24/7 – Ausgabe 19 – April | Mai | Juni | Juli – 2023

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WILLKOMMEN

Liebe Leseratten und Bücherwürmer, ob Sie im Urlaub, abends auf dem Sofa oder im Bett, am Wochenende oder auf dem „stillen Örtchen“ lesen - Sie sind in bester Gesellschaft. Einer Allensbach-Umfrage nach nehmen etwa 40 Prozent der Deutschen mindestens einmal in der Woche ein Buch in die Hand. Lesen fördert Empathie und Kreativität, lindert Stress und fördert die Entspannung und sorgt dafür, dass das Gehirn besser arbeitet. Leseratten sind gebildet und schlau und haben eine höhere Lebenserwartung. Und das unabhängig davon, ob sie analog oder digital lesen.

Der Blickpunkt dieser Ausgabe nimmt das Lesen in den Fokus. Die Redaktionsmitglieder lassen Sie teilhaben an ihren Lesegeschichten und ihren aktuellen Lieblingsbüchern. Inge Pape erzählt Ihnen die Geschichte von Lucy, einer funktionalen Analphabetin, und wenn Sie schneller lesen möchten, empfehle ich den Artikel von Achim Möller.

Erstmals in der Geschichte der Zeitschrift der TelefonSeelsorge finden Sie Werbung in dem Heft. Bisher ist es uns gelungen unsere Zeitschrift allein über die Abopreise zu finanzieren. Allerdings stellt uns der Anstieg der Papier- und Energiepreise vor eine große Herausforderung. So sind wir froh, mit dem Familienunternehmen Achenbach Buschhütten, welches unsere Arbeit sehr schätzt, einen ersten Sponsor gefunden zu haben, so dass wir die Abopreise im Rahmen halten können.

Nach elf Jahren Mitarbeit im Redaktionsteam müssen wir uns leider von Rosemarie Schettler verabschieden. Sie war 30 Jahre die Leiterin der Krisenbegleitung der TelefonSeelsorge Duisburg Mülheim Oberhausen und hat die Redaktion durch ihr Fachwissen, ihr Engagement und ihre umsichtige und gewissenhafte Arbeitsweise bereichert. Wir werden die angenehme und konstruktive Zusammenarbeit mit ihr vermissen. Dafür danken wir ihr von ganzem Herzen und hoffen, dass sie uns als Autorin erhalten bleibt.

Jetzt verabschiede ich mich von Ihnen mit einem Zitat von Rose Macaulay, die mir aus der Seele spricht: „Nur eines ist vergnüglicher als abends im Bett, vor dem Einschlafen, noch ein Buch zu lesen – und das ist morgens, statt aufzustehen, noch ein Stündchen im Bett zu lesen.“

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Freude beim Lesen, wo auch immer.

Es gibt mehr Schätze in Büchern als Piratenbeute auf der Schatzinsel… und das Beste ist, du kannst diesen Reichtum jeden Tag deines Lebens genießen.
WALT DISNEY
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BLICKPUNKT INTERNES 6
INHALT
ABSCHIED BLICKPUNKT Meine Lesekarriere Inge Pape Der Bücherbus Rosemarie Schettler Das Ende der Sommerferien Bernadette Ott Kinderlesetage Andreas Hardelt-Serafin Orte mit Büchern Birgit Knatz Liebeserklärung Anne Michel-Pill Mein „Vier-Folien-Konzept“ des Bücherlesens Adele Rauber-Drehmann Willkommen im Club Anne Michel-Pill 8 9 10 11 12 12 13 Schwere Kost Friedrich Dechant
Buch für die Insel Olav Jost
die lesen, sind gefährlich Elke Heidenreich Lucy und die Buchstaben Inge Pape Gelöscht und verloren Lars Schröder Der Herr der Ringe und ich Monika Herrchen Schneller lesen Achim Moeller Eine Verbindung zur Welt Bernd Maubach
lesen Sie denn gerade? Riccardo Bonfranchi
Angebot Helga Porschen-Freihoff
Statement für das Lesen Martin Junge INTERNES Winds of HopeAkzeptanz und Fähigkeit zum Wandel Michael Grundhoff Die Organisation der TelefonSeelsorge überarbeiten Bernadette Ott ABSCHIED EMPFEHLUNGEN Was die Redaktion liest FUSSNOTEN IMPRESSUM 14 17 16 18 19 22 23 24 26 28 29 30 31 32 34 40 45 47
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Ein
Frauen,
Was
Verlockendes
Ein

