagement, Anlagen- und Produktionsmanagement sowie Digitalisierung trägt das wBw zur nachhaltigen Steigerung der Wertschöpfung von Industrieunternehmen bei. Die Resultate dieser Tätigkeiten werden in Form von Dissertationen, wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Forschungsberichten und Konferenzbeiträgen dargestellt und zugänglich gemacht.

Montan Universität Leoben Lehrstuhl Industrielogistik Montanuniversität Leoben Univ.-Prof. Dr.mont. Helmut Zsifkovits Der Lehrstuhl Industrielogistik verbindet technische und wirtschaftliche Betrachtungsweisen der Logistik, fokussiert auf die Schwerpunkte Logistiksystemdesign, Materialflussmanagement und Prozessoptimierung in Produktionssystemen. Lehre:

Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.mont. Helmut Zsifkovits

Die Lehre integriert eine fundierte Ausbildung in den Ingenieurswissenschaften und im Logistikmanagement mit einem hohen Maß an industrieller Praxis. Sie bietet eine Grundlage, die es den Absolventen ermöglicht, ein breites Spektrum an Berufsbildern im Ingenieur- und Managementbereich abzudecken. Innerhalb des Masterstudiums werden vier Spezialisierungen angeboten: Logistics Management, Logistics System Engineering, Computational Optimization und Automation. Forschung: Die Forschung des Lehrstuhls konzentriert sich auf Design und Engineering von Logistiksystemen für produzierende Unternehmen und industrielle Lieferketten. Aktuelle Forschungsfelder umfassen den Einsatz innovativer Technologien in Logistik und Produktion, um Rückverfolgbarkeit und Effizienz im Materialfluss sowie Flexibilität und Leistung zu verbessern. Nachhaltigkeit und Resilienz von Logistikketten sind dabei stets im Fokus. In Kooperation mit internationalen Forschungspartnern und durch seine Aktivitäten in Forschungs- und Industrieprojekten hat der Lehrstuhl Industrielogistik ein ausgeprägtes Profil in Wissenschaft und Wirtschaft entwickelt.

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INSTITUTE Technische Universität Wien Institut für Managementwissenschaften Forschungsbereich Leadership & Strategy Univ.-Prof. MMag. Dr. Wolfgang H. Güttel Leadership & Strategy: Unsere Vision Der technologische Wandel hilft die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft voranzutreiben. Dies stellt Organisationen vor die Herausforderung, sich kontinuierlich an Univ.-Prof. verändernde externe Umfeldbedingungen anzupassen, um MMag. Dr. kurzfristig profitabel zu sein und langfristig zu überleben. Unsere Vision ist es, Organisationen und den darin tätigen Wolfgang H. Güttel Führungskräften aktuelle, evidenzbasierte und wirkungsvolle Expertise anzubieten, um jene Fähigkeiten und Kompetenzen weiterzuentwickeln, die es ihnen ermöglichen, die Chancen des Wandels zu erkennen und organisationale Veränderungsprozesse erfolgreich zu gestalten. „Leading.Strategic Change“ leitet unsere Aktivitäten zu Forschung, Lehre und Transfer in den folgenden Kernthemen: Strategic Change & Leading Change. Lehre: Im Lehrprogramm bieten wir eine umfassende Einführung in die Managementlehre sowie zu Verhalten in Organisationen (Organizational Behavior). Mit dem integrativen Konzept des Performance Core zeigen wir, wie Individuum, Gruppe/Team und Organisation interagieren und eine unterschiedliche Form von Leistungsverhalten erzeugen. Darauf aufbauend bieten wir Kurse zu den Themen unserer Spezialisierung „Leadership, Strategy & Change Management. In Research und PhD Seminaren binden wir unsere Studentinnen und Studenten in aktuelle Forschungsvorhaben ein, um einen breiten Wissenstransfer zu gewährleisten. Forschung: In unserer Forschung wenden wir qualitative Fallstudienforschung und experimentelle Designs an, die darauf abzielen, Theorien zu Führung und strategischem Wandel in und von Organisationen (weiter) zu entwickeln. Wir widmen uns besonders den Fragen des Strategic Change, d.h. wie Unternehmen gleichzeitig ihr Kerngeschäft möglichst effizient betreiben und neue (technologische) Kompetenzen strategiegeleitet aufbauen können. Zudem untersuchen wir die Rolle von Führungskräften bei der Entwicklung neuartiger Technologien sowie bei deren Implementierung in Organisationen (Leading Change).

Technische Universität Wien Institut für Managementwissenschaften Bereich Arbeitswissenschaft und Organisation Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Sabine Theresia Köszegi Institut: Wir sind eine Gruppe von interdisziplinären Forscher*innen, die sich der Aufgabe verschrieben haben, Technologien zu entwickeln, die ein gesundes Leben, Arbeiten und Älterwerden ermöglichen. Durch die Anwendung eines menschenzentrierten Forschungsdesigns stellen wir das individuelle und gesellschaftliche Wohlbefinden in den Mittelpunkt unserer Lehre und Forschung, wobei Vielfalt und Menschenwürde Leitprinzipien für unsere Arbeit sind!

Univ.-Prof.in Mag. a Dr.in Sabine Theresia Köszegi

Lehre: Bildung ist der Schlüssel zur Entwicklung von Talenten in Industrie und Gesellschaft. Unsere (künftigen) Arbeitskräfte benötigen nicht nur starke technische Fähigkeiten, sondern auch Fähigkeiten, die die technischen Systeme ergänzen, wie Problemlösung, kritisches und analytisches Denken, Management sowie soziale und persönliche Kompetenzen. Die Vermittlung dieser Fähigkeiten ist zentral in den Lehrveranstaltungen des Fachbereichs Arbeitswissenschaft und Organisation. Forschung: Unsere Forschungsthemen liegen in der Schnittmenge von Technologie, Arbeit und Organisation. Gemäß der Mission der TU Wien: "Technik für Menschen" ist uns in unserer Forschung nicht nur der direkte Nutzen von Technologien für die Gesellschaft wichtig, sondern auch das Wohlergehen der Menschen. Mit unseren Forschungsprojekten in den Bereichen Robotik & KI, neue Arbeitswelten und Innovationssysteme leisten wir einen Beitrag zu einer vielfältigen und integrierten Gesellschaft.

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INSTITUTE

Technische Universität Wien Institut für Managementwissenschaften - Forschungsbereich Mensch-Maschine-Interaktion Univ.-Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Ing. Sebastian Schlund Im Forschungsbereich Mensch-Maschine-Interaktion arbeiten wir in einem interdisziplinären Team an der Entwicklung und Umsetzung industrieller Arbeitssysteme. Dabei verfolUniv.-Prof. Dr.-Ing. gen wir die Zielsetzung einer gleichzeitigen Erhöhung von Produktivität und Flexibilität sowie optimaler ArbeitsbeDipl.-Ing. dingungen für die MitarbeiterInnen. Unsere Arbeit folgt der Sebastian Schlund Vision Arbeits- und Assistenzsysteme zu entwickeln, welche die Anforderungen des Arbeitsprozesses ebenso berücksichtigen wie individuelle Charakteristika und Präferenzen und Umgebungsinformationen. Neben der Optimierung der einzelnen Arbeitsprozesse steht dabei das Ziel der integrierten Kompetenzentwicklung durch intuitiv nutzbare Lernassistenzsysteme im Vordergrund. Lehre: Im Bereich der Bachelorausbildung stehen Ergonomie, Projekt- und Prozessmanagement sowie die Grundlagen des Industrial Engineering im Vordergrund. In den Masterkursen bieten wir vor allem Kurse für die Domäne „Produktion und Entwicklung“ an, die neueste Technologiethemen mit wirtschaftlichen und arbeitswissenschaftlichen Methoden in die Umsetzung bringen. Unsere Lehre basiert auf einem konstruktivistischen Lernansatz, der Vorlesungsteile (in Präsenz, cancw und Online) mit praktischen Übungen und Projekten in der TU Wien-Pilotfabrik kombiniert. Forschung: Unser vordringliches Ziel ist die integrierte Betrachtung von Design, Entwicklung, Anwendung und Evaluierung von Assistenzsystemen für industrielle Wertschöpfungsprozesse. Wir streben nach Konzepten und Lösungen, die bestmöglich technologische, menschliche und betriebliche Anforderungen berücksichtigen. Unsere Forschungsagenda beinhaltet digitale und physische Assistenzsysteme, gemeinsam reziprokes Lernen zwischen Mensch und Maschine, adaptive und individualisierbare Arbeitssysteme sowie die sichere und wirtschaftliche Umsetzung von Mensch-Roboter-Interaktion.

Technische Universität Wien Institut für Managementwissenschaften Univ.-Prof. Mag. Dr. Walter Schwaiger, MBA IMW: Unsere Forschungsgruppe – „Finanzwirtschaft und Controlling“ – deckt die Finanzdomäne im Bereich von „Management of Technology“ ab. Ausgehend von den gesetzlichen Anforderungen der internationalen Rechnungslegung (IFRS) entwickeln wir Performance Management Systeme, budgetäre Planungs- und Steuerungssysteme sowie Decision Support Systeme für Investitions- und Finanzierungsentscheidungen.

Univ.-Prof. Mag. Dr. Walter Schwaiger, MBA

Lehre: In den wirtschaftsbezogenen Lehrveranstaltungen von Bachelor- und Masterstudien unserer Universität unterrichten wir mit dem forschungsgeleiteten Lehransatz die Kerninhalte des Rechnungswesens, Controllings und der Finanzwirtschaft. Forschung: Zur Sicherstellung von Effektivität, Effizienz und finanzwirtschaftlicher Nachhaltigkeit liefern wir Beiträge in den drei Forschungsbereichen: In „Financial Enterprise Management“ werden IFRS-konforme Planungs- und Kontrollsysteme sowie Decision Support Systeme für Investitions- und Finanzierungsentscheidungen entwickelt. In „Enterprise Risk Management“ werden Risikoüberlegungen in bestehende Planungs- und Steuerungssysteme auf der operativen, der finanzwirtschaftlichen und der strategischen Managementebene integriert. In „IT-based Management“ werden Informationssysteme für das Rechnungswesen und das Controlling konzeptualisiert und prototypisch implementiert.

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INSTITUTE

Technische Universität Graz Institut für Unternehmensführung und Organisation Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Stefan Vorbach Das Institut für Unternehmensführung und Organisation verbindet die Themen Führung und Organisation im Spannungsfeld von Technik und Wirtschaft und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung und Förderung von zukünftigen Führungskräften. Wir forschen und lehren zu allen Themen, die optimales Management in einer Organisation ermöglichen: Strategieentwicklung und -umsetzung, Business Model Management, Entrepreneur- und Intrapreneurship sowie Technologiemanagement sehen wir dabei als unsere Kernthemen.

Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Stefan Vorbach

Lehre: Wir verbinden Management-Theorie und -Praxis. Dies ermöglicht es uns, qualitativ hochwertige Lehrveranstaltungen sowie Trainings- und Ausbildungsprogramme mit zeitgemäßen Inhalten anzubieten. Forschung: Unsere Forschungsaktivitäten konzentrieren sich auf drei Bereiche: Geschäftsmodellmanagement, Unternehmertum und Technologiemanagement. Mit unseren Aktivitäten schließen wir die Lücke zwischen unternehmerischer Praxis und Wissenschaft. Wir kooperieren mit zahlreichen Partnern in Forschungsprojekten, Dissertationen und Masterarbeiten. Unsere Erkenntnisse werden international in Publikationen und Konferenzen anerkannt. Darüber hinaus nutzen wir die Ergebnisse in unserem Business Model Lab. Das Lab bietet den perfekten Rahmen für Unternehmen, um Potenziale und Entwicklungsmöglichkeiten zu identifizieren und mit Studierenden in Kontakt zu treten.

Technische Universität Graz Institut für Betriebswirtschaftslehre und Betriebssoziologie Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Ulrich Bauer Das Institut für Betriebswirtschaftslehre und Betriebssoziologie an der TU Graz ist multi- und interdisziplinär im Bereich „Management of Technology“ ausgerichtet. Es beschäftigt sich im Rahmen einer entscheidungsorientierten BWL mit der nachhaltigen Beschreibung und Gestaltung von techno- und sozioökonomischen Systemen auf Unternehmensebene.

Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Ulrich Bauer

Lehre: Dazu vermittelt das Institut in der Lehre betriebswirtschaftliche Grundlagen für sämtliche Wirtschaftsingenieurstudien, aber auch für Studierende anderer technischer Studienrichtungen als Basis für einen lebenslangen Wissensaufbau und nachhaltiges wirtschaftliches Denken und Handeln. Vertiefende Lehrveranstaltungen werden in den Themenbereichen „Rechnungswesen, Controlling und Finanzmanagement“, „Industrielles Marketing, Einkauf und Beschaffung“ sowie „Personalmanagement und Betriebssoziologie“ angeboten, die Studierenden eine fachliche Spezialisierung nach Interessenslage ermöglichen. Forschung: Auf diese drei thematischen Schwerpunkte fokussieren sich auch die Forschungsaktivitäten des Institutes, die von internationalen Forschungsprojekten, über Dissertationen bis hin zu Masterarbeitsprojekten mit Unternehmen reichen. Die erzielten Forschungsergebnisse werden in wissenschaftlichen Publikationen und Veranstaltungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

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INSTITUTE

Technische Universität Graz Institut für Maschinenbau- und Betriebsinformatik Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Siegfried Vössner MBI: Das Institut für Maschinenbau- und Betriebsinformatik hat innerhalb der wirtschaftswissenschaftlichen Institute der TU Graz einen thematischen Schwerpunkt auf Wirtschaftsinformatik und quantitativen Methoden. Dies umfasst die Modellierung, Gestaltung und Optimierung von Prozessen sowie die Gestaltung der zugehörigen Informationssysteme und Dienste mit einem Kernanwendungsbereich in der digitalen Transformation von Industrie und Gesellschaft.

Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Siegfried Vössner

Lehre: Unser Lehrangebot umfasst die Bereiche Wirtschaftsinformatik, Systems Engineering, Operations Research und Management Science und ermöglicht Studierenden das erworbene Wissen in verschiedenen Anwendungsdomänen wie beispielsweise der industriellen Produktion einzusetzen. Forschung: Im Mittelpunkt unseres Ansatzes stehen der Mensch und seine Interaktion mit Umwelt, Technik und Wirtschaft. Für diese soziotechnischen Systeme entwerfen wir mit wissenschaftlichen Werkzeugen und Prozessmodellen menschenzentrierte, informationsbasierte Lösungen. Damit leisten wir einen Beitrag zur technisch-wirtschaftlichen Grundlagenforschung und Methodenentwicklung sowie zu einer positiven Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft.

Technische Universität Graz Institut für Innovation und Industrie Management Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Christian Ramsauer IIM: Unser Team setzt sich leidenschaftlich für Lehre und Forschung ein. Den Studierenden wird anwendungsbezogenes Wissen vermittelt, basierend auf den Ergebnissen und Erfahrungen aus angewandter Forschung. Zu diesem Zweck ist das Institut Teil einer internationalen Forschungsgemeinschaft und arbeitet in enger Kooperation mit der Industrie zusammen. Wir streben nach Exzellenz in den zwei Arbeitsgruppen "Innovation" und "Industrie Management".

Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn. Christian Ramsauer

Lehre: Mit einem Lehrangebot von über 30 Kursen (90 % in Englisch) für Bachelor-, Master- und Doktoratsstudierende bieten wir den Studierenden interaktives und praxisnahes Lernen. Neben Universitätsangehörigen unterrichten ebenso Lehrbeauftragte aus der Industrie. In der "LEAD Factory" erleben Studierende einen ineffizienten Produktionsprozess und wandeln diesen in einen leanen, digitalisierten, energieeffizienten und agilen Prozess um. Im "Schumpeter Labor für Innovation" nutzen Studierende digitale Produktionstechnologien, um aus ihren Ideen Prototypen zu entwickeln. In den angebotenen Seminaren wird mittels Harvard-Business-School-Fallstudien teilnehmerzentriertes Lernen gefördert. Forschung: Unser Forschungsfokus deckt den gesamten Produktentstehungsprozess ab. Wir arbeiten an Themenstellungen in den Forschungsbereichen Maker Movement, Produktdesign, Effizienz in Operations und Agilität. Die Forschung im Bereich Maker Movement konzentriert sich darauf, wie Ideen in marktfähige Produkte umgewandelt werden können. Im Bereich Produktdesign werden unter anderem durch Anwendung des Design Thinking-Ansatz technologisch machbare und wirtschaftliche Lösungen entwickelt. Effizienz in Operations zielt darauf ab, effiziente und umweltschonende Produktionsprozesse zu schaffen und bestehende zu optimieren. Die Agilitätsforschung fokussiert sich auf die Verbesserung des langfristigen Unternehmenserfolges unter volatilen Bedingungen.

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TOP-THEMA

Bildquelle: Adobe Stock Photo

Michael Rachinger

Die Rolle von Geschäftsmodelländerungen im Kontext von Geschäftsökosystemen Eine explorative Untersuchung am Beispiel elektrifizierter Fahrzeuge im deutschsprachigen Raum

Ressourcen und Fähigkeiten einsetzen, um Werte zu schaffen, (3) wie geschaffene Werte an Kunden heEigenschaften und Grenzen von rangetragen werden und (4) daraus Getrieben durch technologische Um- Geschäftsmodellen Einnahmen generiert werden könbrüche am Beginn des Jahrtausends nen (Zott und Amit, 2010). Durch haben Geschäftsmodelle begonnen, Ein Vorteil von Geschäftsmodellen die Berücksichtigung von Akteuren in den Fokus von Forschung und in- im Vergleich zu Ansätzen des stra- außerhalb einer betrachteten Unterdustrieller Praxis zu rücken (Amit tegischen Managements, welche oft nehmung bieten Geschäftsmodelle und Zott, 2001). Seitdem nehmen Ge- eine isolierte Perspektive einnehmen somit ein hohes Erklärungspotenzial schäftsmodelle eine zentrale Rolle für (Massa et al., 2017), ist ihre holistische für unternehmerischen Erfolg bzw. Unternehmen ein, welche mit techno- Betrachtung charakteristischer Ei- Misserfolg. logischen Innovationen nachhaltigen genschaften von Unternehmen (Zott Dies gilt speziell für UnternehErfolg erzielen wollen (Massa und und Amit, 2010).1 Geschäftsmodelle men, welche ihre GeschäftsmodelTucci, 2014). Ein wesentlicher Punkt beschreiben wie (1) Unternehmen mit le in Abstimmung mit Lieferanten, in diesem Zusammenhang ist, dass Partnern kooperieren, (2) wie diese Dienstleistern und Kunden weiterentTechnologien für sich alleine gesehen wickeln, um Erfolgspotenziale neuer oft keinen Nutzen bieten, sondern, 1 Zott und Amit (2010, S. 216) definieren Ge- Technologien zu heben. Die einzelnen schäftsmodelle als: „[A] system of interdepenwie in Abbildung 1 dargestellt, die dent activities that transcends the focal firm Wertbeiträge, welche Unternehmen Einbettung in geeignete Geschäfts- and spans its boundaries. The activity system mit ihren Geschäftsmodellen liefern, modelle erfordern, um finanziellen enables the firm, in concert with its partners, unterstützen dabei in der Regel den Erfolg zu ermöglichen (Chesbrough to create value and also to appropriate a share Erfolg eines gemeinsamen technoof that value”. logischen Gesamtsystems. Nur wenn dieses Gesamtsystem erfolgreich ist, ist es für einzelne beitragende Unternehmen attraktiv, sich daran zu beteiligen (Adner, Abbildung 1: Einordnung des Geschäftsmodells als Bindeglied zwischen technologischen und wirt2006). Speziell im schaftlichen Aspekten (in Anlehnung an Chesbrough und Rosenbloom (2002))

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und Rosenbloom, 2002; Chesbrough, 2010).

