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5. Anwendungsfälle

5. Anwendungsfälle

Die Data Journey hat die Rolle von Real World Data von Prävention bis Nachsorge analysiert. Daraus konnte der Nutzen der Daten anhand sechs zentraler Punkte festgemacht werden. Nachfolgend werden diese beiden Perspektiven anhand von konkreten Beispielen zusammengeführt.

Beispiel 1: Real World Data in klinischen Studien

(Nutzung von Daten aus Therapie/Nachsorge)

I. Kurzbeschreibung

In traditionellen klinischen Studien werden – sehr vereinfacht – Patienten in zwei Gruppen eingeteilt: Die einen bekommen das neue, potenziell bessere Medikament, die anderen (der „Kontrollarm“) die Standardtherapie, sofern diese vorhanden ist. Bei lebensbedrohlichen Erkrankungen, für die es bislang keine befriedigende Therapie gibt, ist es ethisch fragwürdig, Patienten einer Kontrollgruppe zuzuweisen und ihnen damit die Chance auf eine neue Therapieoption zu versagen. Lässt sich diese Kontrollgruppe durch Real World Data ersetzen, sodass alle Patienten in der Studie von Beginn an das neue Medikament bekommen können, ist das ein deutlicher Vorteil, der zudem die Effizienz der klinischen Forschung erhöht.

Diese Daten gibt es beispielsweise in Krankenakten von Patienten, die mit aktuellen Therapien behandelt werden. Um nun sicherzustellen, dass man auch wirklich vergleichbare Patienten vergleicht, wendet man statistische Verfahren an, die die Eigenschaften der Real-World-Data-Patienten mit den Studienpatienten abgleichen. Das geht nur, wenn man die Variablen, die den Krankheitsverlauf beeinflussen (z. B. Alter, Begleiterkrankungen etc.), für die Real-World-Data-Patienten kennt. Das Verfahren wurde bereits mehrfach (z. B. bei Krebsstudien in den USA) angewendet und wird von verschiedenen Behörden weltweit anerkannt. Damit ein Vergleich gelingt, ist es bei Real-World-Data-Patienten wichtig, trotz unterschiedlicher Bedingungen Rückschlüsse auf einen ähnlichen Krankheitsverlauf ziehen zu können, um den Erfolg der Therapie zu maximieren.

Dieses Beispiel zeigt, wie Real World Data zur Entwicklung neuer Therapien und dadurch zur Senkung der Kosten bei Steigerung der Effizienz beitragen.

II. Innovationshindernisse und Empfehlungen an die Politik

Um das Potenzial von Real World Data für den medizinischen Fortschritt zu nutzen, sind einheitliche Standards bezüglich Datenqualität sowie die Anwendung adäquater Validierungsmethoden notwendig – und eine Infrastruktur, die die Vernetzung und den Austausch von Daten zu wissenschaftlichen Zwecken überhaupt ermöglicht. Dazu zählt unter anderem die Schaffung eines bundeseinheitlichen Rechtsrahmens für die Nutzung von Patientendaten zu wissenschaftlichen Zwecken – mit der Möglichkeit des Zugangs zur Datennutzung auch für die private Forschung. Das Antragsrecht der Industrie zu anonymisierten oder pseudonymisierten Gesundheits- und Behandlungsdaten ist ein zentraler Schlüssel, um die Potenziale der Digitalisierung zu nutzen.

Beispiel 2: Medizintechnik, Strahlentherapie

(Nutzung von Daten aus Diagnostik/Therapie)

I. Kurzbeschreibung

Bestrahlungspläne in der onkologischen Therapie werden nicht mehr ausschließlich auf der Basis des Know-hows und der Erfahrung des Physikers bzw. der technischen Möglichkeiten der Bestrahlungssoftware erstellt. In der Strahlentherapie fallen eine Vielfalt von multimodalen Bilddaten sowie klinischen, biologischen und physikalischen Daten an, deren Potenzial sich mit traditionellen Methoden nicht den aktuellen Möglichkeiten entsprechend nutzen lässt. Hier bietet die Einbeziehung von KIunterstützten Anwendungen und eine Rückkopplung des klinischen „outcomes“ (z. B. über patient reported outcome measures, PROMS) ein großes Potenzial, den medizinischen Ablauf zu erleichtern, zu verbessern und das therapeutische Vorgehen zu optimieren. Real World Data sind im Rahmen der Anwendungen künstlicher Intelligenz von hoher Bedeutung, da es sich im Bereich der Strahlentherapie häufig um seltenere Erkrankungen handelt, bei denen nur Studien mit kleinen Patientenzahlen mit oft widersprüchlichen Ergebnissen vorliegen. Um valide Erkenntnisse und standardisierte Therapieverfahren zu etablieren, ist es jedoch nötig, eine umfangreiche Kohorte (mittels Real World Data z. B. im Rahmen von Registern) und damit auch große Mengen von Bilddaten in Verbindung mit den klinischonkologischen Daten zu untersuchen.