Der Bücherbus

Donnerstage sind mir immer noch sehr sympathisch! Das ist bei mir eine frühe und äußerst erfreuliche biographische Prägung. Donnerstags kam nämlich immer der Bücherbus in die Reihenhaus-Siedlung, in der ich als kleines Mädchen mit meinen Eltern und meiner drei Jahre älteren Schwester lebte. Ich war ein Grundschulkind, das alles Gedruckte aufsaugte wie ein Schwamm. Litfaßsäulen, Aufschriften auf vorüberfahrenden LKWs – alles Bedruckte erschien mir hochinteressant. Zunehmend war ich in der Lage zu verstehen, was Buchstaben bedeuteten und was sie beschrieben.

Bücher gehörten immer in mein Leben. In meinem Elternhaus standen unzählige in vie- len Regalen griffbereit. Auch in der Grundschule konn- te ich Bücher ausleihen. Am attraktivsten schien mir aber die Ausleihe im Bücherbus. Alle vierzehn Tage Donnerstagnachmittag pünktlich vier- zehn Uhr hielt dieser Bücherbus für zwei Stun- den in unserer Straße. Ein Paradies. Es war ein durchschnittlich großer Linienbus, innen statt der Sitze Bücherregale – übervoll. Wenn ich mir das heute vor Augen führe, können eigentlich nicht sehr viele Bücher Platz ge- funden haben. Für mich als Acht- bis Zehnjähri- ge war es dennoch das Bücher-Schlaraffenland. Jeden der möglichen Donnerstage habe ich ge- nutzt. Vier Bücher durfte ich maximal ausleihen. Das tat ich immer. Ottfried Preußler, Astrid Lindgren, Enid Blyton, James Krüss, später auch Michael Ende sind die Favoritinnen und Favoriten, an die ich mich noch erinne- re. Mit meiner Beute verzog ich mich je nach Jahreszeit in den Garten oder ins Kinderzimmer. Ich war dann erst mal „weg“, tauchte tief ab in die jeweilige Geschichte und Stunden später erfüllt und glücklich wieder auf, gestärkt von mitreißenden Geschichten und ungewöhnlichen Geschöpfen. Für die nächste Runde Leben angenehm gestärkt.

Die gute Meinung von Donnerstagen ist mir geblieben, die ungebrochen  große Anziehungskraft von Büchern auf mich auch. Nur Bücherbusse habe ich schon lange nicht mehr gesehen.

ROSEMARIE SCHETTLER

Blickpunkt 19.2023 9

Mein „Vier-Folien-Konzept“ des Bücherlesens

Ich liebe Bücher und lese viel. Meistens lese ich Belletristik, manchmal auch Lyrik, oft Sachbücher, eher selten mal einen Krimi. Ein Leben ohne Bücher könnte ich mir gar nicht vorstellen. Ich mag es auch, ein Buch in der Hand zu halten, es in den Händen zu wiegen, mit der flachen Hand über das Cover zu streichen, das Buch aufzublättern und den Geruch des Papiers einzuatmen.

Während der Ausbildung zur Mailberaterin bei der TelefonSeelsorge lernte ich das „Vier-Folien-Konzept“ für die Mailberatung kennen. Diese Vorgehensweise übertrug ich, leicht angepasst, sehr schnell auf das Lesen von Büchern. Inzwischen habe ich die Methode so verinnerlicht, dass ich fast nicht mehr bemerke, wie sehr ich mich davon leiten lasse.