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TOP-THEMA Kontext technologischer Innovationen stößt die Betrachtung von Geschäftsmodellen einzelner Unternehmen somit rasch an ihre Grenzen. Dies liegt nicht zuletzt an der zunehmenden Komplexität von technologischen Innovationen (McGrath, 2011) sowie an der Vielzahl der für die Bereitstellung einer innovativen Technologie notwendigen Unternehmen (Adner und Kapoor, 2010). Das skizzierte Problem wurde in der Vergangenheit zwar exemplarisch von Autoren adressiert, welche Geschäftsmodellinnovationen im Kontext ihres jeweiligen Geschäftsumfelds betrachteten (vgl. Berglund und Sandström (2013) und Saebi (2015)), die entsprechende Literatur – speziell mit Blick auf technologische Innovationen – steckt aber noch in den Kinderschuhen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer konzeptionellen und empirischen Verknüpfung des Konzeptes der Geschäftsmodelle einzelner Unternehmungen mit einer übergeordneten Betrachtungsebene, um die Aktivitäten von Akteuren in einem größeren Kontext einordnen zu können.

einer konkreten Wertversprechung charakterisiert (Adner, 2017).2 Dabei benötigen Unternehmen zur Schaffung von Kundennutzen rund um Innovationen sowohl vorgelagerte Unternehmen als auch nachgelagerte Anbieter komplementärer Werte. Publikationen der jüngeren Vergangenheit greifen diesen Gedanken auf und verknüpfen implizit charakteristische Elemente auf der Ebene von Geschäftsmodellen mit der Ebene von Ökosystemen. So stellen beispielsweise Talmar et al. (2018) konzeptionelle Überlegungen an, wie Konstrukte auf Ebene des Ökosystems (ÖkosystemWertversprechen, Kundensegmente, Ökosystem-Akteure) und Konstrukte auf Ebene einzelner Unternehmen (Ressourcen, Aktivitäten, Wertbeitrag des Unternehmens zum Ökosystem, Einnahmengenerierung aus Wertbeiträgen, Risiken und Abhängigkeiten) in Verbindung stehen. Ausführliche empirische Untersuchungen, welche beide Betrachtungsebenen explizit berücksichtigen, fehlen bis dato jedoch weitgehend. Das Fehlen solcher Untersuchungen ist überraschend, da speziell die Einflüsse und Wirkungszusammenhänge zwischen (1) der Ebene des Ökosystems (bei dem die Schaffung des Wertes des Gesamtsystems die Koordinierung involvierter Unternehmen erfordert) und (2) der Betrachtungsebene des beteiligten Unternehmens (welches zusätzlich zu seinem Beitrag zum Ökosystem auch die in sich konsistente Ausrichtung der einzelnen Elemente seines Geschäftsmodelles sicherstellen muss) breiten Raum für Erkenntnisgewinn bieten. Die vorgestellte Arbeit adressiert diese Wissenslücke und leistet einen Beitrag, um die Beziehung zwischen dem Ökosystem von Unterneh-

men und ihren jeweiligen Geschäftsmodellen besser zu verstehen. Untersuchung der Geschäftsmodelle im Ökosystem elektrifizierter Fahrzeuge

Im ersten Schritt war die systematische Aufarbeitung von Einflussfaktoren zwischen Ökosystemen und Geschäftsmodellen in der Literatur von Interesse. Geleitet von den Erkenntnissen der Literatur wurde eine umfassende empirische Untersuchung durchgeführt. Überlegungen bei der Auswahl des empirischen Settings waren dabei (1), dass Änderungen von Geschäftsmodellen in Ökosystemen im Fall von Diskontinuitäten (z.B. geänderten gesetzlichen Rahmenbedingungen) besonders ausgeprägt sind und (2), dass Unternehmen speziell im Falle eines sich um eine technologische Innovation neu konstituierenden Ökosystems unter Zugzwang sind, ihre Geschäftsmodelle auf neue Technologien und Akteure auszurichten. Das Ökosystem rund um elektrifizierte Fahrzeuge stellt ein Paradebeispiel für die genannten Aspekte dar. So geht zum Beispiel die Boston Consulting Group davon aus, Ökosysteme als Betrachtungsrahdass der Verkaufsanteil elektrifizierter men für Geschäftsmodelle Fahrzeuge – getrieben von Regularien und geänderten Kundenbedürfnissen Ein besonders vielversprechender – bis 2030 bei ca. 50 % liegen wird Ansatz in diesem Zusammenhang ist (Mosquet et al., 2020). Auch die das Konzept des auf einer Innovation Unternehmensberatung McKinsey basierenden Ökosystems. Ursprüngerwartet grundlegende Änderungen lich von Moore (1996) vorgestellt, der hinsichtlich der relevanten Akteure Analogien zwischen biologischen und und ihrer Geschäftsmodelle rund um geschäftlichen Ökosystemen identifielektrifizierte Fahrzeuge (Knupfer et zierte, wurde das Konzept maßgebal., 2017). lich von Adner (2006) geprägt. Wie Schwerpunkte der empirischen in Abbildung 2 dargestellt, wird das Untersuchungen waren (1) die GrünÖkosystem nach Adner durch eine de von Unternehmen am besagtem struktur-orientierte Betrachtung der 2 Adner (2017, S. 40) definiert Ökosysteme als Ökosystem zu partizipieren, (2) die Umwelt von Unternehmen sowie den „the alignment structure of the multilateral set Interaktionen von Akteuren mit Beitrag mehrerer Unternehmen zu of partners that need to interact in order for a Partnerunternehmen im Ökosystem focal value proposition to materialize.“ sowie (3) die gegenseitige Ausrichtung der Geschäftsmodelle von Unternehmen im Ökosystem. Um die skizzierten Fragestellungen zu beleuchten wurden über 40 Interviews mit Experten von im Ökosystem aktiven Unternehmen durchgeführt. Abbildung 2: Grundstruktur eines Innovations-Ökosystems (in Anlehnung an Adner und Kapoor (2010)) Die Untersuchung war

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TOP-THEMA mehrstufig angelegt: In einer Vorstudie wurde der Fokus der Datenerhebung geschärft, während in einer Hauptstudie eine breite Datenbasis geschaffen wurde. Die Datengrundlage umfasst dabei Interviews mit Fahrzeugherstellern, deren Lieferanten und Servicedienstleistern sowie Anbietern kom- Abbildung 3: Implikationen der Ausrichtung von Geschäftsmodellen auf das Ökosystem-Wertversprechen von vorgelagerten und nachgelagerten Unternehmen plementärer Werte, wie Energieanbietern oder Infrastruktur-Unternehmen. (Infrastrukturunternehmen, Ener- geänderten Struktur des Ökosystems Die erhaltenen Daten wurden mit üb- gieanbieter). Zentrale Unternehmen widerspiegelte. Das gewählte Vorgelichen Ansätzen der qualitativen For- wie Fahrzeughersteller versuchten, hen ähnelt dabei einer Keystone-Straschung initial ausgewertet (Miles und ihren Einfluss in ihrem etablierten tegie (Iansiti und Levien, 2004), da Huberman, 1994). Um die Aussage- Ökosystem dazu zu verwenden, die die Attraktivität des Ökosystems erkraft der Studie weiter zu steigern, Ausrichtung der Geschäftsmodelle höht wurde, um den Beitritt weiterer wurden Kernergebnisse im Rahmen beteiligter Unternehmen zu koordi- Akteure ins Ökosystem und die daeiner Veranstaltung des „Automotive nieren und die Schaffung eines at- mit einhergehende Ausrichtung von Cluster Styria“ in einer Fokusgruppe traktiven Wertangebots des gesamten Geschäftsmodellen hinsichtlich des mit Experten aus Praxis sowie Wis- Ökosystems zu ermöglichen. Hierbei Ökosystem-Wertversprechens voransenschaft diskutiert und die zusätz- zeigten sich jedoch charakteristische zutreiben und folglich eine kritische lichen Erkenntnisse in der Auswer- Unterschiede zwischen vorgelagerten Masse an beitragenden Unternehmen tung berücksichtigt. und nachgelagerten Unternehmen. zu erreichen. Im Fall von vorgelagerten Akteuren Ergebnisse waren Fahrzeughersteller in einer Implikationen vorteilhaften Position und konnten Die Ergebnisse zeigen, dass regula- – ähnlich wie in der von Iansiti und Bei der Ausrichtung der Geschäftstorische Faktoren erwartungsgemäß Levien (2004) beschriebenen „Do- modelle von Unternehmen in Ökoeinen hohen Einfluss auf den Eintritt minator-Strategie“ – ihren Einfluss systemen wurde der Faktor der übervon Unternehmen in das untersuchte geltend machen und die Geschäfts- greifenden Koordination involvierter Ökosystem rund um elektrifizierte modelle besagter Akteure beeinflus- Akteure und ihrer Geschäftsmodelle Fahrzeuge hatten. Kernfaktor war sen. Vorgelagerte Unternehmen wie als essenziell identifiziert. So gehen dabei der Einfluss auf Fahrzeugher- Lieferanten und Servicedienstleister Unternehmen, welche ihr Geschäftssteller, welcher laut den befragten berichteten dabei eher adaptive oder modell auf ein Ökosystem-WertverExperten in deren beschleunigtem evolutionäre (vgl. Saebi (2015)) Ände- sprechen ausrichten, ohne die GeEintritt in das Ökosystem resul- rungen ihrer Geschäftsmodelle. An- schäftsmodelle anderer Akteure zu tierte. Die Ergebnisse zeigen weiters ders stellte sich die Situation für nach- berücksichtigen, erhebliche Risiken die gegenseitigen Einflüsse zwischen gelagerte Anbieter komplementärer ein. Wie in Abbildung 3 illustriert, verschiedenen Arten von Unterneh- Wertangebote dar. Diese Unterneh- ist eine partielle Ausrichtung der Gemen. So waren Fahrzeughersteller men führten – nicht zuletzt aufgrund schäftsmodelle von Teilgruppen im als einflussreiche Unternehmen in ei- des Neuheitsgrades des von ihnen Ökosystem unzureichend. ner zentralen Ökosystem-Position in erwarteten Beitrags zum Ökosystem Vielmehr benötigen Unternehmen, der Lage, als Ökosystem-Leader zu – entweder fokussierte oder kom- die sich in einem sich neu formenden agieren (vgl. Moore (1996)), und den plexe Arten von Geschäftsmodell- Ökosystem einbringen wollen, eine Eintritt von weiteren Akteuren zu for- innovation (vgl. Saebi (2015)) durch. koordinierte Ausrichtung sowohl cieren. Kernaspekt des sich rund um Informanten in Fahrzeugherstellern vorgelagerter als auch nachgelagerelektrifizierte Fahrzeuge konstituie- berichteten zudem von einem – rela- ter Geschäftsmodelle. Praktiker könrenden Ökosystems war das Lösen tiv zu ihrem Einfluss auf vorgelagerte nen die gewonnenen Erkenntnisse eines Henne-Ei-Problems (vgl. Dattee Akteure – geringen Einflusspotenzial verwenden, um vor Eintritt in ein et al. (2018)) zwischen zentralen und in ihrer Rolle als Ökosystem-Leader Ökosystem dessen Struktur sowie vorgelagerten Akteuren (Fahrzeug- auf nachgelagerte Unternehmen. Die die Ausrichtung der involvierten Gehersteller, Zulieferer, Servicedienst- Fahrzeughersteller deckten in Folge schäftsmodelle zu analysieren. Die leister) und nachgelagerten Anbietern einen Teil der komplementären Wert- Ergebnisse zeigen relevante Faktoren komplementärer Ökosystem-Werte angebote selbst ab, was sich in einer beim Eintritt in Ökosysteme und

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TOP-THEMA bieten Unterstützung bei der Wahl von archetypischen Strategien zur Ausrichtung von Geschäftsmodellen im Kontext von Ökosystemen. Zudem erlauben es die erhaltenen Ergebnisse, Gestaltungsoptionen zur Sicherung der internen und externen Konsistenz von Geschäftsmodellen einzuordnen. Damit liefert die Arbeit Ansatzpunkte für die Schaffung eines unternehmensübergreifenden Wertversprechens von Ökosystemen und den nachhaltigen Erfolg von Unternehmen in komplexen, technologiedominierten Geschäftsumfeldern. Referenzen: Adner, R. (2006). Match your innovation strategy to your innovation ecosystem. Harvard Business Review 84(4), 98–107. Adner, R. (2017). Ecosystem as structure: An actionable construct for strategy. Journal of Management 43(1), 39–58. Adner, R. und R. Kapoor (2010). Value creation in innovation ecosystems: How the structure of technological interdependence affects firm performance in new technology generations. Strategic Management Journal 31, 306–333. Amit, R. und C. Zott (2001). Value creation in e-business. Strategic Management Journal 22, 493–520. Berglund, H. und C. Sandström (2013). Business model innovation from an open systems perspective: Structural challenges and managerial solutions. International Journal of Product Development 18(3/4), 98–107. Chesbrough, H. (2010). Business model innovation: Opportunities and barriers. Long Range Planning 43, 354–363. Chesbrough, H. und R. S. Rosenbloom (2002). The role of the business model in capturing value from innovation: Evidence from Xerox Corporation’s technology spin-off companies. Industrial and Corporate Change 11(3), 529–555.

Dattee, B., O. Alexy, und E. Autio (2018). Maneuvering in poor visibility: How firms play the ecosystem game when uncertainty is high. Academy of Management Journal 61(2), 466–498. Iansiti, M. und R. Levien (2004). The Keystone Advantage. Harvard Business School Publication Corporation. Knupfer, S. S., R. Hensley, P. Hertzke, P. Schaufuss, N. Laverty, und N. Kramer (2017, January). Electrifying insights: How automakers can drive electrified vehicle sales and profitability. Report, McKinsey & Company Advanced Industries. Massa, L. und C. L. Tucci (2014). Business model innovation. In M. Dodgson, D. M. Gann, and N. Phillips (Eds.), The Oxford Handbook of Innovation Management (1 ed.)., Chapter 21, pp. 420– 441. Oxford: Oxford University Press. Massa, L., C. L. Tucci, und A. Afuah (2017). A critical assessment of business model research. Academy of Management Annals 11(1), 73–104. McGrath, R. G. (2011). The world is more complex than it used to be. Harvard Business Review Reprint H007MI, 2–4. Miles, M. B. und A. M. Huberman (1994). Qualitative Data Analysis (2 ed.). Teller Road, California: SAGE Publications Inc. Moore, J. F. (1996). The Death of Competition: Leadership and Strategy in the Age of Business Ecosystems. New York: HarperBusiness. Mosquet, X., A. Arora, X. Alex, und M. Renner (2020). Who will drive electric cars to the tipping point? Report, The Boston Consulting Group.

DDipl.-Ing. Dr. Michael Rachinger Senior Associate Business Development PALFINGER AG Saebi, T. (2015). Evolution, adaption or innovation? A contingency framework on business model dynamics, environmental change and dynamic capabilities. In N. J. Foss and T. Saebi (Eds.), Business Model Innovation: the Organizational Dimension (1 ed.)., Chapter 8, pp. 145–168. Oxford: Oxford University Press. Talmar, M., B. Walrave, K. S. Podoynitsyna, J. Holmström, und A. G. L. Romme (2018). Mapping, analyzing and designing innovation ecosystems: The Ecosystem Pie Model. Long Range Planning 53(4), 1–9. Zott, C. und R. Amit (2010). Business model design: An activity system perspective. Long Range Planning 43, 216–226.

Autor: DDipl.-Ing. Dr. Michael Rachinger ist Senior Associate im Bereich Business Development der PALFINGER AG und unterrichtet die Themen Strategie, Organisation und Technologiemanagement an mehreren österreichischen Hochschulen. Er absolvierte seine Dissertation sowie zwei Masterstudien an der Fakultät für Maschinenbau und Wirtschaftswissenschaften der TU Graz. Zuvor sammelte er bei Magna Steyr und der AVL List GmbH Erfahrung in der Automobilindustrie.

Bitte unbedingt vormerken: Der nächste WING-Kongress zum Thema „75 Jahre Wirtschaftsingenieur*innen in Österreich – Zukunft gestalten!“ findet vom 02. bis 04. Juni 2022 in Graz statt! Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme! 16

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Bildquelle: IIM, TU Graz

Hugo Karre

How to cope with uncertainty in operations Learning factory based teaching approach in the context of agile operations and manufacturing industry1 Die Auswirkungen von Unsicherheiten auf Industrieunternehmen nehmen zu Zwischen den Jahren 19601 und 2000 hat sich die Volatilität der Umsätze in US-Firmen verdoppelt. Dieser Trend hält bis heute an und spätestens seit der Finanzkrise 2008 ist Volatilität die neue Normalität im Geschäftsleben. Zu der Markt- und Kundenvolatilität kommen auch immer häufiger Disruptionen. Ein bekanntes Beispiel einer solchen Disruption aus der jüngsten Vergangenheit ist die COVID-19 Pandemie die mittlerweile beinahe jeden Aspekt des privaten- und beruflichen Lebens beeinflusst. Beispielsweise wurde der, nach wie vor akute Mangel and Computerchips für die Automobilindustrie, zu einem großen Teil durch Entscheidung in den ersten Tagen der Pandemie verursacht. Als Konsequenz mussten Hersteller aus Mangel an Teilen Werke schließen [1]. 1 Dieser Artikel ist basiert auf der gleichnamigen Doktorarbeit, eingereicht im Jahr 2021 an der Technischen Universität Graz WINGbusiness 1/2022

Auch die Blockade des Suezkanals durch das Schiff „Evergiven“ im Jahr 2021 zeigt, wie fragil globale Supply Chains sind. Die Sperrung des Suezkanals hatte nicht nur Auswirkungen auf die weltweite Schifffahrt oder die ägyptische Wirtschaft, sondern auch auf Hersteller bis hin zu Einzelhändlern, Supermärkten und Konsumenten. [2] All diese Entwicklungen bieten sowohl eine Chance als auch eine Bedrohung für Unternehmen. Daher ist die Bewältigung von Unsicherheiten ein notwendiges Mittel, um einen Wettbewerbsvorteil zu erzielen. Agile Operations als ein Konzept um mit Unsicherheiten umzugehen. Das Konzept der "Agile Operations" bietet das Potenzial, mit Veränderungen umzugehen, und findet in der Industrie und in der Wissenschaft zunehmend Beachtung [3]. Am Institut für Innovation und Industrie Management (IIM) der Technischen Universität Graz ist das Thema "Agile Operations" seit 2014 ein Forschungsschwerpunkt.

In den Jahren 2014 bis 2017 hat eine Forschungsgruppe gemeinsam mit Industriepartnern am Thema "Agile Operations" gearbeitet. Die Forschungsaktivitäten mündeten in der Veröffentlichung eines Fachbuches "Erfolgsfaktor Agilität" (Ramsauer et al. 2017) welches erstmals die wissenschaftlichen Grundlagen für die Bewältigung von Unsicherheiten anhand von Praxisbeispielen und möglichen Lösungsansetzen zusammenfasst. Die Ergebnisse dieser Forschungsaktivitäten zum Thema Agilität bilden auch den Ausgangspunkt für diesen Artikel und die gleichnamige Doktorarbeit betrachtet. Dabei versteht man unter Agilität: „[…] die Fähigkeit eines Unternehmens, sich proaktiv auf Unsicherheiten vorzubereiten und schnell auf Veränderungen zu reagieren, um die wirtschaftliche Situation zu optimieren, indem das gesamte Produktionsnetzwerk genutzt wird.“ [4] Um die wirtschaftliche Situation proaktiv und schnell optimieren zu können, werden in der Literatur die

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Abbildung 1: Beziehung zwischen der realen Fabrik und der modellierten Lernfabrikumgebung [basierend auf 5]

zwei Themengebiete (1) "Sensing", um Veränderungen frühzeitig zu erkennen und (2) "Responsiveness" als Fähigkeit Ressourcen schnell umzuverteilen, um Wettbewerbsvorteile zu erlangen, hervorgehoben. Zu den damit verbundenen Aktivitäten gehört die funktionsübergreifende Zusammenarbeit über die gesamte Wertschöpfungskette. Agile Operations sieht deshalb ein Unternehmen als Teil eines Gesamtsystems und nicht als isolierten Akteur auf dem Markt. Die aktuelle Literatur konzentriert sich jedoch eher darauf, was ein Agilitätssystem enthalten sollten, als darauf, wie ein solches System zu gestalten ist. Lernfabriken als Befähiger für Agile Operations Die zugrundeliegende Literatur der verfassten Arbeit weist darauf hin, dass geeignete Trainings und Ausbildung die Schlüsselfaktoren für Verbesserungsprojekte im Bereich von z.B. Lean oder Six Sigma sind. In ähnlicher Weise benötigen MitarbeiterInnen Kenntnisse und Fähigkeiten, um ein Agile Operations System zu entwickeln. Die durchgeführte Literaturstudie hat gezeigt, dass es keine Forschungsarbeiten gibt, die sich mit der Entwicklung von Kompetenzen bei der Gestaltung eines Agile Operations Konzeptes befassen. Im Bereich des Produktionsmanagement hat sich in der Praxis gezeigt, dass Erfahrungsbasiertes Lernen vielversprechende Ergebnisse bei der Entwicklung entsprechender Kompetenzen liefert. Erfahrungsbasierte Lernaktivitäten beinhalten in diesem Zusammenhang, dass die TeilnehmerInnen aktiv im Lehr-Lern-

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prozess involviert sind, Erfahrungen sammeln und Konzepte zur Lösung von Problemen auf der Grundlage von gelebten Erfahrungen selbst ableiten. Geeignete Lernumgebungen müssen also die theoretischen Informationen mit praktischem Kontext verknüpfen, um den Lernprozess entsprechend unterstützen zu können. Dementsprechend haben sich in der Praxis sogenannte „Lernfabriken“ etabliert, um verwandte Kompetenzen zu entwickeln. Lernfabriken sind realitätsnahe Abstraktionen von Abschnitten industrieller Wertschöpfungsketten. Eine solche Lernumgebung ermöglicht eine entsprechende Abwechslung von Verstehens-, Erkenntnis-, Anwendungs- und Reflexionsprozessen, um das Lernen in domänenspezifischen Kontexten zu verbessern. Ziel der Arbeit Das Forschungsziel der verfassten Arbeit ist die Entwicklung eines auf

einer Lernfabrik basierenden Trainingskurses, der die Entwicklung von Kompetenzen im Hinblick auf die Gestaltung eines Agile Operations Systems zur Bewältigung von Unsicherheiten in Unternehmen ermöglicht. Es wurden zwei Hauptforschungsfragen formuliert. Die erste Forschungsfrage zielte darauf ab, die Faktoren der Lernumgebung zu charakterisieren. Dabei ist auch die Formulierung von entsprechenden (Teil-)Kompetenzen und die Ableitung von Anforderungen des Themas Agile Operations an die Lernumgebung inbegriffen. Die zweite Hauptfragestellung zielt darauf ab, Elemente eines solchen lernfabrikbasierten Settings zu diskutieren, die die Kompetenzentwicklung in Bezug auf ein Agile Operations System unterstützen. Forschungsvorgehen und Forschungsansatz Die Arbeit basiert auf einer umfangreichen Literaturanalyse der Bereiche „Agile Operations“, „Kompetenzentwicklung“ und „Lernfabriken“ (1). Zur Entwicklung des angestrebten Trainingskonzeptes wurde aus der Literatur das Vorgehensmodell nach Tisch 2018 [5] ausgewählt (2). Im nächsten Schritt wurden auf Basis einer strukturierten Literatursuche (Teil-)Kompetenzen identifiziert sodass die Teilnehmer des Trainings in der Lage sind, ein Agile Operations System zu entwickeln, um mit Unsicherheiten umzugehen (3). Basierend auf den identifizierten (Teil-)Kompetenzen wurden Anforderungen an eine Lernumgebung abgeleitet (4).