Dazu wäre es von Bedeutung, entweder den onkologischen Basisdatensatz der klinischen Krebsregister (§65c SGB V) um prä- und postoperative Bilddaten sowie detaillierte Informationen des Bestrahlungsplans auszuweiten oder die gesamten Behandlungsdaten in die ePA zu integrieren.

Die Erhebung und Zusammenführung von Real World Data (z. B. über Register oder durch die Kombination verschiedener Quellen) bietet zudem die Möglichkeit einer besseren Vergleichbarkeit der Qualität therapeutischer Verfahren zwischen den Kliniken und damit die Chance auf eine Minimierung der oftmals hohen Variabilität in der Strahlentherapie. Ziel ist hierbei ebenfalls die Verbesserung der medizinischen Qualität und eine bestmögliche Behandlung für den Patienten. Auch von der Unterstützung der interdisziplinären Zusammenarbeit der Mediziner und einem guten Datenzugang im Rahmen von Registern profitiert letztlich der Patient. Eine Optimierung des therapeutischen Vorgehens vermindert zudem für den Patienten unnötige und teure Medikationen und Eingriffe.

II. Innovationshindernisse und Empfehlungen an die Politik

Ein erster Schritt zur Nutzung von Real World Data mittels eines Registers ist bereits erfolgt, sodass sich Datensätze – wie etwa das Landeskrebsregister – in ein nationales Register überführen lassen. Der Basisdatensatz für die Tumordokumentation bietet eine gute Grundlage für internationale oder europaweite Kooperation.13 Das Ziel des Basisdatensatzes ist wie folgt definiert:

„Der einheitliche onkologische Basisdatensatz soll dazu dienen, einen homogenen onkologischen Standard zu etablieren, Mehrfachdokumentationen zu verhindern und in allen Bundesländern und klinischen Strukturen eine vergleichbare Erfassung und Auswertung von Krebsbehandlungen zu ermöglichen.“ 14 Dies umfasst die bundesweite Vorgabe, medizinische Informationen analog diesem

13 „Um deutschlandweit Meldungen zu der Diagnose, der Therapie, dem Verlauf und der Nachsorge nach dem gleichen Schema für weitergehende Auswertungen zusammenführen und analysieren zu können, ist der zu meldende Datensatz bundeseinheitlich festgelegt.“ Quelle: Hessisches Krebsregister: https://hessisches-krebsregister.de/meldende/tumordokumentation-der-meldungen/basisdatensatz-fuer-die-tumordokumentation/ 14 Ibid.

Basisdatensatz zu erheben.15 „Er gilt für alle Krebsarten und wird fortlaufend um organspezifische Module ergänzt.“16

Die Politik ist an dieser Stelle gefordert, sich zu den Standards (Semantik und Interoperabilität) auf internationaler Ebene oder zumindest in der EU abzustimmen und den dafür erforderlichen gesetzlichen Rahmen zu schaffen. Darüber hinaus muss der Gesetzgeber die Zugriffs- und Auswertungsrechte zugunsten der Anwender regeln. Zur Zusammenführung der Daten werden außerdem Harmonisierungsvorschriften zur einheitlichen Kodierung und Dokumentation benötigt. Neben der ungeklärten Frage, welche Institution das Register führen könnte, muss auch eine Lösung für eine gemeinschaftliche Finanzierung entwickelt werden. Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, auch für die Gesundheitsindustrie eine Möglichkeit zu schaffen, Daten aus dem Versorgungsalltag zu analysieren und das Wissen zu nutzen. Die Politik muss vor allem die Vernetzung von Forschung und Versorgung stärker fördern, die Innovationen, Wertschöpfung und damit den Wohlstand sichert.