Die erste Folie ist der Inhalt des Buches, bei einem belletristischen Werk die Geschichte. Vermittelt sie mir neue Sichtweisen? Ist sie in sich stimmig und kann ich sie nachvollziehen? Hat sie mir persönlich etwas zu sagen? Ist sie informativ? Humorvoll? Kann ich aus ihr etwas lernen? Ist die Handlung spannend? Interessieren die Figuren mich auf psychologischer Ebene? Fesselt mich die Geschichte?

Die zweite Folie betrifft Sprache und Form. Wie ist der Sprachduktus? Gibt es einen angenehmen Sprachfluss? Sind die Sprachbilder frisch und ungewohnt? Sind die Dialoge treffend, flüssig und der Situation angemessen? Ist die Einteilung der Kapitel hilfreich für das Verständnis? Und nicht zuletzt: Lässt sich das Buch gut lesen?

In der dritten Folie markiere ich mir interessante oder für die Leserinnen und Leser aufschlussreiche Sätze oder Abschnitte.

In der vierten Folie frage ich mich, ob mir das Buch gefällt. Ob ich es vielleicht noch einmal lesen würde? Ob ich es auf eine einsame Insel mitnehmen würde? Ob ich es verschenken würde und wem? Ob ich es jemandem empfehlen würde? Ob es sich für einen Lesekreis eignen würde? Ob es für die TelefonSeelsorge interessant wäre, sei es für die Kolleginnen und Kollegen oder für die Ratsuchenden?

Über jedes Buch, das ich lese, schreibe ich einen Kommentar in mein „Bücherbuch“ und versuche, darin diese Fragen zu beantworten. Das klingt kompliziert, ist es aber nicht. Ich nehme ein Buch, schlage es auf, beginne zu lesen und lasse mich in das Buch hineinziehen. So finde ich immer wieder Bücher, von denen ich denke, sie könnten Ratsuchenden der TelefonSeelsorge helfen, auf neue und weiterführende Gedanken zu kommen. Oder ich entdecke Bücher, die uns TelefonSeelsorgerinnen und TelefonSeelsorgern interessante Perspektiven eröffnen könnten.

ADELE RAUBER-DREHMANN TelefonSeelsorge Trier KAPITEL 2. Blickpunkt 19.2023 13

Willkommen im Club

Unendlich viel Lesegenuss wäre mir entgangen, wenn ich meinen Literaturclub nicht hätte. Vier Frauen jenseits der 60 treffen sich seit einigen Jahren alle sechs Wochen, um über Literatur zu diskutieren. Wir beginnen um 18 Uhr und haben uns noch nie vor Mitternacht verabschiedet, allerdings beginnen wir zwischen 18 und 21 Uhr mit einem 3-Gänge-Menü, das wir uns reihum im privaten Esszimmer gönnen. Doch dann geht es weiter wie wohl in den meisten Lesekreisen – wir diskutieren über ein Buch, das wir uns vorher gemeinsam ausgesucht und alle gelesen haben.