Abbildung 2: Vorgehensweise zur Erreichung des Forschungszieles

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Abbildung 3: Action Research Forschungszyklus [basierend auf 6]

Auf der Grundlage der formulierten (Teil-)Kompetenzen und der daraus abgeleiteten Anforderungen an die Lernumgebung wurde schließlich als Herzstück der Arbeit der geplante Trainingskurs iterativ entwickelt (5 & 6). Das Forschungsvorgehen der Doktorarbeit ist in Abbildung 3 dargestellt. Der entwickelte Trainingskurs wurde in einer Lernfabrik getestet und weiterentwickelt. Für diese Weiterentwicklung wurde ein handlungsorientierter Forschungsansatz gewählt. Die empirische Untersuchung besteht aus zwei Forschungszyklen (Entwicklung und Planung von Handlungen, dem Durchführen von Handlungen und der Datenerfassung, sowie der anschließenden Auswertung der durchgeführten Handlungen). „Handlungen" beziehen sich im Kontext dieser Arbeit auf die durchgeführten Trainingskurse. In Summe nahmen 50 TeilnehmerInnen an dem entwickelten Trainingskonzept in der Lernfabrik der Technischen Universität Graz (LEAD Factory) teil.

bilden. Die Durchsicht verwandter Studien hat gezeigt, dass Aspekte zur Einbindung von Kontext (z.B. fiktive Unternehmensfallstudien) in Lernfabrikskursen anwendbar sind. Dennoch zeigen bestehende Studien auch Herausforderungen im Bereich der begrenzten Abbildbarkeit von Lernfabriken in Bezug auf die notwendigen Ressourcen (Agile Operations beinhaltet Maßnahmen über die gesamte Wertschöpfungskette), Zeit (externe/strategische Veränderungen sind zeitabhängig) und Lösungen (das Lernfabrikskonzept basiert auf von den Teilnehmenden selbst entwickelten und auch selbst umgesetzten Lösungen). Um diese Merkmale entsprechend zu berücksichtigen, wurden im Rahmen dieser Forschungsstudie mehrere Unterrichtselemente und technische Systeme entwickelt und erprobt (siehe Tabelle 1).

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Authentische Problemsituation Die Teilnehmer beschäftigen sich mit einem realen und greifbaren Problem in einer erfahrungsorientierten Lernumgebung Wechsel von Denken und Handeln - Kurze, miteinander verknüpfte Theorieeinheiten liefern

Tabelle 1: Merkmale von spezifische Erweiterungen der Lernfabrik zur Abbildung des Konzepts Agile Operations Erweiterungen

Charakteristika

Case Study: fiktionale Geschäftsumgebung

-

Informationen zum Produktionsprogramm Definierte Lieferanten, Produktionsnetzwerk und Vertriebskanäle Detaillierte Informationen über die Logistik (Inbound & Outbound) Detaillierte Kundenanalyse Informationen über das fiktive Lernfabrik-Unternehmen (z.B. Strategie)

Rollenspiel

-

Vordefinierte Rollen: Arbeiter, Produktionsleiter, Einkaufsleiter, Geschäftsführung Detaillierte spezifische Informationen für jede Rolle (z. B. Einkaufsleiter Lagerbestand) Jede Rolle erhält mögliche Aktionen und Ziele, die sie während der Übung erfüllen muss um die Lernsituation als gesamtes zu fördern

Umsetzung in der LEAD Factory Die Hauptvorteile von Lernfabriken als Lernumgebungen für das Konzept Agile Operations sind: (1) die Anwendung von Prinzipien des Erfahrungslernens, (2) die Schaffung authentischer Problemsituationen, (3) die Steigerung der Motivation und des Engagements der Teilnehmer und (4) die Dynamisierung der Trainings durch die Möglichkeit der Beeinflussung von Szenarien. Die Herausforderung bestand nun darin, die gesamte Bandbreite des Themas Agile Operations authentisch abzu-

Der gewählte Lösungsansatz kombiniert die entwickelten Methoden, darunter eine Fallstudie über das fiktive Unternehmensumfeld, ein Rollenspiel und ein Planspiel zu Agile Operations. Der daraus resultierende Zustand der Lernfabrik ("agiler Zustand") kombiniert physische und virtuelle Elemente und kann daher als "hybride Lernfabrik" betrachtet werden, wobei die Schnittstelle zwischen dem physischen Aufbau und den virtuellen Elementen eine sorgfältige Abstimmung erfordert. Ein schematischer Ablauf ist in Abbildung 4 dargestellt. Durch die teilweise Virtualisierung der Inhalte konnte das breite Aufgabengebiet eines Agile Operations Systems für die Teilnehmer erlebbar gemacht werden. Darunter auch die Auswirkung von längerfristigen strategischen Entscheidungen (z.B. Miteinbeziehung von Auftragsfertigern) als auch Auswirkungen von Disruptionen entlang der Wertschöpfungskette auf das entwickelte Produktionssystem. Die drei Hauptmerkmale des entwickelten Trainingskonzepts sind:

Monitoring System

-

Business Game

-

-

Zur Überwachung des fiktiven Geschäftsumfelds basiert das entwickelte Überwachungssystem auf RSS-Feeds Die Teilnehmer identifizieren und priorisieren Unsicherheiten, definieren Triggerpunkte und richten das Überwachungssystem unter Verwendung bestimmter Schlüsselwörter und Schlüsselwortkombinationen ein Basierend auf einem Planspielansatz werden die Auswirkungen von Unsicherheiten auf die Lernfabrik und die Wirkung von Gegenmaßnahmen (agile Betriebshebel) dargestellt Zur Modellierung des fiktiven Unternehmens (Verknüpfung von operativer Performance mit finanziellen KPIs) wird ein KPI-Baum als Grundlage verwendet Die Teilnehmer analysieren das Geschäftsumfeld, das fiktive Unternehmen der Lernfabrik, definieren einen geeigneten Agilitätsbedarfslevel und entscheiden über die Implementierung von agilen Betriebshebeln zur Bewältigung von Unsicherheiten Der Erfolg der TeilnehmerInnen und der von ihnen gewählten Kombination von agilen Hebeln wird als "Übereinstimmung mit der Nachfragekurve" und der erzielten Rendite auf das investierte Kapital für Agilität dargestellt

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Abbildung 4: Konzept zur Verbindung von physischen und virtuellen Handlungen, Simulation und entsprechenden Ergebnissen

Input für die von den Teilnehmern durchgeführten praktischen Tätigkeiten Gelegenheiten zur Reflexion - Die Teilnehmer strukturieren und analysieren die gemachten Erfahrungen, um auf der Grundlage ihrer Erkenntnisse neue Problemlösungen zu entwickeln Insgesamt nahmen 50 Teilnehmer an vier Trainings teil. Zur Bewertung der Entwicklung einer bestimmten Kompetenz müssen deren Teilkompetenzen, die entsprechenden Wissenselemente und die ausgeführten Handlungen bewertet werden müssen (siehe z.B. Glass und Metternich 2020, S. 39). Die im Rahmen dieser Studie er-

hobenen Daten bestanden daher aus einer Kombination von Wissenstests und der Beobachtung durchgeführter Handlungen. Die Ergebnisse der Evaluierung zeigen, dass der entwickelte Trainingskurs die Kompetenzentwicklung der TeilnehmerInnen in Bezug auf die Entwicklung eines Agile Operations Systems fördert und damit Teilnehmenden die Möglichkeit bietet, Unternehmen auf Unsicherheiten vorzubereiten. Quellen: [1] Want to Buy a Car? You Might Have to Get on a Plane to Claim It. Available online at https://www.

nytimes.com/2021/12/22/business/ economy/car-chip-shortage-pandemic.html] [2] The cost of the Suez Canal blockage. Available online at https://www. bbc.com/news/business-56559073 [3] Prange, C.; Heracleous, L. T. (Eds.) (2018): Agility.X. How organizations thrive in unpredictable times. Cambridge: Cambridge University Press. [4] Ramsauer et al. [5] Tisch, M. (2018): Modellbasierte Methodik zur kompetenzorientierten Gestaltung von Lernfabriken für die schlanke Produktion. Dissertation. [1. Auflage] (Schriftenreihe des PTW). [6] Coghlan, D.; Brannick, T. (2014): Doing action research in your own organization. 4th edition. Los Angeles, London, New Delhi, Singapore, Washington DC: Sage. Autor: Dipl.-Ing. Dr. Hugo Karre studierte Wirtschaftsingenieurwesen-Maschinenbau mit den Schwerpunkt Produktionstechnik und promovierte im Jahr 2021 an der TU Graz. In seiner Forschungsarbeit beschäftigt sich Hugo Karre mit Agilität in der Produktion und Capability Building. Seit 2018 leitet Hugo Karre am Institut für Innovation und Industrie Management die Abteilung Industrie Management.

Dipl.-Ing. Dr. Hugo Karre Institut für Innovation und Industrie Management

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Bildquelle: TU Wien - Institut für Managementwissenschaften

Patrick Rupprecht

Spatial Augmented Reality in der industriellen Großgeräte- und Baustellenmontage Entwicklung eines Assistenzsystems mit dynamischer In-situ-Projektion und nutzeradaptiver Gesteninteraktion

D

ie industrielle Großgeräte- und Baustellenmontage ist aufgrund der großen Montageobjekte, der geringen Losgrößen und der verschiedenen Bereitstellungsflächen geprägt durch einen geringen Automatisierungsgrad, einen hohen manuellen Arbeitsanteil und den Bedarf an qualifizierten Mitarbeiter*innen. Die Montage von großen Objekten (z. B. Zügen, Getrieben, Flugzeugkomponenten, Großmaschinen etc.) wird üblicherweise in der Montageorganisationsform der Baustellenmontage durchgeführt, wobei das Montageobjekt während des kompletten Montageprozesses stationär bleibt und alle Komponenten, Materialien, Werkzeuge, Informationen und Mitarbeiter*innen sich zum Bauteil begeben (Lotter & Wiendahl, 2012). Die Anzahl der industriellen Baustellenmontagearbeitsplätze beträgt konservativ geschätzt ca. 50 000 der rund 270 000 Industriearbeitsplätze im Bereich der Großproduktefertigung in Österreich (Statistik Austria, 2019). Abbildung 1 zeigt beispielhaft Montagearbeitsplätze für die Herstellung

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einer Lokomotive sowie einen CFK-Layup-Prozess einer Flugzeugkomponentenmontage. Der große Arbeitsraum dieser Montageform erfordert, über die Kenntnis der einzelnen Montagetätigkeiten hinausgehend, ebenso das Wissen über die Bereitstellungsorte der Montageobjekte sowie die Information über deren definierte Montagepositionen. Aktuell werden die Informationen über Papieranweisungen oder zentrale PC-Terminals bereitgestellt, woraus sich folgende Herausforderungen für die aktuelle Informationsbereitstellung bzw. Interaktion in Abbildung 1 (Quelle: Aviation Media & IT GmbH der Großgerätemontage er- [aero.de], 2021; Siemens AG, 2021) geben: hoher Aufwand zur Aktualisie lange Wege zur Informationserrung von Papierdokumenten haltung und Informationsklä fehlende (digitale) Informatirung, bedingt durch zentrale Teronsbereitstellung und Interminals und zentrale Datenablage aktionsmöglichkeit direkt am

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TOP-THEMA Devices am Körper (Funk, 2016; Mengoni et al., 2018) und verwendet stattdessen Projektionssysteme für die Informationsbereitstellung (Funk, 2016). Das Konzept des Spatial Augmented Reality Assistenzsystems für den Einsatz in der Baustellenmontage wird schematisch in Abbildung 2 dargestellt. Das entwickelte SAR-System besteht im Detail aus folgenden Komponenten:

Abbildung 2 (Quelle: Rupprecht, 2022)

Montageobjekt bzw. am Ort der Montagetätigkeit fehlende Informationen von Montageobjekten und Montagepositionen direkt im Arbeitsraum bzw. am Ort des Geschehens fehlende Führung durch den Montageprozess Demnach besteht der Bedarf an einem geeigneten Assistenzsystem zur Informationsbereitstellung, das klar strukturierte Arbeitsanweisungen über einen großen Arbeitsbereich anzeigt, den Menschen gezielt durch den Montageprozess führt und durch eine intuitive Interaktionsmöglichkeit gesteuert werden kann. Da in der Großgerätemontage aktuell noch kaum Assistenzsysteme zur dynamischen Informationsbereitstellung (z. B. mit Projektoren) eingesetzt werden und bestehende Konzepte sich auf Montagestationen mit kleinem Arbeitsbereich beziehen, stellt die Entwicklung eines Spatial Augmented Reality Assistenzsystems mit dynamischer Projektion und nutzeradaptiver Steuerung speziell für die Anforderungen der Großgeräteund Baustellenmontage den Kern der Entwicklung dar. Dabei wurde ein dynamisches Projektionssystem für die Anforderungen der Montage adaptiert und eine nutzeradaptive Gesteninteraktion mittels Kamerasystemen und Bilderkennung implementiert. Des Weiteren wurde durch die Gestaltung der Informati-

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onsbereitstellung und Mensch-Maschine-Interaktion ein Mehrwert für Mensch und Unternehmen geschaffen, welcher in praxisrelevanten Experimenten evaluiert wurde. Das Ziel der Forschung war, durch Gestaltung eines Spatial Augmented Reality Assistenzsystems mit dynamischer In-situ-Projektion und nutzeradaptiver Gesteninteraktion einen wissenschaftlichen und praxisrelevanten Beitrag zur Verbesserung der Informationsbereitstellung und Interaktionsgestaltung im Kontext der industriellen Großgeräte- und Baustellenmontage zu schaffen. Zur Umsetzung des Forschungsvorhaben wurde nach der Design-Science-Research-Methode von Hevner et al. (2004) und Hevner (2007) vorgegangen, welche eine iterative Vorgehensweise mit mehreren Designzyklen ermöglicht. Des Weiteren wurde eine Systematische Literaturrecherche durchgeführt und die Design-Artefakte anhand von Demonstratoren in der TU Wien Pilotfabrik aufgebaut und evaluiert.

1. Dynamisches Projektionssystem a. Full-HD+ Projektor mit motorbetriebenem Linsensystem und digitalen Schnittstellen b. Digital steuerbares Spiegelsystem c. Medien- und Projektorsteuerung (Desktop-PC mit Ubuntu Linux) i. Authoring- und Medienbe arbeitungssoftware inklusive Mapping Engine ii. User-Interface zur Steu erung des Projektor- und Spiegelsystems iii. Adaptive Homographie zur automatisierten Einstel lung der Verzerrung 2. Visuelles Interaktionssystem a. Full-HD-Kamera mit hochauflösendem RGB-Videostream b. Echtzeitobjekterkennung mit Deep-Learning-Algorithmus „YOLO“ zur Gesteninteraktion c. Synthetisch erzeugter Gestendatensatz Dynamisches Projektionssystem Das dynamische Projektionssystem, welches bereits in der Veranstaltungstechnik etabliert ist, wurde für den Einsatz zur dynamischen Informationsbereitstellung in der industriellen Großgerätemontage adaptiert und mit einem visuellen Interaktionssystem verbunden. Abbildung 2 zeigt

Spatial Augmented Reality Spatial Augmented Reality (SAR), ist die „räumlich erweiterte Realität“, verzichtet auf das Tragen von Abbildung 3 (Quelle: Rupprecht, 2022)

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Abbildung 4 (Quelle: Rupprecht, 2022)

das dynamische Projektionssystem und das visuelle Interaktionssystem am Demonstrator in der TU Wien Pilotfabrik. Das dynamische Projektionssystem verwendet einen hochauflösenden Projektor und ein digital steuerbares Spiegelsystem zur Ablenkung des Projektionsstrahles. Die Ablenkung des Bildes durch das Spiegelsystem beruht dabei auf das Patent mit der Patentnummer „DE202013010365U1“ und dem Titel „Vorrichtung zum Projizieren eines Bildes“ (Dynamic Projection Institute, Herstellungs- und Vertriebs GmbH, 2015). Projektoren mit digitalen Schnittstellen und einer motorbetriebenen Linse zur dynamischen Einstellung des Zooms und Fokus sind bereits unter 10 000 Euro erhältlich und mit wartungsarmen Leuchtmittel mit hoher Helligkeit von 6200 ANSI Lumen erhältlich (Dynamic Projection Institut GmbH, 2020). Mit einer Auflösung von FullHD oder 4K und einem Kontrast von 10 000:1 sind sie für den Einsatz bei Tageslicht und somit auch für die Anwendung im industriellen Umfeld zur Anzeige von Informationen direkt am Ort der Montagetätigkeit geeignet. Visuelles Interaktionssystem Ausgehend von den Anforderungen, dass ein Spatial Augmented Reality Assistenzsystem nach der Definition von Azuma (1997) eine Interaktion in Echtzeit benötigt und der Mensch ein zentraler Handlungsakteur in der manuellen Montage ist, bedarf es an Konzepten zur Erkennung des Menschen und zur Auslegung einer natürlichen Mensch-Maschine-Interaktion (Garcia et al., 2019; Gorecky et al., 2014). Für die Umsetzung der Interaktion und Objekterkennung wurde ein visuelles Interaktionssystem implementiert. Dabei wurde eine RGB-Kamera (Intel RealSense D435i)

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eingesetzt, um die Montageszene zu erfassen und ein echtzeitfähiger Objekterkennungsalgorithmus (YOLOv3) (Redmon et al., 2016) implementiert, welcher die Gesten und Posen des Menschen erkennt und anschließend die Steuerung des Projektionssystems ermöglicht. Für die Gesteninteraktion wurde ein eigener Gestendatensatz für die Anforderungen der Großgerätemontage erstellt und mit Hochleistungsrechnern der TU Wien trainiert. Neben dem Aufbau der technischen Komponenten wurden verschiedene Designelemente der intuitiven und projektionsgerechten Informationsgestaltung, der dynamischen In-situProjektion und Informationsführung sowie der nutzeradaptiven Gesteninteraktion mittels Kamerasystemen und Deep Learning entwickelt und am Demonstrator getestet. Evaluierung und Ergebnisse Das Assistenzsystem wurde in drei aufeinander aufbauenden Experimenten in zwei unterschiedlichen Montage Use Cases (Fan-Cowl-Montagestation und Spielzeugbausteinmontage) getestet und evaluiert. Abbildung 4 zeigt die zwei Use Cases in der TU Wien Pilotfabrik.