15 Ibid. 16 Ibid.

Beispiel 3: Real World Data in epidemiologischen Fragestellungen

(Nutzung von Daten aus Prävention)

I. Kurzbeschreibung

Real World Data werfen in einem digitalen Studiensetting – etwa über Telemonitoring – neben der Frage der technischen Lösung datenschutzrelevante Themenkomplexe auf. Die Corona-Warn-App, welche die Verfolgung von Annäherungen über Smartphones ermöglicht, um Kontakte bei Virusträgern über Expositionsrisiken zu informieren, ist ein Beispiel für die Abwägung zwischen Datenschutz und Zweckbestimmung.

Die Zusammenarbeit einer Vielzahl von Experten aus Wissenschaft, Politik und Industrie trug zum Gelingen des Projekts bei. Es zeigte sich, dass durch öffentlichen Diskurs die Akzeptanz der WarnApp erhöht und die Nutzung in relevantem Ausmaß gefördert wird. Die Freiwilligkeit der Nutzung stellte eine maßgebliche Voraussetzung für das Projekt dar.

Real World Data können in epidemiologischen Fragestellungen einen entscheidenden Beitrag zu einer schnelleren Risiko-Nutzen-Abschätzung liefern. Die z. B. durch eine App freiwillig und selbstbestimmt übermittelten und gesammelten Daten können für eine erste Bewertung von Hypothesen nützlich sein und erste Hinweise über medizinische Zusammenhänge liefern. Ein standardisierter Aufbau von Registern reduziert Kosten und ermöglicht Synergien in Erhebung, Validierung und Prozessgüte.

Ziel ist eine Real-World-Data-Erfassung in enger europäischer Zusammenarbeit, um die sich aus den Umfragen ergebenden Erkenntnisse sowohl länderübergreifend zu analysieren als auch gemeinsam zu nutzen. So soll das Know-how innerhalb der EU effizient und zielgerichtet – z. B. zum Zweck einer verbesserten länderübergreifenden Reaktionsfähigkeit im Krisenfall – gebündelt werden. Es braucht eine interoperabel gestaltete IT-Struktur, die internationale und insbesondere europäische Standards für technische Normen sowie gemeinsame Datenstrukturen und Dokumentationswege anwendet. Unter Berücksichtigung der in der EU geltenden Werte, Normen und Gesetze kann eine europaweite Lösung nach DSGVO erfolgen.

II. Innovationshindernisse und Empfehlungen an die Politik

Grenzüberschreitende Datenauswertungen im gemeinsamen europäischen Gesundheitsdatenraum sind eine Voraussetzung für Innovationen durch die Nutzung von Real World Data. Politische Priorität muss jetzt der Aufbau eines European Health Data Space (EHDS) haben. Beantwortet werden muss die Frage nach einer zentralen oder dezentralen Speicherung der Daten. Voraussetzung ist in jedem Fall die Anschlussfähigkeit des deutschen Forschungsdatenzentrums an einen europäischen Datenraum. Notwendig sind darüber hinaus Vorgaben für den Einsatz von KI und die Möglichkeit, Forschungsanstrengungen zu validierten Best Practice-Ansätzen im Zusammenhang mit Real World Data zu intensivieren.

Das Beispiel verdeutlicht, wie wichtig eine gesellschaftliche Diskussion zu öffentlichen und privaten Forschungs- und Lösungsansätzen ist. Nur so gelingt es, Vertrauen und Verständnis für die Datennutzung in der Bevölkerung zu stärken, um einen breiten Konsens, der gesellschaftlichen Rückhalt besitzt, zu erreichen. Transparenz darüber, wer welche Daten wofür verwendet, schafft Vertrauen.

Beispiel 4: Real World Data in der Versorgungsforschung

(Nutzung von Daten aus Prävention, Diagnose, Therapie)

I. Kurzbeschreibung

Im Rahmen der Versorgungsforschung spielen Real World Data eine wichtige Rolle, um Patientenpopulationen, Behandlungspfade und die Wirksamkeit von Pharmazeutika im Versorgungsalltag zu analysieren. Die Datenbasis für Versorgungsforschungsstudien bilden oft die Routinedaten der Krankenkassen, da diese einen ganzheitlichen Einblick in das Versorgungsgeschehen geben. Zudem haben sie einen großen Stichprobenumfang. Beides führt zu einer hohen externen Validität. Außerdem können die Daten im Vergleich zu Primärdatenerhebungen relativ kostengünstig analysiert werden. Allerdings werden die Daten für Abrechnungszwecke erhoben und beinhalten nicht zwangsläufig alle zur Beantwortung einer bestimmten Fragestellung relevanten Informationen. Die Routinedaten enthalten zwar Informationen darüber, ob ein Labortest oder ein bildgebendes Verfahren angeordnet und durchgeführt wurde; die Ergebnisse der Tests sind aber nicht im Datensatz enthalten. Dies stellt die Versorgungsforschung bei vielen Fragestellungen vor Herausforderungen.