DIE AUSWAHL DER LEKTÜRE

Jede von uns hat ein Vorschlagsrecht, und unsere Suche gestaltet sich unterschiedlich, sodass eine große Vielfalt entsteht. In der Regel lesen wir fiktionale Texte, die Bandbreite ist groß: Neuerscheinungen, Literatur aus verschiedenen Kontinenten, Bücher von Autorinnen und Autoren, die den Literaturnobelpreis oder eine andere Auszeichnung bekommen haben, Klassiker. Das wichtigste Kriterium ist, dass es ein diskussionswürdiges Buch sein sollte. Somit fällt das eine oder andere Buch heraus, das wir gerne gelesen haben, das aber keine Reibungsfläche für den Literaturclub bietet. Eine aus unserem Kreis liest regelmäßig die Feuilletons der großen Zeitungen und schöpft daraus. Ich genieße Literatur-Fernsehsendungen wie „Das literarische Quartett“, „Aspekte“ oder „druckfrisch“. Sehe ich ein Interview mit einem Autor oder einer Autorin, bekomme ich einen anderen Zugang zu einem Buch. Mir macht es Spaß, im Buchladen zu stöbern und in Bücher reinzulesen. Die Buchhändlerin meiner Kleinstadt-Buchhandlung kennt mich inzwischen so gut, dass ich ihren Empfehlungen vertraue. Am Ende jeden Abends fällt die Wahl schwer: Was wollen wir als Nächstes lesen? Wenn wir uns nicht einigen können, stellen wir die Frage: Was wollten wir schon immer lesen oder wiederlesen? So kam ich in den Genuss von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, was ich für mich alleine nicht in Erwägung gezogen hätte, weil es mir langatmig und mühsam erschien. Für den Literaturclub lese ich bewusster: Ich achte mehr auf die Feinheiten der Sprache, streiche mit dem Bleistift bemerkenswerte Stellen an, komme Sprachbildern, Witz und Ironie auf die Spur. So habe ich in der Gruppe einen Zugang zu diesem Roman gefunden.

DEN HORIZONT ERWEITERN

Unser Austausch über das Gelesene ist rege und engagiert: Es geht um literarische Qualität, Erkenntnisgewinn, Sprache, Metaphern, Einordnung in den geschichtlichen Hintergrund, die Biografie des Autors oder der Autorin. Da setzt jede von uns einen anderen Schwerpunkt, sodass ein umfassendes Bild entsteht. Wir lassen das Buch lebendig werden, indem wir uns Textpassagen vorlesen, um unsere jeweilige Position klarzumachen. Am interessantesten wird ein Abend, wenn wir uns nicht einig sind. Schon öfter musste ich das Urteil, das ich nach der „einsamen“ Lektüre zuhause gefällt hatte, modifizieren oder revidieren. Bei unseren Diskussionen treten Aspekte zutage, die ich vorher nicht gesehen habe. Da uns auch immer der Bezug des Gelesenen zur eigenen Erfahrungswelt wichtig ist, lerne ich meine Leseclubfreundinnen durch das Gespräch über Literatur auf eine ganz besondere Weise kennen.

14 Blickpunkt 19.2023

Der Herr der Ringe und ich

Warum ist „Der Herr der Ringe“ von J.R.R. Tolkien mein Lieblingsbuch? Nun, es handelt von alten Welten und Zeiten, von Mythen und geheimnisvollen Wesen. So weckt es meine Phantasie und meine Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach Geheimnissen und nach gelingendem Handeln. Ich werde in meine Kindheit zurückversetzt und erinnere mich an Situationen, in denen meine Oma mir vorgelesen hat.

„Der Herr der Ringe“ handelt von kleinen Wesen, den Hobbits, die ganz Großes vollbringen, weil sie der Versuchung, Macht ausüben zu wollen, weitgehend widerstehen. Ich lese darin aber auch von der Tragik, aus einer recht unverfänglichen Situation langsam in absolute Unfreiheit zu geraten. Aus Smeagol, der zunächst noch Entscheidungen treffen kann – wenngleich die Entscheidung zu Diebstahl und Totschlag –, wird der absolut unfreie, getriebene Gollum. Und eben dieser getriebene Gollum legt im entscheidenden Moment seiner Willenlosigkeit, seines Wahns und seiner Gier den Grundstein für die Befreiung von Mittelerde dadurch, dass er Frodo den Finger samt Ring abbeißt und in den Schicksalsberg stürzt. Mit anderen Worten: Keine Situation ist durch und durch ausweglos, niemand ist durch und durch schlecht, immer kann auch noch etwas Gutes daraus entstehen. Dieser Gedanke löst Hoffnung und Zuversicht in mir aus.

Und zum Schluss: Das Buch handelt von unverbrüchlicher Freundschaft und Treue. Ein für mich persönlich sehr hohes Gut. Ich wünsche mir Menschen an meiner Seite, die treu zu mir stehen. So wie auch ich versuche, andere Menschen verlässlich zu begleiten.