Dabei wurde im Experiment 1 die Informationsbereitstellung mittels dynamischem Projektionssystem und herkömmlichen PC-Terminals verglichen, im Experiment 2 verschiedene Informationsdesigns getestet, die statische In-View-Projektion und die dynamische In-Situ-Projektion mit Informationsführung zur Montageposition verglichen sowie die erste Version der Gesteninteraktion evaluiert. Im finalen Experiment 3 wurden die Erkenntnisse aus den ersten beiden Experimenten auf einen erweiterten Use Case angewandt und Verbesserungen der dynamischen Projektion (In-Situ-Projektion mit Informationsführung zur Entnahme- und Montagestation) und nutzeradaptiven Interaktion evaluiert. Hierbei wurde die Informationsbereitstellung und Interaktion mittels Spatial Augmented Reality System und der Bereitstellung über ein statisches Tablet verglichen und der Mehrwert für Mensch und Unternehmen evaluiert. Abbildung 5 zeigt den schematischen Aufbau der Varianten des Experiments 3 in der Spielzeugbausteinmontage. Bei der Evaluierung wurden anerkannte Methoden zur Ermittlung der Prozess- bzw. Montagezeit sowie der Bewertung der Usability und kognitiven Arbeitsbelastung verwendet. Zur Evaluierung der Usability wird der „System Usability Scale“ (SUS) (Brooke, 1996), zur Evaluierung der Nutzerakzeptanz neuer Technologien das „Technology Acceptance Model“ (TAM) (Davis et al., 1989) und für die Erfassung der kognitiven Arbeitsbelastung die vereinfachte NASA-RTLX-Methode (Hart, 2006; Hart & Staveland, 1988) eingesetzt. Zur Evaluierung der Prozesseffizienz wurde die „Task Completion Time“ (TCT)

Abbildung 5 (Quelle: Rupprecht, 2022)

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Abbildung 6 (Quelle: Rupprecht, 2022)

nach dem „General Assembly Task Model“ (GATM) nach Funk, Kosch et al. (2015) herangezogen. Des Weiteren wurden durch Kurzinterviews und offene Fragen qualitatives Feedback der Teilnehmer*innen eingeholt. Das finale Experiment 3 wurde von 30 Teilnehmer*innen (63,33 % männlich, 23,33 % weiblich, 13,33 % keine Angabe) mit einem Alter zwischen 19 und 53 Jahren durchgeführt. Bei den Personen handelte es sich hauptsächlich um Studierende und interessierten Laien mit technischem Background. Die Ergebnisse der Evaluierung der kognitiven Arbeitsbelastung sowie der Task Completion Time werden in Abbildung 6 dargestellt. Aus den Ergebnissen der kognitiven Arbeitsbelastung konnte festgestellt werden, dass der Total RTLX Score bei der dynamischen In-situ-Projektion mit 33,2 Punkten im Vergleich zur TabletAnweisung mit 37,3 Punkten besser bewertet wurde. Außerdem konnte die In-situ-Projektion bei den Einzelauswertungen „Mentale Belastung“, „Temporäre Belastung“ sowie „Lei-

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stungsfähigkeit“ und „Effort“ besser abschneiden. Die Analyse der Taskzeiten der GATM-Phasen geben einen Überblick über die Dauer des Montageprozesses sowie über die Verbesserung durch den Einsatz des Assistenzsystems. Aus der Evaluierung der Experimente konnte festgestellt werden, dass die In-situ-Projektion und dynamische Informationsführung auch im Use Case der Spielzeugbausteinmontage Verbesserungen im Bereich der Lokalisierungszeiten sowie der Reduktion der kognitiven Arbeitsbelastung mit sich bringt. Neben der Verbesserung des Zeitanteils t_lokalisieren Montageposition um 39,5 % konnte zusätzlich durch die dynamische Führung zur Entnahmeposition der Zeitanteil t_lokalisieren Bauteil um 50,9 % im Vergleich zur Tablet-Arbeitsanweisung verbessert werden. Des Weiteren konnte die Gestenerkennungszeit im Vergleich zum Experiment 2 um den Faktor 4 verbessert werden und eignet sich demnach mit einer Erkennungszeit von rund 2,6 Sekunden für den Einsatz in der Großgeräte- und Baustellenmontage.

Aus der Evaluierung des finalen Experiments kann ermittelt werden, dass durch den Einsatz der In-situProjektion und dynamischer Führung zur Entnahme- und Montageposition eine erhebliche Verbesserung der Lokalisierungszeit der Bauteilpositionen erreicht wurde und damit der Montageprozess, bei gleichzeitiger Reduktion der kognitiven Arbeitsbelastung, effizienter gestaltet wurde. Des Weiteren eignet sich die Gesteninteraktion zur Steuerung des Projektionssystem und für den Einsatz in der Großgeräte- und Baustellenmontage, dadurch dass die Interaktion direkt am Ort der Montage durchgeführt werden kann. Auch aus den qualitativen Ergebnissen kann ermittelt werden, dass die In-situ-Projektion sowie die dynamische Informationsführung für effektiv und angenehm empfunden wurde und dadurch die Bereitstellungsflächen, die Bauteile sowie Montagepositionen intuitiv gefunden werden konnten. Vor allem zeigte sich im Experiment 3, dass der Einsatz des Spatial Augmented Reality Assistenzsystems eine gute Usability aufweist und auf verschiedenste Anwendungsfälle in der Großgeräte- und Baustellenmontage skalierbar ist. Zusammengefasst wurde in der Forschungsarbeit ein geeignetes Spatial Augmented Reality Assistenzsystem für die Anwendung in der industriellen Großgeräte- und Baustellenmontage entwickelt, welches vor allem eine Verbesserung der Informationsbereitstellung und Interaktion und schließlich einen Mehrwert für Unternehmen und den Menschen bringt. Die Ergebnisse wurden mittels der Demonstratoren in der TU Wien-Pilotfabrik der praxisorientierten Community präsentiert und in facheinschlägigen Papers und Konferenzen vorgestellt. Literatur: Azuma, R. T. (1997). A Survey of Augmented Reality. Presence: Teleoperators and Virtual Environments, 6(4), 355–385. Brooke, J. (1996). SUS: A quick and dirty usability scale. In Jordan, P, W, B. Thomas, McClelland, I, L & B. Weerdmeester (Hrsg.), Usability evaluation in industry. Taylor & Francis. Davis, F. D., Bagozzi, R. P. & Warshaw, P. R. (1989). User Acceptance of Computer

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TOP-THEMA Technology: A Comparison of Two Theoretical Models. Management Science, 35(8), 982–1003. https://doi.org/10.1287/ mnsc.35.8.982 Dynamic Projection Institut GmbH. (2020). Dynamic Projection. https://www. dynamicprojection.com Dynamic Projection Institute, Herstellungs- und Vertriebs GmbH. (2015). Vorrichtung zum Projizieren eines Bilds(DE202013010365U1). https://worldwide.espacenet.com/patent/search/family/052673459/publication/ DE202013010365U1?q=DE20201301036 5U1 Funk, M. (2016). Augmented reality at the workplace : a context-aware assistive system using in-situ projection. Garcia, M. A. R., Rojas, R., Gualtieri, L., Rauch, E. & Matt, D. (2019). A humanin-the-loop cyber-physical system for collaborative assembly in smart manufacturing. Procedia CIRP, 81, 600–605. Gorecky, D., Schmitt, M., Loskyll, M. & Zuhlke, D. (2014). Human-machineinteraction in the industry 4.0 era. In C. E. Pereira (Hrsg.), 2014 12th IEEE International Conference on Industrial Informatics (INDIN 2014): Porto Alegre - RS, Brazil, 27 - 30 July 2014 (S. 289–294). IEEE. Hart, S. G. (2006). Nasa-Task Load Index (NASA-TLX); 20 Years Later. Proceedings of the Human Factors and Ergonomics Society Annual Meeting, 50(9), 904–908. Hart, S. G. & Staveland, L. E. (1988). Development of NASA-TLX (Task Load Index): Results of Empirical and Theoretical Research. In Advances in Psychology. Human Mental Workload (Bd. 52, S. 139–183). Elsevier.

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Hevner, A. R. (2007). A Three Cycle View of Design Science Research. Scandinavian Journal of Information Systems, 19 (2), 87–92. Hevner, A. R., March, S. T., Park, J. & Ram, S. (2004). Design Science in Information Systems Research. MIS Quarterly Vol. 28 No.1, 75–105. Lotter, B. & Wiendahl, H.‑P. (2012). Montage in der industriellen Produktion: Ein Handbuch für die Praxis (2. Aufl.). VDI-Buch. Springer. Mengoni, M., Ceccacci, S., Generosi, A. & Leopardi, A. (2018). Spatial Augmented Reality: an application for human work in smart manufacturing environment. Procedia Manufacturing, 17, 476– 483. Redmon, J., Divvala, S., Girshick, R. & Farhadi, A. (2016). You Only Look Once: Unified, Real-Time Object Detection. In 2016 IEEE Conference on Computer Vision and Pattern Recognition (CVPR) (S. 779–788). IEEE. Rupprecht, P. (2022). Spatial Augmented Reality in der industriellen Großgeräteund Baustellenmontage: Entwicklung eines Assistenzsystems mit dynamischer In-situ-Projektion und nutzeradaptiver Gesteninteraktion [Dissertation]. Technische Universität Wien Statistik Austria. (2019). WKO Statistik: Industriebeschäftigte nach Branchen.

Dr.techn. Patrick Rupprecht, MSc MSc MA Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Managementwissenschaften an der TU Wien http://wko.at/statistik/jahrbuch/sachibesch-branchen.pdf

Autor: Dr.techn. Patrick Rupprecht, MSc MSc MA studierte Wirtschaftsingenieur und High-Tech Manufacturing und ist seit November 2017 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich Mensch-Maschine-Interaktion am Institut für Managementwissenschaften an der TU Wien beschäftigt. Er forschte im Rahmen seiner Dissertation im Bereich der dynamischen Informationsbereitstellung und MenschMaschine-Interaktion und entwickelte dabei ein Spatial Augmented Reality Assistenzsystem mit dynamischer Insitu-Projektion und nutzeradaptiver Gesteninteraktion für den Einsatz in der Großgeräte- und Baustellenmontage. Er blickt auf mehrjährige Berufserfahrung in der Automotive-Industrie zurück, wo er unter anderem in den Bereichen Industrial Engineering und Lean Management tätig war.

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TOP-THEMA

Bildquelle: Adobe Stock Photo

Nicole Lettner, Stefan Konlechner, Wolfgang Güttel

Radikale Innovationen und inkrementelle Veränderungen durch strukturelle Ambidextrie Neue disruptive Technologien konfrontieren Organisationen mit Chancen und Risiken. Um langfristig erfolgreich zu sein, müssen Unternehmen danach streben, die sich bietenden Chancen zu nutzen, ohne allerdings ihr bestehendes Kerngeschäft zu vernachlässigen. Dieses gleichzeitige verfolgen der Lernmodi von Exploration (Erkunden von Neuem) und Exploitation (Nutzen von Bestehendem) wird als Ambidextrie bezeichnet. Um Ambidextrie herzustellen, müssen Entscheidungen hinsichtlich der Differenzierung und Integration beider Lernmodi getroffen werden. Differenzierung zeigt unterschiedliche Strukturvarianten auf, wohingegen Integration die Notwendigkeit die Lernergebnisse auf organisationaler Ebene wieder zu re-integrieren, um Nutzen daraus zu ziehen, beleuchtet. Wir skizzieren in diesem Beitrag zeitlich dezentralisierte Projektstrukturen, Innovationsinkubatoren und eigenständige Geschäftseinheiten als zentrale Differenzierungsoptionen sowie Organisationskultur, strategische Führung und HR Praktiken als Integrationsmechanismen. Das systematische Darstellen der unterschiedlichen Differenzierungs- und Integrationsmöglichkeiten zeigt auf, dass Organisationen unterschiedliche Wege offen stehen, Ambidextrie herzustellen.

Digitale Transformationsprozesse als Treiber organisationalen Wandels Disruptive Technologien wie BigData, Robotics oder künstliche Intelligenz verändern die Art und Weise, wie Unternehmen handeln und agieren müssen (Cennamo, Dagnino, Minin & Lanzolla 2020). Die fortlaufende Entwicklung disruptiver digitaler Technologien zwingt Unternehmen zur digitalen Transformation bzw. Evolution, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Der Niedergang einst führender Unternehmen wie Kodak oder Nokia zeigt, wie zentral laufende organisationale Adaption ist, um Transformationsprozesse erfolgreich gestalten zu können. Die COVID19

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Krise hat den Digitalisierungsdruck in vielen Branchen noch weiter beschleunigt und den Anpassungs- und Entwicklungsdruck auf Unternehmen verschärft. Die digitale Transformation bzw. Evolution stellt jedoch nicht nur eine Bedrohung für etablierte Unternehmen dar (z.B. Benner & Waldfogel 2020), sondern bietet auch eine Vielzahl von Chancen. Das Management der digitalen Evolution ermöglicht es Unternehmen, ihre Zukunft strategisch zu steuern und bestehende Wettbewerbsvorteile zu stärken bzw. neue zu generieren. Einerseits ist dies durch die Optimierung interner Prozesse (im Sinne einer Fortführung der Industrie 4.0) möglich. Inkrementelle

Veränderungen von Prozessen führen zu höherer Stabilität und Effizienz von Unternehmen sowie fördern die Vernetzung zu externen Stakeholdern. Dies belebt nicht zuletzt die Verbreitung neuer, smarter Methoden zur Unterstützung von Produktions- und Absatzprozessen. Beispielsweise wird künstliche Intelligenz im Kundenservice beim Versicherungskonzern Ergo eingesetzt oder für das Prüfen von Anlagen bei der TÜV Austria. Andererseits erlangen Unternehmen im Zuge der digitalen Evolution Wettbewerbsvorteile durch die Entwicklung neuer, digitaler Produkte und Geschäftsmodelle. Radikale Innovationen erhöhen die Flexibilität und Agilität von Unternehmen sowie

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TOP-THEMA fördern die Generierung von neuem Wissen und neuen Kompetenzen, wie man beispielhaft an Unternehmen wie Uber mit ihrem Online-Vermittlungsdienst zur Personenbeförderung oder Spotify als Audio-StreamingDienst beobachten kann. Die Kunst der digitalen Evolution liegt darin, dass Unternehmen lernen, eine funktionale Balance der effizienten Fortführung des Kerngeschäfts sowie der disruptiven Entwicklung neuer digitaler Kompetenzen, Produkten und Geschäftsmodellen herzustellen. Das theoretische Konzept der organisationalen Ambidextrie hilft zu erklären, wie Unternehmen diese Balance bewerkstelligen, um kurzfristigen Erfolg im Markt und langfristiges Überleben erreichen. Organisationale Ambidextrie Ambidextrie bedeutet, vereinfacht gesprochen, „Beidhändigkeit“. Die beiden „Hände“, die es gleichermaßen geschickt einzusetzen gilt, sind „Exploration und „Exploitation“ (March 1991). Exploration bezieht sich auf das Generieren neuen Wissens, Experimentieren, den Aufbau neuer Kompetenzen, Flexibilität, Agilität sowie Innovation. Exploitation bezieht sich auf das Nutzen bestehenden Wissens, das Verfeinern bestehender Kompetenzen, die Sicherstellung von Stabilität, Berechenbarkeit sowie Effizienz. Organisationale Ambidextrie kann demnach als Fähigkeit von Organisationen verstanden werden, die täglichen geschäftlichen Anforderungen effizient zu bewältigen und sich gleichzeitig an Veränderungen im Umfeld anzupassen und Innovationen zu generieren (Raisch & Birkinshaw 2008). Der Verzicht von Innovation führt zu Rigidität, wohingegen ein Übermaß an Innovation, bei gleichzeitiger Vernachlässigung von Effizienz, zu Instabilität führt. Für Organisationen ist es demnach im höchsten Maße entscheidend, wie sie das Zusammenspiel zwischen Innovation und Effizienz steuern (Levinthal & March 1993). Diese Bedeutung ist auch wiederholt in empirischen Studien belegt worden, die zeigen, dass ambidextre Organisationen nicht-ambidextren in diversen Erfolgsparametern überlegen sind (z.B. Junni, Sarala, Taras

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& Tarba 2013; Raisch & Birkinshaw grades der Innovation (konkret vs. 2008). abstrakt) sowie des Ausmaßes der Die Kopplung von Exploration Kopplung an die Kernorganisation und Exploitation kann auf unter- (eng vs. lose). Im Folgenden werden schiedlichen Ebenen erfolgen. In der zeitlich dezentralisierte ProjektstrukLiteratur werden dazu drei archety- turen, Innovationsinkubatoren und pische Formen diskutiert: struktu- eigenständige Geschäftseinheiten als relle, kontextuelle, sowie temporale zentrale DifferenzierungsmöglichAmbidextrie (Raisch 2008). Tem- keiten der strukturellen Ambidextrie porale Ambidextrie bezeichnet das erläutert. sequenzielle Oszillieren zwischen explorativen und exploitativen Phasen (Boumgarden, Nickerson & Zenger 2012). Kontextuelle Ambidextrie bezieht sich auf das Erschaffen eines Kontexts, der es Organisationsmitgliedern ermöglicht, ihre Zeit frei zwischen explorativen und exploitativen Tätigkeiten aufzuteilen (Güttel & Konlechner 2009). Strukturelle Ambidextrie Abbildung 1 Optionen der strukturellen Differenzieschließlich umfasst das rung von Exploration und Exploitation Aufsetzen eigener organisationaler Einheiten, um Beidhändig- Zeitlich dezentralisierte Projektkeit herzustellen (Smith & Tushman strukturen 2005). Zentraler Stellhebel struktureller Ambidextrie ist somit das Or- Unternehmen organisieren Neueganisationsdesign. Im Rahmen des rungsvorhaben innerhalb und auErschaffens ambidextrer Strukturen ßerhalb der F&E-Abteilung oftmals müssen Organisationen demnach (1) in Projektform, um sie von der bezentrale Entscheidungen hinsichtlich stehenden auf Effizienz getrimmten der Differenzierung von Exploration Organisation abzugrenzen. Eine und Exploitation treffen (wie sehen Projektstruktur ermöglicht die Eindie unterschiedlichen Strukturen für bindung von MitarbeiterInnen aus beide Lernmodi aus), sowie (2) festle- unterschiedlichen Fachabteilungen gen, wie die Ergebnisse beider Lern- sowie aus einem breiteren Netzwerk, modi wieder integriert werden (durch um gemeinsam an einer eingegrenzwelche Mechanismen wird Neues in ten Fragestellung zu arbeiten. die Organisation zurückgeholt) (Güttel & Konlechner 2021). Die Kernorganisation arbeitet weiterhin exploitativ, im Projekt können Differenzierung hingehen parallel entweder inkrementell neue, digitale Optimierungen Im Kontext der organisationalen oder radikale, explorative VerändeAmbidextrie adressiert Differenzie- rungen vorangetrieben werden. Die rung die Frage wo und wie Organi- entwickelten Lösungen sollen jedoch sationen explorative und exploitative in der Regel an die KernorganisatiAktivitäten trennen. Dabei können on zurückgebunden werden. RosenExploration und Exploitation auf ver- bauer, Weltmarktführer für Löschschiedenen Ebenen der Organisation fahrzeuge, nutzte beispielsweise eine angesiedelt werden (z.B. Benner & eigens dafür aufgesetzte organisaTushman 2002; Benner & Tushman torische Einheit (RED: Rosenbauer 2003; Gilbert 2005; Gupta, Smith E-Technology Development GmbH), & Shalley 2006; Smith & Tushman um darin ein revolutionäres Fahr2005). Die unterschiedlichen Opti- zeugkonzept mit elektrischer Anonen unterscheiden sich insbesondere triebstechnologie und einem völlig hinsichtlich des Konkretisierungs- neuartigen Chassis zu entwickeln.

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TOP-THEMA Innovationsinkubatoren

Integration

Die Trennung von der Kernorganisation kann auch in auf Dauer angelegten Innovationseinheiten erfolgen. Durch einen eigenen legistischen Rahmen, erlangen solche Inkubatoren große Autonomie, um die volle Entfaltung der neuen digitalen Technologien zu ermöglichen. Besonders radikale, disruptive Innovationsinitiativen benötigen einen geschützten Raum, um sich über längere Zeit vielfältig entfalten zu können.

Um langfristig erfolgreich zu sein, müssen Organisationen Exploration und Exploitation nicht nur trennen, sondern auch wieder integrieren (z.B. Gilbert 2006; Smith & Tushman 2005; Jansen, Templaar, van den Bosch & Volberda 2009). Um trotz unterschiedlicher Entwicklungsgeschwindigkeiten, Risikoneigungen und Fokus (Kerngeschäft vs. Neuerungsgeschäft) die Koordination und Verknüpfung von Exploration und Exploitation zu gewährleisten, braucht es Mechanismen, die die strategische Steuerung der zwei Lernmodi erleichtern, Informationen sowie Wissen aus beiden Einheiten zusammenführen und die Umsetzung von Innovationen aus dem explorativen in den exploitativen Bereich ermöglichen. Integration kann dabei über die Organisationskultur, strategische Führung, oder HR Praktiken erzielt werden.

Wird diese Entfaltung ermöglicht, können daraus neue Produkte und punktuell auch neue Geschäftsmodelle entstehen. KTM, einer der größten Hersteller von Motorrädern weltweit, gründete beispielsweise einen eigenständigen Innovationsinkubator (KTM Inno: KTM Innovation GmbH), der digitale Lösungen für die Kernprodukte und Prozesse von KTM entwickelt, nach neuen Technologien und digitalen Innovationen am Markt scoutet sowie innovative Produkte und Geschäftsmodelle entwirft. Eigenständige Geschäftseinheiten Durch eine eigenständige strategische Geschäftseinheit, beispielsweise in Form eines Ventures, lässt sich eine explorative Organisationseinheit auch als völlig selbständiges Unternehmen im Markt positionieren. Dies bedeutet die fast vollständige Abkapselung der Innovationseinheit von der Kernorganisation. Die eigenständigen Geschäftseinheiten sind dabei sowohl für die Generierung radikaler neuer Innovationen als auch für die anschließende Entwicklung tragfähiger Geschäftsmodelle zuständig. Rasches und unmittelbares Marktfeedback ermöglicht dabei die Entwicklung neuartiger Geschäftsmodelle. Die Walter Group als führendes mitteleuropäisches Logistikunternehmen gründete beispielsweise Veroo aus, um es als neues Unternehmen im Markt zu positionieren. Mit dem Geschäftsmodell des Datenverkaufs durch exaktes Tracking von Gütern, bewegt sich Veroo völlig unabhängig von der Muttergesellschaft im Markt.