So hängen die Heilungs- und Überlebenschancen von Brustkrebspatientinnen u. a. von der Form des Brustkrebses, also von der Genmutation oder dem Hormonrezeptorstatus, ab. Dies hat auch einen Einfluss auf Behandlungspfade und Behandlungserfolge. Die Form des Brustkrebses lässt sich aufgrund fehlender Labortestergebnisse nicht aus den Abrechnungsdaten ableiten. Dafür werden zurzeit aufwendige Linkage-Studien17 oder die Einbindung von Proxies18 benötigt.

Ein weiteres Beispiel ist die ambulant erworbene Lungenentzündung (Community Acquired Pneumonia, CAP). Die Versorgungsforschung soll hier zum Beispiel Fragen zu Impfdurchbrüchen und der Effektivität der Impfstoffe im Versorgungsalltag beantworten. Mangels der Ergebnisse von Labortests und Röntgenbildern können Pneumonien in den Routinedaten nicht in „impfpräventabel“ oder „nicht impfpräventabel“ klassifiziert werden. Außerdem enthalten die Routinedaten zwar Informationen zum Impfstatus, der verwendete Impfstoff lässt sich aber nicht identifizieren, was z. B. Aussagen zur Effektivität basierend auf diesen Daten schwierig bis unmöglich macht.

Im Bereich der Seltenen Erkrankungen ist der Diagnoseprozess und Leidensweg der Patienten oft lang. Aufgrund von Datenschutzrichtlinien sind die Routinedaten vielfach nur für einen Zeitraum von sechs Jahren verfügbar. Dies schränkt die Analyse der Diagnosepfade und das Erkennen von Mustern in der Patientenanamnese deutlich ein. Außerdem gibt es für viele Seltene Erkrankungen keine klare ICD-10-Kodierung19, was zu Unsicherheit in der Identifizierung von Patienten führt, die nur durch aufwendige Sensitivitätsanalysen verringert werden können. Hier können elektronische Patientendaten die Versorgungsforschung bereichern. Die gewonnenen Erkenntnisse aus diesen Studien können dazu beitragen, den Diagnoseprozess mit Hilfe von KI zu verbessern.

17 Im Rahmen von Linkage-Studien können Routinedaten über Methoden der KI mit klinischen und Befragungsdaten verknüpft werden. Dieser Prozess ist sehr aufwendig und weist hohe Anforderungen an den personenbezogenen Datenschutz auf, da individuelle Patientendaten aus primären Erhebungen mit anonymisierten Abrechnungsdaten zusammengeführt werden.

18 Proxies sind Variablen, die stellvertretend für die nicht beobachtbare bzw. nicht zu beobachtende Variable genutzt werden. Beispielsweise ist die Intelligenz eines Menschen nicht messbar, in Untersuchungen werden aber z. B. der Bildungsabschluss oder der IQ als Proxy verwendet.

19 https://www.dimdi.de/dynamic/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/anwendung/

II. Innovationshindernisse und Empfehlungen an die Politik

Routinedatenanalysen bilden eine gute Basis, um Erkenntnisse zum Versorgungsalltag zu gewinnen. Da diese Daten allerdings für andere Zwecke erhoben worden sind, lassen sich viele Fragen nicht ausreichend beantworten. Hier ist ein erweiterter Datenzugang zu anonymisierten Patientendaten, die sowohl Gesundheits- als auch Behandlungsdaten inklusive Ergebnisse von Diagnoseverfahren beinhalten, wichtig. Ein erster Schritt soll mit der geplanten Einführung einer elektronischen Patientenakte (ePA) gemacht werden. Diese Daten müssen in aufbereiteter und anonymisierter Form der akademischen und privatwirtschaftlichen Versorgungsforschung zur Verfügung gestellt werden, um die Versorgung realistischer abbilden zu können. Damit kann die Gesundheitsversorgung für alle verbessert werden. Insbesondere können aber auch ganz gezielt die Versorgung und Diagnosemöglichkeiten von besonders gefährdeten Patientengruppen – z. B. durch den Einsatz von KI basierend auf den gewonnenen Erkenntnissen – verbessert werden.

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