Sehnsucht nach Geborgenheit, Angst vor Unfreiheit und Zwängen, Hoffnung auf Befreiung aus beängstigenden Situationen, die Fähigkeit, in scheinbarer Ausweglosigkeit Ressourcen und Chancen zu entdecken, Sehnsucht nach Freundschaft und Begleitung: das alles sind Lebensthemen, die mich ständig begleiten und die ich in dieser Trilogie finde.

Bücher sind ein Resonanzraum für meine eigenen Gedanken, Gefühle, Erfahrungen und Lebenseinstellungen. Sie können sie verstärken und bestätigen. Das mag beruhigend sein und Geborgenheit bieten. Oder aber sie lösen Irritationen aus und bringen mich auf diese Weise zum Nachdenken und Überdenken meiner Gedanken und Gefühle. Das scheint mir ein Beziehungsgeschehen zu sein, das dem am Telefon oder in der Online-Beratung gar nicht so unähnlich ist.

MONIKA HERRCHEN TelefonSeelsorge Paderborn Blickpunkt 19.2023 23

Eine Verbindung zur Welt

Vor einigen Jahren fragte ich einen Bekannten, ob er denn lese. Er antwortete mir: „Ja, aber nur Sachbücher.“ Romane empfinde er als Zeitverschwendung, dafür sei ihm das Leben zu schade. Die Antwort beschäftigte mich lange. Ich selbst lese gerne und viel, am liebsten Romane. Jeden Morgen lese ich mindestens eine halbe Stunde (besser noch eine ganze) beim Morgenkaffee. Wenn möglich, folgen im Laufe des Tages ein oder zwei weitere Lesephasen.

Werde ich es eines Tages bereuen, diese vielen Stunden einsamer Lektüre nicht anders genutzt zu haben? Verschwende ich tatsächlich jeden Tag kostbare Lebenszeit beim Lesen?

Einige Zeit später fand ich eine überzeugende Antwort auf diese Fragen bei dem Soziologen Hartmut Rosa, der sein umfangreiches Buch mit dem Titel Resonanz als einen „Beitrag zu einer Soziologie des guten Lebens“ bezeichnet. Ein glückliches Leben, so Rosa, lasse sich nicht an Ressourcen wie Geld, Beruf, Gesundheit oder Ansehen bemessen, dafür sei allein unsere Haltung zur Welt ausschlaggebend. Ein gelungenes Leben sei gekennzeichnet durch vielfältige lebendige Verbindungen zur Welt, sogenannte Resonanzbeziehungen.

Resonanzerfahrungen machen wir, wenn wir uns in einer Partnerschaft verbunden und geborgen fühlen, wenn uns gute Freunde im Gespräch Verständnis entgegenbringen, wenn wir unseren Beruf als sinnstiftend empfinden, wenn wir Natur erleben, wenn wir ausgelassen tanzen, wenn wir hochkonzentriert Schach spielen.

Ein Sonderfall ist die Kunst. Denn wie lässt es sich erklären, dass wir im Bereich der Kunst nicht (oder nicht nur) das Positive suchen, sondern auch Musik hören, die von Traurigkeit und Verzweiflung bestimmt ist, dass wir Romane lesen, die uns zum Weinen bringen oder Filme schauen, die von Verzweiflung, Tod und Ausweglosigkeit erzählen. Was wir in unserem „echten“ Leben fürchten und nach Möglichkeit vermeiden wollen, suchen wir in der Kunst ganz bewusst auf.

Hartmut Rosas Erklärung hierfür lautet: Wir wollen wissen, was es heißt, ein Mensch

26 Blickpunkt 19.2023

Was lesen Sie denn gerade?