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Integration durch unternehmenskulturelle Verankerung Ein gemeinsamer unternehmenskultureller Rahmen, der eine gewisse Selbstverständlichkeit in den Werten und sozialen Normen für die Wichtigkeit von Exploitation und Exploration betont, kann als fundamentale Basis für eine übergreifende Zusammenarbeit dienen. Wenn unternehmenskulturelle Werte mit den daraus resultierenden Spielregeln in der Kernorganisation auf Innovation und kontinuierliche Veränderung ausgerichtet sind, ist die Lücke im Mindset zwischen den MitarbeiterInnen bei der übergreifenden Zusammenarbeit explorativer und exploitativer Bereiche geringer. Dies schafft gegenseitiges Verständnis und Bewusstsein, dass das Kerngeschäft laufend Impulse braucht, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Langfristig können so mittelgroße Veränderungen implementiert werden, denn radikale Entwicklungen werden kulturell durch Exploitation abgeschwächt. Beispielsweise verankert Kapsch, ein mehr als 100 Jahre altes Technologie-Unternehmen, Innovation und das Streben nach Neuem tief in das Denken aller Mitglieder, in organisationalen Prozessen und das Selbstverständnis der

Marke. Dies schafft hohe Anschlussfähigkeit und gegenseitiges Verständnis innerhalb der Organisation. Integration über strategische Führung Die größte Eigenständigkeit erreichen Unternehmensbereiche, wenn sie rein über das Top-Management gesteuert werden. Exploration kann sich so in den Innovationseinheiten völlig entfalten und es können neuartige (digitale) Geschäftsmodelle entwickelt und in den Markt gebracht werden, während sich gleichzeitig die bestehende Organisation evolutionär weiterentwickelt. Damit die revolutionären Digitalbereiche jedoch die volle Aufmerksamkeit des Top-Managements bekommen, ist eine Verankerung der Bereiche im Vorstand sinnvoll. Denn nur dann werden strategische Entscheidungen und Ressourcenallokationen im Idealfall so getroffen, dass die Potenziale des Neuerungsbereichs genutzt und dennoch die Unabhängigkeit weitgehend gewahrt bleibt. Durch die Zusammenführung der beiden Lernmodi in der Unternehmensspitze werden große strategische Weiterentwicklungen der explorativen und exploitativen Bereiche ermöglicht. Beispielsweise wurde kürzlich der Geschäftsführer des Ventures Palfinger21 bei Palfinger Digital Transformation Officer und vertritt nun gesamthaft in Vorstandsnähe die Weiterentwicklung des Konzerns. Integration durch HR-Praktiken Durch gezielte HR-Praktiken schaffen es Unternehmen, neues (digitales) Wissen für die Kernorganisation nutzbar zu machen. Beispielsweise können Employer Branding-Aktivitäten völlig neue Zielgruppen ansprechen und die Recruiting-Praktiken darauf abzielen, MitarbeiterInnen mit neuartigen Fähigkeiten zu gewinnen. Im Onboarding-Prozess versuchen Unternehmen dann oft aus diesen neuen MitarbeiterInnen ein gutes Team zu formen, um einen stabilen Nukleus zu bilden, selbst wenn die Mitglieder dieser Digitalisierungskohorte in verschiedenen Fachabteilung aufgeteilt wird. Gemeinsame Aus- und Weiterbildungsaktivitäten sowie soziale Aktivitäten für den regelmäßigen Erfah-

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TOP-THEMA rungsaustausch tragen weiters dazu bei, dass die Digitalisierungskohorte intern stabil bleibt und sich das neuartige Wissen im Unternehmen nachhaltig verankert. Solche HR-Praktiken ermöglichen kleinräumige und inkrementelle Weiterentwicklungen, indem schrittweise exploratives Wissen in die Kernorganisation getragen wird. Die Raiffeisen Landesbank Wien & Niederösterreich verfügt beispielsweise über ein eigenes Digital Trainee Programm, um Personen mit digitalen bzw. nicht-bankspezifischen Fähigkeiten (z.B: Data Science, Statistik, Soziologie) zu binden, die exploratives Lernen in die Kernorganisation tragen. Ambidextrie als Ergebnis der Verknüpfung von Differenzierung und Integration Das Konzept der Ambidextrie hilft zu verstehen, wie Organisationen auch angesichts turbulenter Umweltumwälzungen, wie beispielsweise technologischer Disruption, überleben oder sogar gedeihen können. Die Gestaltung des Organisationsdesigns spielt für das Herstellen von Ambidextrie eine wichtige Rolle. Dies erfordert Entscheidungen hinsichtlich der Differenzierung der Lernmodi Exploration und Exploitation sowie der Zusammenführung der Lernergebnisse. Wir zeigen in diesem Beitrag unterschiedliche Möglichkeiten von Differenzierung und Integration auf und beleuchten damit jene Stellhebel, die Führungskräften offenstehen, um die Anpassungsfähigkeit der Organisation und Innovationen zu fördern. Die Analyse der Differenzierungsoptionen zeigt, dass strukturelle Ambidextrie über eigene strategische Geschäftseinheiten, Innovationsinkubatoren oder eigene Projektstrukturen aufgesetzt werden kann. Der Blick auf die Integrationsmechanismen beleuchtet Organisationskultur, strategische Führung sowie HRPraktiken als Stellhebel die Lernergebnisse zusammenzuführen. Gerade diese Re-Integration stellt eine wichtige und bislang in der Forschung vernachlässigte Thematik dar. Während es sich große Organisationen leisten können, über das Aufsetzen eigener Geschäftseinheiten den Integrations-

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aufwand zu reduzieren, stehen gerade mittelständische Unternehmen oft vor der Herausforderung, die Ergebnisse ihrer Explorationstätigkeit, z.B. in Projekten oder Innovationsinkubatoren, in der Organisation nutzbar zu machen. Reflexion über die eingesetzten Differenzierungsstrukturen und Integrationsmechanismen kann dabei helfen, auch vor dem Hintergrund knapper Ressourcen Ambidextrie zielgerichtet einzusetzen. Finanzierung Diese Publikation entstand im Rahmen des Forschungsprojekts „Einfluss der digitalen Transformation auf die Entwicklungspfade österreichischer Hidden Champions“, das vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank gefördert wird (Projektnummer 18133). Referenzen: Boumgarden, P., Nickerson, J., & Zenger, T. (2012). Sailing into the wind: Exploring the relationships among ambidexterity, vacillation, and organizational performance. Organization Science, 33(6), 587-610. Benner, M. J., & Tushman, M. L. (2002). Process management and technological innovation: A longitudinal study of the photography and paint industries. Administrative Science Quarterly, 47, 676706. Benner, M. J., & Tushman, M. L. (2003). Exploitation, exploration, and process management: The productivity dilemma revisited. Academy of Management Review, 28(2), 238-256. Benner, M. J., & Waldfogel, J. (2020). Changing the channel: Digitization and the rise of “middle tail” strategies. Strategic Management Journal, 1-24. Cennamo, C., Dagnino, G. B., Di Minin, A., & Lanzolla, G. (2020). Managing digital transformation: Scope of transformation and modalities of value co-generation and delivery. California Management Review, 62(4), 5-16. Gilbert, C. G. (2005). Unbundling the structure of inertia: Resource versus routine rigidity. Academy of management journal, 48(5), 741-763. Gilbert, C. G. (2006). Change in the presence of residual fit: Can competing frames coexist?. Organization Science, 17(1), 150-167.

Gupta, A. K., Smith, K. G., & Shalley, C. E. (2006). The interplay between exploration and exploitation. Academy of Management Journal, 49(4), 693-706. Güttel, W. H., & Konlechner, S. W. (2009). Continuously hanging by a thread: Managing contextually ambidextrous organizations. Schmalenbach Business Review, 61(2), 150-172. Güttel, W. H., & Konlechner, S. W. (2021). Entwicklungskräfte in Organisationen: Exploration, Exploitation und Ambidexterity. In Güttel, W. H. (Hg.): Erfolgreich in turbulenten Zeiten. Impulse für Leadership, Change Management & Ambidexterity, Baden-Baden, 357-391. Jansen, J. J. P., Tempelaar, M. P., Van den Bosch, F. A. J., & Volberda, H. W. (2009). Structural differentiation and ambidexterity: The mediating role of integration mechanisms. Organization Science, 20, 797-811. Junni, P., Sarala, R. M., Taras, V., & Tarba, S. Y. (2013). Organizational ambidexterity and performance: A metaanalysis. Academy of Management Perspectives, 27(4), 299-312. Levinthal, D. A., & March, J. G. (1993). The myopia of learning. Strategic Management Journal, 14(2), 95-112. Raisch, S. (2008): Balanced structures: Designing organizations for profitable growth. Long Range Planning, 41, 483508. Raisch, S., & Birkinshaw, J. (2008). Organizational ambidexterity: Antecedents, outcomes, and moderators. Journal of Management, 34(3), 375-409. Smith, W. K., Tushman, M. L. (2005). Managing strategic contradictions: A top management model for managing innovation streams. Organization Science, 16(5), 522.536.

Autoren: Univ-Prof. MMag. Dr. Wolfgang H. Güttel ist Universitätsprofessor für Leadership & Strategy am Institut für Managementwissenschaft an der TU Wien sowie Dean der TU Wien Academy for Continuing Education. Seine Forschung ist den Gebieten Strategic Change sowie Strategic Leadership gewidmet, um strategische Wandelprozesse und deren Umsetzung durch Führungskräfte zu untersuchen und zu unterstützen. Zuvor war er an den Universitäten Linz, Kassel, Hamburg, Liverpool, Padua

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TOP-THEMA sowie an der WU Wien tätig. Vor seiner akademischen Karriere arbeitete er als Managementberater in Stuttgart und Wien. Seitdem unterstützt er Unternehmen und Führungskräfte in Beratungsprojekten und in Führungskräftetrainings mit dem Ziel, wissenschaftliche Managementexpertise für die Lösung praktischer Herausforderungen bei Entwicklungs- und Veränderungsprozessen zu nutzen. Dr. Stefan Konlechner ist Senior Scientist in der Leadership und Strategy Gruppe des Instituts für Managementwissenschaften der TU Wien. Seine Forschungsinteressen fokussie-

ren auf die Themenbereiche strategisches Lernen und Wandel. Seine Forschungserkenntnisse wurden in führenden internationalen Zeitschriften wie Human Relations und dem Journal of Management publiziert. Seit 2018 ist er Redaktionsleiter der Austrian Management Review, die den Wissenstransfer zwischen Theorie und Praxis unterstützt. Zuvor war er an der WU Wien sowie an der JKU Linz tätig. Er is in den Themenbereichen Führung, Wandel, Personalmanagement sowie wissenschaftliches Arbeiten für PraktikerInnen in der Führungskräfteentwicklung engagiert.

Mag. Nicole Lettner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Managementwissenschaften an der TU Wien und am Institut für Leadership und Change Management an der JKU Linz. Strategische Themenstellungen wie Unternehmen mit aktuellen Herausforderungen umgehen und erfolgreich die digitale Transformation bewältigen können, konkret strategischer Wandel mit Fokus auf Ambidexterity, Leadership und strategisches Wissensmanagement, spiegeln ihre Forschungsinteressen wider.

Univ-Prof. MMag. Dr. Wolfgang H.

Dr. Stefan Konlechner

Güttel

Senior Scientist in der Leadership und Strategy Gruppe des Instituts für Managementwissenschaften, TU Wien

Universitätsprofessor für Leadership & Strategy am Institut für Managementwissenschaft, TU Wien

Mag. Nicole Lettner Universitätsassistentin in der Leadership und Strategy Gruppe des Instituts für Managementwissenschaften, TU Wien

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TOP-THEMA

Bildquelle: © Department ZaB-Zentrum am Berg, Montanuniversität Leoben

Georg Judmaier

Referenzprozesse für die Logistik auf zyklischen Tunnelbaustellen

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er Untertagebau ist in Mitteleuropa, bedingt durch die topographischen Gegebenheiten und den Ausbau der Wasserkraft, der Verkehrsinfrastruktur im Straßenals auch Eisenbahnbau sowie der städtischen Infrastruktur, ein bedeutender Wirtschaftszweig. Gerade in den letzten Jahren sind Großprojekte wie der Wiener Zentralbahnhof, Stuttgart 21, der Brenner-, Koralm-, und Semmeringbasistunnel sowie die Untertagewasserkraftanlagen Obervermunt II, Reißeck II und Limberg III in Bau oder vor Kurzem fertiggestellt worden. Die Bauweise von modernen Untertageanlagen wird seit Langem durch Forschung und Entwicklungen stark begleitet. Ein Bereich der Forschung im untertägigen Ingenieurbau, welcher verglichen mit anderen Fachgebieten noch wenig Berücksichtigung fand, ist die Logistik. Diese ist hingegen in der stationären industriellen Produktion in den letzten Jahrzehnten ein wesentlicher Faktor für die Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit von Unternehmen geworden.

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Bei Tunnelbauwerken mit Längen die Notwendigkeit von Prozessstanvon zum Teil über zehn Kilometern ist dardisierung ebenfalls deutlich erdie Kontrolle und Steuerung der ma- höht. terial- und transportintensiven ProIm Rahmen seiner Dissertation zesse eine große Herausforderung. In führte der Verfasser eine grundlevielen anderen Bereichen der industri- gende Untersuchung der Prozesse und ellen Produktion und der Wirtschaft Abläufe auf komplexen, zyklischen werden seit mehreren Jahrzehnten die Untertagebaustellen durch. Es wurden Abläufe analysiert, dokumentiert und die Möglichkeiten einer Transformain unterschiedlicher Art und Weise tion der in der industriellen Produkvisualisiert. Seit den 1990er Jahren tion angewandten Logistikkonzepte wird das Augenmerk immer stärker auf die branchenspezifischen Besonauf die Standardisierung von Prozes- derheiten der Bauindustrie, und hier sen gelegt. Gerade dadurch ergeben im Besonderen auf Tunnelbaustellen, sich sehr viele Verbesserungspotenti- geprüft. Die Zielsetzung war es, den ale, weil diese Referenzprozesse von Informations- und Materialfluss soeinem Betrieb auf andere übertragen wie die Produktionssicherheit durch werden können. Darüber hinaus sind Standardisierung von Prozessen und eine Leistungsmessung und der Ver- deren neues Design entscheidend zu gleich zwischen unterschiedlichen Bereichen des Unternehmens wesentlich einfacher. Mit zunehm e n d e m Einsatz von digitalen Sys- Abbildung 1: Entwicklungsstufen der Baulogistik (Adaptiert nach temen wird Deml A. 2008, S. 73)

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TOP-THEMA verbessern. Dies wurde durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien zum Bestandsmanagement und durch Workflowsysteme unterstützt. Baulogistik Die Logistik in der Bauindustrie ist ein junges Forschungsgebiet, welches bisher nur bedingt Eingang in die tägliche Praxis der Unternehmen gefunden hat, wenngleich es in den letzten zehn Jahren einige Initiativen gegeben hat diesen Umstand zu ändern. (Kraus 2006, S. 19 f) In Abbildung 1 sind die grundlegenden Entwicklungsstufen und Schwerpunkte der Baulogistik zu sehen. Hier zeigt sich die Transformation einer reinen TUL-Logistik hin zu einem integriertem Aufgabengebiet, welches immer stärker Eingang in die Baupraxis findet. Die Forschungstendenzen in der Baulogistik liegen bislang weniger im Bereich der logistischen Strategien und Supply-Chain-Betrachtungen, sondern es werden vielfach spezifische Problemstellungen oder Technologien ausgewählt und diese für eine beschränkte Domäne untersucht, beziehungsweise dafür Lösungen entwickelt. Ein Beispiel ist das in Deutschland umgesetzte Projekt RFID (Radio Frequency Identification) im Bau, welches Auto-ID Technologien auf die Eignung und die Potentiale für den Einsatz in der Bauindustrie und vor allem der Baulogistik analysiert und bestimmt. (Kelm et al. 2011, S. 2 ff) Seit einiger Zeit ist der Einsatz von Baulogistikdienstleistern, vor allem bei Innenstadtbaustellen und sehr komplexen Bauvorhaben mit einer Vielzahl an Gewerken, immer stärker verbreitet. Hier wird zum Teil auch ein eigener Baubetriebs- und Logistikleitstand eingesetzt, in dem die operative logistische Planung und Steuerung durchgeführt wird. Dies ist eine Annäherung der Bauindustrie an die stationäre industrielle Produktion. Vielfach wird von Vertretern der Bauindustrie angeführt, dass die Prozesse nicht mit jenen der stationären industriellen Produktion vergleichbar sind und somit eine Standardisierung

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der Abläufe nur schwer möglich ist. Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass viele Faktoren von Baustelle zu Baustelle unterschiedlich sind: Der Platz der Leistungserstellung ist der Ort des Kunden. Jedes Bauwerk ist ein einzigartiges Projekt mit speziellen Bedürfnissen, Anforderungen, Rahmenbedingungen und Beschränkungen. Die Entkopplung der Gewerke in der Bauindustrie ist nur bedingt möglich. Viele Baustellen haben ein beschränktes Platzangebot für die Lagerung und das Handling von Materialien. Die gesetzlichen Bestimmungen und die behördlichen Auflagen können von Baustelle zu Baustelle unterschiedlich sein und somit den Bauablauf entscheidend beeinflussen. Eine große Bandbreite an Materialien mit den unterschiedlichsten Eigenschaften wird zur Errichtung von Bauwerken benötigt. Die Routen für die Transporte, können nicht langfristig geplant oder mit den klassischen logistischen Methoden und Systemen, wie sie bei Speditionen eingesetzt werden, disponiert werden. Die starke Abhängigkeit vom Wetter beeinflusst auf der einen Seite den Aushub von Baugruben und hat auf der anderen Seite auch einen entscheidenden Einfluss auf die Bauleistung selbst.

Dies sind Gegebenheiten, mit denen sich die Planer und auch die ausführenden Baufirmen auseinandersetzen müssen. Es gibt jedoch auch viele Abläufe und Prozesse, die für jedes Bauwerk gleich oder ähnlich sind, wie die Warenannahme und Materialwirtschaft, große Teile der baubetrieblichen Dokumentation und die Fortschrittsüberwachung. Gerade diese Tätigkeiten können durch die Entwicklung und die Verwendung logistischer Werkzeuge erheblich unterstützt und erleichtert werden. Logistik Im Tunnelbau Die Logistik im Tunnelbau hat besondere Anforderungen zu meistern. Aufgrund des Sackgassen-Systems in den einzelnen Vortrieben hat insbesondere die Planung des Transports der Materialien präzise zu erfolgen, Fehler können rasch zu einer Verzögerung beziehungsweise zu Wartezeiten in den Vortriebs- und Ausbauarbeiten führen. Ein wichtiger Aspekt im Rahmen der Planung ist die Sicherheit, da sich eine höhere Anzahl an Transporten und Manipulationsvorgängen negativ auf die Arbeitssicherheit der Baustelle auswirken kann. Ein weiterer Faktor, der nicht zu vernachlässigen ist, sind die Lagermöglichkeiten am Ort der Leistungserstellung, also an der Ortsbrust, beziehungsweise an den einzelnen Baubereichen im Tunnel, welche räumlich beschränkt sind. Der Tunnelbau ist ein sehr materialintensiver Prozess. Auf der einen Seite müssen große Mengen an Aus-

Abbildung 2: Zuständigkeiten auf Tunnelbaustellen

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TOP-THEMA europäischen Ausland zeigten sich deutliche Unterschiede in der Ausgestaltung der baulogistischen Systeme. Einerseits ist zu sehen, dass bei maschinellen Vortrieben der Trend immer Abbildung 3: Kernprozesse der Logistik auf Tunnelbaustel- stärker in Richtung len (Judmaier et al. 2014, S.130) Systeme und Orbruchmaterial abtransportiert werganisation der staden und in vielen Fällen deutlich vom tionären industriellen Produktion Portal entfernt deponiert beziehungs- geht. Dies zeigt sich in dem Einsatz weise als Geländemodellierungsmate- von zentralen Baustellenleitständen, rial genutzt werden. Auf der anderen der Implementierung von Track & Seite müssen im Zuge der Vortriebs- Trace-Systemen und der Einbindung und Ausbauarbeiten große Mengen standardisierter und automatisierter an unterschiedlichen Materialien, wie Abläufe zum Beispiel in der Tübbingzum Beispiel Gebirgsanker, Baustahl- produktion, den Betonfertigteilen für bögen und -matten, Spritzbeton, den Ausbau. Auch die genaue KonBeton für die Innenschale, Kabel trolle und Planung der Materialverund Elektroinstallationsmaterialien, und entsorgung muss berücksichtigt Ventilatoren und Belüftungssysteme, werden. Andererseits ist zu erkennen, Fahrbahnelemente oder Gleisanla- dass die lokalen Gegebenheiten und gen und vieles mehr in den Tunnel die Auftraggeber-Auftragnehmertransportiert werden. Die Logistik Konstellation einen starken Einfluss im Untertagebau ist ein nicht zu un- auf die Ausprägung und Ausführung terschätzender Faktor, welcher sich in der Baulogistik haben. unterschiedlichen Ausprägungen auf Im zyklischen Tunnelbau liegt die Performance und die Leistung des der Schwerpunkt der logistischen Vortriebes auswirken kann. Betrachtung in der Ausgestaltung, Planung und Steuerung der MateEine durch den Lehrstuhl für In- rialflüsse. Eine Standardisierung dustrielogistik durchgeführte Befra- beziehungsweise eine ganzheitliche gung, an der europaweit Planer, Bau- logistische Betrachtung ist hier nur kaufleute, Bauleiter und Prokuristen bedingt zu erkennen. Wenn besondes Tunnelbaus teilnahmen, zeigte dere Herausforderungen, wie zum einerseits, dass die Verantwortung Beispiel Innenstadtlagen und damit vieler logistischer Aufgaben sehr verbundene strikte Auflagen an die fragmentiert auf unterschiedlichste Transportmodalitäten vorherrschen, Stellen aufgeteilt ist, andererseits gewinnt die Betrachtung der Baulowurde der Einsatz von einem zen- gistik wieder deutlich an Stellenwert. tralen Baubetriebs- und Logistikleitstand und Logistikkoordinatoren Prozessmodellierung und Standardinur bedingt umgesetzt. Knapp 70 % sierung der Befragten sahen jedoch die Entwicklung des Stellenwerts der Bau- Die Beschäftigung, Forschung und logistik als zunehmend oder stark Anwendung von Prozessmodelliezunehmend. Ebenso wurde eine rung, Visualisierung und Standardurchgängige Tunnelbaulogistik als disierung führte zu einer enormen deutlicher Wettbewerbsvorteil am Veränderung in der Organisation und Markt gewertet. Dies führte zur ver- der Struktur von vielen Unternehmen stärkten Beschäftigung mit diesem und ermöglichte die Transformation Themenkomplex und der Initiierung von funktionalorganisierten zu provon Projekten zur wissenschaftlichen zessorganisierten Paradigmen. Dies Untersuchung der Prozesse der Tun- ermöglichte die Entwicklung der nelbaulogistik. Logistik von klassischen Transport-, Umschlags- und Lagertätigkeiten zu Bei der Analyse ausgewählter Tun- einer flussorientierten Design- und nelprojekte in Österreich und dem Managementdisziplin.

