175 Jahre Jubiläum AZ Medien

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Beilage 175 JAHRE

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az | Mittwoch, 9. November 2011

AZ MEDIEN

ZEHNDER WANNER PRESSE

«Du darfst alles ausser langweilen»: Die kanadische Sängerin Céline Dion zieht die Aufmerksamkeit auf sich.

VIRGINIA MAYO/KEYSTONE

«Zeitungen und Zeitzungen» – die Pubertät der Presse Gestern und heute Josef Zehnder hat im Rückblick auffallend vieles auffallend richtig gemacht VON KARL LÜÖND*

Das Wort von den «Zeitzungen» stammt vom aargauischen Staats-Weisen Heinrich Zschokke. Wir unternehmen hier einen kurzen Tauchgang in die Geschichte – und wagen es, daraus zehn Regeln für das Medienwesen abzuleiten, die schon vor 175 Jahren gegolten haben. Verleger Josef Zehnder (1810–1896) hat auffallend vieles auffallend richtig gemacht. Punkt eins: Vergiss die Ideologie, die Wirtschaft zählt! Oder, derber ausgedrückt mit Bertolt Brecht: Erst kommt das Fressen, dann die Moral! Als der schlecht bezahlte Schullehrer Josef Zehnder aus Birmenstorf die publizistische Bühne betrat, war er 24 Jahre alt. Der Aargau war unterwegs vom Ancien Régime zur selbstbewussten Demokratie. Aber Zehnder war nicht nur von politischen Ideen beseelt, wie er in seiner Kündigung vom November 1834 schrieb: Es gehe ihm darum, sich «ganz dem Buchhandel zu widmen und dadurch mittels Presseprodukten das frühere Lehrereinkommen wenn möglich aufzustocken». Das Drucken hatte er in drei Tagen von einem Kollegen gelernt. Manchmal hausierte er mit Raubdrucken, auch in Pfarrhäusern, wo er sonst keine Freunde hatte. Punkt zwei: Weltanschauung hilft selten, eigene Produktionsmittel immer! Feuerkopf Zehnder kam den liberalen Politikern und Unternehmern in Aarau und im Freiamt gerade recht. Mit einer liberalen Zeitung sollte er den romtreuen «Ultramontanen» Gegensteuer geben. Ein Konsortium aus Gesinnungsfreunden verpflichtete sich unterschriftlich, so viel Geld zusammenzulegen, dass Druck und Redaktion des zweimal

wöchentlich erscheinenden Blattes für drei Jahre gesichert waren – eine auch nach heutigen Massstäben gängige Frist für einen Start-up, um die Gewinnzone zu erreichen. 1836 erschien der erste von vielen ZehnderTiteln: die «Aargauer Volkszeitung». Punkt drei: Im Medienwesen wird deine Öffentlichkeitsarbeit immer von der Konkurrenz besorgt. 1839 übernahm Dominik Baldinger, früher Posthalter und Wirt zum «Löwen» in Baden, die Redaktion. Er trat 1837 in den Grossen Rat ein und wurde ein Jahr später nebenamtlicher Zuchthausverwalter in Baden. Dieses Amt ging später an Verleger Zehnder über. Als guter Kaufmann diversifizierte Zehnder aber auch in andere, vergleichsweise ruhige Branchen. Er heiratete weniger als ein Jahr nach dem Tod der ersten Frau wieder und kaufte 1846 – vermutlich mit dem Geld der zweiten Frau – das Restaurant Schlossberg in Baden. Er setzte seinen Bruder Johann als Wirt ein. Buchhandlung und Druckerei fanden im geräumigen Gebäude ebenfalls Platz. Zehnders Feinde höhnten: «Unten Schmier – oben Bier!» Punkt vier: Nur der Storch steht gut auf einem Bein. Diversifikation hilft beim Überleben! Punkt fünf: Nichts ist beständiger in der Medienwirtschaft als der Wandel. Aber du musst ihn einfach machen, nie erklären. Immer, wenn Josef Zehnder eine neue Richtung einschlug oder wenn sich die Reputation eines Titels verbraucht hatte, schlüpfte er in ein neues Markengewand. Ab August 1838 nannte Zehnder seine Zeitung «Aargauer Zeitung», was die «Neue Aargauer Zeitung» zur Weissglut