Vor einigen Jahren habe ich während meiner Telefondienste begonnen, die Menschen zu fragen, ob sie auch Bücher lesen. Ich werfe die Frage ein, wenn jemand sich im Gespräch in endlosen Schleifen bewegt, sich in eine Wut hineinsteigert oder nicht müde wird, sich über die Ungerechtigkeit des Lebens zu beschweren. Oft wird meine Frage bejaht, und zwar deutlich häufiger von Frauen. Ohnehin rufen bei der Dargebotenen Hand in Zürich, wie andernorts auch, mehr Frauen als Männer an.

Ein „Ja, ich lese sogar viel“ führt bei mir zur Nachfrage: „Was lesen Sie denn gerade?“

Die Antworten sind vielfältig. Es werden regelmäßig Illustrierte gelesen, aber auch viele Bücher, sehr oft Krimis. Besonders häufig solche von Henning Mankell, der ein packendes Porträt nicht nur der schwedischen Gesellschaft zeichnet. Die Figur des Kommissars Wallander, seine Beziehung zu seiner Tochter und seine Scheidung geben Gesprächsanlass und laden zum Vergleich mit dem Leben der Ratsuchenden ein.

Auch andere skandinavische Schriftsteller werden gerne genannt, ansonsten ist die Bandbreite groß: Romane von Konsalik, Coelho, Suter, Remarque, Hemingway. Mit einem Anrufer kann ich regelmäßig über James-Bond-Filme fachsimpeln, und wir tauschen uns über die Stärken und Schwächen der diversen Darsteller aus. Einige Anruferinnen erzählen von Bildbänden, zu denen sie immer wieder greifen. Die Bibel kommt auch zur Sprache, allerdings eher im Nachtdienst.

Im Grunde überflüssig zu erwähnen, dass sich die Anrufenden bei unseren Büchergesprächen meist beruhigen, dass sie aus ihren Schleifen, ihrer Wut herausfinden. An ihrem Schicksal, an ihrer Verzweiflung wird sich dadurch nichts ändern, aber unser Miteinander ist entspannter und der Abschied ist immer ruhig und freundlich. Kann man diesen Gesprächen einen Wert zumessen? Ich denke schon. Literatur als ein Therapeutikum, zur Beruhigung, zur Ablenkung hat eine Berechtigung.

Eine abschließende Bemerkung. Ich mache regelmäßig Online-Dienste, Chat und Mail. Hier habe ich auch schon meine Frage nach dem Lesen gestellt und musste feststellen, dass sie dort nicht gut funktioniert. Vielleicht weil das Publikum online wesentlich jünger ist und junge Menschen seltener Bücher lesen. Aber auch wenn ich bei meinen Büchern bleiben und mich nicht mehr auf Netflix-Serien umstellen werde, kann ich mir die Handlung einer Serie erzählen lassen und so ins Gespräch kommen.

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RICCARDO BONFRANCHI Freiwilliger der Dargebotenen Hand (Zürich)

Die Organisation der TelefonSeelsorge überarbeiten

Ein Gespräch mit den Ehrenamtssprechern Karin Bochenek und Franz Fritz im Fachvorstand

Karin Bochenek, am Niederrhein geboren, Studium der Ökotrophologie und seit 40 Jahren in eigener Praxis tätig, zwei Söhne und zwei Enkelkinder, singt im Chor, liebt Yoga und Schwimmen.

Franz Fritz, katholisch, verheiratet, zwei Kinder und vier Enkel, spielt Klavier und Orgel, schaut gerne gute Filme und betreibt Mathematik als Hobby.

Liebe Karin Bochenek, lieber Franz Fritz, an welchem Gremium des neu gegründeten Vereins „TelefonSeelsorge® Deutschland e.V.“ nehmen Sie als Vertreterin und Vertreter der Ehrenamtlichen teil?

KB: Im Oktober 2021 wurde auf der Mitgliederversammlung in Frankfurt beschlossen, den Verein TelefonSeelsorge Deutschland e.V. zu gründen. Anfang 2022 war es dann offiziell. Gremien sind die Mitgliederversammlung, der Vorstand, die Geschäftsleitung und der Fachvorstand. In der Satzung ist verankert, dass zwei ehrenamtliche Mitarbeitende dem Fachvorstand angehören – das sind zurzeit Franz und ich.

