Michael Herwig
DAS KREUZ AUSPACKEN Vorspann: Gerade jetzt ist das Buch KOMM ZUM KREUZ von Michael Herwig erschienen. Hier eine erste Kostprobe, ein Anfangskapitel aus dem Teil 1 „Auf dem Weg zum Kreuz“. Ich habe von einem Brautpaar gehört, das geheiratet hat und dabei, wie es üblich ist, viele Hochzeitsgeschenke bekam. Nach ihrer Rückkehr aus den Flitterwochen sortierten sie aus all den Schätzen aus, was sie jetzt noch nicht brauchen konnten oder was ihnen nicht gefiel, und sie brachten diese Dinge in den Keller. Dazu gehörte auch ein grünlicher Spiegel, der ihnen besonders unansehnlich vorkam. Als sie dann einige Jahre später umzogen, stellten sie den Sperrmüll aus ihrem Keller in den Garten und verkauften ihn für billiges Geld. Auch dieser grünliche Spiegel war dabei. Da kam ein anderes Ehepaar, sah den Spiegel und war hellauf begeistert: «Wie herrlich, das ist doch der wunderbare Spiegel, den wir schon so lange gesucht haben; und sogar die grüne Plastik-Verpackung ist noch dran!» Sie entfernten das unschöne Plastik-Kleid, und ein wunderbarer Spiegel kam zum Vorschein. Das erste Ehepaar aber guckte ein bisschen verlegen und dachte: «Oh, warum haben wir diesen herrlichen Spiegel nicht ausgepackt? Was haben wir da nur verpasst!» So ist es auch mit dem Kreuz: Wir haben es verpackt! Die Kirchen haben es oft genug verpackt, wir Pastoren haben es verpackt. Und es ist etwas Dunkles, Düsteres daraus geworden. Ich selbst musste einen langen Weg gehen, bis ich das Kreuz überhaupt entdecken konnte. Mein Weg Mein Vater und meine Mutter waren beide Kirchenmusiker, und das von ganzem Herzen. Wir Kinder haben dadurch ein reiches künstlerisches und geistliches Erbe mitbekommen, für das ich sehr dankbar bin. Aber ich erinnere mich auch an einen Tag, der gar nicht so schön war. Es war Karfreitag. Die Eltern gingen in die Kirche, während wir Kinder zu Hause blieben. Soweit ich mich erinnern kann, gab es nichts zu essen, und wir haben uns dann gestritten. Die Atmosphäre wurde aggressiv. Schliesslich rammte eine meiner Schwestern meinem älteren Bruder einen Stift in die Hand, was noch jahrelang an der Narbe zu sehen war. Auf diesem Tag lag etwas Düsteres. Undefinierbare Gedanken an Busse und Leiden oder an irgendetwas Schwieriges, Trauriges, Religiöses erfüllten uns, sodass wir einfach froh waren, als alles wieder vorbei war. Das war das religiös eingepackte Kreuz.