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Ein Ansatz zu einer einheitlichen Prozesslandkarte und einem multifunktionalen und modularen Mapping von Struktur, Akteuren, Schnittstellen und Prozessen in einer Klasse von Gebieten sind Referenzmodelle. Referenzmodelle sind schon seit Jahrzehnten im Bereich der Wirtschaftsinformatik im Einsatz und werden dort für die Entwicklung und das Design von Standard-SoftwareLösungen eingesetzt. Dabei führen sie zu einer Reduktion des Arbeitsaufwands für die Programmierung und Adaption des Systems und liefern vergleichbare und messbare Prozesse. (Fettke et al.2003, S. 332 f) Zur Identifikation von Abläufen und zur Ableitung des Modells war es notwendig Logistikprozesse und Schnittstellen auf zyklischen Tunnelbaustellen zu erheben und deren Ausprägung darzustellen. Dies erfolgt einerseits über die Analyse der in der Literatur verfügbaren Informationen und Daten und auf der anderen Seite durch die empirische Datenerhebung auf ausgewählten Tunnelbaustellen. Um diese Ergebnisse zu verifizieren, erfolgte abschließend eine Untersuchung der baubetrieblichen Abläufe bei den Vortriebsarbeiten am Zentrum am Berg (ZAB) am Steirischen Erzberg. Daraus erfolgte die Ableitung der Kernprozesse der Logistik auf Tunnelbaustellen, welche in der Abbildung 3 dargestellt sind. Die Baustelleneinrichtung ist am stärksten durch die örtlichen Gegebenheiten bestimmt und variiert von Projekt zu Projekt sehr. Die Unterschiede liegen zum Beispiel in den verfügbaren Flächen, der vorhandenen Infrastruktur, den Anrainern und vielem mehr. Somit ist eine Standardisierung dieses Ablaufs zwar zu einem Teil möglich, führt aber zu einem geringeren Verbesserungspotential als die Vereinheitlichung häufiger ablaufender Prozesse. Der Schwerpunkt der Untersuchung lag somit auf den operativen Bauabläufen also der eigentlichen Baustellenlogistik. Der Bereich der Zutrittskontrolle wurde als nur bedingt relevant betrachtet und nicht im Detail behandelt. In einem weiteren Schritt erfolgte die Aufnahme der operativen logistischen und baubetrieblichen Prozesse

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TOP-THEMA ligen Akteuren Swimlanes zugeordnet in denen abgegrenzte Abläufe durchgeführt werden. Die Interaktion, Schnittstellen und Dokumente sind ebenfalls Inhalt der Darstellung.

Abbildung 4: Methodisches Vorgehen bei der Modellierung

auf den Tunnelbaustellen. Dabei wurden die folgenden Elemente erhoben und in einem weiteren Schritt graphisch modelliert:

Abläufe und Prozesse Verantwortliche Personen Organisationseinheiten Schnittstellen Daten und Dokumente

Nach Evaluierung der Möglichkeiten unterschiedlicher Modellierungssprachen und deren Prüfung der Akzeptanz auf Baustellen wurde Business Process Model and Notation 2.0 (BPMN 2.0) als geeignete Notation identifiziert. Im Zuge der Darstellung der Prozesse wurde eine Aggregation einiger Abläufe durchgeführt, um einen allgemein gültigen Ordnungsrahmen für die Modellierung von zyklischen Tunnelbaustellen zu erstellen. Der Schwerpunkt der Abbildung liegt auf dem Sprengvortrieb. Bei einem Vortrieb im Lockergestein mittels Hydraulikbagger und einer voreilenden Sicherung durch einen Rohrschirm kann der Teilprozess des Sprengens ausgeblendet und durch die jeweilig nötigen Abläufe ersetzt werden. Die restlichen Abläufe sind auch in diesem Vortriebsfall gültig. Somit ist eine generische Modellierung gewährleistet.

Bei der Untersuchung wurde neben den physischen logistischen Prozessen auch großer Wert auf die Informationslogistik gelegt, welche in der Literatur nur sehr wenig Berücksichtigung findet, aber im Sinne eines ganzheitlichen logistischen beziehungsweise Supply-Chain-Managementansatz eine wesentliche Rolle spielt. Bei der Analyse konnten mehrere Bereiche identifiziert werden, bei denen Verbesserungsmöglichkeiten bestehen. Diese Bereiche sind: Materialverwaltung und -versorgung Zeitnahe Darstellung der baubetrieblichen und baulogistischen Leistung Medienbrüche bei der Dokumentation und des Informationsflusses Ein Beispiel für den Referenzprozess der Sprengarbeit ist in Abbildung 5 ersichtlich. Dabei werden den jewei-

Abgeleitet aus den Untersuchungen zu den Verbesserungsmöglichkeiten wurde ein Sub-Prozess identifiziert, der einerseits ideal durch ein IKT-System unterstützbar ist und andererseits viele relevante Daten für ein minutenaktuelles Bestandsmanagement und ein Baubetriebscockpit liefert – das Abschlagsprotokoll. Dieses ist ein wesentlicher Teil der Dokumentation der Bauleistung im Tunnelbau, es enthält alle Informationen über den Vortrieb wie zum Beispiel die Länge, die eingesetzten Stützmittel, die Dicke der Spritzbetonschicht, den Einsatz von zusätzlichen Maßnahmen und den geologischen Mehrausbruch. In einem weiteren Schritt wurde eine App entwickelt und programmiert, mit der eine Digitalisierung des Abschlagsprotokolls auf eine mitarbeiterfreundliche Art und Weise möglich war. Den Usern wurde eine ähnliche Eingabemaske wie bei der handschriftlichen Protokollierung zur Verfügung gestellt, welche sich großer Akzeptanz erfreute und zusätzlich erfolgte eine Speicherung der Parameter in einer Datenbank, welche die Basis für ein Baubetriebscockpit bildet, in dem die aktuelle Bauleistung und die Materialbestände abgerufen werden können. Die formale Modellierung und die Entwicklung logistischer und baube-

Logistische Referenzprozesse auf zyklischen Tunnelbaustellen Die graphischen Modelle wurden auf einer Tunnelbaustelle erstellt und in einem iterativen Prozess durch die Untersuchung anderer Baustellen und einer abschließenden Konsistenzprüfung bei der Errichtung des Zentrums am Berg verbessert und komplettiert.

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Abbildung 5: Prozess der Sprengarbeit

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Autor:

Abbildung 6: GUI der APP zur Digitalisierung des Abschlagsprotokolls

trieblicher Standardprozesse sind im zyklischen Tunnelbau nur bedingt verbreitet. Es weist diese Sonderform einer Linienbaustelle jedoch eine Vielzahl an Prozessen auf, welche sich in ähnlicher Art und Weise im aktuellen Vortrieb aber auch auf anderen Baustellen regelmäßig wiederholen. Somit bietet die Entwicklung von Referenzprozessen eine große Möglichkeit die Kontrolle, Vergleichbarkeit und die Effizienz des Baubetriebs zu verbessern. Darüber hinaus liefert sie die Basis für generisch anwendbare Softwarelösungen zur medienbruchfreien Datenübertragung und Analyse. Hier könnten Bereiche wie Materialmanagement, Transportplanung und -organisation, Dokumentation und Zutrittskontrolle beziehungsweise das Track & Trace von Personen und Geräten in einem Baubetriebs- und Logistikcockpit vereint werden. Dies führt zu einer zentralen Steuerungseinheit, welche die Effizienz des operativen Baubetriebs nachhaltig verbessert.

Literatur: Fettke P. and Loos P. (2003): Classification of reference models: a methodology and its application in Journal of Information Systems and e-Business Management, Volume 1, Issue 1 Kelm A., Laußat L., Meins-Becker A. (2011): RFID-Baulogistikleitstand RFID-unterstütztes Steuerungs- und Dokumentationssystem für die erweiterte Baulo-gistik am Beispiel „Baulogistikleitstand“ für die Baustelle“ Kurzbericht zum Forschungsprojekt, Kraus S. (2006): Organisationsmodelle in der Baulogistik für Deutschland in: Clausen U. [Hrsg.] „Baulogistik - Konzepte für eine bessere Ver- und Entsorgung im Bauwesen“ Verlag Praxiswissen, Dortmund Judmaier G., Zsifkovits H. (2013): Development of a Logistics Reference Model for Subsurface Construction in Efficiency and Innovation in Logistics: Proceedings of the International Logistics Science Conference (ILSC), Dortmund Judmaier G. (2021): Referenzprozesse für die Logistik auf zyklischen Tun-

Dipl.-Ing. Dr. Georg Judmaier beschäftigt sich an der HTL Leoben mit Fragestellungen der Technoökonomie, der industriellen Logistik und dem Stoffstrommanagement. Sein beruflicher Weg führte ihn nach dem Studium an der Montanuniversität Leoben an den größten Rohstoffstandort der Veitsch-Radex Gmbh&CO KG, wo er als Assistent des Werksleiters tätig war. Danach wechselte er in das Manufacturing Competence Center Raw Materials der RHI, von wo aus er für Projekte in Europa, Südafrika, China, Russland und Brasilien zuständig war. Zusätzlich war er in dieser Zeit als Chief Engineer für Due Diligence Prüfungen und der Planung von potenziellen neuen Standorten weltweit tätig. Durch die Ausbildung zum Lean Six Sigma Black Belt wurde auch die Beschäftigung mit der industriellen Logistik immer stärker, dies und der Wunsch seine Erfahrungen weiterzugeben und sich in dem Thema zu vertiefen führte zum Wechsel an den Lehrstuhl für Industrielogistik. Während der Arbeit am Department für Wirtschaft und Betriebswissenschaften, Lehrstuhl für Industrielogistik, an der Montanuniversität Leoben beschäftigte er sich mit technoökonomischen Aufgabestellungen wie der Referenzmodellierung von logistischen Prozessen auf zyklischen Tunnelbaustellen oder der Entwicklung eines Kostenrechnungssystems für die Bestimmung von varianteninduzierten Kosten. Seit 2014 ist er hauptberuflich an der HTL Leoben beschäftigt und ist seit 2018 zuständig für die Ausbildung des Wirtschaftsingenieur-Nachwuchses im Bereich „Technische Logistik und Management“.

Dipl.-Ing. Dr. Georg Judmaier Technische Logistik und Management, HTL Leoben

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Bildquelle: © voestalpine Stahl Donawitz GmbH

Christian Weichbold

SmartSinter – Materialverfolgung von Schüttgut und dessen Eigenschaften

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n modernen Lager-, Förder- und Produktionsanlage wird der Einsatz von Identifikationssystemen gefordert. Die Kopplung des Informationsflusses mit dem Materialfluss ist dabei ein wesentlicher Bestandteil neuer Produktionskonzepte. Dabei ist die Zielsetzung, in Echtzeit den Zustand des Produktes, bei gleichzeitiger Überwachung der Prozesse zu verfolgen. Die grundlegende Aufgabe stellt dabei die Initiierung, Steuerung, Überwachung und Dokumentation des Informationsflusses dar. Für die Verfolgung und Steuerung von diskreten, standardisierten, eindeutig beschreib- und identifizierbaren Gütern bzw. Materialflüssen gibt es eine Vielzahl von Verfahren und Technologien. Durch automatisierte Identifikation (AutoID), Lokalisierungstechnologien, Sensorik und entsprechender Software können Objekte nahezu lückenlos und in Echtzeit verfolgt werden und sind somit nach Typ, Lokation und Qualität jederzeit bestimmbar. Nach eindeutiger Identifikation können Guteigenschaften wie Farbe, Gewicht, Werkstoff, Geometrie, Temperatur, Volumen, usw. letztlich referenziert werden.

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In vielen Branchen wie dem Bergbau, dem Tunnelbau (Ausbruchmaterial), der Landwirtschaft und der Hüttenindustrie (Sinter) sind gewohnte Merkmale von Materialflüssen jedoch häufig nicht vorhanden. In diesen Branchen handelt es sich vielfach um Stoffströme, die zwar kontinuierlich anfallen, aber bezogen auf ihre Eigenschaften inhomogen, unregelmäßig und daher in ihrer Qualität und physischen Beschaffenheit durch die verfügbaren Messverfahren nicht lückenlos bestimmbar sind und diese vor allem nicht eindeutig dem Gutstrom zuordenbar sind Die Qualitätseigenschaften dieser Stoffströme in Echtzeit jederzeit bestimmen zu können, ist für die Produktionsplanung und –steuerung wesentlich. Die bessere Informationsbasis könnte in Folge in einer effizienten Prozesssteuerung umgesetzt werden, welche über verbesserte Materialeffizienz auch positive Einflüsse auf die Energiebilanz, Umweltbeeinflussung und Wirtschaftlichkeit hätte.

Im Unterschied zu diskreten Strömen, bei denen in ununterbrochener Folge diskrete Mengeneinheiten einzeln oder bulkweise ankommen, ist dies bei kontinuierlichen Strömen von polydispersem Schüttgut nicht der Fall. Die Durchflussgesetze diskreter Ströme unterscheiden sich grundlegend von den Strömungsgesetzen inhomogener Schüttgüter. Es existieren keine offensichtlichen Anhaltspunkte zur Definition von konkreten Losen. Bisweilen eingesetzte Bewegungsstrategien wie FIFO (first in – first out), LIFO (last in – first out) usw. versagen spätestens dann, wann das zu verfolgende Gut aufgrund seiner Korngrößenverteilung zur lokalen Entmischung neigt und zufallsabhängige Staueffekte in betriebsbedingten Puffern eine Vermischung der Abschnitte des Stoffstromes bewirken. Die spezifischen Eigenschaften des Gutes inhomogener Stoffströme können dabei nur mit großer Zeitverzögerung gemessen werden, wodurch die durch die Summe der Materialeigenschaften definierte Produktqualität im Extremfall erst posthum bekannt ist.

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TOP-THEMA Daraus resultiert, dass die Einflussnahme auf den Prozess nur in unbefriedigendem Ausmaß gegeben ist. Indirekt eingesetzte rasch verfügbare Qualitätsindikatoren liefern hingegen sehr unscharfe Aussagen. Um diese mit den exakt, aber zu spät gemessenen Guteigenschaften verknüpfen und früher konkrete Aussagen hinsichtlich Qualität und Eigenschaften des Stoffstromes treffen zu können, bedarf einer zuverlässigeren Materialverfolgung des Schüttgutes. Die existierenden intralogistischen Verfahren der Materialidentifikation, Steuerungsstrategien, Kommunikationstechniken und Informationsflüsse sind aber nur für Stückgüter und zum Teil für diskretisier- und eindeutig bestimmbarer Schüttgüter anwendbar. Die konkrete Problemstellung, der Verfolgung des kontinuierlichen, inhomogenen Gutstromes sowie der Zuordenbarkeit von dessen gemessenen Eigenschaften, wird in der Literatur nicht beschrieben. In den letzten Jahren wurden in unterschiedlichen Branchen versucht, inhomogene, kontinuierliche Gutströme durch verschiedene technologische Ansätze verfolgbarer zu machen. Beispielsweise wurde versucht, das Schüttgut durch das Einbringen von sogenannten Markern, welche idente Flusseigenschaften wie das Schüttgut aber mindestens ein leicht unterscheidbares Merkmal aufweist, zu erfassen. Um eine zuverlässige Identifizierung des Materials zu erreichen, können physikalische Eigenschaften (Farbe, Magnetismus, Radioaktivität), chemische Parameter (Tracer) oder auch Auto-ID Methoden (Codes, RFID) verwendet werden. Einige Methoden, welche in kurzer Zeit (online) Ergebnisse liefern, können sowohl zur Materialverfolgung als auch zur Bestimmung von Guteigenschaften, herangezogen werden. Ihre Anwendbarkeit auf Gutströme mit komplexem Eigenschaftsprofil – wie z.B. dem Sintergut in der Stahlherstellung - ist jedoch kaum möglich. Zur detaillierten Bestimmung der Guteigenschaften stehen Messund Prüfmethoden zur Verfügung, welche punktuell und zeitverzögert Daten auf Basis dem Gutstrom entnommener Stichproben liefern. Sie liefern bei Einhaltung der Regeln der

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Probenahme zwar gute Ergebnisse, sind aber sehr (zeit)aufwändig und limitieren die Dynamik einer Prozessoptimierung. Durch prozessbedingte Trennschnitte, Segregation und Vermischungen eignen sich solche Messverfahren für inhomogene, kontinuierliche Gutströme – wie dem Sinter in der Stahlherstellung – nur bedingt. Um die qualitätsrelevanten Eigenschaftsparameter in Echtzeit dem richtigen Material zuordnen zu können, müssen Messwerte prompt zur Verfügung stehen und der richtigen Losgröße zu geordnet werden können. Für Schüttgut - vor allem Fertigsinter - stellt dies eine besondere Herausforderungen dar und verlangt nach neuen Messmethoden. Vorgehensweise zur Beantwortung der Problemstellung Am Beispiel der Sinteranlage der voestalpine Stahl Donawitz GmbH wurde ein Modellkonzept für die Verfolgung eines kontinuierlichen, inhomogenen Materialflusses entwickelt. Die Herstellung von Stahl aus Eisenerz basiert am Standort der voestalpine Stahl Donawitz GmbH auf der Hochofen – LD (Linz-Donawitz Verfahren) Route. Das Eisenerz wird als Stückerz, Pellets oder Sinter zusammen mit weiteren Zuschlagsstoffen als sogenannter Möller und dem Koks als Reduktionsmittel in den Hochofen chargiert. Der Sinter ist ein dominierender Einsatzstoff im Hochofen. Sinter wird am Standort selbst erzeugt. Dabei werden Feinerze und Zuschlagstoffe durch partielles Aufschmelzen gesintert und damit „stückig“ gemacht. Das Sintermaterial stellt einen kontinuierlichen, inhomogenen Gutstrom dar. Je nach Prozessschritt verändert sich seine Zusammensetzung und seine Qualitätseigenschaften sind nicht in Echtzeit über den gesamten Prozess nach verfolgbar. Modellbasierte Qualitätsvorhersagesysteme unterstützen an manchen Stellen den Bediener der Anlage. Diese Systeme bilden jedoch nur Teilprozesse ab, weshalb das implizite Erfahrungswissen der Mitarbeiter eine wichtige Rolle spielt, um eine bestimmte Prozessqualität zu erreichen.

Die wenigen verfügbaren Echtzeitdaten wie Bandgeschwindigkeiten, Massenströme, Temperaturen, Bunkerfüllstände usw. unterliegen gewissen Toleranzen bzw. Ungenauigkeiten. Auswirkungen von durch den Mitarbeiter vorgenommene Parameterveränderungen werden erst mehrere Stunden später im Prozess messtechnisch erfasst. Wichtige Prozessparameter können - bedingt durch die großen Totzeiten im gesamten Prozessverlauf - nicht in Echtzeit bzw. online überwacht werden. Zusätzlich kommt es durch die derzeitige Manipulation des Sinters in den Anlagen zur Segregation bzw. Degradation des Schüttgutes. Das lässt vermuten, dass Potential zur Verbesserung der Prozesseffizienz durch eine kontinuierliche Materialverfolgung des Sinterstromes und Erfassung seiner Qualitätseigenschaften in Echtzeit besteht, um Ausschussraten (Rückgutanteile) zu minimieren, Energie- und Ressourceneinsatz zu optimieren, Umweltbelastungen zu reduzieren sowie Qualitätsschwankungen besser beherrschen zu können. Für die Verfolgung und Sichtbarmachen der Eigenschaften des Stoffstromes wurden im Sinter- und Hochofenbereich zur Charakterisierung des Sinterstromes die Systemgrenzen für den Untersuchungsbereich definiert und vorhandene Datenquellen analysiert und ausgewertet. Für die Diskretisierung des Materialstromes wurde im definierten Untersuchungsbereich der Transport- und Informationsfluss erhoben und visualisiert. Der Stand der Technik der Stückgutlogistik ist weitgehend anwendbar, stößt aber beim Thema der Schüttgutverfolgung an Grenzen. Während ein Stückgutstrom natürliche Abgrenzungen aufweist, müssen diese bei einem kontinuierlichen Schüttgutstrom neu gebildet werden. Für die Bildung dieser Abschnitte können unterschiedlichste Diskretisierungsstrategien angewendet werden, abhängig vom Typ des jeweiligen Prozessschrittes bzw. -teilschrittes. Aufeinanderfolgende Schritte können dabei verschiedene Strategien aufweisen, solange sich diese ineinander überführen lassen. In bestimmten Bereichen, wie z.B. Materialspeicher, müssen die Methoden aus der Stückgutlogistik erweitert werden.