FF: Der Fachvorstand ist aus unserer Sicht das wichtigste Gremium. Dort sind wir als Ehrenamtliche jetzt vertreten und stimmberechtigt. Aber auch an der Mitgliederversammlung nehmen wir beratend teil.

Internes 32
24/7 19.2023

Abschied

Liebe Leserinnen und Leser, mit dieser Ausgabe verabschiede ich mich von Ihnen und ich empfinde dabei Dankbarkeit, Stolz und Erleichterung. Die siebenundzwanzig Jahre, in denen ich als Redakteurin, dann als stellvertretende Chefredakteurin und seit 2011 als verantwortliche Redakteurin für 24/7 tätig war, haben mein Leben reicher gemacht.

75 Ausgaben haben mich gefordert und beglückt. Als ich 1997 Mitglied der Redaktion wurde, gab es keine Smartphones und gerade mal 6,5% der Menschen nutzten das Internet.

Mein erster Blickpunkt, es war April 1997, beschäftigte sich mit dem 40-jährigen Jubiläum der TelefonSeelsorge. (Heute stehen die Planungen für das 70-jährige Jubiläum vor der Tür) Die Redaktionstreffen fanden in den Räumen der deutschen Bischofskonferenz in Bonn statt, und ich war tief beeindruckt, wie zuvorkommend wir dort empfangen und bewirtet worden sind. Beim Mittagessen, runder Tisch mit weißer Tischdecke, Charles-Eames-Stühle, Drei-Gänge-Menü, eine Auswahl an Weinen und Bedienung am Tisch. Heute treffen wir uns im Zoom-Raum und bewirten uns selbst.

Als Jüngste in der Redaktion und Einizge, die damals „Internet hatte“, wurde ich liebevoll dazu verdonnert, in jeder Ausgabe einen Artikel zum Internet und die Auswirkungen auf die Kommunikation und unsere Arbeit zu schreiben.

Aufgrund meines Alters fiel mir auch die Aufgabe zu, über Jugendliche zu schreiben. Mit der Massentauglichkeit der Handys nahmen die Scherzund Testanrufe von Kindern und Jugendlichen damals drastisch zu. So wurde die Shell-Jugendstudie – eine empirische Untersuchung zu Einstellungen, Werten, Gewohnheiten und dem Sozialverhalten von Jugendlichen – und die ARD/ZDF-Onlinestudien zu meiner Bettlektüre.

Vor sechs Jahren wurde aus AUF DRAHT – dem früheren Namen der Zeitschrift – 24/7. Wir wollten deutlich machen, dass mittlerweile die Begleitung per Mail und Chat, neben dem Telefon und den Offenen Türen, Teil der TelefonSeelsorge geworden ist.

Mit der Namensänderung ging ein Agenturwechsel einher, der für mich verbunden war mit der Frage nach einem neuen optischen Erscheinungsbild, das stärker als erzählerische Form deutlich sein sollte. Viele Fragen beschäftigten mich: Wie viel Gestaltung verträgt die Fachzeitschrift der TelefonSeelsorge, die ja nicht wegen ihres Designs gekauft wird und die davor eher textlastig war? Wie kann ich die Bedeutung von Bildern würdigen? Wie nehme ich die Leserinnen und Leser mit und wie können mehr Menschen die Beiträge wahrnehmen? Wie können ein Internetauftritt und die Präsenz in sozialen Medien aussehen? Mir war wichtig, dass die neue 24/7 sowohl den Inhalten verpflichtet war als auch dem Zeitgeist, unseren Haltungen und Ästhetiken.

Neben dem neuen Erscheinungsbild gab es zwei weitere Veränderungen. Ehrenamtliche Autorinnen und Autoren mussten früher anonym bleiben, jetzt wurde ihnen die Möglichkeit eröffnet, ihre Beiträge mit ihrem Namen zu würdigen.

Abschied 34 24/7 19.2023

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