trieb. Offenbar hatten ihn seine Geldgeber im Stich gelassen. Zehnder schrieb über sich selbst in der dritten Person (April 1839): «Der Verleger und Drucker hatte so oft die Gelegenheit gehabt, den Geist der freisinnigen Subskribenten kennen zu lernen, und dies bewog ihn, das Blatt nach Verfluss von zwei Jahren schon aufzugeben.» Nicht einmal die Barauslagen seien «von den feinen Herren» bezahlt worden. Zehnder freilich war auch nicht heikel. Er verfolgte die säumigen Subskribenten über Monate hinweg mit publizistischen Mitteln und drohte ihnen dauernd mit der Veröffentlichung der Namen. So war für publizistische Spannung gesorgt, und die Beträge tröpfelten langsam, aber sicher herein. Punkt sechs: Vom Schulterklopfen deiner Freunde kannst du keine Löhne und Rechnungen bezahlen. Und im Medienwesen klopft dir jeder auf die Schultern, vor allem, wenn du etwas Neues unternimmst. Manche suchen freilich nur die Stelle, wo das Messer am leichtesten eindringt … Am 1. Juli 1840 erschien anstelle der «Aargauer Zeitung» in Birmenstorf die «Schweizerische Dorfzeitung». Der Name deutet darauf hin, dass er die Grenzen des Aargaus sprengen und gesamtschweizerische Bedeutung – und entsprechend weitere Verbreitung – suchte. Dasselbe probierte ja in den 1880er-Jahren der Zofinger Verleger und Drucker Jean Frey, indem er seine zwei notleidenden Lokalblätter zum «Schweizer Allgemeinen Anzeiger» zusammenschloss, aus dem die «Schweizerische Allgemeine Volkszeitung» hervorging. Die heutige «Glückspost» kann als direkte Urenkelin dieses auf rosafarbenes Papier gedruckten Blattes identifiziert werden. Niemand hätte je gedacht, dass ein Provinzblättchen aus dem Aargau ein verlegerischer Dauererfolg werden könnte.

Punkt sieben: Nichts ist unmöglich! Wer im Mediengeschäft von den anderen für verrückt erklärt wird, hat eine grosse Chance, richtig zu liegen. Die «Dorfzeitung» pflegte eine Frühform des Boulevardjournalismus: Unglücksfälle, Verbrechen und Kuriositäten wurden gebracht, in einer der ersten Nummern auch die Memoiren der abgelegten Geliebten eines nicht genannten Prominenten. Und Zehnder mischte seine politischen Inhalte hemmungslos mit Witzen über Polizei, Beamte und Gerichte und mit Wortgeplänkeln im Plauderton. Punkt acht, ganz wichtig: Wortmächtigen Radikalismus kann man nicht verkaufen. Wer sich früh dem Markt anpasst und bringt, was die Leute wirklich wollen, gewinnt. Und Unterhaltung ist nie falsch. Zugleich professionalisierte sich Zehnder als Verleger. Zum Jahreswechsel 1840/41 erhöhte er trotz Konkurrenzdruck den Abonnementspreis von zehn auf zwölf Batzen im Vierteljahr. Punkt neun – damit ist übrigens Ringier so reich geworden: Halte dich im Zweifelsfall immer an den Leser. Denn wenn du Leser hast, kommen die Inserenten fast von selbst. Hohe Erträge aus dem Lesermarkt stärken die verlegerische Unabhängigkeit. Das politische Hauen und Stechen ging munter weiter. In diesen Jahren raufte sich die regional zerklüftete aargauische Politik zusammen, und die Zeitungen waren eben die «Zeitzungen» jener pubertären Epoche. Am schlimmsten keilten sich fast jede Woche Josef Zehnder und Samuel Landolt, Verleger des (ebenfalls radikalen) «Posthörnchens». Landolt hatte für die «Dorfzeitung» nichts als Schlötterlinge übrig: «Pressebengel», «die Schande der Aarg. Presse», «Zehnder’scher Schmierkübel» Aber Zehn-

der verlor das Lesermarketing nicht aus den Augen. Dachte er damals schon an die weiblichen Lesenden, denen die Politik mangels Stimmrecht am Körper vorbeiging? Ab Frühjahr 1842 wurde der «Dorfzeitung» die monatliche Beilage «Das Plauderstübchen» gratis mitgeliefert. Punkt zehn: Unterhaltung und Service sind für den Erfolg von Medien ebenso wichtig wie Nachricht und Meinung. Mit der Sonderbunds- und Freischarenzeit ging auch die Pubertät der aargauischen Presse zu Ende. Zehnder taufte die «Dorfzeitung» in «Schweizerische Volkszeitung» um. Er geriet in Geldschwierigkeiten und musste seine Liegenschaft immer höher belehnen. Zwei Kinder wurden geboren. 1850 ging er in Konkurs. 1856 erschien das «Tagblatt der Stadt Baden». Verleger Zehnder konzentrierte sich auf das Lokale und die Servicefunktion der Zeitung – und hatte endlich auch wirtschaftlichen Erfolg. Zeitsprung über 20 turbulente Jahre! Das «Badener Tagblatt» hatte sich unentbehrlich gemacht und stand, finanziell gefestigt, an der Spitze der regionalen Presse- und Druckereiszene. Der Feuerkopf hatte gewonnen. Mit 86 starb er. Sein ganzes Leben lang hatte er den allerwichtigsten Punkt im Kanon des erfolgreichen Medienmenschen befolgt, der da lautet: Du darfst alles ausser langweilen! Quelle: Andreas Müller: Geschichte der politischen Presse im Aargau. Das 19. Jahrhundert. Aarau 1998. *Karl Lüönd war Gründer und langjähriger Chefredaktor und Verleger der «Züri Woche». Heute ist er freier Publizist.


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