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TOP-THEMA Das Ergebnis waren mögliche Strategien für die Bildung von homogenen, diskreten Abschnitten im Gutstrom. In den einzelnen Verfahrensschritten bzw. Aggregaten erfolgte die Modellierung der Flusscharakteristik des Stoffstromes. Dabei sollten die Durchlauf- und Verweilzeiten des Materials erfasst und ausgewertet werden. Das Flussverhalten wurde auf Basis einer Modellierung, in welche die identifizierten Fluss- und Materialeigenschaftsdaten einflossen, dargestellt. Siebe und Förderstrecken lassen sich in Bezug auf den Materialfluss verhältnismäßig leicht beobachten und beschreiben. Der Sinterkühler und Bunkeranlagen (Möllerbunker) stellen eine Herausforderung dar, da sich ihr Inneres der Beobachtung entzieht. Um die Flusscharakteristik dieser Teilbereiche zu untersuchen wurde ein physisches Bunkerschnittmodell, Bunkersimulationen (DEM – Diskrete Elemente Simulation), sowie Traceruntersuchungen (RFID- & Farbtracer) in den Betriebsanlagen angewendet. Aus diesen durchge-

Abbildung 1: DEM-Simulation – Bunkerbefüllung und –entleerung

führten Untersuchungen wurde für den Kühler eine Übergangsfunktion für den Gutstrom gefunden. Diese Funktion beschreibt die Antwort des Systems bei sprunghafter Änderung einer Guteigenschaft am Eingang. Durch die im Gegensatz zum Sinterkühler moderat vorherrschenden Guttemperaturen in den Möllerbunkern wurde die Anwendung der RFID-Technologie in diesem Bereich untersucht. Der Einsatz der Technologie verlief positiv und lieferte wichtige Erkenntnisse über das Flussverhalten in diesem Teilbereich. In den Möl-

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lerbunkern herrscht ein ausgeprägter Kernfluss vor, was mit allen drei angewendeten Methoden bestätigt wurde. Die DEM-Simulation konnte diesen quantifizieren und lieferte darüber hinaus wichtige Aussagen über Entmischungsvorgänge beim Befüllen und Entleeren des Möllerbunkers. Grobstückiges Material sammelt sich nahe der Bunkerwand wogegen sich feinere Anteile im Kern (Zentrum) konzentriert. Daraus resultiert, dass in der ersten Phase bei der Bunkerentleerung der Feinanteil überwiegt und in der Schlussphase der Grobanteil ausgetragen wird. Somit wurde nachgewiesen, dass eine ursprünglich gleichmäßige Kornverteilung nach der Bunkeranlage stark schwanken muss. Das lässt ich in den betrieblichen Messdaten eindeutig nachvollziehen. Aus dem breiten Spektrum der Möglichkeiten unterschiedliche Guteigenschaften zu messen, konzentrierte sich diese Arbeit auf die Festigkeitsindikatoren, Korngrößenverteilungen, Massen und Volumina und chemische Zusammensetzungen. Während Massen gut online über Bandwaagen verfolgbar sind, können qualifizierte chemische Analysen des Gutstromes nur über Probenahmen realisiert werden. Das Ziehen einer repräsentativen Stichprobe aus einem kontinuierlichen Gutstrom stellt durchaus eine Herausforderung dar. Die Probemenge wird durch das Material (Korngrößenverteilung, Inhomogenität) bestimmt, die Probenfrequenz durch den Prozess. In Summe kann der Aufwand (Zeit, bewegte Massen, Personalaufwand) erheblich werden. In der Regel werden für die Probenahme selbst automatisierte bzw. teilautomatisierte Vorrichtungen eingesetzt, um zufällige Fehler zu vermeiden. Auch bei idealer Gestaltung des Probenahmeprozesses sind Ergebnisse nicht sofort verfügbar und weder für Prozesssteuerung bzw. Qualitätsverfolgung einsetzbar. Eventuelle systematische Fehler in der Probenahme sind durch eine unabhängige Überprüfung (z.B. Probenahme vom stehenden Band) zu quantifizieren. Für die Stichproben gilt daher, dass diese genau gezogen und ermittelbar sein müssen. In der betrieblichen Praxis werden oft größere Probenmengen (bis 200 kg) gezogen und verarbeitet. Für bestimmte

Analysen, wie etwa Bestimmung der Kornverteilung oder der chemischen Eigenschaften, muss die Probe aufbereitet werden. Die richtige Wahl der Teilung bzw. des Teilaggregates hängt von der anfallenden Probenmenge und deren Kornverteilung ab. Zur Bestimmung der Korngrößenverteilung wird standardmäßig ein Siebturm eingesetzt. Alternativ wurden online-Messtechniken zur Bestimmung der Korngrößenverteilung untersucht und die Herausforderungen dieser Systeme erläutert. Die Vorteile liegen darin, dass

Abbildung 2: VisioRock – online Korngrößenmesssystem

sie nahezu in Echtzeit Informationen liefern, die Grundgesamtheit betrachten und daher Probenahmefehler vermeiden. Dem steht gegenüber, dass die Genauigkeit teilweise begrenzt ist und sie nur als Indikatoren gelten können. Die Herausforderung für den Einsatz solcher VisionSysteme liegt daran, wie das Material dem System präsentiert werden kann. Abhängig von den Gegebenheiten kann direkt am laufenden Band oder im Bereich von Abwurfstellen wo eine Vereinzelung des Materials stattfindet das Schüttgut analysiert werden. Am laufenden Band neigt inhomogenes Schüttgut auf Förderbändern dazu sich zu entmischen, d.h. Feinkorn liegt unter dem Grob- und Mittelkorn und kann messtechnisch über das System nicht erfasst werden. Wesentlich für den Einsatz dieser Systeme ist ihre Kalibrierung und die Notwendigkeit, sie regelmäßig durch Stichproben zu überprüfen. Die Erkenntnisse aus den

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TOP-THEMA Betriebsversuchen zeigten das Potential dieser Systeme zur Bestimmung der Korngrößenverteilung auf und werden auch weiterverfolgt. Die Herangehensweise zur Verfolgung eines kontinuierlichen, polydispersen Gutstroms und dessen Eigenschaften von der Materialflusserhebung über die Entwicklung von Methoden zur Bestimmung der physikalischen und chemischen Eigenschaften bis hin zur Erstellung eines Konzeptes wurde beschrieben und hat sich in der Praxis der Sinteranlage (voestalpine Stahl Donawitz GmbH) bewährt. Der Sinter- und der Hochofenprozess wurden jeder für sich über Jahrzehnte betrieben und weiterentwickelt und haben eine gewisse Reife erreicht. Größere Schritte der Weiterentwicklung sind bei Betrachtung von Gesamtsystemen unter Einbeziehung der Materiallogistik zu erzielen. Bessere Kenntnis der Guteigenschaften von Einsatzstoffen erlauben eine effizientere Prozesssteuerung. Verlässlich gemessene und zuordenbare Produkteigenschaften eröffnet

trotz großer prozessbedingter Totzeiten die Möglichkeit, einen zumindest modellbasierten Qualitätsregelkreis zu schließen. In Branchen, in denen Schüttgut ver- und weiterverarbeitet wird, liegen die Potentiale nicht im einzelnen Prozessschritt, sondern im gesamten System. Autor: Dipl.-Ing. Dr.mont Christian Weichbold ist seit Jänner 2020 als Projektmanager in der K1-MET GmbH für die Weiterentwicklung des Sinterund Hochofenbetriebes der voestalpine Stahl Donawitz GmbH tätig. Im Fokus seiner Arbeit liegen das RFCSProjekt MinSiDeg (Minimise Sinter Degregation), online Messungen der Sintereigenschaften, sowie Umsetzungen der Erkenntnisse aus seiner

Dipl.-Ing. Dr.mont Christian Weichbold Projektmanager in der K1-MET GmbH Dissertation SmartSinter. Er hat die HTL-Leoben für Maschinenbau mit Ausbildungsschwerpunkt Metallurgie absolviert und vor Beginn seines Studiums Industrielogistik an der Montanuniversität Leoben vier Jahre in der Privatwirtschaft verbracht. Nach Abschluss seines Masterstudiums 2015 war er 3,5 Jahre für die voestalpine Stahl Donawitz GmbH im Bereich Forschung und Entwicklung Abteilung Reduktionsmetallurgie tätig. Dort beschäftigte er sich mit dem Thema seiner Dissertation, nämlich der Materialverfolgung von Sinter und deren Eigenschaften

WING-REGIONAL WIEN, NIEDERÖSTERREICH, BURGENLAND Sehr geehrtes WING-Mitglied, der Regionalkreis in Wien, NÖ und Burgenland erhält weitere Unterstützung. Herr Dipl.-Ing. Martin Atassi, MBA verstärkt ab sofort das bestehende Team. Martin Atassi hat in Wien Wirtschaftsingenieurwesen-Maschinenbau studiert und seither einige Stationen in Industrie und Politik hinter sich gebracht. Aktuell ist er als Head of Business Development & Marketing bei ITSDONE tätig. “Es gibt wohl kaum einen klassischen Werdegang für einen Wirtschaftsingenieur. Auch mein persönlicher Karriereverlauf war geprägt von Abwechslung. Nach vielen Jahren in der Telekommunikationsbranche, habe ich einige Jahre die Digitalisierungspolitik begleitet, um nun in der IT-Branche zu landen. Ich freue mich den Regionalkreis WING Wien, Niederösterreich und Burgenland in seiner weiteren Entwicklung begleiten zu können und hoffe auf neue inspirierenden Austausch mit vielen Absolvent_innen“, fasst Atassi sein Engagement zusammen. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit! Alexander Kainer und Michi Kaiser

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Bildquelle: © adege auf pixabay

Walter S.A. Schwaiger/Markus Eigruber

Autarcic Energy @ Home: Geografisch optimale Kapazitätsplanung von Investitionen in erneuerbare Energien mit dem MEP-Framework In der Praxis der Energiewirtschaft wird die Exceedance Probability (EP) verwendet, um das Risiko von Investitionen in erneuerbare Energien (Renewable Energy Resources, kurz: RES) z.B. anhand von P50/P90-Werten der mit den RES-Investitionen künftig generierten Energiemengen zu beurteilen. Die Einbeziehung der Chance Constrained Programming-Optimierung in Verbindung mit dem Sampling & Discarding-Algorithmus führt zum Minimum Exceedance Probability (MEP)-Framework, womit sich die optimalen Kapazitäten von Investitionen in unterschiedliche RES-Technologien bestimmen lassen. Wie die MEP-bezogene Optimierung funktioniert, das wird im vorliegenden Beitrag anhand des „Autarcic Energy @ Home“-Fallbeispiels gezeigt, wobei optimale Kapazitäten von Solar- und Wind-Energieanlagen unter probabilistischer (MEP-)Einhaltung des geforderten Eigenbedarfs ermittelt werden.

1. MEP-Framework: Chance Constraint Programming mit Sampling & Discarding-Algorithmus In der diesem Beitrag zugrundeliegenden Fallstudie „Autarcic Energy @ Home“ geht es um einen Haushalt, welcher aus ökologischen Überlegungen die Anschaffung einer RES-Energieanlage plant. Die zentrale Zielsetzung ist es, dass mit der Anlage ein Eigenbedarf an Energie während der Tageszeit gedeckt wird. Konkret soll im Zeitraum von 9 bis 16 Uhr stündlich eine Energiemenge von ½ kWh als Eigenbedarf mit einer Mindest-, d.h. Sicherheitswahrscheinlichkeit (Minimum Exceedance Probability, kurz MEP) von 80 %

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gedeckt werden. Zur Erfüllung dieser probabilistischen Anforderung stehen eine Solar-, d.h. Photovoltaik (PV)- sowie eine Wind-, d.h. Turbinen-Energieanlage zur Auswahl. Die zu lösende Problemstellung besteht darin, die optimale in PV-Modulbzw. Turbine-Rotorfläche (in m²) gemessene Kapazität der Solar- bzw. Wind-Anlage zu bestimmen, wobei die probabilistische Anforderung erfüllt wird und die Kosten für die Energieanalage minimiert werden. Die probabilistische Anforderung bezieht sich auf den künftig durch die Energieanlage zu erfüllenden Eigenbedarf an Energie. Ihre probabilistische Natur ergibt sich, zumal die

durch die Anlage generierte Energiemenge eine stochastische Größe ist, welche von den mehr oder minder zufälligen Schwankungen der Sonnenstrahlung bzw. Windgeschwindigkeit abhängig ist. Einen Anhaltspunkt über das mit der Anlage verbundene Risiko, welches in der Nichterfüllung der Anforderung besteht, liefert die Exceedance Probability (EP) [DGK12]. Die EP-Risikokennzahl gibt den Wert der stochastischen Energiemenge an, welcher mit der Konfidenzwahrscheinlichkeit (EP) überschritten (Überschreitungswahrscheinlichkeit) wird. So besagt z.B. ein P90-Wert von 100, dass die Energiemenge von 100

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TOP-THEMA mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 % übertroffen wird. Für die Lösung der Problemstellung des Haushalts ist die EP-Risikokennzahl aber unzureichend, zumal sich diese stets auf eine bereits konkrete Anlage bezieht, deren Kapazität schon festgelegt ist. Zur Lösung des Problems ist es erforderlich, von unterschiedlichen Kapazitäten die jeweiligen EP-Kennzahlen zu bestimmen und diese dann hinsichtlich der probabilistischen Anforderung sowie der Minimalität der damit verbunden Kosten zu bewerten, um schließlich die optimale Kapazität zu bestimmen. Diese Überlegung deckt sich genau mit dem Optimierungsansatz, welcher dem „MEP-Framework“ [OSE21] zugrunde liegt. Die MEP-bezogene Optimierung („MEP-O“) ist eine Chance Constraint Programming (CCP)-Optimierung [ChCo59], welche zwecks numerischer Linear Programming (LP)-Lösbarkeit mit dem Sampling and Discarding (S&D)-Algorithmus [CaGa11] kombiniert wird. Die dem MEP-Framework zugrundeliegende „CCP-S&D-LP-Methodik“ macht demnach den großen Unterschied zur EL-Risikokennzahl aus: Beim MEP-Framework handelt es sich um einen numerisch gut lösbaren CCPOptimierungsansatz, welcher in der zugrundeliegenden Fallstudie zur Bestimmung der optimalen Kapazität verwendet wird, während bei der ELRisikokennzahl lediglich das (1-EP)Quantil – z.B. 10 %-Quantil beim P90-Wert – der durch eine konkrete RES-Energieanlage stochastisch generierten Energiemenge gemessen wird. Bei der dem MEP-Framework zugrundeliegenden CCP-S&D-LPMethodik handelt es sich um eine Linear Programming (LP)-Optimierung, wobei die CCP-Optimierung im Kontext einer linear formulierten Problemstellung angesiedelt und somit einfach lösbar ist. Die probabilistische Anforderung hinsichtlich der Deckung des Eigenbedarfs wird dabei in Form von Szenario-bezogenen Nebenbedingungen formuliert. D.h., jede empirisch beobachtete Realisation der durch eine Anlage stochastisch generierten Energie stellt ein Realisa-

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Abbildung 1: Meteorologische Datenmessung – Strahlung (Global Horizontal Irradiance) und Geschwindigkeit (m/s)

tionsszenario dar, welches in einer eigenen linearen Nebenbedingung in die LP-Optimierung eingeht. Konkret geht die realisierte Energie auf der linken Seite der Nebenbedingung als Produkt mit der in m² gemessenen Kapazität, wobei es sich um die Entscheidungsvariable der LP-Optimierung handelt, ein. Für dieses Produkt wird gefordert, dass es größer oder gleich dem auf der rechten Seite der Nebenbedingung stehenden Eigenbedarf ist. Somit werden zunächst alle möglichen Energierealisationen als Nebenbedingungen in der LP-Variante der CCP-Optimierung erfasst. Im nächsten Schritt wird mit dem S&D-Algorithmus die Anzahl der zu eliminierenden (discarding) Realisationen [CaGa11, S. 269, Gleichung 8] unter Einbeziehung der geforderten Mindest-Konfidenz-, d.h. Sicherheitswahrscheinlichkeit (MEP) berechnet. Diese werden dann aus der Menge der bindenden Nebenbedingungsszenarien entfernt. Schließlich wird das Optimierungsproblem mit der verbleibenden, reduzierten Menge an Nebenbedingungen gelöst. Dabei wird die lineare Zielfunktion hinsichtlich der Kosten minimiert, wobei die Kosten der Energieanlage als Produkt der Kosten pro Kapazitätseinheit und der Kapazität (in m²) der Energieanlage berechnet werden. Das Ergebnis der LP-Minimierung der Kosten der RES-Energieanlage unter Einhaltung der reduzierten Szenario-bezogenen Nebenbedingungen ist die optimale Kapazität (in m²) der Energieanlage, welche 1) die probabilistische MEP-Anforderung erfüllt und 2) die Kosten der Anlage minimiert. Folglich ist die Kostenminimierung erst das zweite Kriterium, um aus der Menge aller Lösungen, welche die MEP-Anforderung erfüllen,

die optimale Lösung zu bestimmen. Die Erfüllung der MEP-Anforderung liefert nämlich alleine betrachtet multiple Lösungen, zumal sich durch übergroße Dimensionierungen der Energieanlage diese Anforderung auch problemlos erfüllen lässt. 2. Autarcic Energy @ Home: Beschreibung eines geografisch lokalen Fallbeispiels Die empirisch beobachteten Realisationen der durch eine Energieanlage stochastisch generierten Energiemengen sind modellhaft bestimmte Werte, welche aus den empirisch gemessenen meteorologischen Daten in Form von Sonnenstrahlung und Windgeschwindigkeit durch Transformation mittels EnergieanlagenModellen für die PV-Sonnen-Energie und Turbine-Wind-Energie berechnet werden. Die Verwendung von empirischen meteorologischen Daten ist 2-fach vorteilhaft, zumal dadurch einerseits geografisch lokale Gegebenheiten in der Kapazitätsplanung berücksichtigt werden und andererseits auch keine zusätzlichen Annahmen bei der Kapazitätsoptimierung für die Verteilung der stochastischen Energiemengen benötigt werden. Abbildung 1 zeigt auf der linken Seite die über gut 5 Jahre gemessenen Strahlungen und Geschwindigkeiten, welche im Wohnbereich des @HomeHaushalts in der südlichen Umgebung von Wien empirisch erfasst wurden. Die Daten beziehen sich auf stündliche Messungen im Zeitraum zwischen 9 und 16 Uhr jeweils im Monat Januar. Die Begrenzung auf diese 1.148 Messwertpaare dient der Vereinfachung des @Home-Fallbeispiels, um die Funktionsweise des MEP-Frameworks anhand eines ein-

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TOP-THEMA die Rotorfläche Energiemengen in 10 %-Schritten. auf einen m² Zusätzlich enthält die Tabelle auch bezogen sowie die Konfidenzwahrscheinlichkeiten die Luftdich- (EP, Überschreitungswahrscheinlichte einbezogen. keiten), welche als KomplementärSchließlich wird wahrscheinlichkeiten der Quantils-, Abbildung 2: Spezifikation der Energieanlagen-Modelle die dadurch er- also der „Unterschreitungswahrfachen Beispiels zu veranschaulichen. mittelte Leistung scheinlichkeiten“ berechnet werden. Das Januar-Monat wird gewählt, da des Windes mit dem Leistungsbei- Dadurch sind die P50- und P90-Werte in diesem unter allen Monaten des wert multipliziert, um die stündliche für beide Anlagen direkt ersichtlich, Jahres die Sonnenstrahlung am ge- Leistung der Wind-Energieanlage zu u.z. 25 und 1 für die Solar-Energie ringsten ist. berechnen. bzw. 47 und 2 für die Wind-Energie. Die rechte Seite von Abbildung 1 Abbildung 3 zeigt die sich aus der Bei Verwendung des P90-Werts als zeigt die Verteilungen der stochasti- Umrechnung der meteorologischen Risikomaß zeigt sich somit für beide schen Strahlungen und Geschwindig- Messdaten ergebenden stündlichen RES-Energieanlagen ein ähnliches keiten anhand von Boxplots. Dabei Solar- und Wind-Energiemengen. Risiko. gibt der dicke Strich in der Mitte den Die Solar-Energie ist aufgrund der Median (50 %-Quantil bzw. P50). gegebenen Peak-Leistung bei 100 be- 4. MEP-bezogene Optimierung: Die obere bzw. untere Grenze der grenzt. Im Unterschied dazu Box kennzeichnet das dritte Quartil wird bei der Wind-Energie (75 %-Quantil bzw. P25) bzw. das die Nennleistung übertroferste Quartil (25 %-Quantil bzw. fen, wenn die WindgeschwinP75). Die nach oben und unten ein- digkeit die Nennwindgegezeichneten Whiskers dienen zur schwindigkeit (Rated Speed) Kenntlichmachung der anhand von übersteigt. In der Abbildung Punkten eingezeichneten statisti- wird die Energiemenge bei schen Ausreißer. Durch die unter- 400 begrenzt, um eine anschiedlichen Messdimensionen der schaulichere Darstellung zu beiden meteorologischen Daten wirkt erhalten. Bei den statistischen die Verteilung der Geschwindigkeit Ausreißern der Wind-Energie Abbildung 3: Solar- und Wind-Energiemengen – durch die Darstellung in einem ge- wird sogar ein Maximalwert Darstellung der empirischen Wahrscheinlichkeiten meinsamen Diagramm vorerst unbe- von 828 (siehe Abbildung 4) deutend. erreicht. Zur Vereinfachung werden Geografisch optimale Kapazitätsplabei der Wind-Energieanlage sowohl nung von RES-Investitionen Zur Umrechnung der meteoro- Einschalt- (Cut-In Speed) als auch logischen Daten in PV-Solar- und Abschaltgeschwindigkeiten (Cut-Off Nunmehr liegen alle Ingredienzien Turbine-Wind-Energiemengen wer- Speed) vernachlässigt. zur MEP-bezogenen Optimierung den die beiden in Abbildung 2 spezifiDurch Kumulierung der in Ab- der RES-Anlagenkapazität für den @ zierten RES-Energieanlagen-Modelle bildung 3 dargestellten Wahr- Home-Haushalt vor. Zur Umsetzung verwendet. Zur direkten Vergleich- scheinlichkeiten für die stündlichen der dem MEP-Framework zugrundebarkeit sind beide Anlagenmodelle Energiemengen ergeben sich die liegenden CCP-S&D-LP-Methodik auf jeweils einen m² Fläche bezogen: diesbezüglichen Verteilungsfunkti- wird ein LP-Problem erstellt, welches Bei der Solar-Anlage ist es die Modul- onen, welche in Abbildung 4 link- mit der „lpSolve“ Bibliothek in der fläche und bei der Wind-Anlage ist es seitig grafisch und rechtsseitig ta- Statistik-Suite „R/RStudio“ gelöst die Rotorfläche der Turbine. bellarisch dargestellt werden. Die wird. Zu diesem Zweck wird zur Betabellarische Darstellung enthält die stimmung der kostenminimalen Ka3. Solar- und Wind-Energiemengen: Quantilswahrscheinlichkeiten (Prob) pazität der Solar-Energieanlage wie Berechnung aus geografisch meteound die dazugehörigen Quantile der folgt vorgegangen: rologischen Daten Die Berechnung der Solar-Energie gestaltet sich einfach, zumal dabei die Strahlung lediglich mit dem Wirkungsgrad, d.h. dem Leistungsbeiwert (Coefficient of Performance, kurz: cp) multipliziert wird. Bei der Wind-Energie wird die kinetische Energie der Anlage, welche die Luft bei Durchströmung der Rotorfläche erzeugt, berechnet. Bei der Berechnung der bewegten Luftmasse wird

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Abbildung 4: Solar- und Wind-Energiemengen – Darstellung der empirischen Verteilungsfunktionen

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TOP-THEMA 1) Spezifikation der Entscheidungsvariable: Die zu optimierende Größe ist die Kapazität, d.h. die in m² gemessene Fläche der PV-SolarEnergieanlage. 2) Spezifikation der Szenariobezogenen Nebenbedingungen: Die 1.148 empirisch basierten Solar-Energiemengen werden mit der Kapazität multipliziert und gehen so in die linke Seite der 1.148 Nebenbedingung ein. Die rechte Seite der Nebenbedingungen, welcher kleiner als die linke Seite zu sein hat, steht jeweils der zu deckende Eigenbedarf. 3) Spezifikation der Mindest-Konfidenzwahrscheinlichkeit (MEP) und Elimination von Nebenbedingungen: Bei einem MEP von 80 % wird entsprechend dem S&D-Algorithmus die Zahl 192 ermittelt. Folglich werden 192 bindende von den anfänglich 1.148 (also 16,72 %) Nebenbedingungen entfernt. 4) Spezifikation der Zielfunktion: Um aus der Menge der verbleibenden 956 Nebenbedingungen die optimale Lösung zu identifizieren, werden die durch Multiplikation der Kapazität mit den Kosten pro Kapazitätseinheit gebildeten Kosten minimiert. 5) Durchführung der Optimierung: Zumal sowohl die Zielfunktion als auch die Nebenbedingungen in linearer Beziehung zur Kapazität stehen, liegt ein lineares Optimierungsproblem vor mit der Lösung: optimale Kapazität von 31.38 m² und minimale Kosten von 6.276.

zeigt sich ein deutlich nicht-linearer Verlauf, wobei die optimalen Kapazitäten bei hohen MEP-Werten progressiv sprunghaft ansteigen. Die optimalen Kapazitäten für die Wind-Energieanlage sind sehr hoch, sodass sie keine realistischen Lösungen darstellen. Die Verteilung der Wind-Energie ist im vorliegenden Fall nicht geeignet um den Eigenbedarf mit hinreichender Sicherheit zu decken. Bei einer gemeinsamen Betrachtung beider Anlagen zeigt sich aber eine leichte Verbesserung. Bei Entfernung von durch die Wind-Anlage bindenden Nebenbedingungen ergibt sich eine PV-Fläche von 30,13 m² und eine Turbine-Rotorfläche von 0,17 m², was einen Rotorradius von 0,23 m entspricht, und die diesbezüglich minimalen Kosten sind 6.198. Das Ergebnis ist zwar rechentechnisch besser aber praktisch wohl eher nicht umzusetzen. 5. Zusammenfassender Ausblick

Bei der MEP-bezogenen Optimierung mit dem MEP Framework steht die Überschreitungswahrscheinlichkeit (EL) im Zentrum, indem sie die Mindest-Konfidenz-, d.h. Sicherheitswahrscheinlichkeit (MEP) für die Einhaltung der Nebenbedingung vorgibt. Durch Anwendung der CCP-S&D-LP-Methodik wird das im MEP Framework linear formulierte „probabilistische Optimierungsproblem“ rechentechnisch effizient mit der linearen ProgramAbbildung 5 zeigt die optimale mierungsmethode gelöst. Zur VeranKapazität bei der Mindest-Konfi- schaulichung der Funktionsweise der denz-, d.h. Sicherheitswahrschein- MEP-bezogenen Optimierung wurde lichkeit von 80 %. Darüber hinaus ein einfaches Fallbeispiel im Autarcic enthält die Abbildung auch die sich Energy@Home-Kontext verwendet. für alternative MEP-Werte ergeDie CCP-S&D-LP-Methodik ist benen optimalen Kapazitäten. Dabei aber gut erweiterbar, insbesondere durch Einbeziehung von Shortfall-Kosten [Ondr21] bzw. durch Verbindung mit dem finanzwirtschaftlichen Net Present Value (N PV)-B ewertungsansatz [OSE21]. Die rechentechnische Effizienz sowie derartige Erweiterungen machen das MEP-Framework sodann insbesondere für B eyond@Home -A nwenAbbildung 5: Kostenminimale PV-Kapazitäten in dungen interessant, wobei Abhängigkeit der probabilistischen (MEP-)Anforderung Kapazitätsplanungen und

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Entscheidungen bezüglich Investitionen in RES-Energieanlagen unter Berücksichtigung betrieblicher bzw. industrieller (MEP-)Eigenbedarfsdeckungen, d.h. einer probabilistischen (MEP-)Anforderung zu machen sind. Referenzen Campi M./Garatti S. 2011 [CaGa11]. A sample-and-discard approach to chance-constrained optimization: feasibility and optimality. Journal of Optimization Theory and Applications, 148 (2), S. 257-280 Charnes A./Cooper W. W. 1959 [CaCo59]. Chance-Constrained Programming, Management Science, Vol. 6, No. 1, S. 73-79 Dobos A./Gilman P./Kasberg M. 2012 [DGK12]. P50/P90 Analysis for Solar Energy Systems Using the System Advisor Model. Conference Paper: World Renewable Energy Forum, Denver, Colorado, 13.-17. Mai 2012 Ondra, M. 2021 [Ondr21]. Investment in renewable energy technologies under uncertainty. Dissertation an der TU Wien. September 2021 Ondra, M./Schwaiger W./Eigruber M. 2021 [OSE21]. Direct investments in renewable energy portfolios: Stochastic NPV-based capacity budgeting, Conference Paper: ‘Energy, COVID, and Climate Change, Online’, International Association of Energy Economics (IAEE), 7.-9. Juni 2021 Autoren: Univ. Prof. Dr. Walter S.A. Schwaiger, MBA Ordinarius für Rechnungswesen und Controlling, TU Wien Walter S.A. Schwaiger ist seit 2002 Inhaber des Lehrstuhls „Rechnungswesen und Controlling“ und Leiter des Forschungsbereichs „Finanzwirtschaft und Controlling“ am Institut für Managementwissenschaften der Fakultät für Maschinenwesen und Betriebswissenschaften an der TU Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Financial Enterprise Management, Enterprise Risk Management und IT-based Enterprise Management.

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WING-INTERN Markus Eigruber, PhD Universitätsassistent am Forschungsbereich „Finanzwirtschaft und Con-

trolling“ am Institut für ment-wissenschaften der für Maschinenwesen und wissenschaften an der TU

ManageFakultät BetriebsWien. Er

Univ. Prof. Dr. Walter S.A. Schwaiger, MBA Ordinarius für Rechnungswesen und Controlling, TU Wien

forscht in den Bereichen der Energieund Umweltökonomie mit Schwerpunkt der nachhaltigen Finanzierung.

Markus Eigruber, PhD Universitätsassistent am Forschungsbereich „Finanzwirtschaft und Controlling“ am Institut für Management-wissenschaften, TU Wien

WING-INTERN Sigrid Weller

WING-digital – Bleiben wir interessiert und motiviert!

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nsere mittlerweile etablierte und gut besuchte Veranstaltungsreihe WING-digital bot unseren Mitgliedern viele interessante Vorträge und spannende Diskussionen. Dipl.-Ing. Harald Hagenauer (Österreichische Post AG) leistete einen wertvollen Beitrag für unsere Mitglieder und trug zu dem Thema „Der Weg zur CO2-freien Zustellung - die E-Mobility Erfahrungen der Österreichischen Post“ vor. Die Österreichische Post betreibt mit 10.000 Fahrzeugen die größte Fahrzeugflotte Österreichs und hat sich das Ziel gesetzt, bis 2030 bei Zustellung von Briefen und Paketen vollständig auf E-Antriebe zu setzen. Im Dezember 2021 zeigten unsere Mitglieder großes Interesse and dem Vortrag von Dipl.-Ing. Alexander Kainer (Deloitte Österreich) "Was ist dran am Wasserstoff". Dabei wurde erläutert, welchen Einfluss H2 auf die

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Verkehrs- und Mobilitätswende haben kann. Dazu gab er sowohl einen Überblick über Europa als auch einen Einblick nach Österreich. Hon.-Prof. (FH) Dr. Ernst Kreuzer trug zu dem Thema „Weiterbildung Neu denken und gestalten - Mastering Digital Disruption" vor. Dieser beschäftigte sich mit der Arbeitswelt der Zukunft, da sich die Arbeitswelt in einem nachhaltigen Umbruch befindet und sich rasant wandelt was dazu führt, dass neue Qualifikationen und Fähigkeiten an der Schnittstelle Wirtschaft/ Technik gefragt sind. Über "Effizienzsteigerung durch digitalen Zwilling vom Maschinenprozess" informierte Dipl.-Ing. Reinhard Haslauer (Selmo Technology GmbH). Aktuell ist es eine große Herausforderung im Maschinenbau, die richtigen Dinge gleich richtig zu tun. Durch digitalen Zwilling vom Prozess kann die Effizienz gesteigert werden.

Im März 2022 berichtete Dipl.-Ing. Max Schade (STROHBOID GmbH) über das Thema "Gründungsmotivation für Nachhaltigkeits-Start-ups?". Er erzählte über seinen Antrieb ein nachhaltiges Start-up in der Baubranche zu gründen sowie den Hürden und Chancen, auf die er seit der Gründung gestoßen ist. Sie haben eine WING-digital Veranstaltung verpasst? Ausgewählte Vorträge finden Sie auf unserer WING-Homepage www.wing-online.at. Sie möchten uns auch etwas mitteilen und haben eine Idee für eine WING-digital Veranstaltung? Dann melden Sie sich bitte per E-Mail office@wing-online.at. Unsere zukünftigen Veranstaltungen sind auf der Homepage zu finden und werden regelmäßig per Newsletter via E-Mail ausgesendet und auf LinkedIn angekündigt.

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UNINACHRICHTEN

UNINACHRICHTEN Johannes Dirnberger

25 Jahre Industrial Management, ganz nach dem Motto „I’m future!“ Ein Erfolgsbericht des Alumni-Verein IMC, der auch in die Zukunft blickt „Wenn alles so gelaufen wäre wie geplant, dann hätten wir uns wahrscheinlich live bei einer unserer Veranstaltungen zum 25-Jahre-Jubiläum des Instituts Industrial Management (IWI) getroffen: Tagungen, Projektpräsentationen, Lange Nacht der Forschung oder bei einer der Führungen in unserer Industrie-4.0Lehr- und Forschungsfabrik Smart Production Lab“, lässt Professor Martin Tschandl, Institutsleiter von Industrial Management an der FH JOANNEUM, die corona-bedingt geplatzten Jubiläums-Ideen Revue passieren. Zur Feier des Jubiläums musste ein adäquater „Second-Best-Ersatz“ gefunden werden. Gemeinsam mit dem Industrial-Management-Alumni- und WING-Schwesterverein „Industrial Management Club Kapfenberg“ (IMC) startete man daher einen kre-

ativen Prozess. Das Ergebnis ist ein Booklet über das Studium und Institut Industrial Management sowie den Absolventenverein – ein Erfolgsbericht vom Start im Jahr 1995 bis heute. „25 Jahre IWI und beinahe 20 Jahre Industrial Management Club (IMC) – zwei Jubiläen, die Ausdruck einer langjährigen, tiefen Verbundenheit sind, und uns Anlass geben, gemeinsam zurückzublicken“, so der IMC-Präsident Markus Dirschlmayr zur gemeinsamen Festschrift. Doch die Festschrift ist viel mehr als nur ein Rückblick: „Zukunft braucht Herkunft“, schrieb schon der deutsche Philosoph Odo Marquard. Und um die Geschichte um künftige Kapitel zu erweitern, wurde ein Ausblick in die nächsten Jahre ergänzt, damit alle Stakeholder wissen, was bis 2030 noch passieren soll.

Dabei zeigt sich auch der IMC zuversichtlich, dass es ihm weiterhin mit einem schlagkräftigen Team gelingt, gemeinsame Aktivitäten zu organisieren und in guter Verbindung zum Institut Nutzen zu stiften. „Wir leisten mit unserem Netzwerk bestehend aus erfolgreichen Fach- und Führungskräften und als unmittelbare Schnittstelle zum Verband der österreichischen Wirtschaftsingenieure WING, einen wesentlichen Beitrag zum positiven Image unserer industriellen WirtschaftsingenieurAbsolventinnen und Absolventen“, so Dirschlmayr weiter. 25 Jahre IWI und beinahe 20 Jahre IMC – wo man als IMC zur Gründung 2002 vielleicht noch zurückhaltend beim „in die Zukunft schauen“ war, kann heute zufrieden zurück und hoffnungsvoll nach vorne geblickt werden.

Bilduelle: © FH JOANNEUM; Das IWI-Institut und der Alumni-Verein IMC dokumentieren 25+5 Jahre in ihrer Festschrift zu den gemeinsamen Jubiläen.

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IMPRESSUM

WING to your success

…wir sind für Sie garantiert von Nutzen … Gerade in Zeiten wie diesen stellen ein reizvoller Workshop, das Verteilen von lukrativen Flyern oder eine interessante Firmenpräsentation effiziente und kostengünstige Möglichkeiten zur Werbung für Unternehmen in Fachkreisen dar. Hervorzuheben ist der Zugang zur Technischen Universität als Innovations- und Forschungsstandort der besonderen Art, denn im Zuge von Bachelor- und/oder Masterarbeiten können Sie Studenten in Ideen für Ihre Firma miteinbeziehen und mit ihnen innovative Lösungen ausarbeiten. Nicht zuletzt wird auf diesem Weg auch für die Zukunft vorgesorgt. Denn schließlich sind es die heutigen Studenten der Technischen Universität, die morgen als Ihre Kunden, Händler oder Lieferanten fungieren. Mit WINGnet-Werbemöglichkeiten kann man diese nun schon vor dem Eintritt in das Berufsleben von sich und seiner Firma überzeugen und somit eine gute Basis für eine langfristige und erfolgreiche Zusammenarbeit schaffen. WINGnet Wien veranstaltet mit Ihrer Unterstützung Firmenpräsentationen, Workshops, Exkursionen sowie individuelle Events passend zu Ihrem Unternehmen. WINGnet Wien bieten den Studierenden die Möglichkeit- zur Orientierung, zum Kennenlernen interessanter Unternehmen und Arbeitsplätze sowie zur Verbesserung und Erweiterungdes universitären Ausbildungsweges. Organisiert für Studenten von Studenten.Darüber hinaus bietet WINGnet Wien als aktives Mitglied von ESTIEM (European Students of Industrial Engineering and Ma-

WINGbusiness Impressum Medieninhaber (Verleger) Österreichischer Verband der ­Wirtschaftsingenieure Kopernikusgasse 24, 8010 Graz ZVR-Zahl: 026865239 Editor Heft 1/2022 Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Ulrich Bauer E-Mail: ulrich.bauer@tugraz.at Redaktion/Layout Chefin vom Dienst & Marketingleiterin: Mag. Beatrice Freund Tel. +43 (0)316 873-7795, E-Mail: office@wing-online.at Editorial Board Dipl.-Ing. Sigrid Weller BSc. E-Mail: sigrid.weller@tugraz.at Dipl.-Ing Thomas Draschbacher, BSc. E-Mail: thomas.draschbacher@tugraz.at Dipl.-Ing. Florian Schierlinger-Brandmayr E-Mail: florian.schierlinger-brandmayr@tugraz.at Dipl.-Ing. Theresa Passath, BSc. E-Mail: theresa.passath@unileoben.ac.at Dipl.-Ing. Dominik Ehmann, BSc. E-Mail: dominik.ehmann@tugraz.at Dipl.-Ing. Andreas Kohlweiss, BSc E-Mail: andreas.kohlweiss@tugraz.at Dipl.-Ing. Marco Berger, BSc

E-Mail: marco.berger@tugraz.at Anzeigenleitung/Anzeigenkontakt Mag. Beatrice Freund Tel. +43 (0)316 873-7795, E-Mail: office@wing-online.at

nagement) internationale Veranstaltungen und Netzwerke. In 24 verschiedenen Ländern arbeiten 66 Hochschulgruppen bei verschiedenen Aktivitäten zusammen und treten so sowohl untereinander als auch zu Unternehmen in intensiven Kontakt. Um unser Ziel - die Förderung von Studenten - zu erreichen, benötigen wir Semester für Semester engagierte Unternehmen, die uns auf verschiedene Arten unterstützen und denen wir im Gegenzug eine Möglichkeit der Firmenpräsenz bieten. Die Events können sowohl in den Räumlichkeiten der TU Wien als auch an dem von Ihnen gewünschten Veranstaltungsort stattfinden. Weiters können Sie die Zielgruppe individuell bestimmen. Sowohl alle Studienrichtungen als auch z.B. eine Festlegung auf Wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen ist möglich. Außerdem besteht die Möglichkeit eine Vorauswahl der Teilnehmer, mittels Ihnen vorab zugesandten Lebensläufen, zu treffen. Auf unserer Webseite http://www.wing-online.at/de/ wingnet-wien/ finden Sie eine Auswahl an vorangegangenen Events sowie detaillierte Informationen zu unserem Leistungsumfang WINGnet Wien: Theresianumgasse 27, 1040 Wien, wien@wingnet.at ZVR: 564193810

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Druck Druckhaus Scharmer GmbH, Europastraße 42, 8330 Feldbach Auflage: 1.800 Stk. Titelbild: (c) TU Austria WING-Sekretariat Kopernikusgasse 24, 8010 Graz, Tel. (0316) 873-7795, E-Mail: office@wing-online.at WING-Homepage: www.wing-online.at Erscheinungsweise 4 mal jährlich, jeweils März, Juli, Oktober sowie Dezember. Nachdruck oder Textauszug nach Rück­sprache mit dem Editor des „WINGbusiness“. Erscheint in wissenschaftlicher Zusammen­arbeit mit den einschlägigen Instituten an den Universitäten und Fachhochschulen Österreichs. Der Wirtschaftsingenieur (Dipl.-Wirtschaftsingenieur): Wirtschaftsingenieure sind wirtschaftswissenschaftlich ausgebildete Ingenieure mit akademischem Studienabschluss, die in ihrer beruflichen Tätigkeit ihre technische und ökonomische Kompetenz ganzheitlich verknüpfen. WING - Österreichischer Verband der Wirtschaftsingenieure ist die Netzwerkplattform der Wirtschaftsingenieure. ISSN 0256-7830

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